Editorial

Zum Abschluss des Jahres laden wir Sie wieder zu einer Entdeckungsreise zu den Lieblingsprojekten der Redakteure ein. Alle Projekte stellen wir Ihnen dabei unter dem gewohnt architekturkritischen Blickwinkel der db vor. Folgen Sie uns auf den nächsten Seiten u. a. zu dem wahrscheinlich radikalsten Schweizer Wohnungsbauprojekt der letzten Jahre, zur Erweiterung des Stadtmuseums von Aarau, zu einem bemerkenswert schlichten Verwaltungsgebäude in ­Besigheim sowie zum Umbau ­einer alten Skifabrik im Schwarzwald in ­eine Pflegeeinrichtung für Kinder. Wir wünschen eine anregende Reise! | Die Redaktion

Umgarntes Wohnen

(SUBTITLE) Wohnbebauung Zwicky-Süd in Zürich-Dübendorf (CH)

Auf dem Areal der Schweizer Spinnerei »Zwicky« ist ein beachtenswertes neues Wohnquartier entstanden. Die außergewöhnliche Konstellation von Auftraggebern und der von schroffen Nachbarschaften und Gegensätzen ­geprägte Ort bilden die Grundlage für ein radikales Statement für Verdichtung und urbanes Leben an der ­Peripherie.

Wasserkraft war das im wahrsten Sinne treibende Element für die Mechanisierung der Schweizer Textilindustrie im frühen 19. Jahrhundert. Mit der ­Eigenart, dass sich die Fabriken zumeist nicht mit den bestehenden Siedlungszentren verbanden, sondern entstanden, wo die Ressource Wasser in ausreichendem Maße vorhanden war. Das galt auch für die auf Nähfäden und Webgarne spezialisierte Spinnerei »Zwicky«, die 1840 ihre Produktion auf ­einem 10 km nordöstlich vom Stadtkern Zürichs gelegenen Areal zwischen den damaligen Dörfern Wallisellen und Dübendorf aufnahm – dort, wo der Chriesbach in das Flüsschen Glatt mündet. Das Fabrikgelände erweiterte sich sukzessive, mit aller Macht um 1900; vom Renommee der Firma zeugte nicht zuletzt die Tatsache, dass sich die Eigentümer ihre Fabrikantenvilla vom Zürcher Stadtbaumeister Gustav Gull errichten ließen. Das Logo der Firma, die Katze mit der Garnspule, wurde zu einer Schweizer Ikone. Doch die um 1970 einsetzende Krise der Textilindustrie verschonte auch die Zwicky & Co. AG nicht. Die Produktion – Zwirnerei, Färberei, Spulerei – wurde ins Ausland verlagert, 2001 erfolgte das Aus für den Standort. Schrittweise begann die Umnutzung der historischen Bauten, Hausarchitekt Tomaso Zanoni entwickelte die Pläne für eine Transformation und Neubebauung des Areals mit insgesamt sieben Baufeldern. Das vielleicht problematischste, aber auch größte Baufeld E ­befand sich im Süden des Geländes. Es ist auf der Nord­seite durch ein S-Bahn-Viadukt vom ehemaligen Produktionsareal mit den historischen Bauten abgetrennt und wird nach Osten und Süden von zwei viel­ ­befahrenen Ausfallstraßen begrenzt. Dazu kam eine unwirtliche Umgebung: Autohäuser, ­Gewerbegebiete und keine Anbindung an den öffentlichen ­Nahverkehr.

Was also machen mit solch einem Terrain? Die Grundstückseigentümer schalteten die Immobilienberatungsgesellschaft Wüest & Partner ein, und diese nahm Kontakt mit der Stadt-Zürcher Baugenossenschaft Kraftwerk 1 auf, die einerseits seit ihrer Gründung stark alternative Ansätze im Wohnungsbau verfolgt und andererseits Erfahrung mit städtischen Randlagen besitzt: Die erste Siedlung (2001) entstand im Zürcher Westen an der viel befahrenen Hardturmstraße zu einer Zeit, als dieses Gebiet noch nicht als trendig galt; 2012 wurde ein Mehrgenerationenhaus im Außenbezirk Höngg fertiggestellt.

Kraftwerk 1 ließ sich auf das Experiment ein und so wurde 2009 ein Studienauftrag ausgeschrieben, den das junge Büro Schneider Studer Primas für sich entscheiden konnte. Da der finale Nutzungsschlüssel hinsichtlich des Verhältnisses von Wohn- zu Gewerbeflächen noch nicht feststand, war von den Wettbewerbsteilnehmern Flexibilität gefordert. Das kam Schneider Studer Primas entgegen, die auch in anderen Projekten Ideen aufgezeigt haben, wie sich auf die jeweiligen Nutzungsanforderungen reagierende Häuser ­entwickeln lassen und die selbst die sonst herrschende Mutlosigkeit bei Baugenossenschaften beklagen.

Beim Areal Zwicky-Süd reüssierten sie im Studienauftrag mit einem Konzept, das aus drei Grundtypen besteht: schmalen Scheiben, die in winkelförmiger Konfiguration (nicht zuletzt aus Gründen des Lärmschutzes) die Siedlung umgeben, ebenso hohen massiven Blocks mit Grundflächen von 30 x 40 m und schließlich zweigeschossigen Hallen. Eine Vielzahl brückenartiger Übergänge sollte die einzelnen Volumina auf unterschiedlichen Ebenen mitein­ander verbinden.

Natürlich unterlag das Projekt im Laufe der Planungs- und Realisierungs­phase einigen Modifikationen. Doch das starke und klare Grundkonzept ist bestehen geblieben – und es hat sich bewährt, obwohl die zusammen mit dem Projektentwickler Senn aus St. Gallen erstellte Siedlung am Ende drei verschiedene Bauherren besitzt – der Baugenossenschaft Kraftwerk 1 sind das Unternehmen Pensimo mit zwei Anlagestiftungen und die Swiss Life zur Seite getreten. Das ist überaus erfreulich und eine Tatsache, die dieses Projekt so bemerkenswert macht. Denn das Engagement von Pensimo und Swiss Life zeigt, dass auch renditeorientierte Anleger konventionelle Pfade zu verlassen bereit sind und an einem ungewöhnlichen Standort in ein ungewöhnliches Projekt investieren. Durch die Bauweise mit tragenden Fassaden aus Betonfertigelementen ließ und lässt sich der Innenausbau variieren, die Bauten der Genossenschaft sehen also von außen gleich aus wie die der privatwirtschaftlichen Investoren. Das führt zu einem einheitlichen Bild der Siedlung und stärkt deren Identität. Veränderungen ergaben sich während der Planungszeit besonders durch die Erhöhung des Wohnungs- gegenüber dem Gewerbeanteil. Dieser Entwicklung fielen einige der zweigeschossigen Hallen zum Opfer. Auch die Anzahl der ursprünglich vorgesehenen Brücken und Übergänge zwischen den Gebäuden wurde aus Kostengründen reduziert. Dass es ­dennoch zwei gibt, verdankt sich einem glücklichen Zufall: Es handelt sich um aus Stahlträgern zusammengeschweißte Passerellen, die als Provisorien während des Umbaus des Escher-Wyss-Platzes in Zürich eingesetzt waren, günstig erworben werden konnten und im Zwicky-Süd-Areal ihre zweite, nunmehr dauerhafte Verwendung gefunden haben.

Die Scheiben mit ihrer Bautiefe von 8 m werden z. T. über Laubengänge ­erschlossen, dort allerdings, wo sie direkt an Verkehrsstraßen stoßen, durch Treppenhäuser, um die lärmabgewandte Seite für private Außenräume freizuspielen. In den Scheiben finden sich kleine und mittelgroße Wohnungen, ­Studios, unten auch Räume für Kleingewerbe und Läden. Ein Teil der südöstlichen Scheibe dient als Hotel, das von der auch das Café ZwiBack samt ­Bäckerei unterhaltenden Stiftung Altried – Zentrum für Menschen mit ­Behinderung betrieben wird.

Die ungewöhnlichsten Wohnungstypologien weisen die beiden Großblocks auf. Von der Idee eines Geschäftshauses mit flexibel einteilbarer Bürofläche inspiriert, demonstrieren sie, dass kompakte Volumina, wie sie nicht zuletzt aus energetischen Gründen gefordert werden, auch für Wohnzwecke genutzt werden können. Im Block von Kraftwerk 1 bringen zwei Treppenhäuser und ein Lichthof Tageslicht in das Innere, wobei einige Wohnungen durch die gesamte Gebäudetiefe von 30 m hindurchgesteckt sind. Dunklere Bereiche in den Wohnungen können als Fernsehzimmer, Studio oder Bibliothek genutzt werden. Die Wohnungen besitzen bis zu 14 Zimmer und sind für (nicht-studentische) Wohngemeinschaften vorgesehen. Der Block der Anlagestiftung Adimora umfasst hingegen primär Familienwohnungen, die sich um zwei große, gleichsam in das Volumen gestanzte Erschließungshallen gruppieren.

Die zweigeschossigen Hallenvolumina fungieren als inwärts ausgreifende Sockel der Scheiben. Sie dienen als Geschäfts- und Lagerräume sowie als Einstellhallen für Fahrräder und (die wenigen in der Siedlung zugelassenen PKWs); im Westen wird das Hallenvolumen in Form von zweigeschossigen, über kleine Patios im OG belichteten Reihenlofts für Wohnzwecke genutzt.

Zwicky-Süd, das unweit der Stadtgrenze von Zürich auf dem Gebiet der Gemeinde Wallisellen und Dübendorf liegt, ist in vielerlei Hinsicht vorbildlich. Es zeigt, wie Genossenschaften neue Wohnformen entwickeln, Bewohnerinnen und Bewohner in den Planungsprozess involvieren und einen sozialen Mix erzeugen, der, so der Anspruch, dem der Stadt Zürich üblichen Durchschnitt entsprechen soll, um soziale Homogenität zu vermeiden und ein ­lebendiges Quartier mit eigener Identität zu bilden. Es beweist, dass derlei Konzepte, die noch vor wenigen Jahren nur von pionierhaften Genossenschaften verfolgt wurden, inzwischen auch bei Investoren auf Akzeptanz stoßen. Schließlich aber ist das Projekt von Schneider Studer Primas auch ein überaus gelungenes Beispiel für ein zeitgemäßes und intelligentes dichtes Bauen an einem suburbanen Standort. Der Rauheit der Umgebung begegnen die Architekten weder mit romantisierender Kleinteiligkeit, noch mit herkömmlichen städtebaulichen Mustern, die – wie das unweit auf Basis eines Masterplans von Vittorio Magnago Lampugnani entwickelte Richti-Areal – seltsam ­unwirklich erscheinen. Auch ästhetisch verfolgen sie die Idee des Rohbaus – ein Bild, das sich durch die Fassaden mit ihren dreischaligen, kerngedämmten Thermowänden aus Betonfertigteilen, die teilweise Bekleidung aus rostenden Stahlplatten sowie die ­Metallgestänge und Maschendrahtgitter der Laubengänge und Balkonzonen einstellt. Um den städtischen Charakter zu unterstützen und die Intensität innerhalb der Siedlung zu stärken, verzichten sie auf Rasenflächen, Beete, ­Hecken und Bäume. Stattdessen werden Rank- und Kletterpflanzen mit der Zeit die Außenräume überwuchern: die Laubengänge, die filigranen und transparenten Balkontürme, die Dachbereiche der Hallen, die stählernen Passerellen. Kein Abstandsgrün also, das hilflos mit den Bewohnern koexistieren muss, sondern Pflanzen, die Räume schaffen und die Außenbereiche der Wohnungen und die Zwischenzonen beleben.

Das Projekt ist in seiner Konzeption radikaler als fast alles, das derzeit in ­Zürich entsteht. Mag sein, dass der Standort mit seinen diversen Beeinträchtigungen die Stringenz befördert hat. Auf jeden Fall ist Zwicky-Süd ein dezidiertes Statement für Verdichtung und urbanes Leben in der Peripherie. Einer Peripherie, die langsam ihren unwirtlichen Charakter verliert: Seit einigen Jahren hält die Glatttalbahn direkt vor der Haustür, und der Chriesbach ­wurde inzwischen renaturiert.

db, Mo., 2016.12.05

05. Dezember 2016 Ulrike Kunkel



verknüpfte Bauwerke
Wohnbebauung Zwicky-Süd

Menschenbilder

Vielfältig wie die städtische Bürgergemeinschaft sind auch die »Menschenbilder« an der Eingangsfassade der Museumserweiterung. Dem Besucher bietet sich im entstandenen Ensemble aus mittelalterlichem Wohnturm und seiner städtebaulich wie architektonisch qualitätvollen Erweiterung ein abwechslungsreiches Ausstellungs- und Raumerlebnis.

Aarau, die Kantonshauptstadt des Aargau, liegt auf halber Strecke zwischen Zürich und Basel. Die nur gut 20 000 Einwohner zählende Kernstadt zeigt sich dem Besucher gut erhalten und umtriebig. Die überraschende Fülle kultureller Einrichtungen gründet sich auf das kleinteilig besiedelte Einzugsgebiet ringsum, in dem über 200 000 Menschen leben. Allein innerhalb der letzten rund 20 Jahre erfuhren gleich drei städtische Museen Erweiterungen durch zeitgenössische Anbauten namhafter Schweizer Architekten: Ende 2002 öffnete das durch den Züricher Architekten Arthur Rüegg erweiterte Naturkundemuseum wieder; die Kunsthauserweiterung von Herzog & de Meuron konnte 2003 bezogen werden; und im Sommer 2015 wurde schließlich das von Diener & Diener mit Martin Steinmann sanierte und deutlich vergrößerte Stadtmuseum am Rande der Altstadt eingeweiht.

Schlüssiger Seitenwechsel

Zusammen mit Diener & Diener aus Basel hatte Architekt Martin Steinmann aus Aarau den eingeladenen Wettbewerb unter den fünf Entwürfen zur Erweiterung des »Schlössli«, eines mittelalterlichen Wohnturms, in dem das Stadtmuseum seit 1938 untergebracht ist, gewonnen. »Wettbewerbe gewinnt man nicht mit Fassaden«, so erläutert Martin Steinmann. Vielmehr hätte das städtebauliche und organisatorische Konzept ihres Entwurfs die Jury überzeugt: Statt, wie in der Ausschreibung vorgesehen den Neubau östlich auf Abstand zum Turm zu positionieren, schlugen sie vor, im Westen unmittelbar an den Bestand anzubauen. Durch die bewusste Neuformulierung der Bauauf­gabe ergaben sich gleich mehrere Vorteile. So konnte durch die Verschmelzung von Alt und Neu die Erschließung über die meisten Geschosse zusammengefasst und somit auch im Turm weitgehend barrierefrei gestaltet werden. Zudem ergab sich eine schlüssige städtebauliche Neuausrichtung des Terrains, das vom Rand der Altstadt zum Aaretal hin stark abfällt. Östlich des erweiterten Stadtmuseums kann auch weiterhin der Blick über eine Grünanlage hinweg ins Tal und weiter zum Jura schweifen.

Im Westen des Bestands bildet der Anbau die Stirnseite des Schlossplatzes und rückt die scheunentorgroße Öffnung des neuen Haupteingangs in seiner ansonsten geschlossenen Fassade ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zusammen mit dem benachbarten Saalbau des Kultur- und Kongresshauses ergibt sich ein städtischer Platz, umstanden von kulturellen Institutionen, der durch seine leichte Abschüssigkeit förmlich dazu einlädt, als Tribüne für Freiluftaufführungen genutzt zu werden.

Empfangskomitee

Das umsichtige in den Kontext eingepasste Volumen mit einem verglasten Staffelgeschoss und einem Knick in der Eingangsfassade weicht zu den beiden historischen Nachbarn hin vorsichtig zurück und bildet zudem noch einen geschützten Bereich vor den verglasten Eingangsschiebetüren aus. So umsichtig das Volumen modelliert in Erscheinung tritt, so plakativ und geradezu fordernd gibt sich die Gestaltung der vorgehängten Fassade aus vorgefertigten Betonelementen: 134 Menschen in Lebensgröße blicken dem Eintretenden entgegen. 134 individuelle Zeichnungen von Männern und Frauen in zeitgemäßer Kleidung, vermeintlich in den Beton eingraviert, konfrontieren den Betrachter mit einem in der zeitgenössischen Architektur kaum eingesetzten figürlichen Ornament. Dieser ungewöhnliche Anblick erzeugt die Aufmerksamkeit, die einem Museum gebührt. Nicht zuletzt rufen die figürlichen Darstellungen Erinnerungen an die Malerei der Neoexpressionisten aus den 80er Jahren hervor. Und dies nicht von ­ungefähr: Der St. Galler Künstler Josef Felix Müller, der die Vorlagen für die Abgüsse geschaffen hat, wurde in den 80er Jahren u. a. mit seinen rauen, ausdrucksstarken Holzskulpturen bekannt. Wie damals benutzte der Künstler auch beim Stadtmuseum Aarau eine Motorsäge, um die Menschenbilder der Fassade auf Holztafeln zu skizzieren. Das Holz eines Mammutbaums, der der Erweiterung weichen musste, lieferte das Material dazu. Mit Kunststoff ausgegossen entstanden Matrizen, die wiederum in die Schalung der Betonelemente eingelegt wurden. Neben der jeweils eingeschnittenen Zeichnung bilden sich auch die Sägespuren, Nähte und Maserungen der verleimten Schalungsbretter an der Betonoberfläche ab. So wird für den Besucher visuell wie haptisch ihre Herstellung nachvollziehbar und der gefällte Mammutbaum zeugt weiterhin von der Geschichte des Orts.

Doppelte Höhe

Die drei neuen stützenfreien Säle der Erweiterung – im UG für Veranstaltungen und Vorträge im EG als Foyer und zusätzliche Ausstellungsfläche und im OG für Wechselausstellungen – sind im Wesentlichen baugleich übereinandergestapelt: glatt verputzte Stahlbetonwände überspannt von einer vorgefertigten Betonrippendecke, mit jeweils einer großen Öffnung nach Norden, die Tageslicht einfallen lässt und in den beiden oberen Räumen zudem einen Ausblick zum Aaretal bietet. Lediglich der jeweilige ­Bodenbelag wechselt von rötlich eingefärbtem Holzzement im UG über Terrazzo im EG zu Eichendielen im OG. Ein elegant geschwungenes Schienensystem an den Decken nimmt schwere Vorhänge als Ersatz für einen Windfang, als Raumteiler oder zur Verbesserung der Akustik auf. Beeindruckend hoch zeigen sich die drei Haupträume. Dies ergab sich aus der Verdopplung der Geschosshöhen des Altbaus. So ließen sich sowohl Altbau als auch Er­weiterung zusammen mit nur einem Aufzug und nur einer Treppe beinahe durchgängig barrierefrei ­erschließen. Aus Kostengründen traten leider etwas überdimensioniert wirkende Treppenpodeste an die Stelle eines ursprünglich geplanten geschossübergreifenden Schaudepots und harren derzeit noch ihrer Ausstellungs­bespielung. Noch zurückgenommener als die Oberflächen und Detaillierung der Säle in der Erweiterung zeigen sich die der Erschließungsräume. So fällt der Kontrast am Übergang zum historischen Wohnturm mit seinen teilweise mehrere Meter dicken Wänden besonders stark aus. Beim Eintritt in einen der leicht windschiefen holzvertäfelten Räume im EG scheint es, als beträte man eine ganz andere wundersame Welt. Auch in den folgenden Geschossen setzt sich dieser Eindruck fort. Sowohl der Wechsel ­zwischen Alt- und Neubau als auch die je nach Entstehungs- und Umbauzeit unterschiedlich gestalteten historischen Räume des Wohnturms, machen den Ausstellungsparcours zur abwechslungsreichen räumlich erfahrbaren Entdeckungsreise durch die Jahrhunderte. Im Turm konnten es die Planer größtenteils bei einer Pinselrenovierung bewenden lassen.

Nur einzelne statisch relevanten Teile wurden ersetzt und die hier untergebrachte Dauerausstellung, vornehmlich zu historischen Aarauer Persönlichkeiten, von den Szenografen Emyl aus Basel neu gestaltet.

Begrünt und haltbar

Das etwas ruppige Äußere des Schlössli mit seinem sichtbaren Findlings­mauerwerk war weitgehend intakt und blieb nahezu unverändert erhalten. Der ursprüngliche Gedanke, an den Fassaden der Erweiterung das Motiv des Sichtmauerwerks aufzugreifen, wurde von den Architekten glücklicherweise als zu anbiedernd verworfen, ebenso wie der Einsatz von Holz am verglasten Staffelgeschoss. Hier oben residiert die Museumsverwaltung mit wunder­barem Blick auf Stadt und Landschaft in einem stützenfreien, lichten Raum. Um eine sommerliche Überhitzung zu verhindern, könnte, da bereits baulich vorgesehen, ganz unkompliziert ein Sonnenschutz nachgerüstet werden. Bisher jedoch hat das vorgelagerte begrünte Rankgerüst diese Aufgabe gut bewerkstelligt.

Die Begrünung des Staffelgeschosses war bereits zu einem frühen Zeitpunkt Teil des Gestaltungskonzepts. Die Begrünung der weniger repräsentativen Fassaden der unteren Geschosse hingegen wurde von den Nachbarn erstritten. Innerhalb der dichten Bebauung schadet dies der Architektur in keiner Weise. Ganz im Gegenteil: Um die Edelstahlrankhilfen stabil anbringen zu können, wurde die ursprünglich als WDVS geplante Fassade mit einer verputzten Backsteinschicht vor den ­tragenden Stahlbeton-Außenwänden und der Wärmedämmung versehen. Dies wird sich an der Alterungsfähigkeit der zunächst als »Bauteil mit ­Sparpotenzial« eingestuften Fassade positiv bemerkbar machen – mit oder ohne Begrünung.

Die lange Planungs- und Bauzeit – Wettbewerb 2006, Eröffnung 2015 – gibt einen Hinweis darauf, dass viele Entscheidungen bei der Entstehung des ­Gebäudes mit städtischen Gremien und Gerichten ausgefochten werden mussten. Das ausdauernde Engagement der Planer hat sich am Ende jedoch ausgezahlt. Mit der Erweiterung des Stadtmuseums Aarau gelang es ihnen, sowohl das städtische Gefüge passgenau und intelligent zu ergänzen als auch den Ausstellungsmachern zurückhaltend robuste Räume zu bieten. Darüber ­hinaus sprechen die 134 Menschenbilder der Fassade jeden Passanten bereits vor dem Eingang direkt an und machen klar, dass Menschen trotz gänzlich unterschiedlicher Charaktere in einer Gemeinschaft zusammenfinden ­können. Was könnte zu einem Stadtmuseum besser passen?

db, Mo., 2016.12.05

05. Dezember 2016 Martin Höchst



verknüpfte Bauwerke
Stadtmuseum Aarau

Wenn der Bauherr selber baut

Das vorhandene Gebäude des Bauunternehmens Karl Köhler wurde im Laufe der Zeit zu klein — eine Erweiterung musste her. Nun hätte man einfach möglichst schnell und möglichst günstig einen Standardbau errichten können. Glücklicherweise haben sich die Bauherren aber gegen diesen einfachen Weg entschieden: Das Ergebnis ist eine gebaute Visitenkarte aus Beton – und arbeiten kann man darin auch.

Rund 25 km nördlich von Stuttgart liegt Besigheim, eine beschauliche Kleinstadt mit knapp 12 000 Einwohnern. Der Ort liegt an der Württemberger Weinstraße und der Südroute der Deutschen Fachwerkstraße. Die Hänge an Neckar und Enz sind eine wichtige Weinlage der Region. Ebenfalls sehr beliebt sind die Hessigheimer Felsengärten. Auf genau diese schaut man aus den Fenstern des Bauunternehmens Karl Köhler, das am Rande Besigheims direkt am Neckar liegt. Nähert man sich dem Grundstück sieht man von Weitem schon die Felsengärten, aber auch Fahrzeuge und einen Baukran, die eindeutige Indizien für ein Bauunternehmen sind. In diesem Umfeld rechnet man nicht unbedingt mit einem Sichtbeton-Bau mit vielen Details und Raffinessen – dennoch wirkt das Gebäude nicht fremd, sondern steht selbstbewusst und selbstverständlich da.

Die Firma wurde 1923 von Karl Köhler gegründet und wird heute in dritter Generation von den Brüdern Karl und Horst Köhler geführt. Das Leistungsspektrum reicht vom Industrie- und Gewerbebau über den Wohnungsbau bis hin zum Ingenieurbau. Horst Köhler vergleicht die Palette mit dem Sortiment einer Bäckerei: »Wir als Rohbauer machen alles, von Schwarzbrot bis zu ­süßen Stückle.« Qualitativ hochwertig ausgeführter Sichtbeton hat sich mit den Jahren zu einer ihrer Spezialitäten entwickelt. Denn warum auch immer – wirklich gut ausgeführte Sichtbetonbauten sind in Deutschland leider immer noch eine Rarität. Karl Köhler scheint das aber gut zu gelingen, daher stammen Rohbau und Fassade des Neubaus selbstverständlich aus Bauherrn-Hand. Wie beim gesamten Bauvorhaben wählten die Bauherren ihren eigenen, nicht immer einfachen Weg. Statt einen befreundeten Architekten direkt zu beauftragen, lobten sie einen Wettbewerb mit sechs gesetzten Teilnehmern aus. Zur Jury gehörten neben den Geschäftsführern auch die Architekten Michael Kerker und Alexander Brenner sowie Andreas Janssen vom Stadtbauamt Besigheim. So hatte man technisches und gestalterisches Know-how und gleichzeitig auch schon einen Vertreter der Stadt mit im Boot. Die Jury entschied sich einstimmig für den Wettbewerbsentwurf von Wittfoht Architekten aus Stuttgart. Sieht man das Entwurfsmodell und den fertigen Bau, muss man schon genau hinschauen, um Unterschiede zu entdecken, so nah liegen Entwurf und Reali­sierung beieinander.

Schlichte Kubatur mit Raffinessen

Zweigeschossig scheint der Baukörper leicht über dem Grundstück zu schweben. Für diese Leichtigkeit sorgt eine deutliche Fuge zwischen Tiefgarage im UG und den beiden Bürogeschossen. Klare Kanten entstehen zum einen durch diesen Abstand und zum anderen durch die saubere Attika, die ohne störende Abdeckungen auskommt – dank des freiwilligen Verzichts auf die Einhaltung der DIN-Norm zugunsten der Gestaltung. An den großen Fenstern lässt sich das Gebäuderaster leicht ablesen. Die Laibungen der Fenster sind jeweils zu einer Seite hin abgeschrägt, sodass der Blick Richtung Felsengärten bzw. Neckar und Weinberge erweitert wird. Auf den ersten Blick fallen solche Feinheiten kaum auf, doch sind es gerade diese kleinen Details, die den Charme und die Qualität des Verwaltungsbaus ausmachen. Kiste ist eben nicht gleich Kiste.

Getragen wird das Gebäude vom regelmäßigen Stützenraster an den Außenkanten.

Unterzugsfreie Flachdecken und wenige innenliegende Kernwände tragen zur Aussteifung bei. Die Fassade ist als Außenschale vor dem Gebäude schwimmend gelagert und ohne Fugen ausgeführt, was den monolithischen Charakter unterstreicht. Die Oberflächen entsprechen der höchsten Sichtbetonklasse SB 4.

Damit keine Fallrohre die Außenansicht stören, sind die Gesimse mit einem leichten Innengefälle ausgestattet. Dies verhindert außerdem, dass stehendes Wasser an der Fassade herunterläuft und die Oberfläche beeinträchtigt. Um diese Gefälle auszubilden wurden die Schalungsabschnitte so gewählt, dass die Oberkanten der Gesimse die Oberkante des jeweiligen Abschnitts bilden.

Eines der zahlreichen Details findet sich auch direkt am Haupteingang: Tagsüber setzt sich des leicht stilisierte Firmenlogo in Sichtbeton dezent ab, abends bringen 7189 Lichtleitfasern unterschiedlicher Dicke das Logo im Betonfertigteil zum Leuchten. Wie auch im übrigen Gebäude wirkt dieser Effekt qualitativ hochwertig, aber nicht protzig, wie Bauherr und Architekt betonen. Gerade für ein schwäbisches mittelständisches Familienunternehmen scheint dieser Spagat zwischen hochwertiger Ausführung und Bescheidenheit sehr wichtig zu sein und ist hier durchaus geglückt. Dazu trägt auch die reduzierte Materialwahl aus Beton, Eiche und Crailsheimer Muschelkalk bei. Letzter kam im EG als Bodenbelag sowie für die Treppe am Haupteingang zum Einsatz. Damit sich der Ton des Muschelkalks nicht mit dem Sichtbeton beißt, erhielt der Fassadenbeton einen Zuschlag aus gemahlenem Muschelkalk.

Auf der Dachterrasse, die nur einen Teil der ansonsten extensiv begrünten Dachfläche einnimmt, bildet eine Pergola einen definierten Raum. Solche reinen »Gestaltungsentscheidungen« kommen heutzutage immer weniger vor. Was nicht unbedingt nötig ist, wird oftmals gestrichen. Eine weitere Überraschung erlebte Projektleiter Thomas Kindsvater bei der Planung dieser Pergola: »Im ersten Entwurf hatten wir mehr Stützen vorgesehen. Die Tragwerksplaner meinten dann, das ginge auch mit nur vier Stützen. Da haben wir natürlich nicht nein gesagt.«

Konsequente Materialwahl

Im Innern setzen sich die klare Formensprache und die Reduzierung auf ­wenig Material fort. Als Besonderheit wurden hier die Außenseite der Kerne gespitzt, also steinmetzmäßig bearbeitet. Dieses Beschlagen bringt eine völlig andere Oberfläche zum Vorschein, zudem sorgt ein Jura-Zuschlag im Beton für eine wärmere Atmosphäre als zuschlagsfreier Beton. Damit die Farbigkeit in jedem Betonierabschnitt gleich ist, musste u.a. sichergestellt werden, dass die Betonsilos jedes Mal gereinigt wurden und keine fremden Zuschläge in die Mischung gelangten.

Für die Schalungslöcher hat der Rohbauer Konen aus exakt der gleichen Mischung gegossen. Durch das Spitzen sind die Übergänge von Fläche und Zylinder kaum erkennbar. Die Innenseite der Kerne, z.B. die Treppenhauswände oder die Nebenräume, sind unbearbeitet glatt. Den Mittelpunkt des Gebäudes bildet ein zweigeschossiges Foyer, das über Oberlichter vom Dach großzügig belichtet wird. Mit schweren Vorhängen kann das Foyer vom Rest des EGs abgeteilt und beispielsweise für Veranstaltungen genutzt werden. Die Akustik ist dank der gespitzten Betonoberflächen, einer Holzlamellendecke und den Vorhängen angenehm. Um das Foyer herum sind die Arbeitsplätze in Zweibüros angeordnet. Lediglich die Geschäftsführer haben etwas mehr Raum zur Verfügung, was auch in der Fassade als einzige größere Fenster ablesbar ist. Die Büros sind ähnlich konsequent gestaltet wie der gesamte Bau: Betonwände, Fußboden und Fensterprofile aus Eiche, Glastrennwände zum Flur. Durch halbhohe Regale an den Schreibtischseiten bleibt Privatsphäre trotz der Glaswände gewahrt. Eine kleine Hommage an das Tätigkeitsfeld der Firma sind die Kleiderhaken im Einbauschrank: Hier hängt die Jacke an einem Stück Bewehrungsstahl. Akustikpaneele sorgen für Ruhe und ein wenig Farbe. Die Dämmebene ist innenseitig mit Eichenholzblindstützen verblendet, in denen auch die EDV-Unterverteiler sowie die Frischluftnachströmung integriert sind. Als eines der ersten Sichtbetonobjekte wird das Gebäude über eine oberflächennahe Betonkernaktivierung temperiert. Die vorgefertigten Kunststoffrohre liegen nur wenige Zentimeter über der Deckenunterseite, wodurch kurze Reaktionszeiten und eine unmittelbare Wirkung gewährleistet sind. Die Masse des Betons trägt ebenfalls zum guten Klima bei. Durch die Nutzung von Geothermie wird der geforderte EnEV-Wert um 20 % unterschritten.

Enge Abstimmung von Anfang an

Auch hier zeigt sich der Vorteil, wenn der Rohbauer schon früh in die Planung eingebunden wird. Laut Köhler kommen die ausführenden Gewerke meist viel zu spät dazu, sodass manche Dinge gar nicht mehr umgesetzt werden können, obwohl sie prinzipiell möglich wären. Bei diesem Projekt wäre vermutlich diese Variante der Kühlung kaum realisiert worden, wenn der ausführende Betrieb nicht gleichzeitig der Bauherr gewesen wäre.

Ein weiteres Detail, das bereits frühzeitig in der Planung und v.a. beim Bau berücksichtigt werden musste sind die Brandschutztüren, die an beiden Seiten des Treppenhauses zwischen EG und OG die Brandabschnitte trennen. Im Normalfall sind diese Türen um 180 ° geöffnet, dank der Eichen-Oberfläche passen sie ins Gesamtkonzept und fallen nicht weiter auf. Schließen sich die Türen, werden die exakten Aussparungen im Beton für die Türblätter und deren Beschläge sichtbar, sodass die Türen im geöffneten Zustand bündig mit der Wand sind – kleiner Eingriff mit großer Wirkung. So sind nahezu alle Elemente integriert, lediglich die Leuchten sind additiv.

Einen kleinen Wermutstropfen bildet die Fassade des Bestandsgebäudes, das im Zuge des Neubaus ebenfalls modernisiert wurde. Es wurde neu gedämmt und erhielt u. a. den gleichen Eichenfußboden wie der Neubau, sodass der Bodenbelag eine nahtlose Verbindung bildet. Wie schon vor der Sanierung sollte die Fassade zweigeteilt sein.

Durch die Leichtbauweise kam eine Betonfassade nicht infrage, daher entschied man sich für eine Holzbekleidung im OG und Klinker im EG. Die Holzpaneele passen gut zum Neubau, während die Klinkerfassade etwas fehl am Platz wirkt. Die Entscheidung für das gewohnte Material ist anderseits verständlich und bei allem Einsatz und Engagement sicher auch eine Kostenfrage – bitte nicht protzen. Dass es nicht überall funkeln muss und an manchen Stellen eben auch geringe Betonqualitäten ausreichen, zeigt z.B. das Fluchttreppenhaus, das durch Absturzsicherungen aus Draht und Betonfertigteilen einen etwas raueren Charakter als das restliche Gebäude hat.

Insgesamt wirkt der Neubau trotz der Details und Sonderlösungen angemessen und maßhaltig. Diese begehbare Visitenkarte ist wohl das Gegenteil von Investorenarchitektur, in der die Planer, Bauherren und Ausführenden nur selten Hand in Hand arbeiten. Gefragt, in welche Backwarenkategorie dieses Gebäude fällt, antwortet Horst Köhler übrigens nicht ohne Stolz auf das gelungene Projekt: »Torte«.

db, Mo., 2016.12.05

05. Dezember 2016 Anke Lieschke



verknüpfte Bauwerke
Verwaltungsgebäude Karl Köhler

31. 1969

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