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30. April 2017Manuel Pestalozzi
db

Hoch über der Schlucht

Die Auseinandersetzung mit komplexen topografischen und geologischen Verhältnissen hat im Alpenraum zahlreiche Meisterwerke der Ingenieurbaukunst entstehen lassen. Die Taminabrücke des Ingenieurbüros Leonhardt, Andrä und Partner setzt diese Tradition mit einer ebenso anmutigen wie dauerhaften Bogenbrücke fort.

Die Auseinandersetzung mit komplexen topografischen und geologischen Verhältnissen hat im Alpenraum zahlreiche Meisterwerke der Ingenieurbaukunst entstehen lassen. Die Taminabrücke des Ingenieurbüros Leonhardt, Andrä und Partner setzt diese Tradition mit einer ebenso anmutigen wie dauerhaften Bogenbrücke fort.

Man könnte meinen, jeder erschließungswürdige Winkel der Alpen sei mittlerweile bequem erreichbar. Doch noch immer gibt es ein Verbesserungs­potenzial im Bereich des Straßennetzes. Die Taminabrücke, die im Sommer 2017 eingeweiht wird, gilt dafür als einer der eindrücklichsten aktuellen ­Belege. Die mit 259,36 m Spannweite längste Bogenbrücke der Schweiz ergänzt so die schier endlose Reihe an Bauwerken, die entstanden sind, um auch entlegene Gegenden an das überregionale Verkehrsnetz anzubinden.

Nervenkitzel inbegriffen

Die Tamina ist ein Bergbach, der zwischen Chur und Bodensee aus dem Berggebiet der St. Galler Alpen in den Rhein mündet. Vor dem Übergang in das Rheintal hat der Strom entlang einer tektonisch bedingten Schwachstelle massige Nummuliten-Kalkbänke durchschnitten und sich schief in die darunter liegende Seewer-Kalkformation hineingefressen. Dabei schnitt er auch eine Thermalwasser führende Kluft an und so befand sich in der von dichtem Wald umgebene Schlucht lange Zeit ein Badeort. Bereits im Mittelalter wurden Kurgäste in Körben in die Schlucht hinabgelassen. Bis heute ist der spektakuläre Ort eine bedeutende Touristenattraktion, um die herum sich verschiedene Heil- und Kurorte angesiedelt haben.

Die neue Brücke »schwebt« rund 200 m über dieser Schlucht. Sie verbindet das Dorf Pfäfers, südlich der Tamina auf einem Bergvorsprung gelegen, mit der gegenüberliegenden Talseite. Dort liegt das Dorf Valens, in dem u. a. eines der führenden Rehabilitationszentren der Schweiz seinen Sitz hat. Das ­Taminatal reicht hoch bis zum Kunkelspass, der wiederum nach Tamins, wo sich Vorder- und Hinterrhein treffen, hinabführt. Für den allgemeinen Verkehr ist diese Route jedoch gesperrt und so dient die neue Brücke primär der Erschließung von Valens. Bisher erfolgte dessen Anbindung über eine Straße entlang der nördlichen Talflanke, die durch ein aktives Rutschgebiet führt. Sie musste in der Vergangenheit wiederholt kostspielig saniert werden und lässt sich fortan sicher umfahren.

Die angemessene Form

Für die Brücke, die langfristig wirtschaftlicher sein soll als die bisherige Erschließungslösung, führte das Tiefbauamt des Kantons St.Gallen 2007 einen öffentlichen Projektwettbewerb für Ingenieurarbeiten im einstufigen Verfahren durch. Die Aufgabe und die Lösungsvorschläge erhielten aufgrund der anspruchsvollen Ausgangslage und der Exponiertheit des Bauwerks beträchtliche Aufmerksamkeit. Dabei ging es nicht nur um die ingenieurtechnischen Entwurfsleistungen, sondern auch um die Angemessenheit der vorgeschlagenen Lösungen und nicht zuletzt um deren Umweltverträglichkeit. Von der neuen Brücke wurde erwartet, dass sie sich eingliedert.

Landschaftscharakter verändernde Bauten sollten vermieden werden, so forderte das Wettbewerbsprogramm.

Unter den 24 teils internationalen Projektteams befanden sich ganz unterschiedliche konstruktive Ansätze: Sprengwerke, Hänge- oder Schrägseil­brücken, Rahmen- oder Fachwerkkonstruktionen. Einige der teilnehmenden Tragwerksplaner zogen teils namhafte Architekturbüros hinzu. Die Jury entschied sich für den Entwurf einer Betonbogenbrücke der Ingenieure Leonhardt, Andrä und Partner aus Stuttgart, die den Entwurf als Ingenieure gänzlich ohne gestalterische Unterstützung von Architekten erarbeiteten. Bogenbrücken haben in den unwegsamen Nebentälern der Region Tradition: Im benachbarten Kanton Graubünden schrieb Ingenieur ­Robert Maillart 1930 mit der Salginatobelbrücke Weltbaugeschichte, auch der epochale Langwieser Viadukt für die Bahn von Chur nach Arosa, Jahrgang 1914, ist eine Betonbogenbrücke.

In einem Interview mit »tec21 Schweizerische Bauzeitung« erläuterte Mathis Grenacher, Ingenieur und Jurymitglied, die Nachteile der etwas weniger ­»traditionellen« Brückentypen gegenüber einer Bogenbrücke beim Einsatz an der Taminaschlucht: Man befürchtete etwa bei Kabel und Pylonen kost­spielige Verankerungs- respektive Standortslösungen. Auch bei der Ange­messenheit der zu präferierenden Brückentyps überzeugte die Bogenbrücke: »Die ­Taminaschlucht ist nicht der Ort für eine kleine Variante der Golden ­Gate Bridge«.

Monolithisch

Die nun realisierte Brücke ist asymmetrisch: ihr Bogen überwölbt die Schlucht zwar mit einer kontinuierlichen Krümmung, ihre beiden Kämpfer sind allerdings um 33 m in der Höhe versetzt angeordnet. Der Scheitel des ­Bogens, der weder Teil eines reinen Kreises noch einer Parabel ist, liegt zudem näher am Widerlager der Valenser Seite. Dadurch ist auf dieser Seite zwischen Kämpferpfeiler und Bogenscheitel lediglich ein Ständer für die Abstützung des Überbaus nötig, auf der anderen Seite jedoch zwei. Der Fahrbahnkörper hat eine durchschnittliche Steigung von 5 %. Er beginnt an seiner niedrigsten Stelle mit einer Rechtskrümmung am Abschnitt zwischen Widerlager und Kämpferpfeiler, führt dann gerade über die Schlucht und endet mit einer Linkskrümmung wiederum zwischen Kämpferpfeiler und Widerlager. Dank der zu den jeweiligen Hangseiten geneigt angeordneten Kämpferpfeiler kommen beide Vorlandbrücken ohne zusätzliche abstützende Bauteile aus. Zwischen den allesamt radial zum Bogen angeordneten Pfeilern und Ständern spannt der Hohlkastenträger der 9,5 m breiten Fahrbahn jeweils relativ weit (44,55-53 m). Die geringe Anzahl der Abstützungen des Überbaus, der ­statisch als Rahmenriegel funktioniert, war auch möglich, weil in ihm Spannglieder integriert wurden. Das Resultat ist eine einfache und zugleich prägnante Gesamtform, die aus keinem Blick­winkel als »Talsperre« wahrgenommen und in ihrer Funktion auf einen Blick verstanden wird.

Das Bild einer archaischen, vermeintlich einfachen Monumentalität passt ausgezeichnet zu der von den Bauherren gewünschten Robustheit. Dazu gehört auch die Forderung nach einem dauerhaften Bauwerk: Lager und Fahrbahnübergänge sind mögliche Schwachstellen; sie zu ersetzen ist teuer und so werden derzeit im Brückenbau möglichst monolithische Tragwerke angestrebt. Diesem zeitgemäßen Wunsch entspricht die Taminabrücke, die nahezu gänzlich monolithisch errichtet wurde, in hohem Maße. Lediglich die beiden Fahrbahnfugen verweisen auf die entkoppelte Bauweise von eigentlicher ­Brücke und Widerlagern.

Massgeschneidert

Brücken von dieser Spannweite sind immer Unikate, die auf spezifische ­topografische und geologische Bedingungen eingehen. Ein solches Projekt muss nicht bloß in sich stimmig sein und im Betrieb die gesetzten Erwar­tungen erfüllen, die Planer müssen sich auch detailliert damit auseinander­setzen, wie die Errichtung bewerkstelligt werden kann. Mehr als in der ­Architektur ist der konkrete Weg der Umsetzung ein wichtiger Entscheidungsfaktor bei Ingenieurbauwerken. So trug auch der von den Ingenieuren aus Stuttgart dargelegte geplante Bauablauf dazu bei, dass die Wahl auf ihren Entwurf fiel. Gegenüber der Wettbewerbsplanung wurde die Brücke lediglich auf der Seite von Valens noch ein wenig nach Süden verschoben, da der Untergrund dort eine höhere Stabilität aufweist.

Die Brücke wurde im Freivorbauverfahren mit temporären Abspannungen erstellt. Den Zuschlag dafür erhielt die »Arge Taminabrücke«, bestehend aus den Aktiengesellschaften Strabag, J. Erni und Meisterbau. Bietende Unter­nehmer hatten in der Ausschreibung die Möglichkeit, Alternativen zum vorgeschlagenen Bauverfahren der Planer zu entwickeln. Davon machte die Arge Gebrauch und konnte dadurch nach eigenen Aussagen die Bauzeit bei gleichwertiger Wirtschaftlichkeit von fünf auf vier Jahre verkürzen. Statt sich für ­eine serielle Baureihenfolge »Vorlandbrücke-Hilfspylon-Bogen« zu entscheiden, organisierte man die Bauarbeiten möglichst parallel zueinander.

Die Hilfspylone wurden bereits montiert, während man noch die Vorlandabschnitte mittels eines bodengestützten Traggerüsts schalte und armierte. Anstatt im Bereich des Bogens den Überbau im Freivorbau zu realisieren, entschied sich die Arge Taminabrücke für ein sich auf dem Bogen abstützendes Traggerüst. So konnte der Überbau im Wochentakt – anstatt der 5 m langen Freivorbauabschnitte – mit Abschnittslängen von 30 - 40 m schneller und wirtschaftlicher hergestellt werden.

Im Ergebnis zeigt sich die Taminabrücke als maßgeschneiderte Variante eines in der Region verankerten landschaftsverträglichen Brückentyps auf dem Stand der Technik und zeugt damit von der Ingenieurbaukunst ihrer Planer. Bei einer solch sensiblen Bauaufgabe kann so nicht nur mehr Akzeptanz für den Eingriff erzeugt werden, es könnte darüber hinaus ein neues Marken­zeichen für einen außergewöhnlichen historischen Ort entstanden sein.

db, So., 2017.04.30



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Brücke über die Tamina Schlucht



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db 2017|05 Ingenieur Baukunst

20. November 2015Manuel Pestalozzi
TEC21

Passivität wörtlich ­genommen

Das Haus 2226 in Lustenau von Baumschlager Eberle verfolgt einen Lowtech-Ansatz. Betriebsdaten aus zwei vollen Jahreszyklen belegen die ­Funktion des massiven Ziegelmauerwerks als sensiblen Wärmespeicher.

Das Haus 2226 in Lustenau von Baumschlager Eberle verfolgt einen Lowtech-Ansatz. Betriebsdaten aus zwei vollen Jahreszyklen belegen die ­Funktion des massiven Ziegelmauerwerks als sensiblen Wärmespeicher.

Millenniumpark nennt sich die Gewerbezone im vorarlbergischen Lustenau, in der rund eineinhalb Kilometer von der Schweizer Grenze das Haus 2226 steht. Vermarktungsidee des im Wandel befindlichen Gebiets ist ein zukunftsorienterter Hightechschwerpunkt. Momentan ist die Umgebung eher landwirtschaftlich geprägt, und das Haus 2226 spielt auch nach seinen eigenen Regeln.
Das für eine gemischte Nutzung vorgesehene Gebäude hat keine Heizung und auch sonst keine aktive Klimatisierung. Diese erfolgt passiv über ein massives Ziegelmauerwerk mit Naturkalkputzfassade und geringem Öffnungsanteil sowie die interne Speichermasse. Auch die Personen und Maschinen in den Räumen werden als klimatisierende Elemente mit einbezogen. Ein ausgeklügeltes Mess- und Steuerungssystem regelt Temperatur und Luftströme. Es stellt durchs ganze Jahr den Komfort sicher.

Der Name 2226 leitet sich von den Celsiustemperaturen her, die allgemein in Innenräumen als behaglich gelten (vgl. SIA 180, ISO 7730). Zeigt das Thermometer einen Wert zwischen 22 und 26 Grad an, fühlen sich die Menschen wohl.

Für Professor Dietmar Eberle ist das im Spät­sommer 2013 bezogene Haus 2226 Teil des Spätwerks.

Sein architektonisches und konstruktives Konzept bildet das Destillat einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Thema «nachhaltiges Bauen». Das Architekturbüro Baumschlager Eberle errichtete das Gebäude im Selbstauftrag und hat auch seine Luste­nauer Niederlassung hier einquartiert.

Architektur als Energiekonzept

Das Haus 2226 strahlt im Sonnenlicht. Es wurde nach einer Grundierung mit einem Kalkzementgrundputz und einem weissen Sumpfkalkputz verkleidet. Seine Fassade besteht aus einem zweischaligen Wandaufbau aus Ziegelsteinen. Die äussere der beiden ineinander verzahnten Schichten aus 38 cm breiten Hochloch­ziegeln hat eine dämmende Funktion, die Innere trägt die Lasten ab und dient den Betonelementdecken mit Überbeton als Auflager. Der Aufbau ermöglicht eine optimale Nutzung der Gebäudehülle als sensiblen Speicher. Die Wärme der Sonne wird im Mauerwerk gespeichert und zeitversetzt an das Gebäudeinnere abgegeben.

Im Grunde genommen ist das nicht unterkellerte, sechsgeschossige Volumen ein Würfel mit einer Kantenlänge von 24 m. Die vertikalen Kanten sind gebrochen; zwischen dem zweiten und dritten Obergeschoss wurden die Fassadenebenen zueinander verdreht. Fassadenbereiche erhielten eine kaum merklich konkave Krümmung – eine verhaltene Dynamik tritt zutage. Der Fensteranteil der Fassade ist mit 24 % gering und trägt dazu bei, dass das Hauses vage an einen Wehr- oder Festungsturm erinnert.

Die Gliederung der Grundrisse passiert durch Wandscheiben und zwei separate Kerne mit dem Haupttreppenhaus respektive dem Aufzug und den Sanitäranlagen. All diese inneren Tragelemente sind ebenfalls aus Ziegelstein. Sie berühren die Aussenwände nirgends (siehe Grundrissplan), sodass sich in jedem Geschoss eine Enfilade entlang der innen wandbündig angeschlagenen Fenster ergeben kann. Die Raumhöhe beträgt im Erdgeschoss 4.21 m, in den übrigen Geschossen misst sie 3.34 m. Man kann somit von Lofts sprechen.

Alle Geschosse sind mit Hohlraumböden versehen, mit Lattung, Holzschalung, Trittschalldämmung und einem Anhydritestrich als durchgehendem, fugenlosem Belag. Entlang der Innenwände verlaufen holz­überdeckte Kabelkanäle. Über sie lässt sich jede ­Stelle mit Wasser und Strom erschliessen. Bei Bedarf wird einfach ein Loch in den Anhydritestrich gebohrt und ein Rohr oder ein Kabel durchgezogen. Ohne grossen Aufwand kann der Belag wieder repariert werden, wenn es geänderte Umstände nahelegen sollten. Viele der genannten Details, insbesondere die helle Farbgebung und die räumlichen Dimensionen, sind natürlich auch relevant für die Klimatisierung des Hauses und sorgen für eine optimale Nutzung des sensiblen Speichers.

Klimatisierung durch Mauer und Mensch

Die Pragmatik und die Einfachheit, die das Haus und sein Konzept durchdringen, erstrecken sich auch in den Bereich der Bauphysik und des räumlichen Komforts. Die Fassade ist so konstruiert, dass sie äussere Einflüsse wie Temperaturverhältnisse und Sonneneinwirkung durch ihre Massivität und den heutzutage unüblich niedrigen Fensteranteil selektiv abweist. Die helle ­Farbgebung der Fassade, der niedrige Fensteranteil, die tiefen Leibungen und auch die Dimensionierung der Fenster zielen darauf ab, den Wärmeeintrag durch das Sonnenlicht zu reduzieren. Nach innen beeinflusst die hohe Speichermasse der Fassade die Raumbedingungen ausgleichend. Die Fenster, sie bestehen aus einzelnen grossen Scheiben, haben weder Läden noch Storen oder Vorhänge. Allein die Verschattung durch die tiefen Leibungen verhindert Blendeffekte und das Aufheizen des Innenraums. Unterstützt durch die hellen Innenwände wie auch den hellen Boden wird eine optimale Lichtausbeute möglich.

Eine zentrale Rolle bei der Klimatisierung spielt die thermische Speicherkapazität der Wände und Decken. 76 % davon entfallen auf die Geschossdecken, je 12 % auf die Aussen- und Innenwände. Die Raum­abschlüsse nehmen im Winter die Wärme der Nutzerinnen und Nutzer wie auch der Geräte auf und geben sie wieder ab. Im Sommer kühlen sie sich in der Nacht ab und senken die Temperatur während des Tages.

Falls im Winter der Wärmebedarf durch den normalen Betrieb nicht gedeckt wird, erfolgt die Aktivierung von Leuchten, Kaffee- oder Büromaschinen (Monitore, Drucker) als temporären Heizungsprovisorien. Für manche mag dies simpel und riskant tönen, doch simpel ist es mit Sicherheit nicht. Das Konzept, das in der Beschreibung so einfach klingt, beruht nicht nur auf fundiertem Sachwissen und jahrelanger Erfahrung, seine Ausformung und Proportionierung wurde mithilfe aufwendiger Simulationen ermittelt.

Die stete Betriebsüberwachung ist ein unverzichtbarer Teil der klimatischen Bewirtschaftung. So passiv das Haus in technischer Hinsicht erscheinen mag, sein Zustand wird mittels Computer in jedem ­Moment auf Herz und Nieren geprüft. Sensoren übermitteln für jeden Raum die Temperatur, den CO2- und den Feuchtegehalt der Luft, sowie die Lichtverhältnisse, und auf dem Dach befindet sich eine Wetterstation.

Die Resultate der entsprechenden Messungen führen bei Bedarf zu regulierenden Eingriffen.

Als besonders wichtige Ressource des energetischen Konzepts des Hauses 2226 gilt der Mensch selbst.

Laut Eberle wird er in der normalen Energiebedarfsberechnung als eine Art Störfaktor betrachtet und immer konstant gesetzt. Nicht selten wird sein Verhalten getadelt und als Grund genannt, wenn die errechneten Zielwerte nicht eingehalten werden. Im Haus 2226 sind die Nutzerinnen und Nutzer der Ausgangspunkt für energetische Überlegungen, seine Gebäudetechnik reagiert direkt auf ihr Verhalten.

Lüftung: Software statt Hardware

Ein Leitgedanke, den Baumschlager Eberle mit dem Gebäude verfolgen, lautet: Software statt Hardware bei der Haustechnik. Keine Aggregate und Kanäle, keine Wartungssorgen, keine Probleme beim Rückbau und beim Ersatz technischer Anlagen – diese Zielsetzungen wurden erfüllt. Sie prägen die Architektur und das Erscheinungsbild mit. Die Argumente sind leicht nachvollziehbar, und man glaubt gerne, dass es weniger aufwendig ist, ein Steuerungssystem zu unterhalten oder zu aktualisieren als eine Lüftungsanlage. Ausserdem benötigt Software in der Form von Steuerungen und Messstationen bedeutend weniger Raum.

Die Temperierung des Gebäudes wird durch den sensiblen Speicher ermöglicht und durch die Lüftung gesteuert. Diese Steuerung erfolgt alleine über die vertikalen Öffnungsflügel, die jedes Fenster flankieren. Diese werden aufgrund der Sensormeldungen – also gemäss dem aktuellen Bedarf – durch die Steuerung aktiviert und erzeugen auf jeder Geschossebene eine Strömung, die sowohl die optimale Luftqualität als auch die gewünschte Temperatur sicherstellt. In die Erforschung der Strömungsverhältnisse in Räumen, abhängig von der Besonnung, von Druckverhältnissen innerhalb und ausserhalb des Gebäudes, von der Be­legung etc., wurde viel investiert. Erst nach zahlreichen Simulationen liessen sich die Lüftungsöffnungen dimensionieren, die einen Betrieb ohne den Einsatz von zusätzlichen mechanischen Lüftungsanlagen zulassen. Trotz dieser Rechnerei scheint bei der Bedienung der Lüftungsflügel ein gewisser Spielraum zu be­stehen. Je thermische Einheit sind in Lustenau jedenfalls immer nur zwei der Lüftungsöffnungen für das System notwendig, die anderen drei sind für den Nutzer beliebig zugängig. Die Software ist in der Lage, indi­viduelles Verhalten auszugleichen; individuell geöff­nete Lüftungsflügel schliessen sich, die Leuchte wird ausgeschaltet.

Prototyp oder Sonderfall?

Mittlerweile wird das Haus 2226 über zwei Jahre genutzt. Im Erdgeschoss befinden sich eine Kunstgalerie und die Cafeteria von Baumschlager Eberle, darüber Büros, auch jene der Bauherrschaft.

Das oberste Geschoss ist noch nicht belegt. 10 % der Nutzfläche dürfen für Wohnzwecke verwendet werden. Die beteiligten Architektinnen und Architekten spüren die Wirksamkeit ihres Konzeptes nicht nur am eigenen Leib, sie ­verfolgen sie auch über das Gebäudemonitoring. Betriebsdaten von zwei vollen Jahreszyklen liegen vor. Das errechnete Szenario hat sich gemäss Baumschlager Eberle bewahrheitet; das Hausklima bewegt sich innerhalb der anvisierten Komfortzone. Die Gebäudemasse als thermischen Speicher zu nutzen, hat sich also in der Praxis bewährt.

Stellt sich abschliessend die Frage, ob das Gebäude in Lustenau Schule machen wird. Die Aussagen zum Technikkonzept machen klar, dass sich dieses nicht «einfach» kopieren lässt und dass die Zusammenhänge zwischen Form, Dimensionierung, Strömung und ­Regulierung ganz gründlich studiert werden müssen, bevor man sich an ein solches Abenteuer wagt. Das notwendige umfangreiche Wissen im Hintergrund macht das Konzept gewissermassen zum «geistigen Eigentum» ihrer Urheber, das man nicht sofort durchschaut. Auf Anfrage war von den Architekten zu erfahren, dass unter Beibehaltung der möglichst kompakten Form eine Veränderung des Volumens das Konzept nicht kompromittieren würde. Baumschlager Eberle planen derzeit weitere Bauten, die vom Wissen, das mit dem Haus 2226 erworben wurde, profitieren sollen.

TEC21, Fr., 2015.11.20



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TEC21 2015|47 Thermischer Energiespeicher

02. November 2014Manuel Pestalozzi
db

Weltbühne

Schauplatz großer Politik und heftiger Stildebatten: Seit bald 100 Jahren dokumentieren die Bauwerke des Genfer UNO-Quartiers die Suche nach einer weltoffenen Architektur. Der WIPO-Konferenzsaal setzt neue Akzente – mit dem uralten Baustoff Holz.

Schauplatz großer Politik und heftiger Stildebatten: Seit bald 100 Jahren dokumentieren die Bauwerke des Genfer UNO-Quartiers die Suche nach einer weltoffenen Architektur. Der WIPO-Konferenzsaal setzt neue Akzente – mit dem uralten Baustoff Holz.

Mit der Genfer Konvention, dem Roten Kreuz und dem Völkerbund fing alles an: Ab 1864 fanden sich in der Calvinstadt im äußersten Westen der Schweiz Delegierte aus allen Weltteilen zusammen, um die Grundsätze für ein humanitäres Völkerrecht zu formulieren. Die Abgesandten debattierten zuerst im umgenutzten Hôtel National am Nordostrand der Stadt, dem heutigen Palais Wilson. Zwischen den Weltkriegen entstand dann gut einen Kilometer weiter nördlich, in einer Parkanlage, der Völkerbundpalast. Vorangegangen war ein Architekturwettbewerb, der eine große Stildebatte auslöste und 1928 zur Gründung des Internationalen Kongresses Moderner Architektur (CIAM) führte. Seither haben sich im Quartier »des Nations« zwischen dem Stadtzentrum und dem Völkerbundpalast zahlreiche internationale Organisationen niedergelassen – in Gebäuden, die mit ihrer häufig etwas kraftlosen Interpretation globaler Büroarchitektur und einem oft steril wirkenden Nebeneinander daran erinnern, dass die Stildebatte seit der CIAM-Gründung nichts an Aktualität verloren hat.

Ins Ensemble eingebundener Solist

Neuen Diskussionsstoff bietet der jüngst fertiggestellte Konferenzsaal der Weltorganisation für Geistiges Eigentum (World Intellectual Property Organisation, kurz: WIPO). Das Gebäude steht mitten im UNO-Quartier an der sanft ansteigenden Route de Ferney. Gleich unterhalb schließt sich die Place des Nations an, die auf der Längsachse des Völkerbundpalasts liegt und mit ihrem repräsentativen Gepräge das Wahrzeichen des internationalen Genf ist.

Der Saalbau, im Grundriss ein stumpfer, sich nach Süden öffnender Winkel, schiebt sich zwischen zwei Bürohäuser des WIPO-Ensembles. Südlich erhebt sich auf einem Sockeltrakt das Hauptgebäude der Organisation: ein mit Glas bekleidetes Hochhaus aus den 70er Jahren, dessen scheibenförmiges Volumen zur Place des Nations hin konkav gekrümmt ist. Im Norden erstreckt sich entlang der Route de Ferney ein sechsgeschossiger Riegel mit drei Atrien, der Platz für rund 500 Mitarbeiter bietet. Der mit Lärchenschindeln und bräunlich eingefärbten Aluminiumblechen bekleidete Konferenzsaal vermittelt zwischen den beiden in Blau- und Grautönen gehaltenen, großzügig verglasten Bürohäusern. Zugleich nimmt er als eine Art Pavillon Bezug zu der WIPO-Parkanlage, die einst als Geschenk der Föderativen Republik Brasilien nach Plänen des berühmten Landschaftsgestalters Roberto Burle Marx angelegt wurde.

Für die Planung des Saalbaus zeichnet das Stuttgarter Büro Behnisch Architekten verantwortlich, das auch den 2011 fertiggestellten WIPO-Büroblock an der Route de Ferney entworfen hat. Ursprünglich hätte der Saal in jenes Gebäude integriert werden sollen, doch neue räumliche Anforderungen führten zur nun realisierten »Zwischenraumlösung« nahe den Hauptzugängen der beiden Bürohäuser. Zu deren regelmäßig gegliederten Volumina bildet der Neubau mit seiner eigenwillig bewegten, expressionistisch anmutenden Silhouette einen prägnanten Kontrast. Nach drei Himmelsrichtungen greift er mit großen Fenster-Fühlern in den Raum aus. Im Bereich der Route de Ferney schwebt er über einem Sockel, der direkt in die WIPO-Parkanlage überleitet. Die Place des Nations erreichen die Bewohner des westlich vom WIPO-Komplex gelegenen Stadtquartiers jetzt über einen kleinen Platz zwischen Büro- und Saalbau. Zwar trägt der Neubau auf diese Weise zu einer Belebung des öffentlichen Raums bei, doch wird diese Wirkung aufgrund der rigiden Sicherheitsvorschriften bei internationalen Organisationen etwas beeinträchtigt: Eine Schutzmauer entlang der Route de Ferney steht im Widerspruch zum befreiten Schweben im Stadt- und Parkraum. Immerhin soll eine Begrünung der Mauer die Gegensätze versöhnen.

Virtuos inszenierte Übergänge und Ausblicke

Der Erscheinung nach ein Solitär, fungiert der Konferenzsaal als Erweiterung des WIPO-Hauptgebäudes. Dessen repräsentatives Foyer geht über in eine neu geschaffene Zwischenzone mit Oberlichtern und einer organisch geschwungenen Galerie, die Zugang zu den hinteren Rängen des Konferenzsaals bietet. Der Marmorboden des bestehenden Foyers erstreckt sich bis in die Zwischenzone hinein und endet erst an der Kante, hinter der sich das neue Foyer nach Norden unter das Saalvolumen hinabsenkt. In diesem etwas tageslichtarmen Bereich führen zwei Treppen zum Podium des Saals, außerdem gibt es hier Zugänge zum Parkraum.

In den Saal gelangt man auch über einen kleinen, offenen Hof auf der Nordwestseite des Neubaus. Der Muschelkalk des Hofs setzt sich bei diesem zweiten Zugang als Bodenbelag im Foyer fort und führt als breite Rampe, vorbei an den Glasfronten von Diensträumen, direkt in die erwähnte Zone unter den Saal.

Der Konferenzsaal bietet bis zu 900 Delegierten gleichwertige Sitzplätze. Die Anordnung der Sitzgruppen erinnert an die Berliner Philharmonie von Hans Scharoun, allerdings wölbt sich die Decke in Genf nicht, sondern folgt – ziemlich knapp über den Köpfen – dem Verlauf der sanft ansteigenden Ränge. Außerdem befindet sich das Podium am Scheitelpunkt des offenen Winkels, unter dem in den Himmel ragenden, nach Norden orientierten großen Dachfenster. Die beiden anderen Fenster öffnen sich nach Südwesten zu besagtem Hof und nach Südosten zur Place des Nations. Zusammen mit kreisförmigen Oberlichtern bringen sie viel Tageslicht in den Saal. Von der Caféteria, eingerichtet am Fenster zum Platz, genießt man eine schöne Aussicht, an der auch die in der darüber liegenden »Kommandobrücke« untergebrachten Übersetzer Anteil haben.

Expression in Holz

Baukörper, Fassade und Auskleidung des Konferenzsaals bestehen aus Holz. So wurde nicht nur in Form und Farbgebung, sondern auch in der Materialisierung ein Kontrapunkt zu den benachbarten Bürobauten gesetzt. Freilich erscheint die Materialwahl keineswegs beliebig, weil die Hülle des Neubaus sehr gut mit den Bäumen und Büschen der nahen Parks korrespondiert. Zudem wollte man die Qualitäten des Baustoffs optimal nutzen und ein »gesundes« Bauwerk realisieren. Die Konstruktion übernahm schlaich bergermann und partner mit T-ingénierie und Lygdopoulos, die Ausführung wurde dem Consortium Bois OMPI (Charpente Concept, SJB Kempter + Fitze AG, J.-M. Ducret) anvertraut.

Die außengedämmte, nahezu geschlossene Schale des Saalkörpers ruht nur auf wenigen, mit sehr viel Bedacht platzierten linearen und punktförmigen Auflagern. Bei den Wänden handelt es sich um beidseitig beplankte Fachwerke. Boden und Dach bestehen aus bis zu 30 m langen Hohlkastenträgern, deren Hohlräume sich als Installationsebenen nutzen ließen. Zum Einsatz kam das in der Westschweiz entwickelte und von der Firma Ducret angewendete System Ferwood: BSH-Träger wurden beidseitig beplankt und als parallele Streifen von 1,25 m Breite auf der Baustelle angeliefert. Metalllaschen bilden die Verbindungen, welche die Streifen in statisch wirksame Flächen verwandeln. Durch die kreuzweise verklebten Brettlagen der Beplankung entstanden aus dem ansonsten aufgrund seiner Fasern gerichteten Werkstoff Holz biaxial lastabtragende Platten.

Bei der Bekleidung dominiert Lärche, die sowohl die Fassade als auch Innenwände und Decken prägt. Hinzu kommen Weißtanne und das geölte, durch Pigmente aufgehellte Eichenparkett. Auf diese Weise präsentiert sich der Saal als ein lichtdurchflutetes Futteral, das Geborgenheit vermittelt – und ausnehmend gut riecht! Neben der ausgefallenen Bauform sind es die allgegenwärtigen, weitgehend unbehandelten Holzoberflächen, die aus dem Konferenzsaal einen besonderen Ort machen, der sich von der Alltagsarchitektur des Quartiers abhebt, Konventionen sprengt und für einen willkommenen Kontrast sorgt. Die Wirkung des natürlichen Baustoffs lässt sich innen und außen von den Delegierten und Mitarbeitern der WIPO sowie der Bevölkerung unmittelbar erleben. Gespannt wartet man auf die ersten Spuren des Gebrauchs und der Alterung.

db, So., 2014.11.02



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db 2014|11 Material wirkt

19. Mai 2014Manuel Pestalozzi
db

Vielschichtig überwölbt

Der Ehrgeiz eines zeitgemäßen Tierparks besteht darin, jeder Art und Gattung ein Habitat zur Verfügung zu stellen, das der Wildnis nahekommt – eine gewaltige Herausforderung für die Fachplaner aus Architektur, Ingenieurwesen und Landschaftsplanung. Im Fall des Elefantenparks im Züricher Zoo schufen sie in enger Zusammenarbeit ein außergewöhnliches, in jeder Hinsicht stimmiges Bauwerk.

Der Ehrgeiz eines zeitgemäßen Tierparks besteht darin, jeder Art und Gattung ein Habitat zur Verfügung zu stellen, das der Wildnis nahekommt – eine gewaltige Herausforderung für die Fachplaner aus Architektur, Ingenieurwesen und Landschaftsplanung. Im Fall des Elefantenparks im Züricher Zoo schufen sie in enger Zusammenarbeit ein außergewöhnliches, in jeder Hinsicht stimmiges Bauwerk.

Als sich der Zoo Zürich an die Planung der neuen Behausung seiner asiatischen Elefanten machte, waren die Ziele klar: Insgesamt zehn Rüsseltiere sollten möglichst selbständig und weitgehend ohne menschliche Interferenz »haushalten«, sich auf einem geräumigen Gelände, das ihrem Wesen entspricht, fortbewegen können und zu einem gedeihlichen, fruchtbaren Zusammenleben finden – aus gebührendem Abstand betrachtet vom Homo sapiens. »Kaeng Krachan« ist das Motto und der Name, der dem neuen Elefantenpark zugedacht wurde. So heißt ein Landkreis der Provinz Phetchaburi im südwestlichen Teil von Zentral-Thailand. Der Lebensraum der Elefanten im Zoo soll diesen natürlichen Bedingungen weitgehend entsprechen.

Der neue Elefantenpark gehört zur Erweiterung des Zoogeländes, die nach einem Masterplan vorangetrieben wird. Die Möglichkeit der räumlichen Ausdehnung ist der Randlage des 1929 eröffneten Zürcher Zoos zu verdanken. Erbaut auf einem Bergrücken, hoch über Stadt und Seebecken, dem Siedlungsgebiet etwas entrückt, ist das Areal auf drei Seiten von Wald umgeben. Der Masterplan ordnet jedem Zoobereich ein spezifisches Klima zu. Der Elefantenpark, der den asiatischen Monsunwald repräsentiert, befindet sich an der Nordgrenze des Geländes. Die unbebaute Lichtung fällt hier nach Osten ab, weg vom Stadtzentrum. Unmittelbar hinter dem helvetischen Kaeng Krachan beginnt der einheimische Zürichbergwald.

Vom Astwerk zur Schale

Für die Gestaltung des Elefantenparks schrieb das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich im Auftrag der Zoo Zürich AG im Jahr 2008 einen anonymen Wettbewerb mit anschließendem Studienauftrag aus. Als Innenräume waren ein großer Bereich für Kühe (auch bullentauglich), zwei Einzelanlagen für Bullen, eine Quarantänestation und je ein Managementbereich für Kühe und Bullen zu planen. Im großen Bereich wünschten sich die Auslober ein Wasserbecken, das den Besuchern die Gelegenheit gibt, die Elefanten beim Baden zu beobachten. Im Freiraum, der vom Innenbereich ebenso zugänglich ist wie die Savannenlandschaft im Süden, war hangseitig ein Flussbett zu planen.

Gewonnen wurde der Wettbewerb von einem Planungsteam mit Markus Schietsch Architekten, dem Bauingenieurbüro Walt + Galmarini und Lorenz Eugster Landschaftsarchitektur und Städtebau. Das Projekt platziert den Elefantenpark in eine Lichtung am Fuße des »afrikanischen Gebirges«. Das gerodete Waldstück wird durch neue Aufforstungen kompensiert, wodurch eine kleine Lichtung entsteht. An die Lichtung grenzt der Innenbereich, eine ausgedehnte Halle, über der sich eine spektakuläre Schalenkonstruktion wölbt.

Die Schale sowie die Fassade der Halle simulieren in sorgfältig dosierter Abstraktion die Natur. Das Dach mit seinen Öffnungen wird zu einem abstrahierten Ast- und Blattwerk, das wie die Baumkronen des Regenwalds das Licht selektiv gebündelt auf den Boden und die hier gedeihende Fauna und Flora fallen lässt. In dieser Halle, sie folgt mit ihren Felsnischen, Gehölzgruppen und dem Wasserbassin dem gewachsenen Terrain, bewegen sich die Menschen am Rand entlang, von wo sich immer wieder neue Einblicke in den Lebensraum der Zürcher Elefanten im großen Innengehege ergeben. Der Managementbereich, wo der Kontakt der Tiere mit ihren Wärtern stattfindet, die Quarantänestation und die »Herrenzimmer« für die Bullen befinden sich im nördlichen Bereich, am topografisch höchsten Punkt der Halle, über den Technikräumen, der einzigen Unterkellerung der Anlage.

Formfindung

Der spektakulärste Teil dieses Baus ist zweifellos die Dachschale, die sich frei über rund 6 000 m² ausdehnt und Spannweiten von bis zu 85 m überbrückt. Die Holzkonstruktion dürfte in ihrer Art einmalig sein. Dabei handelt es sich nicht um den »Wurf« eines Künstlers, an dem sich die ausführenden Unternehmen die Zähne ausbeißen mussten, sondern um ein Gemeinschaftswerk von Architekten und Ingenieuren, dessen endgültige Ausformung, Detaillierung und praktische Umsetzung vom Planungsteam in kontinuierlichen Schritten erarbeitet wurde. Architekten und Ingenieure sprechen von einer außerordentlich engen und fruchtbaren Zusammenarbeit. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte bei diesem Prozess auch das Büro Kaulquappe aus Zürich, eine von Architekten und Informatikern betriebene Firma, die sich u. a. auf digitale Planung spezialisiert hat. Sie begann bereits in der Ausschreibungsphase mit der parametrischen Aufbereitung der Konstruktion.

Nachdem die Schale nun in ihrer ganzen Pracht sichtbar ist, fällt auf, wie stark sie den Visualisierungen des Wettbewerbsprojekts von 2009 entspricht. Die Beteiligten wussten, worauf sie sich einließen. Im Gespräch verrät Wolfram Kübler, Dipl. Bauing., Partner bei Walt + Galmarini und Projektleiter des Elefantenparks, dass in der frühen Entwurfsphase auch Überlegungen angestellt wurden, ob man nicht Stützen als Stämme in das Innengehege integrieren könnte. Schnell stellte sich aber heraus, dass die Lasten im Fassadenbereich abgetragen werden sollten und auf diesem Weg eine einfache und relativ kostengünstige Konstruktion möglich war. Dass die Schale aus Holz bestehen würde, stand nicht zur Debatte, das relativ geringe Gewicht (u. a. wegen des in Teilen schwierigen Baugrunds erforderlich) und das Bedürfnis nach einer großen »Naturnähe« legten die Wahl des organischen Materials nahe.

Im Grundriss wirkt die Halle wie ein Kieselstein oder ein Fünfeck mit unregelmäßig abgeschliffenen Ecken. Das berühmte Diktum »form follows function« steht dem Konzept aber näher als das romantische Bedürfnis »organisch« zu bauen. Die Gestalt der Schale und der Verlauf ihres Rands ergibt sich aus den Bedingungen der räumlichen Anordnung im und um das Gebäude: In der Fassade der Halle befinden sich Torbögen, die hoch genug sein müssen, um Elefanten und Fahrzeuge passieren zu lassen, auch der Zugang für die Besucher wird mit einem Bogen signalisiert. Das Dach kann somit keine Kuppel sein, die ihre Lasten gleichwertig nach allen Seiten abträgt. Es bildet aufgrund der vom Programm diktierten Bedingungen eine Freiformschale, die auf unterschiedliche Bedürfnisse eingehen muss. Trotz der um sich greifenden Digitalisierung im Entwurf, bedienten sich die Planer bei der Formfindung auch verschiedener Handskizzen. Und die Methode des berühmten Schalenbauers Heinz Isler, der die statisch optimale Form mit hängenden Tüchern erkundete, kam ebenfalls zum Einsatz – allerdings nur in einer Computersimulation.

Ring und Kanal

Der unter den geschilderten Umständen äußerst komplexe, uneinheitliche Übergang zwischen Dach und Wand wird in statischer Hinsicht durch einen vorgespannten, rund 270 m langen Stahlbetonringbalken hergestellt. Er folgt diskret dem Schalenrand, formt die erforderlichen Bögen und leitet die Lasten in fünf lokale Dachfundationen ab. Vier dieser Fundationen befinden sich an der Peripherie des parkartigen Innenbereichs, der durch die umlaufend verglaste Fassade mit dem Außenraum optisch verbunden ist. Die Lastabtragung erfolgt hier über Gruppen von Pfeilern und Stützen, in statischer Hinsicht handelt es sich um vorgespannte Wandscheiben. Zusammen mit den leicht zurückgesetzten Fassadenstreben mit ihren nach außen vorkragenden Köpfen werden sie als künstlicher Waldsaum wahrgenommen.

Die Schubkräfte der Schale werden im Erdreich abgetragen. Auch hier fanden die Ingenieure eine praktische, für die Formgebung relevante Lösung, indem sie verschiedene Aufgaben miteinander kombinierten. Unter der Fassade verläuft rund um das Gebäude ein Medienkanal aus Stahlbeton. Bei den lokalen Dachfundationen wurden auf der Außenseite des Kanals Regenwasserzisternen angefügt und als Dachwiderlager ausgebildet. Pfählungen fixieren diese unsichtbaren »Strebepfeiler« im heterogenen und schwierigen Baugrund, Felsanker übertragen die Schubkräfte. Die Lastabtragung erfolgt insgesamt sehr diskret, die Statik tritt in den Hintergrund. Dies ist dem Konzept der simulierten Natürlichkeit zuträglich.

Holz isotrop

Während die Schale die Natur imitiert, verhält sich der organische Baustoff Holz in der Schalenkonstruktion ähnlich wie Beton, also eher unnatürlich. Den Ingenieuren war bewusst, dass sich Holz als gerichtetes Baumaterial nicht besonders für ein echtes Schalentragwerk eignet. Diesem Umstand trugen sie Rechnung, indem sie großformatige, ebene Plattenstreifen (bis zu 3,4 x 12 m) planten. Sie erhielten auf dem Bauplatz ihre Krümmung und wurden dreilagig, jeweils unter 60° verschwenkt übereinander wie ein riesiges Puzzle angeordnet. Die Faserrichtung der einzelnen Schichten orientiert sich je nach der Position des entsprechenden Plattenstreifens nach den Dachauflagern. Dieses Verfahren ermöglichte für jede Lage präzise Zuschnittspläne, nach denen sich die ausführenden Firmen richten konnten. Der Zusammenhalt der Holzlagen ist durch Nägel gesichert, pro Quadratmeter Schalenfläche wurden 100 Stück dieser »Armierungselemente« eingeschlagen.

Rund 65 % des Dachs sind geschlossen. Zwischen den Holzschichtplatten, die mit einer wasserabführenden Folie belegt und durch eine Begehungsebene aus aufgeständerten Kerto-Furnierschichtplatten geschützt sind, befinden sich die 271 Öffnungen. Ihre einmaligen Formen ergeben sich aus einem Geflecht von Linien, die zwischen den Auflagern kreuz und quer über die Schale verlaufen. Acht von ihnen lassen sich im Sommer oder im Brandfall als RWA-Klappen öffnen. Jede Öffnung wird durch ein individuell druckreguliertes Luftkissen aus UV-durchlässiger ETFE Folie eingedeckt. Die Technik für den Betrieb dieser Dachflächenfenster ist diskret in der raumhaltigen Schale versteckt, sodass das Geflecht und das diffus einfallende Tageslicht das ganze Jahr hindurch ungestörte Träume von Kaeng Krachan zulassen.

db, Mo., 2014.05.19



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Presseschau 12

30. April 2017Manuel Pestalozzi
db

Hoch über der Schlucht

Die Auseinandersetzung mit komplexen topografischen und geologischen Verhältnissen hat im Alpenraum zahlreiche Meisterwerke der Ingenieurbaukunst entstehen lassen. Die Taminabrücke des Ingenieurbüros Leonhardt, Andrä und Partner setzt diese Tradition mit einer ebenso anmutigen wie dauerhaften Bogenbrücke fort.

Die Auseinandersetzung mit komplexen topografischen und geologischen Verhältnissen hat im Alpenraum zahlreiche Meisterwerke der Ingenieurbaukunst entstehen lassen. Die Taminabrücke des Ingenieurbüros Leonhardt, Andrä und Partner setzt diese Tradition mit einer ebenso anmutigen wie dauerhaften Bogenbrücke fort.

Man könnte meinen, jeder erschließungswürdige Winkel der Alpen sei mittlerweile bequem erreichbar. Doch noch immer gibt es ein Verbesserungs­potenzial im Bereich des Straßennetzes. Die Taminabrücke, die im Sommer 2017 eingeweiht wird, gilt dafür als einer der eindrücklichsten aktuellen ­Belege. Die mit 259,36 m Spannweite längste Bogenbrücke der Schweiz ergänzt so die schier endlose Reihe an Bauwerken, die entstanden sind, um auch entlegene Gegenden an das überregionale Verkehrsnetz anzubinden.

Nervenkitzel inbegriffen

Die Tamina ist ein Bergbach, der zwischen Chur und Bodensee aus dem Berggebiet der St. Galler Alpen in den Rhein mündet. Vor dem Übergang in das Rheintal hat der Strom entlang einer tektonisch bedingten Schwachstelle massige Nummuliten-Kalkbänke durchschnitten und sich schief in die darunter liegende Seewer-Kalkformation hineingefressen. Dabei schnitt er auch eine Thermalwasser führende Kluft an und so befand sich in der von dichtem Wald umgebene Schlucht lange Zeit ein Badeort. Bereits im Mittelalter wurden Kurgäste in Körben in die Schlucht hinabgelassen. Bis heute ist der spektakuläre Ort eine bedeutende Touristenattraktion, um die herum sich verschiedene Heil- und Kurorte angesiedelt haben.

Die neue Brücke »schwebt« rund 200 m über dieser Schlucht. Sie verbindet das Dorf Pfäfers, südlich der Tamina auf einem Bergvorsprung gelegen, mit der gegenüberliegenden Talseite. Dort liegt das Dorf Valens, in dem u. a. eines der führenden Rehabilitationszentren der Schweiz seinen Sitz hat. Das ­Taminatal reicht hoch bis zum Kunkelspass, der wiederum nach Tamins, wo sich Vorder- und Hinterrhein treffen, hinabführt. Für den allgemeinen Verkehr ist diese Route jedoch gesperrt und so dient die neue Brücke primär der Erschließung von Valens. Bisher erfolgte dessen Anbindung über eine Straße entlang der nördlichen Talflanke, die durch ein aktives Rutschgebiet führt. Sie musste in der Vergangenheit wiederholt kostspielig saniert werden und lässt sich fortan sicher umfahren.

Die angemessene Form

Für die Brücke, die langfristig wirtschaftlicher sein soll als die bisherige Erschließungslösung, führte das Tiefbauamt des Kantons St.Gallen 2007 einen öffentlichen Projektwettbewerb für Ingenieurarbeiten im einstufigen Verfahren durch. Die Aufgabe und die Lösungsvorschläge erhielten aufgrund der anspruchsvollen Ausgangslage und der Exponiertheit des Bauwerks beträchtliche Aufmerksamkeit. Dabei ging es nicht nur um die ingenieurtechnischen Entwurfsleistungen, sondern auch um die Angemessenheit der vorgeschlagenen Lösungen und nicht zuletzt um deren Umweltverträglichkeit. Von der neuen Brücke wurde erwartet, dass sie sich eingliedert.

Landschaftscharakter verändernde Bauten sollten vermieden werden, so forderte das Wettbewerbsprogramm.

Unter den 24 teils internationalen Projektteams befanden sich ganz unterschiedliche konstruktive Ansätze: Sprengwerke, Hänge- oder Schrägseil­brücken, Rahmen- oder Fachwerkkonstruktionen. Einige der teilnehmenden Tragwerksplaner zogen teils namhafte Architekturbüros hinzu. Die Jury entschied sich für den Entwurf einer Betonbogenbrücke der Ingenieure Leonhardt, Andrä und Partner aus Stuttgart, die den Entwurf als Ingenieure gänzlich ohne gestalterische Unterstützung von Architekten erarbeiteten. Bogenbrücken haben in den unwegsamen Nebentälern der Region Tradition: Im benachbarten Kanton Graubünden schrieb Ingenieur ­Robert Maillart 1930 mit der Salginatobelbrücke Weltbaugeschichte, auch der epochale Langwieser Viadukt für die Bahn von Chur nach Arosa, Jahrgang 1914, ist eine Betonbogenbrücke.

In einem Interview mit »tec21 Schweizerische Bauzeitung« erläuterte Mathis Grenacher, Ingenieur und Jurymitglied, die Nachteile der etwas weniger ­»traditionellen« Brückentypen gegenüber einer Bogenbrücke beim Einsatz an der Taminaschlucht: Man befürchtete etwa bei Kabel und Pylonen kost­spielige Verankerungs- respektive Standortslösungen. Auch bei der Ange­messenheit der zu präferierenden Brückentyps überzeugte die Bogenbrücke: »Die ­Taminaschlucht ist nicht der Ort für eine kleine Variante der Golden ­Gate Bridge«.

Monolithisch

Die nun realisierte Brücke ist asymmetrisch: ihr Bogen überwölbt die Schlucht zwar mit einer kontinuierlichen Krümmung, ihre beiden Kämpfer sind allerdings um 33 m in der Höhe versetzt angeordnet. Der Scheitel des ­Bogens, der weder Teil eines reinen Kreises noch einer Parabel ist, liegt zudem näher am Widerlager der Valenser Seite. Dadurch ist auf dieser Seite zwischen Kämpferpfeiler und Bogenscheitel lediglich ein Ständer für die Abstützung des Überbaus nötig, auf der anderen Seite jedoch zwei. Der Fahrbahnkörper hat eine durchschnittliche Steigung von 5 %. Er beginnt an seiner niedrigsten Stelle mit einer Rechtskrümmung am Abschnitt zwischen Widerlager und Kämpferpfeiler, führt dann gerade über die Schlucht und endet mit einer Linkskrümmung wiederum zwischen Kämpferpfeiler und Widerlager. Dank der zu den jeweiligen Hangseiten geneigt angeordneten Kämpferpfeiler kommen beide Vorlandbrücken ohne zusätzliche abstützende Bauteile aus. Zwischen den allesamt radial zum Bogen angeordneten Pfeilern und Ständern spannt der Hohlkastenträger der 9,5 m breiten Fahrbahn jeweils relativ weit (44,55-53 m). Die geringe Anzahl der Abstützungen des Überbaus, der ­statisch als Rahmenriegel funktioniert, war auch möglich, weil in ihm Spannglieder integriert wurden. Das Resultat ist eine einfache und zugleich prägnante Gesamtform, die aus keinem Blick­winkel als »Talsperre« wahrgenommen und in ihrer Funktion auf einen Blick verstanden wird.

Das Bild einer archaischen, vermeintlich einfachen Monumentalität passt ausgezeichnet zu der von den Bauherren gewünschten Robustheit. Dazu gehört auch die Forderung nach einem dauerhaften Bauwerk: Lager und Fahrbahnübergänge sind mögliche Schwachstellen; sie zu ersetzen ist teuer und so werden derzeit im Brückenbau möglichst monolithische Tragwerke angestrebt. Diesem zeitgemäßen Wunsch entspricht die Taminabrücke, die nahezu gänzlich monolithisch errichtet wurde, in hohem Maße. Lediglich die beiden Fahrbahnfugen verweisen auf die entkoppelte Bauweise von eigentlicher ­Brücke und Widerlagern.

Massgeschneidert

Brücken von dieser Spannweite sind immer Unikate, die auf spezifische ­topografische und geologische Bedingungen eingehen. Ein solches Projekt muss nicht bloß in sich stimmig sein und im Betrieb die gesetzten Erwar­tungen erfüllen, die Planer müssen sich auch detailliert damit auseinander­setzen, wie die Errichtung bewerkstelligt werden kann. Mehr als in der ­Architektur ist der konkrete Weg der Umsetzung ein wichtiger Entscheidungsfaktor bei Ingenieurbauwerken. So trug auch der von den Ingenieuren aus Stuttgart dargelegte geplante Bauablauf dazu bei, dass die Wahl auf ihren Entwurf fiel. Gegenüber der Wettbewerbsplanung wurde die Brücke lediglich auf der Seite von Valens noch ein wenig nach Süden verschoben, da der Untergrund dort eine höhere Stabilität aufweist.

Die Brücke wurde im Freivorbauverfahren mit temporären Abspannungen erstellt. Den Zuschlag dafür erhielt die »Arge Taminabrücke«, bestehend aus den Aktiengesellschaften Strabag, J. Erni und Meisterbau. Bietende Unter­nehmer hatten in der Ausschreibung die Möglichkeit, Alternativen zum vorgeschlagenen Bauverfahren der Planer zu entwickeln. Davon machte die Arge Gebrauch und konnte dadurch nach eigenen Aussagen die Bauzeit bei gleichwertiger Wirtschaftlichkeit von fünf auf vier Jahre verkürzen. Statt sich für ­eine serielle Baureihenfolge »Vorlandbrücke-Hilfspylon-Bogen« zu entscheiden, organisierte man die Bauarbeiten möglichst parallel zueinander.

Die Hilfspylone wurden bereits montiert, während man noch die Vorlandabschnitte mittels eines bodengestützten Traggerüsts schalte und armierte. Anstatt im Bereich des Bogens den Überbau im Freivorbau zu realisieren, entschied sich die Arge Taminabrücke für ein sich auf dem Bogen abstützendes Traggerüst. So konnte der Überbau im Wochentakt – anstatt der 5 m langen Freivorbauabschnitte – mit Abschnittslängen von 30 - 40 m schneller und wirtschaftlicher hergestellt werden.

Im Ergebnis zeigt sich die Taminabrücke als maßgeschneiderte Variante eines in der Region verankerten landschaftsverträglichen Brückentyps auf dem Stand der Technik und zeugt damit von der Ingenieurbaukunst ihrer Planer. Bei einer solch sensiblen Bauaufgabe kann so nicht nur mehr Akzeptanz für den Eingriff erzeugt werden, es könnte darüber hinaus ein neues Marken­zeichen für einen außergewöhnlichen historischen Ort entstanden sein.

db, So., 2017.04.30



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20. November 2015Manuel Pestalozzi
TEC21

Passivität wörtlich ­genommen

Das Haus 2226 in Lustenau von Baumschlager Eberle verfolgt einen Lowtech-Ansatz. Betriebsdaten aus zwei vollen Jahreszyklen belegen die ­Funktion des massiven Ziegelmauerwerks als sensiblen Wärmespeicher.

Das Haus 2226 in Lustenau von Baumschlager Eberle verfolgt einen Lowtech-Ansatz. Betriebsdaten aus zwei vollen Jahreszyklen belegen die ­Funktion des massiven Ziegelmauerwerks als sensiblen Wärmespeicher.

Millenniumpark nennt sich die Gewerbezone im vorarlbergischen Lustenau, in der rund eineinhalb Kilometer von der Schweizer Grenze das Haus 2226 steht. Vermarktungsidee des im Wandel befindlichen Gebiets ist ein zukunftsorienterter Hightechschwerpunkt. Momentan ist die Umgebung eher landwirtschaftlich geprägt, und das Haus 2226 spielt auch nach seinen eigenen Regeln.
Das für eine gemischte Nutzung vorgesehene Gebäude hat keine Heizung und auch sonst keine aktive Klimatisierung. Diese erfolgt passiv über ein massives Ziegelmauerwerk mit Naturkalkputzfassade und geringem Öffnungsanteil sowie die interne Speichermasse. Auch die Personen und Maschinen in den Räumen werden als klimatisierende Elemente mit einbezogen. Ein ausgeklügeltes Mess- und Steuerungssystem regelt Temperatur und Luftströme. Es stellt durchs ganze Jahr den Komfort sicher.

Der Name 2226 leitet sich von den Celsiustemperaturen her, die allgemein in Innenräumen als behaglich gelten (vgl. SIA 180, ISO 7730). Zeigt das Thermometer einen Wert zwischen 22 und 26 Grad an, fühlen sich die Menschen wohl.

Für Professor Dietmar Eberle ist das im Spät­sommer 2013 bezogene Haus 2226 Teil des Spätwerks.

Sein architektonisches und konstruktives Konzept bildet das Destillat einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Thema «nachhaltiges Bauen». Das Architekturbüro Baumschlager Eberle errichtete das Gebäude im Selbstauftrag und hat auch seine Luste­nauer Niederlassung hier einquartiert.

Architektur als Energiekonzept

Das Haus 2226 strahlt im Sonnenlicht. Es wurde nach einer Grundierung mit einem Kalkzementgrundputz und einem weissen Sumpfkalkputz verkleidet. Seine Fassade besteht aus einem zweischaligen Wandaufbau aus Ziegelsteinen. Die äussere der beiden ineinander verzahnten Schichten aus 38 cm breiten Hochloch­ziegeln hat eine dämmende Funktion, die Innere trägt die Lasten ab und dient den Betonelementdecken mit Überbeton als Auflager. Der Aufbau ermöglicht eine optimale Nutzung der Gebäudehülle als sensiblen Speicher. Die Wärme der Sonne wird im Mauerwerk gespeichert und zeitversetzt an das Gebäudeinnere abgegeben.

Im Grunde genommen ist das nicht unterkellerte, sechsgeschossige Volumen ein Würfel mit einer Kantenlänge von 24 m. Die vertikalen Kanten sind gebrochen; zwischen dem zweiten und dritten Obergeschoss wurden die Fassadenebenen zueinander verdreht. Fassadenbereiche erhielten eine kaum merklich konkave Krümmung – eine verhaltene Dynamik tritt zutage. Der Fensteranteil der Fassade ist mit 24 % gering und trägt dazu bei, dass das Hauses vage an einen Wehr- oder Festungsturm erinnert.

Die Gliederung der Grundrisse passiert durch Wandscheiben und zwei separate Kerne mit dem Haupttreppenhaus respektive dem Aufzug und den Sanitäranlagen. All diese inneren Tragelemente sind ebenfalls aus Ziegelstein. Sie berühren die Aussenwände nirgends (siehe Grundrissplan), sodass sich in jedem Geschoss eine Enfilade entlang der innen wandbündig angeschlagenen Fenster ergeben kann. Die Raumhöhe beträgt im Erdgeschoss 4.21 m, in den übrigen Geschossen misst sie 3.34 m. Man kann somit von Lofts sprechen.

Alle Geschosse sind mit Hohlraumböden versehen, mit Lattung, Holzschalung, Trittschalldämmung und einem Anhydritestrich als durchgehendem, fugenlosem Belag. Entlang der Innenwände verlaufen holz­überdeckte Kabelkanäle. Über sie lässt sich jede ­Stelle mit Wasser und Strom erschliessen. Bei Bedarf wird einfach ein Loch in den Anhydritestrich gebohrt und ein Rohr oder ein Kabel durchgezogen. Ohne grossen Aufwand kann der Belag wieder repariert werden, wenn es geänderte Umstände nahelegen sollten. Viele der genannten Details, insbesondere die helle Farbgebung und die räumlichen Dimensionen, sind natürlich auch relevant für die Klimatisierung des Hauses und sorgen für eine optimale Nutzung des sensiblen Speichers.

Klimatisierung durch Mauer und Mensch

Die Pragmatik und die Einfachheit, die das Haus und sein Konzept durchdringen, erstrecken sich auch in den Bereich der Bauphysik und des räumlichen Komforts. Die Fassade ist so konstruiert, dass sie äussere Einflüsse wie Temperaturverhältnisse und Sonneneinwirkung durch ihre Massivität und den heutzutage unüblich niedrigen Fensteranteil selektiv abweist. Die helle ­Farbgebung der Fassade, der niedrige Fensteranteil, die tiefen Leibungen und auch die Dimensionierung der Fenster zielen darauf ab, den Wärmeeintrag durch das Sonnenlicht zu reduzieren. Nach innen beeinflusst die hohe Speichermasse der Fassade die Raumbedingungen ausgleichend. Die Fenster, sie bestehen aus einzelnen grossen Scheiben, haben weder Läden noch Storen oder Vorhänge. Allein die Verschattung durch die tiefen Leibungen verhindert Blendeffekte und das Aufheizen des Innenraums. Unterstützt durch die hellen Innenwände wie auch den hellen Boden wird eine optimale Lichtausbeute möglich.

Eine zentrale Rolle bei der Klimatisierung spielt die thermische Speicherkapazität der Wände und Decken. 76 % davon entfallen auf die Geschossdecken, je 12 % auf die Aussen- und Innenwände. Die Raum­abschlüsse nehmen im Winter die Wärme der Nutzerinnen und Nutzer wie auch der Geräte auf und geben sie wieder ab. Im Sommer kühlen sie sich in der Nacht ab und senken die Temperatur während des Tages.

Falls im Winter der Wärmebedarf durch den normalen Betrieb nicht gedeckt wird, erfolgt die Aktivierung von Leuchten, Kaffee- oder Büromaschinen (Monitore, Drucker) als temporären Heizungsprovisorien. Für manche mag dies simpel und riskant tönen, doch simpel ist es mit Sicherheit nicht. Das Konzept, das in der Beschreibung so einfach klingt, beruht nicht nur auf fundiertem Sachwissen und jahrelanger Erfahrung, seine Ausformung und Proportionierung wurde mithilfe aufwendiger Simulationen ermittelt.

Die stete Betriebsüberwachung ist ein unverzichtbarer Teil der klimatischen Bewirtschaftung. So passiv das Haus in technischer Hinsicht erscheinen mag, sein Zustand wird mittels Computer in jedem ­Moment auf Herz und Nieren geprüft. Sensoren übermitteln für jeden Raum die Temperatur, den CO2- und den Feuchtegehalt der Luft, sowie die Lichtverhältnisse, und auf dem Dach befindet sich eine Wetterstation.

Die Resultate der entsprechenden Messungen führen bei Bedarf zu regulierenden Eingriffen.

Als besonders wichtige Ressource des energetischen Konzepts des Hauses 2226 gilt der Mensch selbst.

Laut Eberle wird er in der normalen Energiebedarfsberechnung als eine Art Störfaktor betrachtet und immer konstant gesetzt. Nicht selten wird sein Verhalten getadelt und als Grund genannt, wenn die errechneten Zielwerte nicht eingehalten werden. Im Haus 2226 sind die Nutzerinnen und Nutzer der Ausgangspunkt für energetische Überlegungen, seine Gebäudetechnik reagiert direkt auf ihr Verhalten.

Lüftung: Software statt Hardware

Ein Leitgedanke, den Baumschlager Eberle mit dem Gebäude verfolgen, lautet: Software statt Hardware bei der Haustechnik. Keine Aggregate und Kanäle, keine Wartungssorgen, keine Probleme beim Rückbau und beim Ersatz technischer Anlagen – diese Zielsetzungen wurden erfüllt. Sie prägen die Architektur und das Erscheinungsbild mit. Die Argumente sind leicht nachvollziehbar, und man glaubt gerne, dass es weniger aufwendig ist, ein Steuerungssystem zu unterhalten oder zu aktualisieren als eine Lüftungsanlage. Ausserdem benötigt Software in der Form von Steuerungen und Messstationen bedeutend weniger Raum.

Die Temperierung des Gebäudes wird durch den sensiblen Speicher ermöglicht und durch die Lüftung gesteuert. Diese Steuerung erfolgt alleine über die vertikalen Öffnungsflügel, die jedes Fenster flankieren. Diese werden aufgrund der Sensormeldungen – also gemäss dem aktuellen Bedarf – durch die Steuerung aktiviert und erzeugen auf jeder Geschossebene eine Strömung, die sowohl die optimale Luftqualität als auch die gewünschte Temperatur sicherstellt. In die Erforschung der Strömungsverhältnisse in Räumen, abhängig von der Besonnung, von Druckverhältnissen innerhalb und ausserhalb des Gebäudes, von der Be­legung etc., wurde viel investiert. Erst nach zahlreichen Simulationen liessen sich die Lüftungsöffnungen dimensionieren, die einen Betrieb ohne den Einsatz von zusätzlichen mechanischen Lüftungsanlagen zulassen. Trotz dieser Rechnerei scheint bei der Bedienung der Lüftungsflügel ein gewisser Spielraum zu be­stehen. Je thermische Einheit sind in Lustenau jedenfalls immer nur zwei der Lüftungsöffnungen für das System notwendig, die anderen drei sind für den Nutzer beliebig zugängig. Die Software ist in der Lage, indi­viduelles Verhalten auszugleichen; individuell geöff­nete Lüftungsflügel schliessen sich, die Leuchte wird ausgeschaltet.

Prototyp oder Sonderfall?

Mittlerweile wird das Haus 2226 über zwei Jahre genutzt. Im Erdgeschoss befinden sich eine Kunstgalerie und die Cafeteria von Baumschlager Eberle, darüber Büros, auch jene der Bauherrschaft.

Das oberste Geschoss ist noch nicht belegt. 10 % der Nutzfläche dürfen für Wohnzwecke verwendet werden. Die beteiligten Architektinnen und Architekten spüren die Wirksamkeit ihres Konzeptes nicht nur am eigenen Leib, sie ­verfolgen sie auch über das Gebäudemonitoring. Betriebsdaten von zwei vollen Jahreszyklen liegen vor. Das errechnete Szenario hat sich gemäss Baumschlager Eberle bewahrheitet; das Hausklima bewegt sich innerhalb der anvisierten Komfortzone. Die Gebäudemasse als thermischen Speicher zu nutzen, hat sich also in der Praxis bewährt.

Stellt sich abschliessend die Frage, ob das Gebäude in Lustenau Schule machen wird. Die Aussagen zum Technikkonzept machen klar, dass sich dieses nicht «einfach» kopieren lässt und dass die Zusammenhänge zwischen Form, Dimensionierung, Strömung und ­Regulierung ganz gründlich studiert werden müssen, bevor man sich an ein solches Abenteuer wagt. Das notwendige umfangreiche Wissen im Hintergrund macht das Konzept gewissermassen zum «geistigen Eigentum» ihrer Urheber, das man nicht sofort durchschaut. Auf Anfrage war von den Architekten zu erfahren, dass unter Beibehaltung der möglichst kompakten Form eine Veränderung des Volumens das Konzept nicht kompromittieren würde. Baumschlager Eberle planen derzeit weitere Bauten, die vom Wissen, das mit dem Haus 2226 erworben wurde, profitieren sollen.

TEC21, Fr., 2015.11.20



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TEC21 2015|47 Thermischer Energiespeicher

02. November 2014Manuel Pestalozzi
db

Weltbühne

Schauplatz großer Politik und heftiger Stildebatten: Seit bald 100 Jahren dokumentieren die Bauwerke des Genfer UNO-Quartiers die Suche nach einer weltoffenen Architektur. Der WIPO-Konferenzsaal setzt neue Akzente – mit dem uralten Baustoff Holz.

Schauplatz großer Politik und heftiger Stildebatten: Seit bald 100 Jahren dokumentieren die Bauwerke des Genfer UNO-Quartiers die Suche nach einer weltoffenen Architektur. Der WIPO-Konferenzsaal setzt neue Akzente – mit dem uralten Baustoff Holz.

Mit der Genfer Konvention, dem Roten Kreuz und dem Völkerbund fing alles an: Ab 1864 fanden sich in der Calvinstadt im äußersten Westen der Schweiz Delegierte aus allen Weltteilen zusammen, um die Grundsätze für ein humanitäres Völkerrecht zu formulieren. Die Abgesandten debattierten zuerst im umgenutzten Hôtel National am Nordostrand der Stadt, dem heutigen Palais Wilson. Zwischen den Weltkriegen entstand dann gut einen Kilometer weiter nördlich, in einer Parkanlage, der Völkerbundpalast. Vorangegangen war ein Architekturwettbewerb, der eine große Stildebatte auslöste und 1928 zur Gründung des Internationalen Kongresses Moderner Architektur (CIAM) führte. Seither haben sich im Quartier »des Nations« zwischen dem Stadtzentrum und dem Völkerbundpalast zahlreiche internationale Organisationen niedergelassen – in Gebäuden, die mit ihrer häufig etwas kraftlosen Interpretation globaler Büroarchitektur und einem oft steril wirkenden Nebeneinander daran erinnern, dass die Stildebatte seit der CIAM-Gründung nichts an Aktualität verloren hat.

Ins Ensemble eingebundener Solist

Neuen Diskussionsstoff bietet der jüngst fertiggestellte Konferenzsaal der Weltorganisation für Geistiges Eigentum (World Intellectual Property Organisation, kurz: WIPO). Das Gebäude steht mitten im UNO-Quartier an der sanft ansteigenden Route de Ferney. Gleich unterhalb schließt sich die Place des Nations an, die auf der Längsachse des Völkerbundpalasts liegt und mit ihrem repräsentativen Gepräge das Wahrzeichen des internationalen Genf ist.

Der Saalbau, im Grundriss ein stumpfer, sich nach Süden öffnender Winkel, schiebt sich zwischen zwei Bürohäuser des WIPO-Ensembles. Südlich erhebt sich auf einem Sockeltrakt das Hauptgebäude der Organisation: ein mit Glas bekleidetes Hochhaus aus den 70er Jahren, dessen scheibenförmiges Volumen zur Place des Nations hin konkav gekrümmt ist. Im Norden erstreckt sich entlang der Route de Ferney ein sechsgeschossiger Riegel mit drei Atrien, der Platz für rund 500 Mitarbeiter bietet. Der mit Lärchenschindeln und bräunlich eingefärbten Aluminiumblechen bekleidete Konferenzsaal vermittelt zwischen den beiden in Blau- und Grautönen gehaltenen, großzügig verglasten Bürohäusern. Zugleich nimmt er als eine Art Pavillon Bezug zu der WIPO-Parkanlage, die einst als Geschenk der Föderativen Republik Brasilien nach Plänen des berühmten Landschaftsgestalters Roberto Burle Marx angelegt wurde.

Für die Planung des Saalbaus zeichnet das Stuttgarter Büro Behnisch Architekten verantwortlich, das auch den 2011 fertiggestellten WIPO-Büroblock an der Route de Ferney entworfen hat. Ursprünglich hätte der Saal in jenes Gebäude integriert werden sollen, doch neue räumliche Anforderungen führten zur nun realisierten »Zwischenraumlösung« nahe den Hauptzugängen der beiden Bürohäuser. Zu deren regelmäßig gegliederten Volumina bildet der Neubau mit seiner eigenwillig bewegten, expressionistisch anmutenden Silhouette einen prägnanten Kontrast. Nach drei Himmelsrichtungen greift er mit großen Fenster-Fühlern in den Raum aus. Im Bereich der Route de Ferney schwebt er über einem Sockel, der direkt in die WIPO-Parkanlage überleitet. Die Place des Nations erreichen die Bewohner des westlich vom WIPO-Komplex gelegenen Stadtquartiers jetzt über einen kleinen Platz zwischen Büro- und Saalbau. Zwar trägt der Neubau auf diese Weise zu einer Belebung des öffentlichen Raums bei, doch wird diese Wirkung aufgrund der rigiden Sicherheitsvorschriften bei internationalen Organisationen etwas beeinträchtigt: Eine Schutzmauer entlang der Route de Ferney steht im Widerspruch zum befreiten Schweben im Stadt- und Parkraum. Immerhin soll eine Begrünung der Mauer die Gegensätze versöhnen.

Virtuos inszenierte Übergänge und Ausblicke

Der Erscheinung nach ein Solitär, fungiert der Konferenzsaal als Erweiterung des WIPO-Hauptgebäudes. Dessen repräsentatives Foyer geht über in eine neu geschaffene Zwischenzone mit Oberlichtern und einer organisch geschwungenen Galerie, die Zugang zu den hinteren Rängen des Konferenzsaals bietet. Der Marmorboden des bestehenden Foyers erstreckt sich bis in die Zwischenzone hinein und endet erst an der Kante, hinter der sich das neue Foyer nach Norden unter das Saalvolumen hinabsenkt. In diesem etwas tageslichtarmen Bereich führen zwei Treppen zum Podium des Saals, außerdem gibt es hier Zugänge zum Parkraum.

In den Saal gelangt man auch über einen kleinen, offenen Hof auf der Nordwestseite des Neubaus. Der Muschelkalk des Hofs setzt sich bei diesem zweiten Zugang als Bodenbelag im Foyer fort und führt als breite Rampe, vorbei an den Glasfronten von Diensträumen, direkt in die erwähnte Zone unter den Saal.

Der Konferenzsaal bietet bis zu 900 Delegierten gleichwertige Sitzplätze. Die Anordnung der Sitzgruppen erinnert an die Berliner Philharmonie von Hans Scharoun, allerdings wölbt sich die Decke in Genf nicht, sondern folgt – ziemlich knapp über den Köpfen – dem Verlauf der sanft ansteigenden Ränge. Außerdem befindet sich das Podium am Scheitelpunkt des offenen Winkels, unter dem in den Himmel ragenden, nach Norden orientierten großen Dachfenster. Die beiden anderen Fenster öffnen sich nach Südwesten zu besagtem Hof und nach Südosten zur Place des Nations. Zusammen mit kreisförmigen Oberlichtern bringen sie viel Tageslicht in den Saal. Von der Caféteria, eingerichtet am Fenster zum Platz, genießt man eine schöne Aussicht, an der auch die in der darüber liegenden »Kommandobrücke« untergebrachten Übersetzer Anteil haben.

Expression in Holz

Baukörper, Fassade und Auskleidung des Konferenzsaals bestehen aus Holz. So wurde nicht nur in Form und Farbgebung, sondern auch in der Materialisierung ein Kontrapunkt zu den benachbarten Bürobauten gesetzt. Freilich erscheint die Materialwahl keineswegs beliebig, weil die Hülle des Neubaus sehr gut mit den Bäumen und Büschen der nahen Parks korrespondiert. Zudem wollte man die Qualitäten des Baustoffs optimal nutzen und ein »gesundes« Bauwerk realisieren. Die Konstruktion übernahm schlaich bergermann und partner mit T-ingénierie und Lygdopoulos, die Ausführung wurde dem Consortium Bois OMPI (Charpente Concept, SJB Kempter + Fitze AG, J.-M. Ducret) anvertraut.

Die außengedämmte, nahezu geschlossene Schale des Saalkörpers ruht nur auf wenigen, mit sehr viel Bedacht platzierten linearen und punktförmigen Auflagern. Bei den Wänden handelt es sich um beidseitig beplankte Fachwerke. Boden und Dach bestehen aus bis zu 30 m langen Hohlkastenträgern, deren Hohlräume sich als Installationsebenen nutzen ließen. Zum Einsatz kam das in der Westschweiz entwickelte und von der Firma Ducret angewendete System Ferwood: BSH-Träger wurden beidseitig beplankt und als parallele Streifen von 1,25 m Breite auf der Baustelle angeliefert. Metalllaschen bilden die Verbindungen, welche die Streifen in statisch wirksame Flächen verwandeln. Durch die kreuzweise verklebten Brettlagen der Beplankung entstanden aus dem ansonsten aufgrund seiner Fasern gerichteten Werkstoff Holz biaxial lastabtragende Platten.

Bei der Bekleidung dominiert Lärche, die sowohl die Fassade als auch Innenwände und Decken prägt. Hinzu kommen Weißtanne und das geölte, durch Pigmente aufgehellte Eichenparkett. Auf diese Weise präsentiert sich der Saal als ein lichtdurchflutetes Futteral, das Geborgenheit vermittelt – und ausnehmend gut riecht! Neben der ausgefallenen Bauform sind es die allgegenwärtigen, weitgehend unbehandelten Holzoberflächen, die aus dem Konferenzsaal einen besonderen Ort machen, der sich von der Alltagsarchitektur des Quartiers abhebt, Konventionen sprengt und für einen willkommenen Kontrast sorgt. Die Wirkung des natürlichen Baustoffs lässt sich innen und außen von den Delegierten und Mitarbeitern der WIPO sowie der Bevölkerung unmittelbar erleben. Gespannt wartet man auf die ersten Spuren des Gebrauchs und der Alterung.

db, So., 2014.11.02



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db 2014|11 Material wirkt

19. Mai 2014Manuel Pestalozzi
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Vielschichtig überwölbt

Der Ehrgeiz eines zeitgemäßen Tierparks besteht darin, jeder Art und Gattung ein Habitat zur Verfügung zu stellen, das der Wildnis nahekommt – eine gewaltige Herausforderung für die Fachplaner aus Architektur, Ingenieurwesen und Landschaftsplanung. Im Fall des Elefantenparks im Züricher Zoo schufen sie in enger Zusammenarbeit ein außergewöhnliches, in jeder Hinsicht stimmiges Bauwerk.

Der Ehrgeiz eines zeitgemäßen Tierparks besteht darin, jeder Art und Gattung ein Habitat zur Verfügung zu stellen, das der Wildnis nahekommt – eine gewaltige Herausforderung für die Fachplaner aus Architektur, Ingenieurwesen und Landschaftsplanung. Im Fall des Elefantenparks im Züricher Zoo schufen sie in enger Zusammenarbeit ein außergewöhnliches, in jeder Hinsicht stimmiges Bauwerk.

Als sich der Zoo Zürich an die Planung der neuen Behausung seiner asiatischen Elefanten machte, waren die Ziele klar: Insgesamt zehn Rüsseltiere sollten möglichst selbständig und weitgehend ohne menschliche Interferenz »haushalten«, sich auf einem geräumigen Gelände, das ihrem Wesen entspricht, fortbewegen können und zu einem gedeihlichen, fruchtbaren Zusammenleben finden – aus gebührendem Abstand betrachtet vom Homo sapiens. »Kaeng Krachan« ist das Motto und der Name, der dem neuen Elefantenpark zugedacht wurde. So heißt ein Landkreis der Provinz Phetchaburi im südwestlichen Teil von Zentral-Thailand. Der Lebensraum der Elefanten im Zoo soll diesen natürlichen Bedingungen weitgehend entsprechen.

Der neue Elefantenpark gehört zur Erweiterung des Zoogeländes, die nach einem Masterplan vorangetrieben wird. Die Möglichkeit der räumlichen Ausdehnung ist der Randlage des 1929 eröffneten Zürcher Zoos zu verdanken. Erbaut auf einem Bergrücken, hoch über Stadt und Seebecken, dem Siedlungsgebiet etwas entrückt, ist das Areal auf drei Seiten von Wald umgeben. Der Masterplan ordnet jedem Zoobereich ein spezifisches Klima zu. Der Elefantenpark, der den asiatischen Monsunwald repräsentiert, befindet sich an der Nordgrenze des Geländes. Die unbebaute Lichtung fällt hier nach Osten ab, weg vom Stadtzentrum. Unmittelbar hinter dem helvetischen Kaeng Krachan beginnt der einheimische Zürichbergwald.

Vom Astwerk zur Schale

Für die Gestaltung des Elefantenparks schrieb das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich im Auftrag der Zoo Zürich AG im Jahr 2008 einen anonymen Wettbewerb mit anschließendem Studienauftrag aus. Als Innenräume waren ein großer Bereich für Kühe (auch bullentauglich), zwei Einzelanlagen für Bullen, eine Quarantänestation und je ein Managementbereich für Kühe und Bullen zu planen. Im großen Bereich wünschten sich die Auslober ein Wasserbecken, das den Besuchern die Gelegenheit gibt, die Elefanten beim Baden zu beobachten. Im Freiraum, der vom Innenbereich ebenso zugänglich ist wie die Savannenlandschaft im Süden, war hangseitig ein Flussbett zu planen.

Gewonnen wurde der Wettbewerb von einem Planungsteam mit Markus Schietsch Architekten, dem Bauingenieurbüro Walt + Galmarini und Lorenz Eugster Landschaftsarchitektur und Städtebau. Das Projekt platziert den Elefantenpark in eine Lichtung am Fuße des »afrikanischen Gebirges«. Das gerodete Waldstück wird durch neue Aufforstungen kompensiert, wodurch eine kleine Lichtung entsteht. An die Lichtung grenzt der Innenbereich, eine ausgedehnte Halle, über der sich eine spektakuläre Schalenkonstruktion wölbt.

Die Schale sowie die Fassade der Halle simulieren in sorgfältig dosierter Abstraktion die Natur. Das Dach mit seinen Öffnungen wird zu einem abstrahierten Ast- und Blattwerk, das wie die Baumkronen des Regenwalds das Licht selektiv gebündelt auf den Boden und die hier gedeihende Fauna und Flora fallen lässt. In dieser Halle, sie folgt mit ihren Felsnischen, Gehölzgruppen und dem Wasserbassin dem gewachsenen Terrain, bewegen sich die Menschen am Rand entlang, von wo sich immer wieder neue Einblicke in den Lebensraum der Zürcher Elefanten im großen Innengehege ergeben. Der Managementbereich, wo der Kontakt der Tiere mit ihren Wärtern stattfindet, die Quarantänestation und die »Herrenzimmer« für die Bullen befinden sich im nördlichen Bereich, am topografisch höchsten Punkt der Halle, über den Technikräumen, der einzigen Unterkellerung der Anlage.

Formfindung

Der spektakulärste Teil dieses Baus ist zweifellos die Dachschale, die sich frei über rund 6 000 m² ausdehnt und Spannweiten von bis zu 85 m überbrückt. Die Holzkonstruktion dürfte in ihrer Art einmalig sein. Dabei handelt es sich nicht um den »Wurf« eines Künstlers, an dem sich die ausführenden Unternehmen die Zähne ausbeißen mussten, sondern um ein Gemeinschaftswerk von Architekten und Ingenieuren, dessen endgültige Ausformung, Detaillierung und praktische Umsetzung vom Planungsteam in kontinuierlichen Schritten erarbeitet wurde. Architekten und Ingenieure sprechen von einer außerordentlich engen und fruchtbaren Zusammenarbeit. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte bei diesem Prozess auch das Büro Kaulquappe aus Zürich, eine von Architekten und Informatikern betriebene Firma, die sich u. a. auf digitale Planung spezialisiert hat. Sie begann bereits in der Ausschreibungsphase mit der parametrischen Aufbereitung der Konstruktion.

Nachdem die Schale nun in ihrer ganzen Pracht sichtbar ist, fällt auf, wie stark sie den Visualisierungen des Wettbewerbsprojekts von 2009 entspricht. Die Beteiligten wussten, worauf sie sich einließen. Im Gespräch verrät Wolfram Kübler, Dipl. Bauing., Partner bei Walt + Galmarini und Projektleiter des Elefantenparks, dass in der frühen Entwurfsphase auch Überlegungen angestellt wurden, ob man nicht Stützen als Stämme in das Innengehege integrieren könnte. Schnell stellte sich aber heraus, dass die Lasten im Fassadenbereich abgetragen werden sollten und auf diesem Weg eine einfache und relativ kostengünstige Konstruktion möglich war. Dass die Schale aus Holz bestehen würde, stand nicht zur Debatte, das relativ geringe Gewicht (u. a. wegen des in Teilen schwierigen Baugrunds erforderlich) und das Bedürfnis nach einer großen »Naturnähe« legten die Wahl des organischen Materials nahe.

Im Grundriss wirkt die Halle wie ein Kieselstein oder ein Fünfeck mit unregelmäßig abgeschliffenen Ecken. Das berühmte Diktum »form follows function« steht dem Konzept aber näher als das romantische Bedürfnis »organisch« zu bauen. Die Gestalt der Schale und der Verlauf ihres Rands ergibt sich aus den Bedingungen der räumlichen Anordnung im und um das Gebäude: In der Fassade der Halle befinden sich Torbögen, die hoch genug sein müssen, um Elefanten und Fahrzeuge passieren zu lassen, auch der Zugang für die Besucher wird mit einem Bogen signalisiert. Das Dach kann somit keine Kuppel sein, die ihre Lasten gleichwertig nach allen Seiten abträgt. Es bildet aufgrund der vom Programm diktierten Bedingungen eine Freiformschale, die auf unterschiedliche Bedürfnisse eingehen muss. Trotz der um sich greifenden Digitalisierung im Entwurf, bedienten sich die Planer bei der Formfindung auch verschiedener Handskizzen. Und die Methode des berühmten Schalenbauers Heinz Isler, der die statisch optimale Form mit hängenden Tüchern erkundete, kam ebenfalls zum Einsatz – allerdings nur in einer Computersimulation.

Ring und Kanal

Der unter den geschilderten Umständen äußerst komplexe, uneinheitliche Übergang zwischen Dach und Wand wird in statischer Hinsicht durch einen vorgespannten, rund 270 m langen Stahlbetonringbalken hergestellt. Er folgt diskret dem Schalenrand, formt die erforderlichen Bögen und leitet die Lasten in fünf lokale Dachfundationen ab. Vier dieser Fundationen befinden sich an der Peripherie des parkartigen Innenbereichs, der durch die umlaufend verglaste Fassade mit dem Außenraum optisch verbunden ist. Die Lastabtragung erfolgt hier über Gruppen von Pfeilern und Stützen, in statischer Hinsicht handelt es sich um vorgespannte Wandscheiben. Zusammen mit den leicht zurückgesetzten Fassadenstreben mit ihren nach außen vorkragenden Köpfen werden sie als künstlicher Waldsaum wahrgenommen.

Die Schubkräfte der Schale werden im Erdreich abgetragen. Auch hier fanden die Ingenieure eine praktische, für die Formgebung relevante Lösung, indem sie verschiedene Aufgaben miteinander kombinierten. Unter der Fassade verläuft rund um das Gebäude ein Medienkanal aus Stahlbeton. Bei den lokalen Dachfundationen wurden auf der Außenseite des Kanals Regenwasserzisternen angefügt und als Dachwiderlager ausgebildet. Pfählungen fixieren diese unsichtbaren »Strebepfeiler« im heterogenen und schwierigen Baugrund, Felsanker übertragen die Schubkräfte. Die Lastabtragung erfolgt insgesamt sehr diskret, die Statik tritt in den Hintergrund. Dies ist dem Konzept der simulierten Natürlichkeit zuträglich.

Holz isotrop

Während die Schale die Natur imitiert, verhält sich der organische Baustoff Holz in der Schalenkonstruktion ähnlich wie Beton, also eher unnatürlich. Den Ingenieuren war bewusst, dass sich Holz als gerichtetes Baumaterial nicht besonders für ein echtes Schalentragwerk eignet. Diesem Umstand trugen sie Rechnung, indem sie großformatige, ebene Plattenstreifen (bis zu 3,4 x 12 m) planten. Sie erhielten auf dem Bauplatz ihre Krümmung und wurden dreilagig, jeweils unter 60° verschwenkt übereinander wie ein riesiges Puzzle angeordnet. Die Faserrichtung der einzelnen Schichten orientiert sich je nach der Position des entsprechenden Plattenstreifens nach den Dachauflagern. Dieses Verfahren ermöglichte für jede Lage präzise Zuschnittspläne, nach denen sich die ausführenden Firmen richten konnten. Der Zusammenhalt der Holzlagen ist durch Nägel gesichert, pro Quadratmeter Schalenfläche wurden 100 Stück dieser »Armierungselemente« eingeschlagen.

Rund 65 % des Dachs sind geschlossen. Zwischen den Holzschichtplatten, die mit einer wasserabführenden Folie belegt und durch eine Begehungsebene aus aufgeständerten Kerto-Furnierschichtplatten geschützt sind, befinden sich die 271 Öffnungen. Ihre einmaligen Formen ergeben sich aus einem Geflecht von Linien, die zwischen den Auflagern kreuz und quer über die Schale verlaufen. Acht von ihnen lassen sich im Sommer oder im Brandfall als RWA-Klappen öffnen. Jede Öffnung wird durch ein individuell druckreguliertes Luftkissen aus UV-durchlässiger ETFE Folie eingedeckt. Die Technik für den Betrieb dieser Dachflächenfenster ist diskret in der raumhaltigen Schale versteckt, sodass das Geflecht und das diffus einfallende Tageslicht das ganze Jahr hindurch ungestörte Träume von Kaeng Krachan zulassen.

db, Mo., 2014.05.19



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