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30. April 2017Susanne Jakob
db

Einheit im Bootsrumpf

Einem umgestülpten, gestrandeten Boot ähnelnd, liegt das »Biodiversum« im luxemburgischen Remerschen auf eigens aufgeschüttetem Gelände im Naturschutzgebiet »Haff Réimech«. Das mit Schindeln verschalte Holztragwerk entfaltet im Innern mit seinen gegeneinander gelehnten, gitterartigen Halbschalen eine geradezu ornamentale Wirkung. Ideengeber der aufwendigen, aber beeindruckenden Netzstruktur, die in dieser Form überhaupt erst zum zweiten Mal angewendet wurde, war »Holzbau-Papst« Julius Natterer.

Einem umgestülpten, gestrandeten Boot ähnelnd, liegt das »Biodiversum« im luxemburgischen Remerschen auf eigens aufgeschüttetem Gelände im Naturschutzgebiet »Haff Réimech«. Das mit Schindeln verschalte Holztragwerk entfaltet im Innern mit seinen gegeneinander gelehnten, gitterartigen Halbschalen eine geradezu ornamentale Wirkung. Ideengeber der aufwendigen, aber beeindruckenden Netzstruktur, die in dieser Form überhaupt erst zum zweiten Mal angewendet wurde, war »Holzbau-Papst« Julius Natterer.

Es ist schon 15 Jahre her, als man das erste Mal über ein Informations- und Empfangszentrum für den Naturpark im Dreiländereck bei Schengen nachdachte. Nun steht das »Centre d’accueil Haff Réimech«, auch kurz Biodi­versum genannt, auf der kleinen Landzunge eines Weihers, als wäre es schon immer dort gewesen. Genutzt wird es vom städtischen Umweltamt.

Das Naturschutzgebiet zwischen Remerschen und Wintrange war einmal ein Sand- und Kies-Abbaugebiet. Die Aushubgruben füllten sich im Laufe der Zeit mit Grundwasser und verliehen der Seenlandschaft ihre Topografie. Auch die Flora und Fauna ergriff nach und nach wieder Besitz von den kahlen, ausgebeuteten Flächen. Diese Situation, aber auch der Plan der Natur­verwaltung von 2004 und der Nationale Naturschutzplan führten zu der Entscheidung, in Remerschen ein Biodiversum als Instrument der Sensibilisierung für Natur und Umweltschutz zu bauen.

Bei der Gebäudeform orientierten sich die Architekten von Valentiny, ebenfalls aus dem luxemburgischen Remerschen, an den Langhäusern der Kelten, den Ureinwohnern dieser Region. Für das Informationszentrum entwarfen sie einen Baukörper, der wie ein gedrehtes Boot aussieht, das sogenannte Langhaus, und ergänzten es auf der untersten Ebene mit einem eingeschossigen Anbau für Büros. Beides sollte ein Holzbau werden – so der Wunsch des Bauherrn, der sich von Anfang an ein nachhaltiges Gebäude wünschte, für das sich Holz nicht nur als der umweltfreundlichste Baustoff herausstellte, sondern auch als der wirtschaftlichste. Die Architekten – bis dato noch nicht sehr erfahren im Holzbau – holten sich bereits während der Entwurfsphase Unterstützung beim Holzbauspezialisten Julius Natterer aus Lausanne [1], um die Machbarkeit verschiedener Ideen auszuloten. Im Zuge dessen sowie auf Anregung von ihm fanden sie als Lösung zu einer Gitterschale aus Holzlamellen. Doch dazu später mehr.

Das Langhaus umfasst Ausstellungsflächen auf drei Geschossen. Der Besucher betritt es auf dem erhöhten EG und trifft dort auf die Empfangstheke. Von da aus kann er seinen Rundgang zu den fünf großen Ausstellungsthemen – Ökologie, Frühgeschichte, Weinbau, Wanderausstellungen und den Naturschutzpark Dreiländereck – starten. Zwei geradläufige Treppen führen ihn weiter – entweder in die obere Etage oder ins UG, das auch von außen über ­einen Steg erreichbar ist und gleichzeitig als Fluchtweg dient.

Der Grundriss des Empfangszentrums weitet sich über etwa 60 m Länge ­konisch auf. Die seeabgewandte, schmalere der beiden Stirnseiten bildet den Eingang und misst rund 13,50 m in der Breite, die zum See sich öffnende Seite dagegen 17 m. Auch der First verläuft schräg und fällt von der Seeseite mit einer Höhenkote von 15 m auf 8 m zum Eingang hin ab. Die abgeschrägten Giebel des Baukörpers sind mit vertikalen Scheiben komplett verglast. Zusammen mit 15 ausgestülpten Dreiecksgauben in der gebogenen Gebäudehülle sorgen sie für Tageslicht im Innern und gewährleisten zugleich ein natürliches Be- und Entlüftungskonzept ausschließlich über Lüftungsklappen an den niveau-unterschiedlichen Stirnseiten und in den Längswänden. So sorgt die Gebäudegeometrie für einen guten Durchzug und optimalen Luftaustausch.

Holzrahmen mit Gitternetz

Das Langhaus ist auf einem Stahlbetonunterbau errichtet. Seine Form ergibt sich aus zwei gegeneinander gelehnten Halbschalen aus Douglasienholz, die Dach und Wand in einem sind. Das Haupttragwerk besteht in der einen Gebäudehälfte aus Brettschichtholz-Rahmen, die, im Abstand von 7,20 m angeordnet, ihre Kräfte auf die Decken des Stahlbetongeschosses ableiten. In der anderen Hälfte bilden je Geschossebene zwei liegende Bogenbinder aus Brettschichtholz die Galerien mit großzügigem Luftraum. Sie schließen an Halbrahmen, Stützen, Träger und Querträger sowie am oberen der beiden Riegel des Portalrahmens an. Zusammen bilden die Bauteile ein räumliches Tragwerk. Die Brettstapel-Deckenelemente, die von Rahmen zu Rahmen bzw. Halbrahmen zu Halbrahmen spannen, sind zu Deckenscheiben verbunden.

Die Queraussteifung des Gebäudes erfolgt zum einen über die Rahmenkonstruktionen, zum andern über den Aufzugsschacht aus Stahlbeton, an den sich das Holztragwerk anlehnt. Für die Längsaussteifung sorgt das Schalentragwerk des mit Brettern beplankten Gitternetzes in Rautenform. Angeschlossen an die geneigten und OSB-beplankten Giebel-Fachwerke können so die Kräfte in Längsrichtung aufgenommen und in die Fundamente geleitet werden.

Das beauftragte Holzbauunternehmen hatte außer der Statik für das Haupttragwerk auch die der Gitternetzkonstruktion zu bemessen und zu planen. Hier nutzten die Tragwerksplaner das Know-how von Natterer und beauftragten ihn mit der sogenannten Knotenstatik. Möglich wurde die Netzkonstruktion durch eine Abwandlung der Brettstapelbauweise, die bekannt ist als Hochkant-Stapelung von Brettern für Decken, Wände und Dächer, weniger aber für gebogene Formen. Um die gekrümmte Dachform herzustellen, wurden vier Douglasie-Holzbretter flach, also horizontal übereinander gestapelt. Auf diese Weise sind sie biegsam und lassen sich als Brettrippenbogen in die gewölbte Form der Netzkonstruktion bringen. Natterer hatte dieses Konstruktionsprinzip 1997 für die 500 m² große Kuppel des »Haus des Handwerks« in Ober-Ramstadt entwickelt und konnte es beim Informationszentrum nun wieder anwenden. Die im Innern sichtbare Gitternetzstruktur erscheint mit ihren Lamellen und rautenförmigen Flächen dazwischen ausgesprochen filigran und ornamental, ohne überladen zu wirken. So zeigt das Gebäude auch auf, wie man mit Holz eine konsequent durchdachte Architektur materialgerecht gestalten kann.

Brett für Brett

Die Montage über ein Lehrgerüst stellte sich als die wirtschaftlichste und schnellste Variante heraus. Dazu wurde per CAD eine geometrisch exakte Schablone aus gegeneinander gestellten Bogenbindern und dazwischen gehängten Querträgern gefertigt. Auf den Höhen der Kreuzungspunkte der Brettlagen angeordnete Querträger erhielten auf der Oberseite Ausfräsungen, in die die Bretter bei der Montage zur vorläufigen Lagesicherung eingelegt werden.

Die Entscheidung fiel außerdem zugunsten einer Montage in Handarbeit, bei der man vor Ort jede Brettlamelle einzeln ablängte. Das sparte die ­Arbeit, tausende unterschiedliche Bretter am Computer zu konstruieren, die man zwar maschinell hätte abbinden können, was aber gleichzeitig zu einem erheblichen logistischen Aufwand auf der Baustelle geführt hätte. So wurden die Lamellen Brett für Brett zugelegt, angerissen, abgeschnitten und gleich eingebaut. Das Gerippe wurde von den Randauflagern ausgehend montiert.

Jeder Brettrippenbogen besteht aus einer Vielzahl unterschiedlich langer Douglasien-Holzlamellen mit einem b/h-Querschnitt von 16 x 3 cm. Sie sind in vier Lagen (zweiachsig verdrillt!) über das Lehrgerüst gebogen und zu 12 cm hohen Rippen verschraubt. Dabei müssen sowohl die übereinander liegenden als auch die sich überkreuzenden Lamellen immer so versetzt sein, dass an keiner Stelle zwei (oder mehr) Lamellenstöße übereinander liegen. An den Kreuzungspunkten laufen nach einem ausgetüftelten Verlegemuster jeweils zwei Brettlamellen durch, zwei sind unterbrochen. Schrauben verbinden sie in den Kreuzungspunkten von oben, sodass sie von unten unsichtbar sind. Auch zwischen den Kreuzungspunkten wurden die »Brettstapel« verschraubt, sodass ein kontinuierlicher Verbund entsteht. Die Verflechtung aller Bretter auf die beschriebene Art und Weise zusammen mit den verwendeten Verbindungsmitteln ergab jedoch noch kein ausreichend steifes Tragwerk. Daher erhielt das Netzwerk eine Bretterschalung als aussteifende Beplankung.

Doch zunächst wurden über dem Rautentragwerk Brettschichtholz-Bogenbinder (b/h = 16 x 27 cm) im Achsabstand von 1,74 m platziert. Sie stützen sich im First gegeneinander ab und sind zu Zweigelenkrahmen verbunden. An ihnen ist das Rautentragwerk angehängt. Die Beplankung kam dann in Form vorgefertigter Elemente auf die Baustelle, wurde zwischen die Bogen-binder eingefügt und mit dem Rautentragwerk verschraubt. Auf der Unterseite sichtbar und mit 1 cm breiter Fuge verlegt, dient sie als Untergrund für den weiteren Dachaufbau und gleichzeitig als Akustikdecke. Auf der Oberseite folgt der restliche, 60 cm dicke Dachaufbau aus Dampfsperre, 16 cm Wärmedämmung und der Eindeckung aus Alaska-Zedernholz-Schindeln.

Ungewöhnliche Lösungen

Das Biodiversum erhielt ein neuartiges Energiekonzept für die Gebäudeheizung: Auf dem Grund des Sees sind Spiralkörbe verteilt, über die eine Wärmepumpe dem Wasser Energie entzieht. Sowohl bei der Pumpe als auch bei den Spiralkörben handelt es sich um speziell für das Gebäude entwickelte Prototypen. So setzt sich die Wärmepumpe beispielsweise aus Einzelkomponenten zusammen und ist in dieser Konstellation im Handel nicht erhältlich; insbesondere die Heißgas-Entkopplung für eine effiziente separate Warmwasserbereitung gab es zum Zeitpunkt der Planung bei Wärmepumpen noch nicht. Die während der Planungszeit sehr spät getroffene Entscheidung für das Heizsystem brachte eine ungewöhnliche Lösung für die Fußbodenheizung mit sich, denn aus Gründen der Einhaltung der geplanten Fußboden­niveau-Oberkanten – der Aufzugsschacht war bereits betoniert und die Statik des räumlich zusammenwirkenden Tragwerks längst freigegeben – standen nur 6,5 cm für den erforderlichen Bodenaufbau zur Verfügung. Für Dämmung, Heizschlangen und den Bodenbelag wird üblicherweise die doppelte Aufbauhöhe benötigt.

Die Lösung bestand darin, die Heizschlangen in 30 mm dicke, entsprechend ausgefräste MDF-Platten einzulegen. Auf diese Weise fungiert die Trägerplatte gleichzeitig als Dämmung. Damit die Heizwärme dennoch vollständig nach oben ausstrahlt, erhielten die Platten unterseitig ­eine ergänzende, dünne Dämmschicht. Oberseitig folgte ein Gitter aus einer Art Streckmetall, das verspachtelt wurde. Darauf wurde schließlich das ­Parkett verlegt. Dieser Aufbau war durchaus kostspielig, stellte aber die bei Weitem günstigere Lösung dar als eine Umplanung des Tragwerks.

Mit Preisen bedacht

Das Gebäude erhielt 2016 den Bauherrenpreis der Architektenkammer Luxemburg in der Kategorie Öffentliche Bauten und wurde im November 2016 außerdem mit dem Holzbaupreis Eifel ausgezeichnet. Die Jury schätzte v. a. die schlüssigen konstruktiven Details, die Form und Konstruktion zu einer Einheit verschmelzen lassen.

db, So., 2017.04.30



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Informationszentrum »Biodiversum«



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db 2017|05 Ingenieur Baukunst

13. August 2012Susanne Jakob
dérive

Ideologische Implikationen urbaner Visionen

Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt
Württembergischer Kunstverein, Stuttgart
17. Mai bis 29. Juli 2012


Das Wort »Angst« prangt...

Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt
Württembergischer Kunstverein, Stuttgart
17. Mai bis 29. Juli 2012


Das Wort »Angst« prangt...

Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt
Württembergischer Kunstverein, Stuttgart
17. Mai bis 29. Juli 2012


Das Wort »Angst« prangt seit Mitte Mai in gelber Schreibschrift auf der Fassade der 1961 erbauten Ausstellungshalle des Württembergischen Kunstvereins (siehe Abbildung). Die Neonarbeit des Düsseldorfer Künstlers Ludger Gerdes, die seit den 1990er Jahren das Rathaus der nordrhein-westfälischen Stadt Marl ziert, wurde für die Dauer der Ausstellung Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt von den beiden Direk­torInnen Iris Dressler und Hans Christ nach Stuttgart dissoziiert.

Die Kontextverschiebung der Marler Neonarbeit eröffnet neue Kommen­tar­ebenen und schafft räumliche Bezieh­ungen, beispielsweise zum Innenhof des Württembergischen Kunstvereins, in dem seit den 1980er Jahren die heftig umstrittene »Bewusstseins-Skulptur« Stammheim (1984) von Olaf Metzel installiert ist, sowie zum Hauptbahnhof und Schlossgarten, die inzwischen zum dystopischen Monument neoliberaler Raumplanung geworden sind. Eine Referenz zur lokalen Situation bietet ebenfalls die Ausstellung, die als begehbares Stadtmodell funktioniert. Der Parcours führt vorbei an utopischen und realisierten Stadtprojekten, an Theorie­displays und Bildarchiven, in denen Reprä­sen­­ta­tions­formen, Umwertungen und Krisen der Stadt von den 1930er Jahren bis heute thematisiert werden. Dazu werden künstlerische Beiträge, die sich mit städtebaulichen, sozialen, politischen und ökonomischen Konfliktfeldern der Stadt be­­fassen, sowie Material aus der Pop-, Protest- und Subkultur und Rekonstruktio­nen von Ausstellungen der 1970er Jahre in Beziehung gesetzt.

Im Eingangsbereich enthüllt der Berliner Fotograf Martin Eberle mit der fotogra­fischen Abhandlung Pyongyangstudies II (2007 – 2012) die Quellen, aus denen sich die Stadtplanung der nordkoreanischen Metropole Pjöngjang speist. Der Aufbau der nordkoreanischen Hauptstadt beruht im Wesentlichen auf 25 Schautafeln zur Weltarchitektur, die in der staatlichen Akademie der Architektur seit der Regierungszeit von Kim Jong Il (1994 – 2011) ausgestellt sind. In der nach dem post­modernen Copy-Cut-Paste-Verfahren gestalteten Hauptstadt wurden die Ikonen der Weltarchitektur nicht wegen ihrer architektonischen Qualität, sondern allein aufgrund ihrer Ikonizität ausgesucht.

Die kuriose Akkumulation von Architektur­ikonen, die von Monumenten der Megalithkultur bis zum Präsidentenpalast von Oscar Niemeyer in Brasilia (1959) reichen, steht exemplarisch für den Versuch, Architektur als subtiles Instrument der Erziehung und Disziplinierung einzusetzen und hegemoniale Machtan­sprüche durch Stadtplanung zu ze­mentieren. Historische Kontinuitäten der Verbindung von Stadtplanung, Politik und Ökonomie lassen sich von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart verfolgen. Als Beispiel für die gescheiterte Allianz dieser Interessen steht das ambitionierte Sanierungsprojekt Pruitt-Igoe im Norden von St. Louis (USA). Dieses Wohnquartier, das in den 1950er Jahren mit Geldern
des National Housing Act finanziert und vom japanischen Architekten Minoru Yamasaki (1912–1986) als getrennte Baukomplexe geplant wurde, ist ein Bei­spiel für die US-amerikanische Siedlungs- und Rassentrennungspolitik, die in St. Louis mit der spektakulären Sprengung der Siedlung 1972 endete.

Einen weiteren Bereich nehmen die visionären und urbanismuskritischen Debatten der 1970er Jahre ein, die mit Lucius Burckhardts Fragestellung »Wer plant die Planung« (1974) einsetzten. Einen Rückgriff auf die Architektur-, Gender- und Kunstdiskurse der 1970er Jahre bringt Yvonne P. Doderers und Ute Meta Bauers mehrfarbiges Bildstecksystem Raumstruktur (1994 — 1995) zur Geltung.

Während die Manifeste und Planungen der Moderne noch die Funktionsprobleme der Städte zu lösen versuchten, werden die Planungsvorhaben in der spätkapita­listischen Stadt überwiegend von öko­nomischen und privatwirtschaftlichen Inter­essen bestimmt. Zum Sinnbild der nach marktwirtschaftlichen Kriterien operieren­den Stadt wurde in den 1990er Jahren das Iconic Building, das der amerikanische Architekturtheoretiker Charles Jencks als »enigmatic signifier« charakterisierte. Dem Ausverkauf und Verschwinden des differenziellen urbanen Raums setzt die Ausstellung andere Formen der Raum­aneignung entgegen, die sich in künstle­rischen Praktiken und gegenhegemonialen Strategien äußern. Der Slogan »Demo­craticemos La Democracia« (Demokratisie­ren wir die Demokratie), den Daniel Garcia Andujar 2011 auf einem Werbebanner im Luftraum Barcelonas vor dem emblema­tischen Torre Agbar platzierte, kann als deutliches Plädoyer für mehr gesell­schaftliche Partizipation und Solidarität gelesen werden. Ein eindrucksvolles Beispiel für den Widerstand gegen das Cleaning-up kompletter Stadtviertel liefert John Smiths’ Videofilm Blight (1994 — 1996), in dem er den aussichtslosen Kampf der BewohnerInnen gegen den Abriss einer Wohnsiedlung in East London begleitete. Die Montage aus Bildern, Originaltönen und musikalischen Elementen wird zur Metapher für Trauer und Verlust eines historisch gewachsenen Lebensumfeldes.

Subversiver agiert hingegen der Stuttgarter Künstler Pablo Wendel, der im Außenbereich des Württembergischen Kunstvereins mit einem Stelzenbau und dem Kunststrom erzeugenden Firmenlabel Performance Electrics das Machtmonopol der Energie­konzerne zu unterlaufen versucht. Wendels künstlerisches Selbstversorgungs­system beruht auf einer Kunststrom-Sammelstelle, einer Gruppe von Strom-Phreakern (Varta Bande) und einem Verteilungs­system, an dem man sich über Energie­partnerschaften beteiligen kann.

Mit der Videoperformance New Town Ghost (2005), in der eine Sängerin und ein Schlagzeuger auf einem Pickup durch die Straßen von Seoul fahren, klagt die Koreanerin Minouk Lim den Verlust von Tradition und städtischen Mikrostrukturen an, die durch die Bautätigkeit der New Economy verloren gingen. Der (Hilfe)schrei »Oh, My Complex! New Town Ghost!« verhallt als letzte Instanz der Selbstbehauptung in den Straßen­schluchten der koreanischen Megacity.

dérive, Mo., 2012.08.13



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dérive 48 Stadt Klima Wandel

Presseschau 12

30. April 2017Susanne Jakob
db

Einheit im Bootsrumpf

Einem umgestülpten, gestrandeten Boot ähnelnd, liegt das »Biodiversum« im luxemburgischen Remerschen auf eigens aufgeschüttetem Gelände im Naturschutzgebiet »Haff Réimech«. Das mit Schindeln verschalte Holztragwerk entfaltet im Innern mit seinen gegeneinander gelehnten, gitterartigen Halbschalen eine geradezu ornamentale Wirkung. Ideengeber der aufwendigen, aber beeindruckenden Netzstruktur, die in dieser Form überhaupt erst zum zweiten Mal angewendet wurde, war »Holzbau-Papst« Julius Natterer.

Einem umgestülpten, gestrandeten Boot ähnelnd, liegt das »Biodiversum« im luxemburgischen Remerschen auf eigens aufgeschüttetem Gelände im Naturschutzgebiet »Haff Réimech«. Das mit Schindeln verschalte Holztragwerk entfaltet im Innern mit seinen gegeneinander gelehnten, gitterartigen Halbschalen eine geradezu ornamentale Wirkung. Ideengeber der aufwendigen, aber beeindruckenden Netzstruktur, die in dieser Form überhaupt erst zum zweiten Mal angewendet wurde, war »Holzbau-Papst« Julius Natterer.

Es ist schon 15 Jahre her, als man das erste Mal über ein Informations- und Empfangszentrum für den Naturpark im Dreiländereck bei Schengen nachdachte. Nun steht das »Centre d’accueil Haff Réimech«, auch kurz Biodi­versum genannt, auf der kleinen Landzunge eines Weihers, als wäre es schon immer dort gewesen. Genutzt wird es vom städtischen Umweltamt.

Das Naturschutzgebiet zwischen Remerschen und Wintrange war einmal ein Sand- und Kies-Abbaugebiet. Die Aushubgruben füllten sich im Laufe der Zeit mit Grundwasser und verliehen der Seenlandschaft ihre Topografie. Auch die Flora und Fauna ergriff nach und nach wieder Besitz von den kahlen, ausgebeuteten Flächen. Diese Situation, aber auch der Plan der Natur­verwaltung von 2004 und der Nationale Naturschutzplan führten zu der Entscheidung, in Remerschen ein Biodiversum als Instrument der Sensibilisierung für Natur und Umweltschutz zu bauen.

Bei der Gebäudeform orientierten sich die Architekten von Valentiny, ebenfalls aus dem luxemburgischen Remerschen, an den Langhäusern der Kelten, den Ureinwohnern dieser Region. Für das Informationszentrum entwarfen sie einen Baukörper, der wie ein gedrehtes Boot aussieht, das sogenannte Langhaus, und ergänzten es auf der untersten Ebene mit einem eingeschossigen Anbau für Büros. Beides sollte ein Holzbau werden – so der Wunsch des Bauherrn, der sich von Anfang an ein nachhaltiges Gebäude wünschte, für das sich Holz nicht nur als der umweltfreundlichste Baustoff herausstellte, sondern auch als der wirtschaftlichste. Die Architekten – bis dato noch nicht sehr erfahren im Holzbau – holten sich bereits während der Entwurfsphase Unterstützung beim Holzbauspezialisten Julius Natterer aus Lausanne [1], um die Machbarkeit verschiedener Ideen auszuloten. Im Zuge dessen sowie auf Anregung von ihm fanden sie als Lösung zu einer Gitterschale aus Holzlamellen. Doch dazu später mehr.

Das Langhaus umfasst Ausstellungsflächen auf drei Geschossen. Der Besucher betritt es auf dem erhöhten EG und trifft dort auf die Empfangstheke. Von da aus kann er seinen Rundgang zu den fünf großen Ausstellungsthemen – Ökologie, Frühgeschichte, Weinbau, Wanderausstellungen und den Naturschutzpark Dreiländereck – starten. Zwei geradläufige Treppen führen ihn weiter – entweder in die obere Etage oder ins UG, das auch von außen über ­einen Steg erreichbar ist und gleichzeitig als Fluchtweg dient.

Der Grundriss des Empfangszentrums weitet sich über etwa 60 m Länge ­konisch auf. Die seeabgewandte, schmalere der beiden Stirnseiten bildet den Eingang und misst rund 13,50 m in der Breite, die zum See sich öffnende Seite dagegen 17 m. Auch der First verläuft schräg und fällt von der Seeseite mit einer Höhenkote von 15 m auf 8 m zum Eingang hin ab. Die abgeschrägten Giebel des Baukörpers sind mit vertikalen Scheiben komplett verglast. Zusammen mit 15 ausgestülpten Dreiecksgauben in der gebogenen Gebäudehülle sorgen sie für Tageslicht im Innern und gewährleisten zugleich ein natürliches Be- und Entlüftungskonzept ausschließlich über Lüftungsklappen an den niveau-unterschiedlichen Stirnseiten und in den Längswänden. So sorgt die Gebäudegeometrie für einen guten Durchzug und optimalen Luftaustausch.

Holzrahmen mit Gitternetz

Das Langhaus ist auf einem Stahlbetonunterbau errichtet. Seine Form ergibt sich aus zwei gegeneinander gelehnten Halbschalen aus Douglasienholz, die Dach und Wand in einem sind. Das Haupttragwerk besteht in der einen Gebäudehälfte aus Brettschichtholz-Rahmen, die, im Abstand von 7,20 m angeordnet, ihre Kräfte auf die Decken des Stahlbetongeschosses ableiten. In der anderen Hälfte bilden je Geschossebene zwei liegende Bogenbinder aus Brettschichtholz die Galerien mit großzügigem Luftraum. Sie schließen an Halbrahmen, Stützen, Träger und Querträger sowie am oberen der beiden Riegel des Portalrahmens an. Zusammen bilden die Bauteile ein räumliches Tragwerk. Die Brettstapel-Deckenelemente, die von Rahmen zu Rahmen bzw. Halbrahmen zu Halbrahmen spannen, sind zu Deckenscheiben verbunden.

Die Queraussteifung des Gebäudes erfolgt zum einen über die Rahmenkonstruktionen, zum andern über den Aufzugsschacht aus Stahlbeton, an den sich das Holztragwerk anlehnt. Für die Längsaussteifung sorgt das Schalentragwerk des mit Brettern beplankten Gitternetzes in Rautenform. Angeschlossen an die geneigten und OSB-beplankten Giebel-Fachwerke können so die Kräfte in Längsrichtung aufgenommen und in die Fundamente geleitet werden.

Das beauftragte Holzbauunternehmen hatte außer der Statik für das Haupttragwerk auch die der Gitternetzkonstruktion zu bemessen und zu planen. Hier nutzten die Tragwerksplaner das Know-how von Natterer und beauftragten ihn mit der sogenannten Knotenstatik. Möglich wurde die Netzkonstruktion durch eine Abwandlung der Brettstapelbauweise, die bekannt ist als Hochkant-Stapelung von Brettern für Decken, Wände und Dächer, weniger aber für gebogene Formen. Um die gekrümmte Dachform herzustellen, wurden vier Douglasie-Holzbretter flach, also horizontal übereinander gestapelt. Auf diese Weise sind sie biegsam und lassen sich als Brettrippenbogen in die gewölbte Form der Netzkonstruktion bringen. Natterer hatte dieses Konstruktionsprinzip 1997 für die 500 m² große Kuppel des »Haus des Handwerks« in Ober-Ramstadt entwickelt und konnte es beim Informationszentrum nun wieder anwenden. Die im Innern sichtbare Gitternetzstruktur erscheint mit ihren Lamellen und rautenförmigen Flächen dazwischen ausgesprochen filigran und ornamental, ohne überladen zu wirken. So zeigt das Gebäude auch auf, wie man mit Holz eine konsequent durchdachte Architektur materialgerecht gestalten kann.

Brett für Brett

Die Montage über ein Lehrgerüst stellte sich als die wirtschaftlichste und schnellste Variante heraus. Dazu wurde per CAD eine geometrisch exakte Schablone aus gegeneinander gestellten Bogenbindern und dazwischen gehängten Querträgern gefertigt. Auf den Höhen der Kreuzungspunkte der Brettlagen angeordnete Querträger erhielten auf der Oberseite Ausfräsungen, in die die Bretter bei der Montage zur vorläufigen Lagesicherung eingelegt werden.

Die Entscheidung fiel außerdem zugunsten einer Montage in Handarbeit, bei der man vor Ort jede Brettlamelle einzeln ablängte. Das sparte die ­Arbeit, tausende unterschiedliche Bretter am Computer zu konstruieren, die man zwar maschinell hätte abbinden können, was aber gleichzeitig zu einem erheblichen logistischen Aufwand auf der Baustelle geführt hätte. So wurden die Lamellen Brett für Brett zugelegt, angerissen, abgeschnitten und gleich eingebaut. Das Gerippe wurde von den Randauflagern ausgehend montiert.

Jeder Brettrippenbogen besteht aus einer Vielzahl unterschiedlich langer Douglasien-Holzlamellen mit einem b/h-Querschnitt von 16 x 3 cm. Sie sind in vier Lagen (zweiachsig verdrillt!) über das Lehrgerüst gebogen und zu 12 cm hohen Rippen verschraubt. Dabei müssen sowohl die übereinander liegenden als auch die sich überkreuzenden Lamellen immer so versetzt sein, dass an keiner Stelle zwei (oder mehr) Lamellenstöße übereinander liegen. An den Kreuzungspunkten laufen nach einem ausgetüftelten Verlegemuster jeweils zwei Brettlamellen durch, zwei sind unterbrochen. Schrauben verbinden sie in den Kreuzungspunkten von oben, sodass sie von unten unsichtbar sind. Auch zwischen den Kreuzungspunkten wurden die »Brettstapel« verschraubt, sodass ein kontinuierlicher Verbund entsteht. Die Verflechtung aller Bretter auf die beschriebene Art und Weise zusammen mit den verwendeten Verbindungsmitteln ergab jedoch noch kein ausreichend steifes Tragwerk. Daher erhielt das Netzwerk eine Bretterschalung als aussteifende Beplankung.

Doch zunächst wurden über dem Rautentragwerk Brettschichtholz-Bogenbinder (b/h = 16 x 27 cm) im Achsabstand von 1,74 m platziert. Sie stützen sich im First gegeneinander ab und sind zu Zweigelenkrahmen verbunden. An ihnen ist das Rautentragwerk angehängt. Die Beplankung kam dann in Form vorgefertigter Elemente auf die Baustelle, wurde zwischen die Bogen-binder eingefügt und mit dem Rautentragwerk verschraubt. Auf der Unterseite sichtbar und mit 1 cm breiter Fuge verlegt, dient sie als Untergrund für den weiteren Dachaufbau und gleichzeitig als Akustikdecke. Auf der Oberseite folgt der restliche, 60 cm dicke Dachaufbau aus Dampfsperre, 16 cm Wärmedämmung und der Eindeckung aus Alaska-Zedernholz-Schindeln.

Ungewöhnliche Lösungen

Das Biodiversum erhielt ein neuartiges Energiekonzept für die Gebäudeheizung: Auf dem Grund des Sees sind Spiralkörbe verteilt, über die eine Wärmepumpe dem Wasser Energie entzieht. Sowohl bei der Pumpe als auch bei den Spiralkörben handelt es sich um speziell für das Gebäude entwickelte Prototypen. So setzt sich die Wärmepumpe beispielsweise aus Einzelkomponenten zusammen und ist in dieser Konstellation im Handel nicht erhältlich; insbesondere die Heißgas-Entkopplung für eine effiziente separate Warmwasserbereitung gab es zum Zeitpunkt der Planung bei Wärmepumpen noch nicht. Die während der Planungszeit sehr spät getroffene Entscheidung für das Heizsystem brachte eine ungewöhnliche Lösung für die Fußbodenheizung mit sich, denn aus Gründen der Einhaltung der geplanten Fußboden­niveau-Oberkanten – der Aufzugsschacht war bereits betoniert und die Statik des räumlich zusammenwirkenden Tragwerks längst freigegeben – standen nur 6,5 cm für den erforderlichen Bodenaufbau zur Verfügung. Für Dämmung, Heizschlangen und den Bodenbelag wird üblicherweise die doppelte Aufbauhöhe benötigt.

Die Lösung bestand darin, die Heizschlangen in 30 mm dicke, entsprechend ausgefräste MDF-Platten einzulegen. Auf diese Weise fungiert die Trägerplatte gleichzeitig als Dämmung. Damit die Heizwärme dennoch vollständig nach oben ausstrahlt, erhielten die Platten unterseitig ­eine ergänzende, dünne Dämmschicht. Oberseitig folgte ein Gitter aus einer Art Streckmetall, das verspachtelt wurde. Darauf wurde schließlich das ­Parkett verlegt. Dieser Aufbau war durchaus kostspielig, stellte aber die bei Weitem günstigere Lösung dar als eine Umplanung des Tragwerks.

Mit Preisen bedacht

Das Gebäude erhielt 2016 den Bauherrenpreis der Architektenkammer Luxemburg in der Kategorie Öffentliche Bauten und wurde im November 2016 außerdem mit dem Holzbaupreis Eifel ausgezeichnet. Die Jury schätzte v. a. die schlüssigen konstruktiven Details, die Form und Konstruktion zu einer Einheit verschmelzen lassen.

db, So., 2017.04.30



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Informationszentrum »Biodiversum«



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db 2017|05 Ingenieur Baukunst

13. August 2012Susanne Jakob
dérive

Ideologische Implikationen urbaner Visionen

Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt
Württembergischer Kunstverein, Stuttgart
17. Mai bis 29. Juli 2012


Das Wort »Angst« prangt...

Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt
Württembergischer Kunstverein, Stuttgart
17. Mai bis 29. Juli 2012


Das Wort »Angst« prangt...

Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt
Württembergischer Kunstverein, Stuttgart
17. Mai bis 29. Juli 2012


Das Wort »Angst« prangt seit Mitte Mai in gelber Schreibschrift auf der Fassade der 1961 erbauten Ausstellungshalle des Württembergischen Kunstvereins (siehe Abbildung). Die Neonarbeit des Düsseldorfer Künstlers Ludger Gerdes, die seit den 1990er Jahren das Rathaus der nordrhein-westfälischen Stadt Marl ziert, wurde für die Dauer der Ausstellung Oh, my Complex City – Vom Unbehagen beim Anblick der Stadt von den beiden Direk­torInnen Iris Dressler und Hans Christ nach Stuttgart dissoziiert.

Die Kontextverschiebung der Marler Neonarbeit eröffnet neue Kommen­tar­ebenen und schafft räumliche Bezieh­ungen, beispielsweise zum Innenhof des Württembergischen Kunstvereins, in dem seit den 1980er Jahren die heftig umstrittene »Bewusstseins-Skulptur« Stammheim (1984) von Olaf Metzel installiert ist, sowie zum Hauptbahnhof und Schlossgarten, die inzwischen zum dystopischen Monument neoliberaler Raumplanung geworden sind. Eine Referenz zur lokalen Situation bietet ebenfalls die Ausstellung, die als begehbares Stadtmodell funktioniert. Der Parcours führt vorbei an utopischen und realisierten Stadtprojekten, an Theorie­displays und Bildarchiven, in denen Reprä­sen­­ta­tions­formen, Umwertungen und Krisen der Stadt von den 1930er Jahren bis heute thematisiert werden. Dazu werden künstlerische Beiträge, die sich mit städtebaulichen, sozialen, politischen und ökonomischen Konfliktfeldern der Stadt be­­fassen, sowie Material aus der Pop-, Protest- und Subkultur und Rekonstruktio­nen von Ausstellungen der 1970er Jahre in Beziehung gesetzt.

Im Eingangsbereich enthüllt der Berliner Fotograf Martin Eberle mit der fotogra­fischen Abhandlung Pyongyangstudies II (2007 – 2012) die Quellen, aus denen sich die Stadtplanung der nordkoreanischen Metropole Pjöngjang speist. Der Aufbau der nordkoreanischen Hauptstadt beruht im Wesentlichen auf 25 Schautafeln zur Weltarchitektur, die in der staatlichen Akademie der Architektur seit der Regierungszeit von Kim Jong Il (1994 – 2011) ausgestellt sind. In der nach dem post­modernen Copy-Cut-Paste-Verfahren gestalteten Hauptstadt wurden die Ikonen der Weltarchitektur nicht wegen ihrer architektonischen Qualität, sondern allein aufgrund ihrer Ikonizität ausgesucht.

Die kuriose Akkumulation von Architektur­ikonen, die von Monumenten der Megalithkultur bis zum Präsidentenpalast von Oscar Niemeyer in Brasilia (1959) reichen, steht exemplarisch für den Versuch, Architektur als subtiles Instrument der Erziehung und Disziplinierung einzusetzen und hegemoniale Machtan­sprüche durch Stadtplanung zu ze­mentieren. Historische Kontinuitäten der Verbindung von Stadtplanung, Politik und Ökonomie lassen sich von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart verfolgen. Als Beispiel für die gescheiterte Allianz dieser Interessen steht das ambitionierte Sanierungsprojekt Pruitt-Igoe im Norden von St. Louis (USA). Dieses Wohnquartier, das in den 1950er Jahren mit Geldern
des National Housing Act finanziert und vom japanischen Architekten Minoru Yamasaki (1912–1986) als getrennte Baukomplexe geplant wurde, ist ein Bei­spiel für die US-amerikanische Siedlungs- und Rassentrennungspolitik, die in St. Louis mit der spektakulären Sprengung der Siedlung 1972 endete.

Einen weiteren Bereich nehmen die visionären und urbanismuskritischen Debatten der 1970er Jahre ein, die mit Lucius Burckhardts Fragestellung »Wer plant die Planung« (1974) einsetzten. Einen Rückgriff auf die Architektur-, Gender- und Kunstdiskurse der 1970er Jahre bringt Yvonne P. Doderers und Ute Meta Bauers mehrfarbiges Bildstecksystem Raumstruktur (1994 — 1995) zur Geltung.

Während die Manifeste und Planungen der Moderne noch die Funktionsprobleme der Städte zu lösen versuchten, werden die Planungsvorhaben in der spätkapita­listischen Stadt überwiegend von öko­nomischen und privatwirtschaftlichen Inter­essen bestimmt. Zum Sinnbild der nach marktwirtschaftlichen Kriterien operieren­den Stadt wurde in den 1990er Jahren das Iconic Building, das der amerikanische Architekturtheoretiker Charles Jencks als »enigmatic signifier« charakterisierte. Dem Ausverkauf und Verschwinden des differenziellen urbanen Raums setzt die Ausstellung andere Formen der Raum­aneignung entgegen, die sich in künstle­rischen Praktiken und gegenhegemonialen Strategien äußern. Der Slogan »Demo­craticemos La Democracia« (Demokratisie­ren wir die Demokratie), den Daniel Garcia Andujar 2011 auf einem Werbebanner im Luftraum Barcelonas vor dem emblema­tischen Torre Agbar platzierte, kann als deutliches Plädoyer für mehr gesell­schaftliche Partizipation und Solidarität gelesen werden. Ein eindrucksvolles Beispiel für den Widerstand gegen das Cleaning-up kompletter Stadtviertel liefert John Smiths’ Videofilm Blight (1994 — 1996), in dem er den aussichtslosen Kampf der BewohnerInnen gegen den Abriss einer Wohnsiedlung in East London begleitete. Die Montage aus Bildern, Originaltönen und musikalischen Elementen wird zur Metapher für Trauer und Verlust eines historisch gewachsenen Lebensumfeldes.

Subversiver agiert hingegen der Stuttgarter Künstler Pablo Wendel, der im Außenbereich des Württembergischen Kunstvereins mit einem Stelzenbau und dem Kunststrom erzeugenden Firmenlabel Performance Electrics das Machtmonopol der Energie­konzerne zu unterlaufen versucht. Wendels künstlerisches Selbstversorgungs­system beruht auf einer Kunststrom-Sammelstelle, einer Gruppe von Strom-Phreakern (Varta Bande) und einem Verteilungs­system, an dem man sich über Energie­partnerschaften beteiligen kann.

Mit der Videoperformance New Town Ghost (2005), in der eine Sängerin und ein Schlagzeuger auf einem Pickup durch die Straßen von Seoul fahren, klagt die Koreanerin Minouk Lim den Verlust von Tradition und städtischen Mikrostrukturen an, die durch die Bautätigkeit der New Economy verloren gingen. Der (Hilfe)schrei »Oh, My Complex! New Town Ghost!« verhallt als letzte Instanz der Selbstbehauptung in den Straßen­schluchten der koreanischen Megacity.

dérive, Mo., 2012.08.13



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