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06. Dezember 2022Martin Höchst
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In sich ruhend

Es ist eine anspruchsvolle Bauaufgabe, für Kinder, deren erst kurzer Lebensweg bereits durch schwerwiegende Probleme belastet wurde, einen im wahrsten Sinne vertrauenerweckenden Ort des Lernens zu schaffen. Die ruhige und Halt bietende Architektur der neuen Heimschule des Osterhofs hat dafür die besten Voraussetzungen.

Es ist eine anspruchsvolle Bauaufgabe, für Kinder, deren erst kurzer Lebensweg bereits durch schwerwiegende Probleme belastet wurde, einen im wahrsten Sinne vertrauenerweckenden Ort des Lernens zu schaffen. Die ruhige und Halt bietende Architektur der neuen Heimschule des Osterhofs hat dafür die besten Voraussetzungen.

Im oberen Murgtal, einer ländlich geprägten Region mit abwechslungsreicher Landschaft am Rand des Nationalparks Schwarzwald, finden sich viel Natur und Ruhe. Während die Bewohner heute weitgehend vom Tourismus leben, diente hier noch bis zum Zweiten Weltkrieg das reichlich vorhandene Holz und dessen Verarbeitung als Haupteinnahmequelle. Nicht von ungefähr sind rund um die Gemeinde Baiersbronn, die aus etlichen Teilorten besteht und für ihre Dichte von Spitzenrestaurants weithin bekannt ist, viele Holzbauten zu finden – historische, historisierende und Gebäude jüngeren Datums, wie auch die Anlage des Therapiezentrums Osterhof. Kinder zwischen drei und zwölf Jahren, die auf intensive heilpädagogische und psychotherapeutische Hilfe angewiesen sind, leben hier zusammen mit Pädagogen auf Zeit am Rand des Baiersbronner Ortsteils Klosterreichenbach, idyllisch gelegen entlang des Waldrands mit Blick auf die Auwiesen der Murg.

Bereits in den 60er Jahren hatte der Sozialpädagoge und Psychotherapeut Ulrich Schmid, der Gründer des »Therapiezentrums Osterhof«, die Vision eines »heilenden Lebensraums«. Dafür zog er mit seiner Familie 1965 in ein historisches Schwarzwaldhaus, den »Osterhof«, nutzte es für seine Zwecke um und realisierte ringsum über die Jahre weitere Gebäude: u. a. für therapeutische Wohngemeinschaften, für Mitarbeiterwohnungen und Gästeapartments besuchender Eltern, einen heilpädagogischen Kindergarten und ein Therapie- und Gemeinschaftshaus. Mittlerweile wird das Therapiezentrum vom Sohn des Gründers, dem Psychologen Martin Schmid, zusammen mit wiederum dessen Sohn Valentin Schmid, einem ausgebildeten Architekten, geleitet.

Bis zu zwei Jahre leben die Kinder im Alter zwischen im Osterhof, um danach möglichst wieder in ihre Familien reintegriert zu werden. Die meisten der schulpflichtigen Kinder gehen in öffentliche Schulen vor Ort. Zudem bietet das Therapiezentrum einige Schulplätze mit besonders intensiver pädagogischer Begleitung in der eigenen Heimschule an.

Diese hatte noch bis vor ein paar Jahren in einem alten Mühlengebäude an der Murg ihre Heimat, nur wenige Hundert Meter entfernt vom Osterhof. Anfängliche Überlegungen, das sanierungsbedürftige Gebäude durch einen grundlegenden Umbau an die heutigen Anforderungen einer zeitgemäßen sonderpädagogischen Schule anzupassen, wurden nach eingängiger Prüfung verworfen, die Errichtung eines Neubaus beschlossen und das ehemalige Mühlengebäude abgerissen.

Gestaltungsanspruch

Neben einem breit gefächerten Therapieangebot und dem Erleben der Natur gilt im Konzept des Osterhofs auch die Architektur als wichtige Komponente des angestrebten heilenden Lebensraums für Kinder. Und so wurde, obwohl behördlich nicht vorgegeben, dem Projekt ein eingeladener Wettbewerb unter fünf Architekturbüros mit Erfahrungen bei Bildungsbauten vorangestellt. Den Anforderungen der sensiblen Bauaufgabe am besten gerecht wurde, so das einstimmige Urteil der der Jury unter Vorsitz von Hans Klumpp (Mitinhaber von KLUMPP + KLUMPP, Stuttgart), der selbst aus Baiersbronn stammt, der Entwurf von Thomas Schröder Architekten aus Berlin.

Mit dem Entwurf von Thomas Schröder Architekten setzte sich ein poetischer Gestaltungsansatz durch, der sich an der traditionellen Bauweise des Schwarzwalds mit den großen, weit herabgezogenen Dachformen orientiert. Dies wirkt aber keineswegs nostalgisch, denn neben den regionalen Anklängen finden sich auch geradezu exotische Zitate, wie die kreisrunden Öffnungen der Loggien an den Giebelseiten zweier Querhäuser am Hauptgebäude. Neben geometrischen Überlegungen zur dadurch möglichst ungestörten Wahrnehmung der Giebeldreiecke verweist Thomas Kröger auf die positiv aufgeladene Symbolik, die der Kreis in der asiatischen Bautradition hat.

Nah an der Natur

Die von den Architekten angestrebte Formulierung einer geschützten Hofsituation mittels des neuen lang gestreckten Hauptbaus und eines Nebengebäudes funktioniert, da u. a. die Maßstäblichkeit eines erhaltenen eingeschossigen Bestandsgebäudes aufgenommen wurde. Doch anders als bei diesem steinernen Haus, das derzeit noch saniert wird und künftig als Lehrerwohnung dienen könnte, ist bei den beiden neuen Holzskelettbauten die Horizontale stärker betont: Ein auf Streifenfundamenten leicht vom Boden abgehobener umlaufender Umgang bildet zusammen mit dem darüber auskragenden Dach mit seiner ebenfalls umlaufenden Traufkante eine Art horizontale Fuge. Diese dient den Räumen im EG als regengeschützter Übergangsbereich zwischen drinnen und draußen. Das Haupthaus, dessen Struktur konsequent »spiegelsymmetrisch und dadurch für die Kinder leichter erfassbar« ist, wie Martin Schmid beim Rundgang erläutert, und eine gewisse Ruhe verströmt, schließt an seinen Stirnseiten mit zwei Querhäusern ab, die wiederum jeweils den Abmessungen des kleineren der beiden Neubauten entsprechen. Während Letzterer Nebenräume und einen nutzungsoffenen Saal beherbergt, finden sich im EG des Hauptbaus insgesamt sechs Klassenräume jeweils mit angeschlossenem Nebenraum, z. B. zur Befriedung eines gestörten Unterrichts, ihren Platz. Die Klassenräume wurden an den vom Hof abgewandten Seiten angesiedelt und holen gewissermaßen mittels großflächiger, vertikal gegliederter Verglasungen die Natur herein. Von jedem Klassenraum aus lässt sich der Umgang und bald auch der noch umzugestaltende Freibereich mit Schulgarten und grünem Klassenzimmer betreten. Trotz der großzügigen Öffnung nach draußen vermitteln die Klassenräume dank niederer geschlossener Brüstungen und einem hohen Anteil an Holzoberflächen Geborgenheit. Auf die möglichst unauffällige Integration notwendiger technischer Komponenten wurde viel Sorgfalt verwendet. Die Belüftung der Räume erfolgt über Lüftungslamellen im oberen Bereich der EG-Fassade, was im Sommer auch eine nächtliche Temperaturabsenkung ermöglicht. Die Raumtemperierung in der kalten Jahreszeit übernimmt eine Luftwärmepumpe.

Von der zweigeschossigen Eingangshalle, die sich auch für kleine Schulveranstaltungen eignet, geht es über eines der beiden abgeschlossenen Treppenhäuser oder einen Fahrstuhl zu zwei Fachräumen und dem Bereich der Schulmitarbeiterinnen und -mitarbeiter im DG. Der Werkraum und der derzeit u. a. zum Theaterspielen genutzte zweite Fachraum nehmen jeweils das komplette Dach eines Querhauses ein und bieten an beiden Stirnseiten durch die Überlagerung der verschiedenen Öffnungsformen von Fenstern und Loggien Ausblicke, die fantastisch und fokussiert zugleich wirken.

Dass die Heimschule als Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (SBBZ ESENT) noch mehr Vorgaben und Förderrichtlinien als ein konventioneller Schulbau unterliegt, sieht man dem Ergebnis nicht an. Im Gegenteil!

Die monochrome graugrünliche Farbgestaltung der Holzfassaden- und der Blechdachdeckung unterstreicht die Eigenständigkeit des Sonderbausteins in Abgrenzung zu den Hotels und Wohnhäusern in Sichtweite und verweist zugleich auf die Farbigkeit der umgebenden Natur. Die durchgängig harmonische Farbigkeit der unterschiedlichsten Oberflächen erforderte sehr viel Abstimmungsarbeit von Bauherrschaft und Architekten und unzählige Probeanstriche. Doch diese Mühe hat sich gelohnt: Die Monochromie und eine abstrahierende Detaillierung lassen aus der Heimschule eine in sich ruhende archetypische Architektur werden, der durchaus, wie es Thomas Kröger mit dem Entwurf anstrebte, »etwas Märchenhaftes« innewohnt.

db, Di., 2022.12.06



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08. Dezember 2020Martin Höchst
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Dem Ort verbunden

Durch die Zusammenarbeit von Bauherren und Planern, die sich jeweils ihrer vielschichtigen baulichen Verantwortung bewusst sind und auf Langlebigkeit statt hohe Rendite setzen, konnte in Schwaikheim ein Mut machendes Bauensemble entstehen, dem große Strahlkraft über den Ort hinaus zu wünschen ist.

Durch die Zusammenarbeit von Bauherren und Planern, die sich jeweils ihrer vielschichtigen baulichen Verantwortung bewusst sind und auf Langlebigkeit statt hohe Rendite setzen, konnte in Schwaikheim ein Mut machendes Bauensemble entstehen, dem große Strahlkraft über den Ort hinaus zu wünschen ist.

Seit dem Anschluss von Schwaikheim an das Eisenbahnnetz Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Ort vom Bauerndorf zur Wohngemeinde. Statt von der Landwirtschaft wird das Ortsbild der heute knapp 10.0000 Einwohner zählenden Gemeinde mittlerweile von den Wohnsiedlungen der in den großen Unternehmen der Städte ringsum Beschäftigten geprägt. Der Ort wuchs über die Zeit v. a. nach Süden in Richtung des ursprünglich 1 km vom Ortskern entfernt liegenden Bahnhofs. Und so führt heute der Weg des dort Ankommenden zur historischen Ortsmitte durch ein überraschend großes Wohngebiet, das so auch am Rande einer ausgewachsenen Stadt liegen könnte. Angekommen .im nur teilweise historisch erhaltenen Dorfkern, stößt man auf die große Baustelle der »Neuen Ortsmitte«, eines Wohn- und Geschäftshauskomplexes, der leider in seiner ertragsoptimierten Bauweise nicht viel zur Reparatur des Ortsbilds beitragen wird. Nur 20 km vor den Toren der teuren Landeshauptstadt gelegen und mit direkter S-Bahnverbindung dorthin, ist die Nachfrage nach Wohnraum groß. Und so wurde erst vor Kurzem ein neues Wohngebiet am Ortsrand erschlossen.

In Schwaikheim, wie auch sonst vielerorts in ehemals von der Landwirtschaft geprägten Gemeinden, besteht jedoch insbesondere entlang der historisch gewachsenen Hauptverkehrsachsen das größte Potenzial und zugleich auch der größte Nachholbedarf, identitätsstiftend tätig zu werden: Der ursprünglich attraktive Standort an der Hauptstraße mit kurzen Wegen in repräsentativer Lage verkam mit dem stetig wachsenden Autoverkehr über die Jahrzehnte zur lauten B-Lage. Zudem lässt sich die hier immer noch häufig vertretene Bautypologie des bäuerlichen Anwesens nur sehr bedingt an den vorherrschenden Bedarf nach bezahlbarem und zeitgemäßem Wohnraum anpassen.

Zwischen Lärm und Wiesen

Nördlich des Ortskerns zeigt sich der Gürtel mit Wohngebieten nicht ganz so ausgeprägt. Und so liegt der Neubau eines Mehrfamilienhauses und einer Werk- und Abstellhalle, geplant von Markus Binder (CAPE Ingenieure, Esslingen) und schleicher.ragaller architekten (Stuttgart), ganz nah am historischen Kern und zugleich fast unmittelbar am Feldrand: vorne laute Durchgangsstraße und nach hinten die leicht hügelige Landschaft mit Feldern, Obstwiesen und Hängen, auf denen u. a. Wein kultiviert wird.

Bereits der erste Blick auf das mit dunkel lasiertem Holz bekleidete Bau­ensemble vermittelt eine Mischung aus Vertrautheit und Besonderheit, aus Funktionalität und hohem gestalterischen Anspruch. Zwischen 80er-Jahre-Architektur und einem in die Jahre gekommenen historischen Bauernhof gelegen, streckt sich das dreigeschossige Wohngebäude mit seiner Giebelseite recht nah an die Straße, während das rund ein Geschoss niedrigere Pendant der Werk- und Abstellhalle deutlich nach hinten gerückt ist. Jeweils völlig fensterlos und mit einem Satteldach ohne Überstand ausgestattet, sehen die beiden gleich breiten Giebelseiten frontal betrachtet wie die Abstraktion eines bäuerlichen Anwesens aus. Auch der Sichtbetonsockel des Wohnhauses, der sowohl die Garagentore an der Stirnseite als auch die großzügige Eingangsnische rahmt, unterstützt diesen Eindruck. Das Bild der vormaligen Bebauung des Grundstücks mit einer großen Scheune und einem kleinen Wohnhaus wurde neu interpretiert und dadurch in gewisser Weise sogar bewahrt.

An der Rückseite stehen die beiden Baukörper im abfallenden Gelände in derselben Flucht und nehmen im ebenfalls in Sichtbeton gefassten Hanggeschoss eine Wohnung mit Gartenzugang und drei gedeckte Stellplätze unterhalb der Werkhalle auf.

Die Größenverhältnisse des vormaligen Bestands von Wohnhaus und Funktionsgebäude haben sich mit der Neubebauung umgekehrt: Insgesamt sechs großzügige Zweizimmerwohnungen sowie drei Autostellplätze kommen im Wohnhaus unter, während das »Werkhaus« dem Bauherrn, Jens Wössner, seiner hobbymäßigen Tätigkeit im ursprünglich erlernten Beruf als Zimmermann dient. Jens Wössner und seine Schwester Sabrina Hiss, Erben des Familienanwesens, entschieden sich, anstatt das Objekt an einen Bauträger zu verkaufen, selbst eine Mietimmobilie zu realisieren und dadurch auch ein Stück Verantwortung für ihren Heimatort zu übernehmen.

Im besten Sinne Vernünftig

Befreundet mit den Bauherren, wurde Architekt Markus Binder, der auch als Professor am Fachgebiet Integrierte Gebäudetechnik an der Hochschule für Technik Stuttgart tätig ist, um Rat gefragt und schließlich auch beauftragt, das ambitionierte Familienprojekt in Kooperation mit den Planern von schleicher.ragaller architekten umzusetzen. Die unterschiedlichen Schwerpunkte ihrer jeweiligen Planungstätigkeit – auf der einen Seite Ressourcenschonung und Energieeffizienz und auf der anderen die klassische Entwurfs-, Planungs- und Bauleitungstätigkeit – führten zwar mitunter zu Reibungen, was sich letztlich aber immer als gewinnbringend für das Projekt erwiesen habe, so berichten Markus Binder und Michael Ragaller unisono.

Dass ein im besten Sinne vernünftiges Gebäude eines sei, das den Anspruch hat, eine gute Mischung aus Sparsamkeit und Langlebigkeit abzubilden, darin waren sich Planer und Bauherren einig. Und auch darüber, dass dies nur im Zusammenspiel einer zukunftsfähigen Baukonstruktion und Gebäudetechnik mit einer funktional wie ästhetisch langlebigen Gestaltung erreicht werden könne.

So wurde das Wohnhaus als ressourcenschonender Holzbau (teurer als der Standard, aber schneller zu errichten) mit Vollholzdecken und hochgedämmten Holzständerwänden auf einem robusten kerngedämmten Betonsockel (ebenfalls nicht die kostengünstigste Bauvariante, stattdessen jedoch langlebig und alterungsfähig) errichtet. Das Wohnhaus erreicht somit einen KfW55-Standard und kann mit der auf der optimal nach Süden ausgerichteten Dachfläche projektierten PV-Anlage in der Jahresbilanz sogar noch zum Nullenergiegebäude werden.

Die Überlegungen zum Ausgleich von Erstellungskosten und langfristiger Wirtschaftlichkeit des Gebäudes spiegeln sich auch in der Grundrissgestaltung der Wohnungen wider, die kleine Spannweiten der Decken erlaubt, aber zugleich Platz für Loggien statt der üblichen Balkone bietet. Auch im angenehm lichten Treppenhaus trifft diese abwägende Gestaltungshaltung in Form einer sehr großzügigen Verglasung und einer unbekleideten Betonfertigteiltreppe aufeinander. Selbst die Aufstellung der Luftwärmepumpe innerhalb des Gebäudes, und in Kauf zu nehmen, dadurch vermietbare Fläche zu »verschenken«, folgt dem Bestreben nach Architektur mit hoher Haltbarkeit.

Das sorgfältig detaillierte und umgesetzte Ergebnis all dieser Überlegungen überzeugte Bauherrn Jens Wössner schließlich so sehr, dass er, obwohl dies anfänglich gar nicht vorgesehen war, selbst in eine der Wohnungen einzog.

Der großzügige, zur Straße hin offene Vorplatz dient nicht nur als Werkhof für seine Zimmerei und als Mieterparkplatz, sondern auch als alljährlicher vorweihnachtlicher Treffpunkt des ganzen Orts bei seinem Weihnachtsbaumverkauf. Mit der Pflanzung eines schattenspendenden Baums würde hier, vor dem kleinen Bauensemble, das sich dem Ort so verbunden zeigt, sicherlich auch im Rest des Jahres noch das eine oder andere Dorfschwätzchen gehalten werden.

db, Di., 2020.12.08



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09. Dezember 2019Martin Höchst
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Innere Größe

Das kleine Gebäude mit zwei Mietwohnungen, das einen Puffer zwischen dem Haus der Bauherren und einer stark befahrenen Straße bildet, ist ein Anlageprojekt. Mit ihm ist Milla Architekten aus Karlsruhe vermeintlich Unvereinbares gelungen: an einem Standort mit herausfordernden Bedingungen kostengünstigen und zugleich großzügig wirkenden Wohnraum in hoher architektonischer Qualität zu verwirklichen.

Das kleine Gebäude mit zwei Mietwohnungen, das einen Puffer zwischen dem Haus der Bauherren und einer stark befahrenen Straße bildet, ist ein Anlageprojekt. Mit ihm ist Milla Architekten aus Karlsruhe vermeintlich Unvereinbares gelungen: an einem Standort mit herausfordernden Bedingungen kostengünstigen und zugleich großzügig wirkenden Wohnraum in hoher architektonischer Qualität zu verwirklichen.

Berghausen ist mit seinen rund 8 000 Einwohnern der größte von vier Ortsteilen der zwischen Karlsruhe und Nordschwarzwald gelegenen Gemeinde Pfinztal. Mit zwei Bundesstraßen und dem Quellverkehr, der durch die notwendigen Wege zwischen den vier Ortsteilen entsteht, kämpft auch Berghausen wie die meisten Orte im Umkreis größerer Städte mit einer enormen Verkehrsbelastung.

Objekt statt Häuschen

Der stark befahrene Straßenabschnitt unweit einer der drei S-Bahn-Stationen von Berghausen wird im Süden von einer geschlossenen, vorwiegend zweigeschossigen Bebauung relativ einfacher Wohngebäude gefasst. Nach Norden hin, wo vormals die großzügigen, ansteigenden Vorgärten der Doppelhäuser aus den 20er Jahren das Straßenbild prägten, wurden über die letzten Jahre sehr konventionelle Wohnbauten etwas zurückgesetzt von der Straße errichtet. Neben einer der letzten Lücken in der Reihe dieser Allerweltsbauten fällt ein Gebäude deutlich aus dem ernüchternden Rahmen. Obwohl jüngeren Datums, erweckt es aufgrund der furchtlos kräftig proportionierten Traufdetails und dem Gestaltungsansatz, Fenster als eigenständige Fassadenabschnitte und nicht als Öffnungen in geschlossenen Außenwänden zu definieren, 70er-Jahre-Assoziationen. Das diese zeitliche Zuordnung allerdings nicht zutreffen kann, wird in Anbetracht der schlecht gealterten Nachbargebäude aus den 80er bis 2 000er Jahren deutlich. Auch die fast durchgängig graue Farbigkeit und das flach geneigte Satteldach sprechen dagegen. Das Motiv der an den beiden Traufseiten nach oben hin geschossweise um 25 cm nach außen vorspringenden Fassade wiederum erinnert an die Bauweise mittelalterlicher Fachwerkgebäude und gibt einen ersten Hinweis auf die Holzbauweise, in der das Gebäude errichtet wurde. Zusammen mit der durchgängigen Farbigkeit von lasierten, vertikal angeordneten Holzlatten und matten, verzinkten Blechoberflächen ergibt sich so, insbesondere übereck betrachtet, ein geradezu skulpturaler Charakter – und dies nicht zufällig: Die verantwortlichen Planer des Büros Milla Architekten aus dem nahen Karlsruhe strebten bei Entwurf und Realisierung an, dem Haus objekthafte Charakterzüge zu verleihen, um es möglichst vor der sonst oft im privaten Wohnungsbau aufkommenden Banalität zu bewahren – mit Erfolg. Im Falle der Blechdeckung des Dachs kam zu diesem Zweck trotz Kostendeckelung sogar ausnahmsweise (statt einer Betonsteindeckung) nur die zweitgünstigste Ausführung zum Einsatz.

Die Giebelseite auf der Grenze zum Nachbarn im Westen wurde aus Brandschutzgründen mit Wellblech bekleidet: Hier wird früher oder später angebaut und damit die letzte größere Lücke entlang der Straße geschlossen.

Nebeneinander statt übereinander

Üblicherweise würden bei der Bauaufgabe, zwei Wohnungen von jeweils ca. 65 m² Wohnfläche in einem Gebäude unterzubringen, die beiden Wohnungen übereinandergestapelt und über einen Hauszugang und ein gemeinsames Treppenhaus erschlossen. Nicht so in diesem Fall: Trotz der relativ geringen Größe der beiden Wohneinheiten, sollte ihnen zu gleichen Teilen der Vorteil eines OGs zugutekommen. Bei zwei übereinanderliegenden Wohneinheiten hätten sich wegen der Hanglage und der Nähe zur lauten Straße eine Kellerwohnung mit Stau vor dem Fenster und eine privilegierte, helle Wohnung im OG ergeben. Und so dient der »Vorgarten« des Gebäudes auch nicht wie bei den Nachbarn als nur unzulänglich vor Lärm und Blicken geschützter Freisitz, sondern wird von der geschotterten Fläche zweier Stellplätze bestimmt. Der eigentliche Freisitz ist zwar ebenfalls nicht vor dem Straßenlärm geschützt, liegt aber eine Etage höher, auf einem Balkon.

Um nicht Assoziationen an ein Doppelhaus aufkommen zu lassen, läuft die Fassadengliederung der Traufseiten jeweils bruchlos von Giebelwand zu Giebelwand durch. Die wechselnd übereinander angeordneten geschlossenen Fassadenabschnitte und die Fensterbänder in Gebäudebreite verunklären, dass das Haus im Innern vertikal geteilt ist und tragen so ihren Teil zur objekthaften Wirkung des Baukörpers bei. Lediglich die beiden Hauseingänge und die flankierenden Zugänge zum Abstellraum verweisen darauf, dass hier zwei Wohneinheiten nebeneinander angeordnet sind.

Die Grundrisse der beiden jeweils über alle Geschosse ineinander übergehenden Wohnungen sind spiegelsymmetrisch zueinander angeordnet. Im massiven EG findet sich, erschlossen über je einen kleinen Eingangsbereich, neben einem funktionalen Duschbad auch der ansonsten einzige abgeschlossene Raum der beiden Wohnungen mit Ausblick auf die hinter dem Haus ansteigende Wiese. Bereits unmittelbar hinter der Haustür eröffnet die Deckenaussparung der einläufigen Holztreppe, die zum eigentlichen Wohngeschoss hinaufführt, den Blick entlang der Giebelwand bis unter das geneigte Dach.

Das OG wirkt mit Zementestrichboden, unbehandelten Holzoberflächen der Deckenuntersicht sowie weniger Abschnitte der Wände, die sich ansonsten fast überall in Form gespachtelter und weiß gestrichener Trockenbauplatten zeigen, licht und großzügig. Der lang gestreckte Raum wird von Tageslicht, das durch die festverglasten Oberlichter beider Traufseiten (an der Gartenseite mit mattierter Verglasung) sowie die Fenstertüren zum Balkon auf der Straßenseite fällt, förmlich geflutet. Über eine Treppenleiter ist zudem noch eine kleine Galerie zu erreichen, die in der kompakten Wohnung Platz für einen Schreibtisch oder ein Bett bietet.

Die tatsächlich kostengünstige und schnelle Ausführung des eineinhalbgeschossigen OGs in Holzbauweise gründet sich auch auf die guten Vorkenntnisse die sich Boris Milla bei vorangegangenen sowohl planerischen als auch forschenden Tätigkeiten (u. a. bei Florian Nagler Architekten, Meck Architekten und am KIT bei Ludwig Wappner) aneignen konnte. Er wusste also, worauf er sich mit einem Holzbau einlässt und konnte den besonderen Herausforderungen während der Planung und Realisierung gerecht werden. Dies geschah auch in regem Austausch mit dem auf Holzbau spezialisierten Tragwerksplaner Peter Metzger (HOLZBAU INGENIEURE aus Karlsruhe). Dessen Vorschläge zur Optimierung des Tragwerks zogen teilweise gestaltbestimmende Modifikationen des Gesamtentwurfs, wie z. B. den aussteifenden Stahlrahmen, der der Straßenfassade im Bereich der Balkone vorgesetzt wurde, nach sich. Boris Milla, ganz dem Prozesshaften des Bauens verpflichtet, sieht darin sympathisch uneitel die »Nutzbarmachung bis dahin schlummernder Potenziale«. Bei der Umsetzung von Wärmedämmung, Fußbodenheizung und Luftwärmepumpe hielt man sich ganz pragmatisch und möglichst kostengünstig an die Vorgaben der EnEV.

In den lichten Räumen der beiden Wohnungen entfaltet sich dank der durchdachten Detaillierung und Anordnung der wenigen räumlich wirksamen Elemente über mehrere zueinander geöffnete Etagen eine Großzügigkeit, die sich auf dem Mietwohnungsmarkt ansonsten nur selten findet. Diese »innere Größe« den Bewohnern zur Verfügung zu stellen, ist aber auch der bewusste Versuch der Planer, einen Ausgleich zum mangelnden Abstand bedrängender äußerer Faktoren herzustellen. Um in Anbetracht der Nachverdichtung aller Orten vermehrt auch an vermeintlich unattraktiven Standorten Wohnraum zu realisieren, ist dies ein zukunftsträchtiger Ansatz, weil er neben den möglichst geringen Baukosten insbesondere das Wohl der Nutzer im Blick hat.

db, Mo., 2019.12.09



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03. Dezember 2018Martin Höchst
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Wohldosierte Öffnungen

Ein solide errichtetes Wohnhaus der 30er Jahre mit zwei abgeschlossenen Wohnungen zu einem großzügigen Raumgefüge für eine vierköpfige Familie zu wandeln, ist keine spektakuläre Bauaufgabe, sollte man meinen. Umso beeindruckender zeigt sich der Umbau in Windisch von Wülser Bechtel Architekten, der die vorgefundenen Qualitäten trotz geänderter funktionaler Anforderungen nicht nur bewahrt, sondern unter Einsatz recht radikaler Mittel sogar noch steigert.

Ein solide errichtetes Wohnhaus der 30er Jahre mit zwei abgeschlossenen Wohnungen zu einem großzügigen Raumgefüge für eine vierköpfige Familie zu wandeln, ist keine spektakuläre Bauaufgabe, sollte man meinen. Umso beeindruckender zeigt sich der Umbau in Windisch von Wülser Bechtel Architekten, der die vorgefundenen Qualitäten trotz geänderter funktionaler Anforderungen nicht nur bewahrt, sondern unter Einsatz recht radikaler Mittel sogar noch steigert.

Die Klosterzelgstraße in Windisch – eine Gemeinde mit knapp 7 000 Einwohnern im Kanton Aargau – zeigt sich als durchgrünte Sammelstraße eines Wohngebiets mit gepflegten Vorgärten und ebensolchen Ein- bis Zweifamilienhäusern aus den 20er bis 60er Jahren. An der Straße findet sich auch das 1964-68 entstandene geradlinige Gebäudeensemble der Höheren Technischen Lehranstalt von Bruno und Fritz Haller. Mittlerweile fungiert das prominente Bauzeugnis als Teil des Campus der Fachhochschule Nordwestschweiz am Standort Windisch.

Beiläufig eigenständig

Der gläsernen Architektur mit großem Namen gegenüberliegend, fällt am Haus mit der Nummer 13 im Vorbeigehen nichts Ungewöhnliches auf. Der radikale Umbau des vormaligen Zweifamilienhauses zu einem äußerst großzügigen Raumgefüge für eine vierköpfige Familie ist von außen nur zu erahnen. Bei genauem Hinsehen gibt es an Dach und Putzfassaden Anzeichen dafür, dass sich gegenüber dem weitestgehend erhaltenen Originalzustand des 30er-Jahre-Hauses etwas verändert hat. Das dicker als zuvor gedämmte Dach wurde mit der immer noch produzierten Sorte der schon zur Zeit der Fertigstellung eingesetzten Biberschwänze neu gedeckt. Die Erhöhung des Dachaufbaus ein wenig zu verunklären, gelingt durch eine zusätzliche farbliche Gliederung der Trauf- und Ortgangbretter. Je eine relativ große kupferbekleidete Dachgaube auf beiden Seiten des Satteldachs besetzt einen Teil der zuvor weitgehend ungestörten Dachflächen. Leicht zum First hin gekippt und – mittlerweile nachgedunkelt – im Farbton des Ziegeldachs wirken die beiden Körper trotz ihrer Dimension geradezu unauffällig. Besonders die Gaube zur Straße, vermeintlich fensterlos, wirkt abstrakt und gibt dem aufmerk­samen Passanten ein Rätsel mit auf den Weg.

Ebenso eigenständig wie die Gestaltung der Dachaufbauten fällt auch der Umgang mit der nahezu komplett originalen Reibeputz-Fassade aus. Nach nur kleinen Ausbesserungsarbeiten am Putz wurde die Fassade zunächst im blassen Kupferton der neu lackierten Fensterläden gestrichen. Ein zweiter »oberflächlicher« Anstrich, bei dem die Vertiefungen des Putzes ausgespart blieben, erfolgte in einem dazu komplementären grüngrauen Farbton, der sich wiederum aus dem Farbton der erhaltenen Fenstereinfassungen aus Werkstein ableitet. Durch die so realisierte Zweifarbigkeit des Anstrichs soll nach der Vorstellung der Architekten die Tiefenwirkung des Putzes gesteigert werden, ein Effekt, der sich im Ergebnis wohltuend subtil zeigt. Eher unmerklich treten auch einige veränderte Fensteröffnungen in Erscheinung: Bei vergrößerten bzw. verkleinerten Fenstern kamen statt der ansonsten aus­getauschten weißen Holzfenster fassadenbündige Festverglasungen mit Aluminium-Abdeckleisten zum Einsatz. (Teil-)Schließungen von Fenstern erhielten eine Ausfachung aus Sichtmauerwerk in Fassadenfarbe. Insbesondere das Bild eines deutlich ablesbar zugemauerten Fensters verstört zwar zunächst ein wenig, doch dank der dabei erhaltenen sichtbaren Fenster­umrandungen bleibt die ursprüngliche Fassadengliederung nach wie vor weitgehend wirksam.

Werterhaltend

Ein entscheidender Grund für den Erwerb des Hauses, bei dem Architekt Nicolaj Bechtel den Hausherrn bereits beratend zur Seite stand, war die ungewöhnlich gut erhaltene Originalsubstanz des Gebäudes – äußerlich wie auch im Innern: Parkett und Bodenfliesen hoher Qualität, eine gut erhaltene Holztreppe und eine Heizung, die noch ein paar Jahre hält. Darüber hinaus bot das Innere viel Tageslicht und sehr viel Platz – allerdings verteilt auf zwei ­abgeschlossene Drei-Zimmer-Wohnungen und ein zur Hälfte ausgebautes DG. Es galt also auf der einen Seite, den vorhandenen hohen Wert des Hauses (monetär wie ästhetisch) zu erhalten und weiter zu nutzen und auf der anderen, dem Wunsch der Bauherren nach möglichst offenem Wohnen zu entsprechen. Daraus folgte das radikale Gestaltungskonzept der Architekten des maximalen Erhalts des Vorhanden und der Lesbarkeit aller Veränderungen.

Konsequenter konnte die gewünschte offene Verbindung der Räume zuein­ander im Ergebnis kaum ausfallen: Am zuvor abgeschlossenen Treppenhaus wurden sowohl die Wände (samt Wohnungstüren) als auch der Holzverschlag zur Dachbodentreppe entfernt, beinahe jede Wand des EGs erhielt vergrößerte oder zusätzliche raumhohe Öffnungen – abgesehen vom WC alle ohne Türen. Besonders prägend zeigt sich die Ent­fernung von gut zwei Dritteln der Decke zwischen EG und OG über dem heutigen Essplatz.

Im EG (anders als im weniger stark veränderten OG mit den Kinderzimmern) wandelte sich so der ursprüngliche Grundriss mit einem innenliegenden Flur in eine Raumabfolge, die einen über einen Rundkurs wieder an seinen Ausgangspunkt zurückführt. Je nach Bezug der Räume zueinander fallen dabei die Wandöffnungen mal schmaler oder aber gleich raumbreit aus. Die Vergrößerung oder Schließung von Fensteröffnungen betont in den unterschiedlichen ineinander übergehenden Raumbereichen jeweils Hauptrichtungen und Ausblicke. Die verkleinerten Fenster des OGs im doppelt hohen Raum stellen zudem einen gewisse Intimität sowohl für den Essplatz als auch die Galerie her.

»Sollbruchstellen«

Neue Öffnungen und Verbindungen erfordern Einschnitte in die Substanz und ziehen Folgen für Oberflächen und Statik nach sich. Wie also umgehen mit einer Lücke zwischen Parkett und Fliesenbelag, an deren Stelle zuvor noch eine Wand stand? Kaschieren oder Rekonstruieren kam für die Planer nicht in Frage, ganz im Gegenteil. Die Fehlstellen wurden so simpel wie möglich wieder funktionstüchtig gemacht. Zementspachtel füllt die Löcher am Boden, notwendige Unterfangungen zeigen sich als einfache Stahlkonstruktionen.

Diese Vorgehensweise reicht so weit, dass sämtliche Wand- und Deckenoberflächen – von noch vorhandenen Holzpaneelen über Raufasertapeten bis hin zu den Stirnseiten der mit exaktem Schnitt durchtrennten Wände – lediglich einen durchgängigen, weißen Anstrich erhielten. Der latent durch solche Ruppigkeit auftretende Rohbaucharakter findet seinen Gegenpart in den geradlinigen und scharfkantigen Holzeinbauten aus Birkensperrholzplatten. Zusammen mit den Eichenholzlaibungen der vergrößerten Fensteröffnungen sorgen sie durch ihre Materialität und Präzision für das nötige Maß an Aufgeräumtheit zwischen all den »Sollbruchstellen« und geweißten Texturen.

Holz prägt auch das DG, das Refugium der Eltern. Der große offene Bereich am Austritt der Treppe, der bis unter den First eine imposante Höhe entwickelt, gibt Aufschluss über die von außen betrachtet vermeintlich fensterlose Gaube: Tageslicht fällt hier über das verglaste schmale Gaubendach ein. Geradezu meditative Atmosphäre herrscht dadurch im Raum, dessen nahezu sämtlichen Wand- und Deckenflächen mit Birkensperrholz beplankt sind. Dieses Material setzt sich auch in den Regalen des begehbaren Kleiderschranks fort. Nur durch ihn hindurch, jeweils über schmale Durchlässe, sind Bad und Schlafzimmer zu erreichen. Der insze­nierte und konsequent türlose Weg durch den »Schrank« mündet im lichten Schlafraum der Eltern mit der zweiten Gaube, deren garagentorgroße, in einem Stück festverglaste Öffnung den Ausblick auf Windisch gewährt. Auch hier bleibt das, was vorgefunden wurde, stets im Blick: Statt die Sparren im Bereich der Öffnung zu entfernen, ließ man sie als eine Art Filter stehen, der zwischen offen und geschlossen, zwischen alt und neu vermittelt.

db, Mo., 2018.12.03



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01. Dezember 2017Martin Höchst
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Zeichen der Wertschätzung

Ein zeitgemäßes städtisches Straßenreinigungsdepot ­unter einem Dach mit einer Wertstoffsammelstelle zu verwirklichen, ist sowohl technisch als auch organi­satorisch deutlich komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. KNERER UND LANG Architekten entwickelten dafür in Augsburg in regem Austausch mit dem Bauherrn eine ebenso funktionale wie gestalterisch prägnante und überzeugende Lösung, ohne dabei die ­Nutzer aus dem Auge zu verlieren.

Ein zeitgemäßes städtisches Straßenreinigungsdepot ­unter einem Dach mit einer Wertstoffsammelstelle zu verwirklichen, ist sowohl technisch als auch organi­satorisch deutlich komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. KNERER UND LANG Architekten entwickelten dafür in Augsburg in regem Austausch mit dem Bauherrn eine ebenso funktionale wie gestalterisch prägnante und überzeugende Lösung, ohne dabei die ­Nutzer aus dem Auge zu verlieren.

Die Stadt Augsburg möchte den Bereich Straßenreinigung und Abfallwirtschaft durch eine Neustrukturierung nachhaltig und wirtschaftlich ausrichten. Um die Anzahl der Standorte für die Wertstoffsammlung sowie für die Infrastruktur der Straßenreinigung zu reduzieren, wurden drei Neubauten – strategisch günstig auf das Stadtgebiet verteilt – als kombinierte Wertstoff- und Straßenreinigungsdepots ausgeschrieben. Das erste davon ist bereits seit 2012 in Betrieb, das Depot am Holzweg von KNERER UND LANG Architekten hat im Dezember 2016 seinen Dienst aufgenommen und der dritte Neubau wird derzeit errichtet. Durch das Integrieren von Waschanlagen und Streusalzlagern, die bislang ebenfalls an separaten Standorten untergebracht waren, sollen Fahrten vermieden und damit auch der Kraftstoffverbrauch und Emissionsausstoß der Fahrzeugflotte verringert werden. Die Personalräume der Straßenreinigung an den vormaligen, in die Jahre gekommenen Standorten bedurften überdies einer deutlichen Verbesserung.

Die drei Neubauten wurden an Standorten geplant, an denen die anfallenden Geruchs- und Lärmemissionen anrainerverträglich gestaltet werden konnten. Kleinere innenstadtnahe und sanierungsbedürftige Depots und Wertstoffhöfe können nun nach und nach aufgegeben werden.

Augsburg, die drittgrößte Stadt Bayerns, ist v. a. durch ihren sehenswerten historischen Stadtkern bekannt, hat aber auch eine lange Geschichte als Industriestandort. So nahm mit der »Schüleschen Kattunfabrik« 1771 die erste Textilmanufaktur auf dem europäischen Kontinent ihren Betrieb auf. Seit dem 20. Jahrhundert und bis heute prägt die Maschinenbauproduktion das Stadtgebiet mit ausgedehnten Industrie- und Gewerbearealen v. a. zwischen der Kernstadt und den im Laufe der Jahrzehnte eingemeindeten Teilorten. So auch im Norden Augsburgs, wo der Holzweg die beiden Stadt­teile Oberhausen und Löwenbräu miteinander verbindet und dabei den Wechsel von Industrie und Gewerbe im Süden hin zu Kleingartenanlagen im Norden markiert. An einer Ecke, an der der Holzweg als Brücke über die vierspurige B17 führt, lag bereits seit Jahren ein Festplatz brach. Mit ihm fand die Stadt Augsburg nach aufwendiger Suche endlich auch im Norden des Stadtgebiets ein Baugrundstück für einen Depotneubau, das sowohl die erforderliche Größe als auch eine sehr gute Verkehrsanbindung aufweist.

Wagenburg der Strassenreiniger

Um das vorgegebene umfangreiche Raumprogramm auf dem vormaligen Festplatz unterzubringen, rückten KNERER UND LANG Architekten – nach einem VOF-Verfahren beauftragt – die Außenkanten ihres U-förmigen Gebäudes bis an die mehrfach verschwenkten Baugrenzen heran. Seine Fassaden zeigen sich dadurch entlang des Holzwegs und zur B17 hin besonders plastisch. Analog zu den amorphen Umrissen wurde – statt einer Abtreppung – eine Verschleifung der unterschiedlichen erforderlichen Gebäudehöhen gewählt. Vom Holzweg aus betrachtet führt dies zusammen mit der Holz­lattenbekleidung, die nur punktuell von wenigen Fensteröffnungen unterbrochen wird, zu einer äußerst abstrakten Wirkung. Die Absicht der ­Architekten, die Dimension des Baukörpers mittels »weicher« Materiali­sierung und Farbwahl etwas zu entschärfen, ist nachvollziehbar: Durch die Tiefenwirkung des Fassadenaufbaus verliert das beträchtliche Bauvolumen tatsächlich an Wucht und lenkt die ganze Aufmerksamkeit des ortsunkun­digen Besuchers auf die Zufahrt an dem Gebäudeabschnitt, an dem die ­Fenster­­öffnungen – da nicht durch die Holzlatten kaschiert – als solche zu erkennen sind. Hier wird aus dem Volumen ein Gebäude. Im Moment der Einfahrt erschließt sich das Gebäude im Nu: Ein riesiger asphaltierter Hof wird, statt von Holzlatten wie ­außerhalb, ­nun von einer leuchtend blauen Trapezblechfassade U-förmig gefasst. Fensteröffnungen, Türen und Tore, im ­selben Farbton beschichtet, verweisen durch ihre variierenden Größen darauf, dass sich hier unterschiedliche Nutzungen nebeneinander aufreihen.

Die bewegte Oberkante der äußeren Fassade findet rund um den heiter stimmenden Hof ihr Pendant im Auf und Ab ­eines angemessen deutlich wahrnehm­baren Dachüberstands. Im Norden, direkt gegenüber der Einfahrt, wandelt sich dieser sehr elegant zur einfachen Überdachung der orangefarbenen Wertstoffcontainer.

17 Container und fünf Pressen sind ordentlich in einer Reihe aufgestellt und durch ihre übergroßen Beschriftungen – von Elektroschrott bis Papier – problemlos auffindbar. Hier im vorderen Teil des Hofs zwischen Wertstoffen und dem Personalgebäude wird geparkt und werden Wertstoffe entladen. Der hintere Bereich des insgesamt 11 000 m² großen Areals ist den Straßenreinigern vorbehalten: Der Hofbereich dient als Rangierfläche, rechts und links befinden sich die beiden Fahrzeughallen für 30 kleinere sowie 17 große Fahrzeuge, ergänzt durch zwei Waschanlagen.

Die Fahrzeughallen sind jeweils mit doppelter Tiefe ausgeführt, sodass abhängig von der Jahreszeit wechselnde Aufbauten oder Fahrzeuge für Reinigungs- bzw. Winterdiensteinsätze direkt dahinter abgestellt werden können. Eine Fußbodenheizung gewährleistet ein Temperaturniveau von mindestens 5 °C, um auch bei eisiger Witterung ohne Verzug mit dem Winterdienst beginnen zu können. Die Halle zur Lagerung von Streusalz zwischen den Fahrzeughallen schließt das Gebäude-U nach Westen hin als Hochpunkt ab. Hier lagert sowohl reines Streusalz für Straßen als auch ein Salzsplittgemisch für Geh- und Radwege. Holzschalungen schützen die Betonwände vor dem aggressiven Schüttgut. Die beeindruckende Dimension des Raums erlaubt das Kippen ­eines Sattelzuganhängers, wofür eine lichte Höhe von 9 m benötigt wird.

Neben den einzuplanenden Aufprallkräften und teilweise erheblichen Spannweiten sprach auch der Feuchteeintrag durch die beiden Waschanlagen gegen die ursprünglich favorisierte Holzkonstruktion. Stattdessen kam eine Mischbauweise aus Ortbeton und Betonfertigteilen zum Einsatz. Die tragende Struktur zeigt sich ebenso sorgfältig ausgeführt und geplant wie die größtenteils sichtbar geführten, zahlreichen Leitungen der Haustechnik. Von der Abwasserwiederaufbereitung der Waschanlagen über die Wärmerückgewinnung aus der Abluft des Personalgebäudes bis hin zur PV-Nutzung auf den extensiv begrünten Dachflächen: Bei der Haustechnik wurde Wert auf den Vorbildcharakter des städtischen Gebäudes gelegt.

Angemessen

Besonders die Qualität der Aufenthaltsräume und Umkleiden sei im neuen Gebäude deutlich besser als an den vormaligen Standorten, berichtet der ­Leiter des »Wertstoff- und Servicepunkt Holzweg« Bedros Isler. Im OG des Personalgebäudes ermöglicht ein Ruheraum den Straßenreinigern ein kurzes Nickerchen in der Pause.

Der helle Aufenthaltsraum und eine gut ausgestattete Küche im EG bieten beste Voraussetzungen für eine angenehme Frühstückspause. Wie die ­Sozialräume zeigen sich auch die Büros und der Besprechungsraum schnörkellos und großzügig und dank durchdachter Details sehr haltbar. Viel Tageslicht, weiß geschlämmtes Sichtmauerwerk und ein graubrauner Kautschukbelag schaffen eine angenehm aufgeräumte Atmosphäre.

Austausch und Abstimmung zwischen Planern und Bauherrn während des ganzen Planungsprozesses seien intensiv gewesen, meint Architektin Eva-­Maria Lang und lobt die konstruktive Zusammenarbeit. Wenn dabei die Bedürfnisse der Hauptnutzer des Gebäudes, die bei Wind und Wetter Straßen und Plätze von Unrat und Schnee befreien, angemessen und respektvoll behandelt werden, dann kann gelungene Architektur auch als Zeichen der Wertschätzung betrachtet werden. In Augsburg am Holzweg kann man sich davon ein Bild machen.

db, Fr., 2017.12.01



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05. Dezember 2016Martin Höchst
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Menschenbilder

Vielfältig wie die städtische Bürgergemeinschaft sind auch die »Menschenbilder« an der Eingangsfassade der Museumserweiterung. Dem Besucher bietet sich im entstandenen Ensemble aus mittelalterlichem Wohnturm und seiner städtebaulich wie architektonisch qualitätvollen Erweiterung ein abwechslungsreiches Ausstellungs- und Raumerlebnis.

Vielfältig wie die städtische Bürgergemeinschaft sind auch die »Menschenbilder« an der Eingangsfassade der Museumserweiterung. Dem Besucher bietet sich im entstandenen Ensemble aus mittelalterlichem Wohnturm und seiner städtebaulich wie architektonisch qualitätvollen Erweiterung ein abwechslungsreiches Ausstellungs- und Raumerlebnis.

Aarau, die Kantonshauptstadt des Aargau, liegt auf halber Strecke zwischen Zürich und Basel. Die nur gut 20 000 Einwohner zählende Kernstadt zeigt sich dem Besucher gut erhalten und umtriebig. Die überraschende Fülle kultureller Einrichtungen gründet sich auf das kleinteilig besiedelte Einzugsgebiet ringsum, in dem über 200 000 Menschen leben. Allein innerhalb der letzten rund 20 Jahre erfuhren gleich drei städtische Museen Erweiterungen durch zeitgenössische Anbauten namhafter Schweizer Architekten: Ende 2002 öffnete das durch den Züricher Architekten Arthur Rüegg erweiterte Naturkundemuseum wieder; die Kunsthauserweiterung von Herzog & de Meuron konnte 2003 bezogen werden; und im Sommer 2015 wurde schließlich das von Diener & Diener mit Martin Steinmann sanierte und deutlich vergrößerte Stadtmuseum am Rande der Altstadt eingeweiht.

Schlüssiger Seitenwechsel

Zusammen mit Diener & Diener aus Basel hatte Architekt Martin Steinmann aus Aarau den eingeladenen Wettbewerb unter den fünf Entwürfen zur Erweiterung des »Schlössli«, eines mittelalterlichen Wohnturms, in dem das Stadtmuseum seit 1938 untergebracht ist, gewonnen. »Wettbewerbe gewinnt man nicht mit Fassaden«, so erläutert Martin Steinmann. Vielmehr hätte das städtebauliche und organisatorische Konzept ihres Entwurfs die Jury überzeugt: Statt, wie in der Ausschreibung vorgesehen den Neubau östlich auf Abstand zum Turm zu positionieren, schlugen sie vor, im Westen unmittelbar an den Bestand anzubauen. Durch die bewusste Neuformulierung der Bauauf­gabe ergaben sich gleich mehrere Vorteile. So konnte durch die Verschmelzung von Alt und Neu die Erschließung über die meisten Geschosse zusammengefasst und somit auch im Turm weitgehend barrierefrei gestaltet werden. Zudem ergab sich eine schlüssige städtebauliche Neuausrichtung des Terrains, das vom Rand der Altstadt zum Aaretal hin stark abfällt. Östlich des erweiterten Stadtmuseums kann auch weiterhin der Blick über eine Grünanlage hinweg ins Tal und weiter zum Jura schweifen.

Im Westen des Bestands bildet der Anbau die Stirnseite des Schlossplatzes und rückt die scheunentorgroße Öffnung des neuen Haupteingangs in seiner ansonsten geschlossenen Fassade ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zusammen mit dem benachbarten Saalbau des Kultur- und Kongresshauses ergibt sich ein städtischer Platz, umstanden von kulturellen Institutionen, der durch seine leichte Abschüssigkeit förmlich dazu einlädt, als Tribüne für Freiluftaufführungen genutzt zu werden.

Empfangskomitee

Das umsichtige in den Kontext eingepasste Volumen mit einem verglasten Staffelgeschoss und einem Knick in der Eingangsfassade weicht zu den beiden historischen Nachbarn hin vorsichtig zurück und bildet zudem noch einen geschützten Bereich vor den verglasten Eingangsschiebetüren aus. So umsichtig das Volumen modelliert in Erscheinung tritt, so plakativ und geradezu fordernd gibt sich die Gestaltung der vorgehängten Fassade aus vorgefertigten Betonelementen: 134 Menschen in Lebensgröße blicken dem Eintretenden entgegen. 134 individuelle Zeichnungen von Männern und Frauen in zeitgemäßer Kleidung, vermeintlich in den Beton eingraviert, konfrontieren den Betrachter mit einem in der zeitgenössischen Architektur kaum eingesetzten figürlichen Ornament. Dieser ungewöhnliche Anblick erzeugt die Aufmerksamkeit, die einem Museum gebührt. Nicht zuletzt rufen die figürlichen Darstellungen Erinnerungen an die Malerei der Neoexpressionisten aus den 80er Jahren hervor. Und dies nicht von ­ungefähr: Der St. Galler Künstler Josef Felix Müller, der die Vorlagen für die Abgüsse geschaffen hat, wurde in den 80er Jahren u. a. mit seinen rauen, ausdrucksstarken Holzskulpturen bekannt. Wie damals benutzte der Künstler auch beim Stadtmuseum Aarau eine Motorsäge, um die Menschenbilder der Fassade auf Holztafeln zu skizzieren. Das Holz eines Mammutbaums, der der Erweiterung weichen musste, lieferte das Material dazu. Mit Kunststoff ausgegossen entstanden Matrizen, die wiederum in die Schalung der Betonelemente eingelegt wurden. Neben der jeweils eingeschnittenen Zeichnung bilden sich auch die Sägespuren, Nähte und Maserungen der verleimten Schalungsbretter an der Betonoberfläche ab. So wird für den Besucher visuell wie haptisch ihre Herstellung nachvollziehbar und der gefällte Mammutbaum zeugt weiterhin von der Geschichte des Orts.

Doppelte Höhe

Die drei neuen stützenfreien Säle der Erweiterung – im UG für Veranstaltungen und Vorträge im EG als Foyer und zusätzliche Ausstellungsfläche und im OG für Wechselausstellungen – sind im Wesentlichen baugleich übereinandergestapelt: glatt verputzte Stahlbetonwände überspannt von einer vorgefertigten Betonrippendecke, mit jeweils einer großen Öffnung nach Norden, die Tageslicht einfallen lässt und in den beiden oberen Räumen zudem einen Ausblick zum Aaretal bietet. Lediglich der jeweilige ­Bodenbelag wechselt von rötlich eingefärbtem Holzzement im UG über Terrazzo im EG zu Eichendielen im OG. Ein elegant geschwungenes Schienensystem an den Decken nimmt schwere Vorhänge als Ersatz für einen Windfang, als Raumteiler oder zur Verbesserung der Akustik auf. Beeindruckend hoch zeigen sich die drei Haupträume. Dies ergab sich aus der Verdopplung der Geschosshöhen des Altbaus. So ließen sich sowohl Altbau als auch Er­weiterung zusammen mit nur einem Aufzug und nur einer Treppe beinahe durchgängig barrierefrei ­erschließen. Aus Kostengründen traten leider etwas überdimensioniert wirkende Treppenpodeste an die Stelle eines ursprünglich geplanten geschossübergreifenden Schaudepots und harren derzeit noch ihrer Ausstellungs­bespielung. Noch zurückgenommener als die Oberflächen und Detaillierung der Säle in der Erweiterung zeigen sich die der Erschließungsräume. So fällt der Kontrast am Übergang zum historischen Wohnturm mit seinen teilweise mehrere Meter dicken Wänden besonders stark aus. Beim Eintritt in einen der leicht windschiefen holzvertäfelten Räume im EG scheint es, als beträte man eine ganz andere wundersame Welt. Auch in den folgenden Geschossen setzt sich dieser Eindruck fort. Sowohl der Wechsel ­zwischen Alt- und Neubau als auch die je nach Entstehungs- und Umbauzeit unterschiedlich gestalteten historischen Räume des Wohnturms, machen den Ausstellungsparcours zur abwechslungsreichen räumlich erfahrbaren Entdeckungsreise durch die Jahrhunderte. Im Turm konnten es die Planer größtenteils bei einer Pinselrenovierung bewenden lassen.

Nur einzelne statisch relevanten Teile wurden ersetzt und die hier untergebrachte Dauerausstellung, vornehmlich zu historischen Aarauer Persönlichkeiten, von den Szenografen Emyl aus Basel neu gestaltet.

Begrünt und haltbar

Das etwas ruppige Äußere des Schlössli mit seinem sichtbaren Findlings­mauerwerk war weitgehend intakt und blieb nahezu unverändert erhalten. Der ursprüngliche Gedanke, an den Fassaden der Erweiterung das Motiv des Sichtmauerwerks aufzugreifen, wurde von den Architekten glücklicherweise als zu anbiedernd verworfen, ebenso wie der Einsatz von Holz am verglasten Staffelgeschoss. Hier oben residiert die Museumsverwaltung mit wunder­barem Blick auf Stadt und Landschaft in einem stützenfreien, lichten Raum. Um eine sommerliche Überhitzung zu verhindern, könnte, da bereits baulich vorgesehen, ganz unkompliziert ein Sonnenschutz nachgerüstet werden. Bisher jedoch hat das vorgelagerte begrünte Rankgerüst diese Aufgabe gut bewerkstelligt.

Die Begrünung des Staffelgeschosses war bereits zu einem frühen Zeitpunkt Teil des Gestaltungskonzepts. Die Begrünung der weniger repräsentativen Fassaden der unteren Geschosse hingegen wurde von den Nachbarn erstritten. Innerhalb der dichten Bebauung schadet dies der Architektur in keiner Weise. Ganz im Gegenteil: Um die Edelstahlrankhilfen stabil anbringen zu können, wurde die ursprünglich als WDVS geplante Fassade mit einer verputzten Backsteinschicht vor den ­tragenden Stahlbeton-Außenwänden und der Wärmedämmung versehen. Dies wird sich an der Alterungsfähigkeit der zunächst als »Bauteil mit ­Sparpotenzial« eingestuften Fassade positiv bemerkbar machen – mit oder ohne Begrünung.

Die lange Planungs- und Bauzeit – Wettbewerb 2006, Eröffnung 2015 – gibt einen Hinweis darauf, dass viele Entscheidungen bei der Entstehung des ­Gebäudes mit städtischen Gremien und Gerichten ausgefochten werden mussten. Das ausdauernde Engagement der Planer hat sich am Ende jedoch ausgezahlt. Mit der Erweiterung des Stadtmuseums Aarau gelang es ihnen, sowohl das städtische Gefüge passgenau und intelligent zu ergänzen als auch den Ausstellungsmachern zurückhaltend robuste Räume zu bieten. Darüber ­hinaus sprechen die 134 Menschenbilder der Fassade jeden Passanten bereits vor dem Eingang direkt an und machen klar, dass Menschen trotz gänzlich unterschiedlicher Charaktere in einer Gemeinschaft zusammenfinden ­können. Was könnte zu einem Stadtmuseum besser passen?

db, Mo., 2016.12.05



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01. Dezember 2015Martin Höchst
db

Zusammen eigenständig

Einem verschlossenen zylindrischen Solitärbau eine Erweiterung hinzuzufügen, birgt viele Möglichkeiten des Misslingens. Graber und Steiger Architekten haben sich bei der Erweiterung des »Thun Panorama« für eine bestechend ausgewogene Kombination aus baulicher Verschmelzung und gegensätzlicher Konstruktionsprinzipien entschieden. Sie verhelfen damit dem Ausstellungsort des ältesten erhaltenen Panoramagemäldes der Welt zu der Aufmerksamkeit, die ihm gebührt.

Einem verschlossenen zylindrischen Solitärbau eine Erweiterung hinzuzufügen, birgt viele Möglichkeiten des Misslingens. Graber und Steiger Architekten haben sich bei der Erweiterung des »Thun Panorama« für eine bestechend ausgewogene Kombination aus baulicher Verschmelzung und gegensätzlicher Konstruktionsprinzipien entschieden. Sie verhelfen damit dem Ausstellungsort des ältesten erhaltenen Panoramagemäldes der Welt zu der Aufmerksamkeit, die ihm gebührt.

Thun im Berner Oberland glänzt sowohl durch eine perfekt restaurierte Altstadt als auch durch seine reizvolle Lage an Aare und See, inklusive majestätischer Alpenkulisse. Die Touristenströme halten sich dennoch, zumindest beim Besuch im Oktober, in Grenzen. Im Ortsteil Scherzlingen, der sich mit Industrieanlagen und Fragmenten des vormaligen Dorfs recht heterogen zeigt, liegt auch der öffentlich zugängliche Park rund um das historisierende Schloss Schadau (1852), in dem sich mittlerweile ein Restaurant und ein Gastronomiemuseum befinden.

In der ruhigen Atmosphäre der gepflegten Grünanlage direkt am Seeufer mit Blick auf steil ansteigende, schneebedeckte Berggipfel stößt man eher beiläufig auf eine kleine Dependance des Kunstmuseums Thun, das sogenannte Thun Panorama. Bis 2014 wurde es von Graber und Steiger Architekten aus Luzern erweitert und saniert, nachdem sie ein prominent besetztes Auswahlverfahren unter sieben eingeladenen Büros für sich entscheiden konnten. Gut 50 Jahre nach der letzten Restaurierung des hier ausgestellten ältesten Rundgemäldes der Welt, das eine Stadtansicht Thuns zeigt, sollten zu dessen 200-jährigem Bestehen Schadstellen ausgebessert und einen neuer Firnis aufgebracht werden. Auch seine denkmalgeschützte bauliche Hülle von 1961 sollte zum Jubiläum frisch saniert, und um ein zeitgemäßes Eingangsgebäude ergänzt, erstrahlen.

Vergessene Unikate

Der industrielle Charakter des Bestandsgebäudes mit seinem sichtbarem Stahlbetonskelett und Ziegelausfachungen, das eher an einen Wasserhochbehälter als an ein Ausstellungsgebäude erinnert, galt bei seiner Einweihung als Affront. Und dies, obwohl der für die damalige Planung verantwortliche Stadtbaumeister Thuns Karl Keller (1920-2003) die knapp 12 m hohe Rotunde mit einem Durchmesser von ca. 14 m inmitten hohen Baumbestands und mit deutlichem Abstand zu Schloss und Seeufer platzierte. Die Unauffälligkeit des kleinen Ausstellungsorts machte sich jedoch an den geringen Besucherzahlen bemerkbar und so erhielt das Rundgemälde erneut, wie schon kurz nach seiner Fertigstellung 1814, nicht die gewünschte Aufmerksamkeit.

Der Basler Künstler Marquard Wocher (1760-1830) hatte es nach zwei Aufenthalten vor Ort, bei denen er – auf einem Dach inmitten des Stadtkerns sitzend – Skizzen von Stadt und Landschaft ringsum gemacht hatte, in fünfjähriger Arbeit in Basel geschaffen. Über das ein oder andere Detail der Stadtansicht, dass es noch zu klären galt, tauschte er sich währenddessen mit einem Bekannten in Thun per Brief aus. In einer damals eigens in Basel errichteten Holzrotunde sollte zahlendes Publikum das auf 285 m² Büttenpapier gemalte Ölgemälde bestaunen. Doch die Rechnung Wochers ging nicht auf und er starb schließlich verarmt. Nach seinem Tod gelangte das Panorama in den Besitz der Stadt Thun und geriet danach über die Jahre in Vergessenheit. Erst in den 50er Jahren entdeckte man es wieder. Karl Keller erkannte die kulturelle Bedeutung des Kunstwerks für die Stadt und ließ es auf gekrümmte Holzwerkstoffplatten aufziehen und restaurieren. Um es auch als Ganzes wieder ausstellen zu können, forcierte er die Errichtung der Rotunde im Schadaupark.

Fortgeführt

Die eingeschossige Erweiterung des Baus übt sich in Respekt vor der vorgefundenen elegant kargen Gestaltung der Rotunde, ohne sich jedoch ihr anzubiedern. Tangential aus dem Umriss des Bestands heraus leiten konkave Schwünge zu einer rechteckigen Form über. Dadurch wird sowohl der alte Baumbestand geschont als auch der Eingang deutlich und einladend definiert. Verbindendes Element von Alt und Neu ist der Dachrand des Annex aus Ortbeton, der die Waagerechte des Rotunden-Betonskeletts ohne Dehnungsfugen fortführt. Mit einer Ansichtsbreite von 40 cm und in gleicher Weise geschalt war er der Ausgangspunkt für weitere konstruktive und räumliche Entscheidungen. So wurde u. a. der Boden des Veranstaltungs- und Ausstellungsraums abgesenkt, um die geforderte Raumhöhe von 3 m zu erreichen. Anders als beim Bestand, an dem sichtbare Stützen die Lastabtragung in der Fassadenebene veranschaulichen, schwebt das begrünte Flachdach der Erweiterung vermeintlich über der geschosshohen Verglasung. Tatsächlich ruht die gesamte Stahlbetondecke auf einem von den Fassaden ringsum abgelösten innenliegenden Stahlbetontisch, der Empfang, Bewirtungstheke, Toiletten, Technik und Garderoben aufnimmt. Um die beeindruckende Auskragung (8 m!) der Decke im Bereich des Veranstaltungssaals zu bewältigen, wurden vier vorgespannte Unterzüge eingebaut, deren geringe Abmessungen nur in enger Abstimmung mit dem Tragwerksplaner zu erzielen waren.

Sämtliche Oberflächen im Innern sind in Anlehnung an den Bestand einfach ausgeführt. So wurden keine aufwendigen Betonschalungen verwendet, die Fußböden erhielten einen grauen Anstrich und sämtliche Einbauten sind in weiß beschichtetem Holzwerkstoff ausgeführt. Dies steht im Kontrast zu der edlen in Teilen gekrümmten Glasfassade ohne sichtbare Profile. Je nach Lichteinfall wirkt sie entweder immateriell und lässt den Park im Innern sehr präsent werden oder aber bietet ein komplexes Reflexionsspiel dar. Durch das ausgewogene Miteinander einfacher und edler Materialien entsteht ein spannungsvoller Kontrast mit hohem ästhetischem Reiz. Zudem ist eine gewisse Robustheit der Oberflächen in Anbetracht der regelmäßigen Besuche von Schulklassen und – in deutlich größeren Abständen bei Hochwasser – des Thuner Sees vonnöten.

Im Dienste des Exponats

Temperierung von Rotunde und Erweiterung sind streng voneinander getrennt, was sich auch an den beiden Windfängen, zum einen am Haupteingang und zum andern zwischen Foyer und Rotunde, bemerkbar macht. Während die Erweiterung dank Dreischeiben-Isolierverglasung, guter Dämmung, einer Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung sowie einer Wärmepumpe für die Versorgung der Fußbodenheizung dem Schweizer Minergie-Standard entspricht, bleibt die Rotunde völlig untemperiert. Hier wird mittels zweier Luftentfeuchter lediglich die ideale Luftfeuchtigkeit für das Exponat gewährleistet. Dies hatte sich in den letzten 50 Jahren aus restauratorischer Sicht bewährt und so wurden Überlegungen zu einer Dämmung der einschaligen Bestandskonstruktion verworfen.

Beim Betreten der im Herbst sehr kühlen Rotunde unter dem Gemälde hindurch zeigt sich der Raum mit verputzten Wandsegmenten zwischen den Sichtbetonstützen wie sie auch an den Außenfassaden des EG zu finden sind. Erhellt durch ein über Kopfhöhe umlaufendes schmales Lichtband findet hier, in abgelöst von der Architektur aufgestellten Schaukästen und auf Tischen eine Dauerausstellung zu Details und Geschichte des Panoramas ihren Platz. Der Rotunde folgend führt eine geschwungene Treppe hinauf auf die frei eingestellte erhaltene Empore, die ebenfalls aus Stahlbeton elegant detailliert ist und deren Oberflächen sorgfältig saniert wurden. Die erhöhte Position auf ihr eröffnet dank der dreifachen Staffelung auch einer ganzen Schulklasse gleichzeitig den Rundumblick auf das Panorama, das vor den Außenwänden abgehängt ist. Um den aktuellen Normen zu entsprechen, wurden die bestehenden Brüstungselemente aus Metall in Anlehnung vorhandener Details angepasst. Viel weitreichender waren jedoch die Anpassungen an die verschärften Bestimmungen zur Erdbebensicherheit. So wurden vormalig gemauerte Wandscheiben im EG durch Stahlbeton ersetzt und mittels Stahlplatten mit dem bestehenden Stahlskelett kraftschlüssig verbunden. Zudem verstärken an der Innenseite in geringem Abstand übereinander waagerecht eingebaute, gebogene Stahlträger die Ziegelausfachungen der oberen Skelettkonstruktion. Seit der Sanierung erstrahlt das Exponat auch in besserem Licht: zenitales Tageslicht, das über die ersetzte Kunststofflichtkuppel im Zentrum des leicht gewölbten Kuppeldachs fällt, wird jetzt über eine abgehängte Scheibe zum Panorama hin gelenkt und kann bei Bedarf sensorengesteuert mit Kunstlicht verstärkt werden. So bedacht wie sämtliche Nachrüstungen und Ertüchtigungen ausgeführt sind, erscheint die Rotunde lediglich sehr gut saniert und nahezu unangetastet.

Die besondere Herausforderung dieses Projekts sei es gewesen, so Niklaus Steiger, »den drei starken Protagonisten – dem Park, dem Rundgemälde und dem Bestandsbau Kellers – gleichermaßen gerecht zu werden«. Einfühlsamer und eigenständiger hätte dies wohl kaum gelöst werden können. Die positiven Rückmeldungen »aus wirklich allen Richtungen«, wie Steiger berichtet, sowie die erheblich gestiegenen Besucherzahlen sprechen für sich.

db, Di., 2015.12.01



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30. November 2014Martin Höchst
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»Haus Unimog«, Ammerbuch

Um für eine kleine Bauaufgabe ein städtebaulich angemessenes Volumen zu schaffen, stapelten die Planer Fabian Evers und Christoph Wezel die Nutzungen: Werkstatt und Wohnhaus fanden in einem Hybrid übereinander zusammen. Es entstand ein Haus, das trotz geringer Abmessungen und geringen Budgets souverän seinen Platz besetzt und außerdem noch Großzügigkeit vermittelt.

Um für eine kleine Bauaufgabe ein städtebaulich angemessenes Volumen zu schaffen, stapelten die Planer Fabian Evers und Christoph Wezel die Nutzungen: Werkstatt und Wohnhaus fanden in einem Hybrid übereinander zusammen. Es entstand ein Haus, das trotz geringer Abmessungen und geringen Budgets souverän seinen Platz besetzt und außerdem noch Großzügigkeit vermittelt.

Entringen ist mit seinen knapp 4 000 Einwohnern der größte von fünf Teilorten der Gemeinde Ammerbuch. 10 km westlich von Tübingen gelegen, ist es umgeben von den Feldern des Ammertals und dem erhöhten Südwestrand eines ausgedehnten Mischwaldgebiets namens Schönbuch. Land- und Forstwirtschaft – zunehmend auch wieder etwas Weinbau – haben Landschaft und Dorf über Jahrhunderte geprägt. In den letzten Dekaden hat jedoch auch hier der Straßenverkehr dem gewachsenen Ortsbild seinen Stempel aufgedrückt. Die Nähe zur Universitätsstadt Tübingen ließ nicht nur die Mieten, sondern auch die Pendlerströme ansteigen. Banale Wohn- und Gewerbesiedlungen entstanden rings um das alte Dorf.

Mitten durch den Ort führt eine vielbefahrene Bundesstraße, an der stolze und gut erhaltene alte Bauernhäuser stehen. Dazwischen findet sich so mancher austauschbare Neubau und der ein oder andere Bestandsbau, der seiner dringend nötigen Sanierung harrt. Zum ländlichen Erscheinungsbild gehören auch die weitgehend geschlossenen Fassaden von Wirtschaftsgebäuden, bekleidet mit Holz, Putz oder Trapezblech.

Ländliche Neuinterpretation

An einer Bushaltestelle weitet sich die vorwiegend recht dicht gegenüberstehende Bebauung der Durchgangsstraße ein wenig auf. Hier steht seit Februar 2012 ein zweigeschossiges Gebäude, dessen Volumen mit Satteldach eher zu den kleinen in der Umgebung zählt. Es rückt mit seiner schlanken Giebelseite, wie viele der historischen Nachbarhäuser, bis an den Gehweg der Hauptstraße vor. Vollflächig, ohne jede Öffnung zeigen sich seine beiden eingesetzten Fassadenmaterialien: Während das EG mit transluzenten gewellten Kunststoffplatten beplankt ist, findet an den Außenwänden sowie den geneigte Dachflächen des OG anthrazitfarbenes Wellblech aus Aluminium Verwendung. Dem ersten Anschein nach meint man, ein reines Wirtschaftsgebäude vor sich zu haben. Bei näherer Betrachtung jedoch machen die Fensteröffnungen in unterschiedlichen Formaten an den Längsseiten deutlich, dass die vermeintliche Tenne auch Wohnräume birgt.

Die in der Gegend übliche historische Typologie für Bauernhäuser, bei der meist über dem Stall des EG die Wohnräume der Bauernfamilie lagen, findet hier eine neuzeitliche und eher ungewöhnliche Interpretation: als Zweizimmerwohnung über einer Werkstatt. Der einzige Bewohner und Bauherr des hybriden Gebäudes arbeitet nebenbei leidenschaftlich gerne im Wald mit seinem nicht mehr ganz neuen Unimog. Der ist dabei selbstverständlich als Zugmaschine einsetzbar, aber auch als Antrieb für die Holzbearbeitung.

Anfänglich dachte der Bauherr nicht daran, neu zu bauen, vielmehr suchte er nach einem Bestandsgebäude mit Räumlichkeiten für sich und sein Waldfahrzeug, die möglichst dicht beieinanderliegen sollten. Außerdem musste der Raum für den Unimog eine beträchtliche Höhe aufweisen, um so eine Hebebühne für notwendige Wartungs- und Reparaturarbeiten nutzen zu können. Die Suche danach scheiterte letztlich jedoch an der doch recht ungewöhnlichen Raumkombination.

Das verfügbare Budget schien für einen Neubau und ein Grundstück sehr knapp bemessen zu sein. So kam der recht günstige Bauplatz an der Durchgangsstraße in Entringen, auf dem zuvor bereits ein baufälliges Bauernhaus abgerissen worden war und das aufgrund des Straßenlärms schwer vermarktbar war, sehr gelegen. Als langjähriger Freund des Bauherrn wurde Architekt Fabian Evers zu Rate gezogen.

Weglassen, wenn möglich

Zusammen mit dem Architekturbüro Wezel investierte Fabian Evers viel Planungsarbeit in die kostengünstige Umsetzung des kleinen Projekts. Und dies obwohl die HOAI bekanntermaßen dem Planer keinerlei Anreiz für kostengünstiges Bauen bietet. Das entstandene kleine Projekt zeigt an jeder Ecke, dass sich kluges Weglassen von potenziell Unnötigem nicht nur für den Bauherrn kostensparend auswirkt, sondern sich auch in ästhetischer Hinsicht »rechnet«.

Lediglich sechs schlanke Holzstützen halten die Holzkonstruktion des OG auf knapp 4 m Abstand zur betonierten Bodenplatte und definieren so bereits die Ausdehnung der Werkstatt im EG. Auskreuzungen mit Stahlseilen sorgen für Steifigkeit. Horizontale Kanthölzer dienen als Unterkonstruktion für die Kunststoffwelle der Fassaden sowie der beiden Schiebetore der Südseite. Da der kleine Hausanschlussraum, der ein WC und einen Waschtisch birgt, von der Fassade und der Decke abgelöst ist, entsteht ein heller geradezu ätherischer Raum, der eher wie eine Skulpturengalerie als eine Werkstatt wirkt. Hebebühne, Werkstattutensilien sowie der Straßenlärm und die Kälte, die durch die leichten Wände dringen, verweisen jedoch sehr nachdrücklich auf seinen dienenden Zweck.

Hinauf zum Wohngeschoss geht es über eine einläufige, stählerne Außentreppe an der westlichen Stirnseite, die im 1. OG an der hausbreiten Loggia mündet. Diese dient als geschützter Freisitz und abgehobener Vorplatz zugleich. Der Blick von hier oben reicht über Hühnergärten, Wirtschafts- und Wohngebäude hinweg bis in die leicht bewegte, freundliche Landschaft des Ammertals. Wer eintreten möchte, der muss anklopfen, denn eine Hausklingel wurde als verzichtbar eingestuft. Außerdem bietet die großzügig verglaste Öffnung zum Wohnraum ungehinderten Sichtkontakt zwischen drinnen und draußen. Die eingebaute Balkontür als einzige Außentür des Gebäudes dient also gleichzeitig als Haustür. An die zimmergroße Loggia schließt der Wohnraum, der auch Küchenzeile und Essplatz aufnimmt, ebenfalls in Hausbreite, an. Die Wirkung dieses 30 m² großen Raums mit einer lichten Höhe von bis teilweise über 4 m sowie dem von drei Seiten einfallenden Licht hat nichts von den vermuteten bescheidenen bäuerlichen Verhältnissen. Selbst die eher simplen Oberflächen aus konstruktiv wirksamen Holzwerkstoffen können den großzügigen Charakter des Raums nicht mindern – ganz gleich ob als dunkle Siebdruckplatten am Boden oder weiß lasierte Grobspanplatten an den Wänden und Decken. Schlafzimmer und Bad werden durch konventionelle, weiß beschichtete Innenraumtüren vom Wohnzimmer aus betreten und weisen die gleichen Oberflächenqualitäten an Boden und Wänden auf.

Während das 12 m² kleine und sehr hohe Schlafzimmer über ein Fenster in der Wand erhellt wird, geschieht dies im Badezimmer, die Intimsphäre wahrend, über ein Dachfenster. Hier ist der Spritzwasserbereich oberhalb der Wanne mit weißen Fliesen belegt, was wiederum davon zeugt, dass nicht alles eingespart wurde, was man theoretisch hätte weglassen können, praktisch jedoch zwangsläufig zu Schäden geführt hätte. Der Verzicht auf die sonst üblichen Regenrinnen an den Traufen des Satteldachs hatte bisher noch keine Beeinträchtigungen zur Folge, steht jedoch unter aufmerksamer Beobachtung.

Beheizt wird die kleine Wohnung über einen Kaminofen im Wohnraum, sinnigerweise mit Holz »aus eigener Ernte«. Zusätzlich tragen die großen Fensterflächen nach Süden und Westen zur Erwärmung bei. Die mit Mineralwolle gedämmte Außenhülle wurde exakt so bemessen, dass sie den Anforderungen der geltenden EnEV entsprach, »... und keinen cm mehr«, so Architekt Evers.

Dieses kleine Haus hat nun wirklich nichts mit standardisierten Eigenheimen gemein. Die Nachbarschaft sprach anfänglich sogar mit freundlichem Spott von Hochwasserschutzmaßnahmen in Anbetracht der kleinen Wohnung, die mehr als 4 m über dem Terrain schwebt. Letztlich hat sich jedoch genau diese Anordnung als Kunstgriff beim Umgang mit einer nicht alltäglichen Bauaufgabe an einer ganz alltäglichen lauten ländlichen Straße erwiesen.

db, So., 2014.11.30



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Presseschau 12

06. Dezember 2022Martin Höchst
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In sich ruhend

Es ist eine anspruchsvolle Bauaufgabe, für Kinder, deren erst kurzer Lebensweg bereits durch schwerwiegende Probleme belastet wurde, einen im wahrsten Sinne vertrauenerweckenden Ort des Lernens zu schaffen. Die ruhige und Halt bietende Architektur der neuen Heimschule des Osterhofs hat dafür die besten Voraussetzungen.

Es ist eine anspruchsvolle Bauaufgabe, für Kinder, deren erst kurzer Lebensweg bereits durch schwerwiegende Probleme belastet wurde, einen im wahrsten Sinne vertrauenerweckenden Ort des Lernens zu schaffen. Die ruhige und Halt bietende Architektur der neuen Heimschule des Osterhofs hat dafür die besten Voraussetzungen.

Im oberen Murgtal, einer ländlich geprägten Region mit abwechslungsreicher Landschaft am Rand des Nationalparks Schwarzwald, finden sich viel Natur und Ruhe. Während die Bewohner heute weitgehend vom Tourismus leben, diente hier noch bis zum Zweiten Weltkrieg das reichlich vorhandene Holz und dessen Verarbeitung als Haupteinnahmequelle. Nicht von ungefähr sind rund um die Gemeinde Baiersbronn, die aus etlichen Teilorten besteht und für ihre Dichte von Spitzenrestaurants weithin bekannt ist, viele Holzbauten zu finden – historische, historisierende und Gebäude jüngeren Datums, wie auch die Anlage des Therapiezentrums Osterhof. Kinder zwischen drei und zwölf Jahren, die auf intensive heilpädagogische und psychotherapeutische Hilfe angewiesen sind, leben hier zusammen mit Pädagogen auf Zeit am Rand des Baiersbronner Ortsteils Klosterreichenbach, idyllisch gelegen entlang des Waldrands mit Blick auf die Auwiesen der Murg.

Bereits in den 60er Jahren hatte der Sozialpädagoge und Psychotherapeut Ulrich Schmid, der Gründer des »Therapiezentrums Osterhof«, die Vision eines »heilenden Lebensraums«. Dafür zog er mit seiner Familie 1965 in ein historisches Schwarzwaldhaus, den »Osterhof«, nutzte es für seine Zwecke um und realisierte ringsum über die Jahre weitere Gebäude: u. a. für therapeutische Wohngemeinschaften, für Mitarbeiterwohnungen und Gästeapartments besuchender Eltern, einen heilpädagogischen Kindergarten und ein Therapie- und Gemeinschaftshaus. Mittlerweile wird das Therapiezentrum vom Sohn des Gründers, dem Psychologen Martin Schmid, zusammen mit wiederum dessen Sohn Valentin Schmid, einem ausgebildeten Architekten, geleitet.

Bis zu zwei Jahre leben die Kinder im Alter zwischen im Osterhof, um danach möglichst wieder in ihre Familien reintegriert zu werden. Die meisten der schulpflichtigen Kinder gehen in öffentliche Schulen vor Ort. Zudem bietet das Therapiezentrum einige Schulplätze mit besonders intensiver pädagogischer Begleitung in der eigenen Heimschule an.

Diese hatte noch bis vor ein paar Jahren in einem alten Mühlengebäude an der Murg ihre Heimat, nur wenige Hundert Meter entfernt vom Osterhof. Anfängliche Überlegungen, das sanierungsbedürftige Gebäude durch einen grundlegenden Umbau an die heutigen Anforderungen einer zeitgemäßen sonderpädagogischen Schule anzupassen, wurden nach eingängiger Prüfung verworfen, die Errichtung eines Neubaus beschlossen und das ehemalige Mühlengebäude abgerissen.

Gestaltungsanspruch

Neben einem breit gefächerten Therapieangebot und dem Erleben der Natur gilt im Konzept des Osterhofs auch die Architektur als wichtige Komponente des angestrebten heilenden Lebensraums für Kinder. Und so wurde, obwohl behördlich nicht vorgegeben, dem Projekt ein eingeladener Wettbewerb unter fünf Architekturbüros mit Erfahrungen bei Bildungsbauten vorangestellt. Den Anforderungen der sensiblen Bauaufgabe am besten gerecht wurde, so das einstimmige Urteil der der Jury unter Vorsitz von Hans Klumpp (Mitinhaber von KLUMPP + KLUMPP, Stuttgart), der selbst aus Baiersbronn stammt, der Entwurf von Thomas Schröder Architekten aus Berlin.

Mit dem Entwurf von Thomas Schröder Architekten setzte sich ein poetischer Gestaltungsansatz durch, der sich an der traditionellen Bauweise des Schwarzwalds mit den großen, weit herabgezogenen Dachformen orientiert. Dies wirkt aber keineswegs nostalgisch, denn neben den regionalen Anklängen finden sich auch geradezu exotische Zitate, wie die kreisrunden Öffnungen der Loggien an den Giebelseiten zweier Querhäuser am Hauptgebäude. Neben geometrischen Überlegungen zur dadurch möglichst ungestörten Wahrnehmung der Giebeldreiecke verweist Thomas Kröger auf die positiv aufgeladene Symbolik, die der Kreis in der asiatischen Bautradition hat.

Nah an der Natur

Die von den Architekten angestrebte Formulierung einer geschützten Hofsituation mittels des neuen lang gestreckten Hauptbaus und eines Nebengebäudes funktioniert, da u. a. die Maßstäblichkeit eines erhaltenen eingeschossigen Bestandsgebäudes aufgenommen wurde. Doch anders als bei diesem steinernen Haus, das derzeit noch saniert wird und künftig als Lehrerwohnung dienen könnte, ist bei den beiden neuen Holzskelettbauten die Horizontale stärker betont: Ein auf Streifenfundamenten leicht vom Boden abgehobener umlaufender Umgang bildet zusammen mit dem darüber auskragenden Dach mit seiner ebenfalls umlaufenden Traufkante eine Art horizontale Fuge. Diese dient den Räumen im EG als regengeschützter Übergangsbereich zwischen drinnen und draußen. Das Haupthaus, dessen Struktur konsequent »spiegelsymmetrisch und dadurch für die Kinder leichter erfassbar« ist, wie Martin Schmid beim Rundgang erläutert, und eine gewisse Ruhe verströmt, schließt an seinen Stirnseiten mit zwei Querhäusern ab, die wiederum jeweils den Abmessungen des kleineren der beiden Neubauten entsprechen. Während Letzterer Nebenräume und einen nutzungsoffenen Saal beherbergt, finden sich im EG des Hauptbaus insgesamt sechs Klassenräume jeweils mit angeschlossenem Nebenraum, z. B. zur Befriedung eines gestörten Unterrichts, ihren Platz. Die Klassenräume wurden an den vom Hof abgewandten Seiten angesiedelt und holen gewissermaßen mittels großflächiger, vertikal gegliederter Verglasungen die Natur herein. Von jedem Klassenraum aus lässt sich der Umgang und bald auch der noch umzugestaltende Freibereich mit Schulgarten und grünem Klassenzimmer betreten. Trotz der großzügigen Öffnung nach draußen vermitteln die Klassenräume dank niederer geschlossener Brüstungen und einem hohen Anteil an Holzoberflächen Geborgenheit. Auf die möglichst unauffällige Integration notwendiger technischer Komponenten wurde viel Sorgfalt verwendet. Die Belüftung der Räume erfolgt über Lüftungslamellen im oberen Bereich der EG-Fassade, was im Sommer auch eine nächtliche Temperaturabsenkung ermöglicht. Die Raumtemperierung in der kalten Jahreszeit übernimmt eine Luftwärmepumpe.

Von der zweigeschossigen Eingangshalle, die sich auch für kleine Schulveranstaltungen eignet, geht es über eines der beiden abgeschlossenen Treppenhäuser oder einen Fahrstuhl zu zwei Fachräumen und dem Bereich der Schulmitarbeiterinnen und -mitarbeiter im DG. Der Werkraum und der derzeit u. a. zum Theaterspielen genutzte zweite Fachraum nehmen jeweils das komplette Dach eines Querhauses ein und bieten an beiden Stirnseiten durch die Überlagerung der verschiedenen Öffnungsformen von Fenstern und Loggien Ausblicke, die fantastisch und fokussiert zugleich wirken.

Dass die Heimschule als Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (SBBZ ESENT) noch mehr Vorgaben und Förderrichtlinien als ein konventioneller Schulbau unterliegt, sieht man dem Ergebnis nicht an. Im Gegenteil!

Die monochrome graugrünliche Farbgestaltung der Holzfassaden- und der Blechdachdeckung unterstreicht die Eigenständigkeit des Sonderbausteins in Abgrenzung zu den Hotels und Wohnhäusern in Sichtweite und verweist zugleich auf die Farbigkeit der umgebenden Natur. Die durchgängig harmonische Farbigkeit der unterschiedlichsten Oberflächen erforderte sehr viel Abstimmungsarbeit von Bauherrschaft und Architekten und unzählige Probeanstriche. Doch diese Mühe hat sich gelohnt: Die Monochromie und eine abstrahierende Detaillierung lassen aus der Heimschule eine in sich ruhende archetypische Architektur werden, der durchaus, wie es Thomas Kröger mit dem Entwurf anstrebte, »etwas Märchenhaftes« innewohnt.

db, Di., 2022.12.06



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08. Dezember 2020Martin Höchst
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Dem Ort verbunden

Durch die Zusammenarbeit von Bauherren und Planern, die sich jeweils ihrer vielschichtigen baulichen Verantwortung bewusst sind und auf Langlebigkeit statt hohe Rendite setzen, konnte in Schwaikheim ein Mut machendes Bauensemble entstehen, dem große Strahlkraft über den Ort hinaus zu wünschen ist.

Durch die Zusammenarbeit von Bauherren und Planern, die sich jeweils ihrer vielschichtigen baulichen Verantwortung bewusst sind und auf Langlebigkeit statt hohe Rendite setzen, konnte in Schwaikheim ein Mut machendes Bauensemble entstehen, dem große Strahlkraft über den Ort hinaus zu wünschen ist.

Seit dem Anschluss von Schwaikheim an das Eisenbahnnetz Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Ort vom Bauerndorf zur Wohngemeinde. Statt von der Landwirtschaft wird das Ortsbild der heute knapp 10.0000 Einwohner zählenden Gemeinde mittlerweile von den Wohnsiedlungen der in den großen Unternehmen der Städte ringsum Beschäftigten geprägt. Der Ort wuchs über die Zeit v. a. nach Süden in Richtung des ursprünglich 1 km vom Ortskern entfernt liegenden Bahnhofs. Und so führt heute der Weg des dort Ankommenden zur historischen Ortsmitte durch ein überraschend großes Wohngebiet, das so auch am Rande einer ausgewachsenen Stadt liegen könnte. Angekommen .im nur teilweise historisch erhaltenen Dorfkern, stößt man auf die große Baustelle der »Neuen Ortsmitte«, eines Wohn- und Geschäftshauskomplexes, der leider in seiner ertragsoptimierten Bauweise nicht viel zur Reparatur des Ortsbilds beitragen wird. Nur 20 km vor den Toren der teuren Landeshauptstadt gelegen und mit direkter S-Bahnverbindung dorthin, ist die Nachfrage nach Wohnraum groß. Und so wurde erst vor Kurzem ein neues Wohngebiet am Ortsrand erschlossen.

In Schwaikheim, wie auch sonst vielerorts in ehemals von der Landwirtschaft geprägten Gemeinden, besteht jedoch insbesondere entlang der historisch gewachsenen Hauptverkehrsachsen das größte Potenzial und zugleich auch der größte Nachholbedarf, identitätsstiftend tätig zu werden: Der ursprünglich attraktive Standort an der Hauptstraße mit kurzen Wegen in repräsentativer Lage verkam mit dem stetig wachsenden Autoverkehr über die Jahrzehnte zur lauten B-Lage. Zudem lässt sich die hier immer noch häufig vertretene Bautypologie des bäuerlichen Anwesens nur sehr bedingt an den vorherrschenden Bedarf nach bezahlbarem und zeitgemäßem Wohnraum anpassen.

Zwischen Lärm und Wiesen

Nördlich des Ortskerns zeigt sich der Gürtel mit Wohngebieten nicht ganz so ausgeprägt. Und so liegt der Neubau eines Mehrfamilienhauses und einer Werk- und Abstellhalle, geplant von Markus Binder (CAPE Ingenieure, Esslingen) und schleicher.ragaller architekten (Stuttgart), ganz nah am historischen Kern und zugleich fast unmittelbar am Feldrand: vorne laute Durchgangsstraße und nach hinten die leicht hügelige Landschaft mit Feldern, Obstwiesen und Hängen, auf denen u. a. Wein kultiviert wird.

Bereits der erste Blick auf das mit dunkel lasiertem Holz bekleidete Bau­ensemble vermittelt eine Mischung aus Vertrautheit und Besonderheit, aus Funktionalität und hohem gestalterischen Anspruch. Zwischen 80er-Jahre-Architektur und einem in die Jahre gekommenen historischen Bauernhof gelegen, streckt sich das dreigeschossige Wohngebäude mit seiner Giebelseite recht nah an die Straße, während das rund ein Geschoss niedrigere Pendant der Werk- und Abstellhalle deutlich nach hinten gerückt ist. Jeweils völlig fensterlos und mit einem Satteldach ohne Überstand ausgestattet, sehen die beiden gleich breiten Giebelseiten frontal betrachtet wie die Abstraktion eines bäuerlichen Anwesens aus. Auch der Sichtbetonsockel des Wohnhauses, der sowohl die Garagentore an der Stirnseite als auch die großzügige Eingangsnische rahmt, unterstützt diesen Eindruck. Das Bild der vormaligen Bebauung des Grundstücks mit einer großen Scheune und einem kleinen Wohnhaus wurde neu interpretiert und dadurch in gewisser Weise sogar bewahrt.

An der Rückseite stehen die beiden Baukörper im abfallenden Gelände in derselben Flucht und nehmen im ebenfalls in Sichtbeton gefassten Hanggeschoss eine Wohnung mit Gartenzugang und drei gedeckte Stellplätze unterhalb der Werkhalle auf.

Die Größenverhältnisse des vormaligen Bestands von Wohnhaus und Funktionsgebäude haben sich mit der Neubebauung umgekehrt: Insgesamt sechs großzügige Zweizimmerwohnungen sowie drei Autostellplätze kommen im Wohnhaus unter, während das »Werkhaus« dem Bauherrn, Jens Wössner, seiner hobbymäßigen Tätigkeit im ursprünglich erlernten Beruf als Zimmermann dient. Jens Wössner und seine Schwester Sabrina Hiss, Erben des Familienanwesens, entschieden sich, anstatt das Objekt an einen Bauträger zu verkaufen, selbst eine Mietimmobilie zu realisieren und dadurch auch ein Stück Verantwortung für ihren Heimatort zu übernehmen.

Im besten Sinne Vernünftig

Befreundet mit den Bauherren, wurde Architekt Markus Binder, der auch als Professor am Fachgebiet Integrierte Gebäudetechnik an der Hochschule für Technik Stuttgart tätig ist, um Rat gefragt und schließlich auch beauftragt, das ambitionierte Familienprojekt in Kooperation mit den Planern von schleicher.ragaller architekten umzusetzen. Die unterschiedlichen Schwerpunkte ihrer jeweiligen Planungstätigkeit – auf der einen Seite Ressourcenschonung und Energieeffizienz und auf der anderen die klassische Entwurfs-, Planungs- und Bauleitungstätigkeit – führten zwar mitunter zu Reibungen, was sich letztlich aber immer als gewinnbringend für das Projekt erwiesen habe, so berichten Markus Binder und Michael Ragaller unisono.

Dass ein im besten Sinne vernünftiges Gebäude eines sei, das den Anspruch hat, eine gute Mischung aus Sparsamkeit und Langlebigkeit abzubilden, darin waren sich Planer und Bauherren einig. Und auch darüber, dass dies nur im Zusammenspiel einer zukunftsfähigen Baukonstruktion und Gebäudetechnik mit einer funktional wie ästhetisch langlebigen Gestaltung erreicht werden könne.

So wurde das Wohnhaus als ressourcenschonender Holzbau (teurer als der Standard, aber schneller zu errichten) mit Vollholzdecken und hochgedämmten Holzständerwänden auf einem robusten kerngedämmten Betonsockel (ebenfalls nicht die kostengünstigste Bauvariante, stattdessen jedoch langlebig und alterungsfähig) errichtet. Das Wohnhaus erreicht somit einen KfW55-Standard und kann mit der auf der optimal nach Süden ausgerichteten Dachfläche projektierten PV-Anlage in der Jahresbilanz sogar noch zum Nullenergiegebäude werden.

Die Überlegungen zum Ausgleich von Erstellungskosten und langfristiger Wirtschaftlichkeit des Gebäudes spiegeln sich auch in der Grundrissgestaltung der Wohnungen wider, die kleine Spannweiten der Decken erlaubt, aber zugleich Platz für Loggien statt der üblichen Balkone bietet. Auch im angenehm lichten Treppenhaus trifft diese abwägende Gestaltungshaltung in Form einer sehr großzügigen Verglasung und einer unbekleideten Betonfertigteiltreppe aufeinander. Selbst die Aufstellung der Luftwärmepumpe innerhalb des Gebäudes, und in Kauf zu nehmen, dadurch vermietbare Fläche zu »verschenken«, folgt dem Bestreben nach Architektur mit hoher Haltbarkeit.

Das sorgfältig detaillierte und umgesetzte Ergebnis all dieser Überlegungen überzeugte Bauherrn Jens Wössner schließlich so sehr, dass er, obwohl dies anfänglich gar nicht vorgesehen war, selbst in eine der Wohnungen einzog.

Der großzügige, zur Straße hin offene Vorplatz dient nicht nur als Werkhof für seine Zimmerei und als Mieterparkplatz, sondern auch als alljährlicher vorweihnachtlicher Treffpunkt des ganzen Orts bei seinem Weihnachtsbaumverkauf. Mit der Pflanzung eines schattenspendenden Baums würde hier, vor dem kleinen Bauensemble, das sich dem Ort so verbunden zeigt, sicherlich auch im Rest des Jahres noch das eine oder andere Dorfschwätzchen gehalten werden.

db, Di., 2020.12.08



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09. Dezember 2019Martin Höchst
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Innere Größe

Das kleine Gebäude mit zwei Mietwohnungen, das einen Puffer zwischen dem Haus der Bauherren und einer stark befahrenen Straße bildet, ist ein Anlageprojekt. Mit ihm ist Milla Architekten aus Karlsruhe vermeintlich Unvereinbares gelungen: an einem Standort mit herausfordernden Bedingungen kostengünstigen und zugleich großzügig wirkenden Wohnraum in hoher architektonischer Qualität zu verwirklichen.

Das kleine Gebäude mit zwei Mietwohnungen, das einen Puffer zwischen dem Haus der Bauherren und einer stark befahrenen Straße bildet, ist ein Anlageprojekt. Mit ihm ist Milla Architekten aus Karlsruhe vermeintlich Unvereinbares gelungen: an einem Standort mit herausfordernden Bedingungen kostengünstigen und zugleich großzügig wirkenden Wohnraum in hoher architektonischer Qualität zu verwirklichen.

Berghausen ist mit seinen rund 8 000 Einwohnern der größte von vier Ortsteilen der zwischen Karlsruhe und Nordschwarzwald gelegenen Gemeinde Pfinztal. Mit zwei Bundesstraßen und dem Quellverkehr, der durch die notwendigen Wege zwischen den vier Ortsteilen entsteht, kämpft auch Berghausen wie die meisten Orte im Umkreis größerer Städte mit einer enormen Verkehrsbelastung.

Objekt statt Häuschen

Der stark befahrene Straßenabschnitt unweit einer der drei S-Bahn-Stationen von Berghausen wird im Süden von einer geschlossenen, vorwiegend zweigeschossigen Bebauung relativ einfacher Wohngebäude gefasst. Nach Norden hin, wo vormals die großzügigen, ansteigenden Vorgärten der Doppelhäuser aus den 20er Jahren das Straßenbild prägten, wurden über die letzten Jahre sehr konventionelle Wohnbauten etwas zurückgesetzt von der Straße errichtet. Neben einer der letzten Lücken in der Reihe dieser Allerweltsbauten fällt ein Gebäude deutlich aus dem ernüchternden Rahmen. Obwohl jüngeren Datums, erweckt es aufgrund der furchtlos kräftig proportionierten Traufdetails und dem Gestaltungsansatz, Fenster als eigenständige Fassadenabschnitte und nicht als Öffnungen in geschlossenen Außenwänden zu definieren, 70er-Jahre-Assoziationen. Das diese zeitliche Zuordnung allerdings nicht zutreffen kann, wird in Anbetracht der schlecht gealterten Nachbargebäude aus den 80er bis 2 000er Jahren deutlich. Auch die fast durchgängig graue Farbigkeit und das flach geneigte Satteldach sprechen dagegen. Das Motiv der an den beiden Traufseiten nach oben hin geschossweise um 25 cm nach außen vorspringenden Fassade wiederum erinnert an die Bauweise mittelalterlicher Fachwerkgebäude und gibt einen ersten Hinweis auf die Holzbauweise, in der das Gebäude errichtet wurde. Zusammen mit der durchgängigen Farbigkeit von lasierten, vertikal angeordneten Holzlatten und matten, verzinkten Blechoberflächen ergibt sich so, insbesondere übereck betrachtet, ein geradezu skulpturaler Charakter – und dies nicht zufällig: Die verantwortlichen Planer des Büros Milla Architekten aus dem nahen Karlsruhe strebten bei Entwurf und Realisierung an, dem Haus objekthafte Charakterzüge zu verleihen, um es möglichst vor der sonst oft im privaten Wohnungsbau aufkommenden Banalität zu bewahren – mit Erfolg. Im Falle der Blechdeckung des Dachs kam zu diesem Zweck trotz Kostendeckelung sogar ausnahmsweise (statt einer Betonsteindeckung) nur die zweitgünstigste Ausführung zum Einsatz.

Die Giebelseite auf der Grenze zum Nachbarn im Westen wurde aus Brandschutzgründen mit Wellblech bekleidet: Hier wird früher oder später angebaut und damit die letzte größere Lücke entlang der Straße geschlossen.

Nebeneinander statt übereinander

Üblicherweise würden bei der Bauaufgabe, zwei Wohnungen von jeweils ca. 65 m² Wohnfläche in einem Gebäude unterzubringen, die beiden Wohnungen übereinandergestapelt und über einen Hauszugang und ein gemeinsames Treppenhaus erschlossen. Nicht so in diesem Fall: Trotz der relativ geringen Größe der beiden Wohneinheiten, sollte ihnen zu gleichen Teilen der Vorteil eines OGs zugutekommen. Bei zwei übereinanderliegenden Wohneinheiten hätten sich wegen der Hanglage und der Nähe zur lauten Straße eine Kellerwohnung mit Stau vor dem Fenster und eine privilegierte, helle Wohnung im OG ergeben. Und so dient der »Vorgarten« des Gebäudes auch nicht wie bei den Nachbarn als nur unzulänglich vor Lärm und Blicken geschützter Freisitz, sondern wird von der geschotterten Fläche zweier Stellplätze bestimmt. Der eigentliche Freisitz ist zwar ebenfalls nicht vor dem Straßenlärm geschützt, liegt aber eine Etage höher, auf einem Balkon.

Um nicht Assoziationen an ein Doppelhaus aufkommen zu lassen, läuft die Fassadengliederung der Traufseiten jeweils bruchlos von Giebelwand zu Giebelwand durch. Die wechselnd übereinander angeordneten geschlossenen Fassadenabschnitte und die Fensterbänder in Gebäudebreite verunklären, dass das Haus im Innern vertikal geteilt ist und tragen so ihren Teil zur objekthaften Wirkung des Baukörpers bei. Lediglich die beiden Hauseingänge und die flankierenden Zugänge zum Abstellraum verweisen darauf, dass hier zwei Wohneinheiten nebeneinander angeordnet sind.

Die Grundrisse der beiden jeweils über alle Geschosse ineinander übergehenden Wohnungen sind spiegelsymmetrisch zueinander angeordnet. Im massiven EG findet sich, erschlossen über je einen kleinen Eingangsbereich, neben einem funktionalen Duschbad auch der ansonsten einzige abgeschlossene Raum der beiden Wohnungen mit Ausblick auf die hinter dem Haus ansteigende Wiese. Bereits unmittelbar hinter der Haustür eröffnet die Deckenaussparung der einläufigen Holztreppe, die zum eigentlichen Wohngeschoss hinaufführt, den Blick entlang der Giebelwand bis unter das geneigte Dach.

Das OG wirkt mit Zementestrichboden, unbehandelten Holzoberflächen der Deckenuntersicht sowie weniger Abschnitte der Wände, die sich ansonsten fast überall in Form gespachtelter und weiß gestrichener Trockenbauplatten zeigen, licht und großzügig. Der lang gestreckte Raum wird von Tageslicht, das durch die festverglasten Oberlichter beider Traufseiten (an der Gartenseite mit mattierter Verglasung) sowie die Fenstertüren zum Balkon auf der Straßenseite fällt, förmlich geflutet. Über eine Treppenleiter ist zudem noch eine kleine Galerie zu erreichen, die in der kompakten Wohnung Platz für einen Schreibtisch oder ein Bett bietet.

Die tatsächlich kostengünstige und schnelle Ausführung des eineinhalbgeschossigen OGs in Holzbauweise gründet sich auch auf die guten Vorkenntnisse die sich Boris Milla bei vorangegangenen sowohl planerischen als auch forschenden Tätigkeiten (u. a. bei Florian Nagler Architekten, Meck Architekten und am KIT bei Ludwig Wappner) aneignen konnte. Er wusste also, worauf er sich mit einem Holzbau einlässt und konnte den besonderen Herausforderungen während der Planung und Realisierung gerecht werden. Dies geschah auch in regem Austausch mit dem auf Holzbau spezialisierten Tragwerksplaner Peter Metzger (HOLZBAU INGENIEURE aus Karlsruhe). Dessen Vorschläge zur Optimierung des Tragwerks zogen teilweise gestaltbestimmende Modifikationen des Gesamtentwurfs, wie z. B. den aussteifenden Stahlrahmen, der der Straßenfassade im Bereich der Balkone vorgesetzt wurde, nach sich. Boris Milla, ganz dem Prozesshaften des Bauens verpflichtet, sieht darin sympathisch uneitel die »Nutzbarmachung bis dahin schlummernder Potenziale«. Bei der Umsetzung von Wärmedämmung, Fußbodenheizung und Luftwärmepumpe hielt man sich ganz pragmatisch und möglichst kostengünstig an die Vorgaben der EnEV.

In den lichten Räumen der beiden Wohnungen entfaltet sich dank der durchdachten Detaillierung und Anordnung der wenigen räumlich wirksamen Elemente über mehrere zueinander geöffnete Etagen eine Großzügigkeit, die sich auf dem Mietwohnungsmarkt ansonsten nur selten findet. Diese »innere Größe« den Bewohnern zur Verfügung zu stellen, ist aber auch der bewusste Versuch der Planer, einen Ausgleich zum mangelnden Abstand bedrängender äußerer Faktoren herzustellen. Um in Anbetracht der Nachverdichtung aller Orten vermehrt auch an vermeintlich unattraktiven Standorten Wohnraum zu realisieren, ist dies ein zukunftsträchtiger Ansatz, weil er neben den möglichst geringen Baukosten insbesondere das Wohl der Nutzer im Blick hat.

db, Mo., 2019.12.09



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03. Dezember 2018Martin Höchst
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Wohldosierte Öffnungen

Ein solide errichtetes Wohnhaus der 30er Jahre mit zwei abgeschlossenen Wohnungen zu einem großzügigen Raumgefüge für eine vierköpfige Familie zu wandeln, ist keine spektakuläre Bauaufgabe, sollte man meinen. Umso beeindruckender zeigt sich der Umbau in Windisch von Wülser Bechtel Architekten, der die vorgefundenen Qualitäten trotz geänderter funktionaler Anforderungen nicht nur bewahrt, sondern unter Einsatz recht radikaler Mittel sogar noch steigert.

Ein solide errichtetes Wohnhaus der 30er Jahre mit zwei abgeschlossenen Wohnungen zu einem großzügigen Raumgefüge für eine vierköpfige Familie zu wandeln, ist keine spektakuläre Bauaufgabe, sollte man meinen. Umso beeindruckender zeigt sich der Umbau in Windisch von Wülser Bechtel Architekten, der die vorgefundenen Qualitäten trotz geänderter funktionaler Anforderungen nicht nur bewahrt, sondern unter Einsatz recht radikaler Mittel sogar noch steigert.

Die Klosterzelgstraße in Windisch – eine Gemeinde mit knapp 7 000 Einwohnern im Kanton Aargau – zeigt sich als durchgrünte Sammelstraße eines Wohngebiets mit gepflegten Vorgärten und ebensolchen Ein- bis Zweifamilienhäusern aus den 20er bis 60er Jahren. An der Straße findet sich auch das 1964-68 entstandene geradlinige Gebäudeensemble der Höheren Technischen Lehranstalt von Bruno und Fritz Haller. Mittlerweile fungiert das prominente Bauzeugnis als Teil des Campus der Fachhochschule Nordwestschweiz am Standort Windisch.

Beiläufig eigenständig

Der gläsernen Architektur mit großem Namen gegenüberliegend, fällt am Haus mit der Nummer 13 im Vorbeigehen nichts Ungewöhnliches auf. Der radikale Umbau des vormaligen Zweifamilienhauses zu einem äußerst großzügigen Raumgefüge für eine vierköpfige Familie ist von außen nur zu erahnen. Bei genauem Hinsehen gibt es an Dach und Putzfassaden Anzeichen dafür, dass sich gegenüber dem weitestgehend erhaltenen Originalzustand des 30er-Jahre-Hauses etwas verändert hat. Das dicker als zuvor gedämmte Dach wurde mit der immer noch produzierten Sorte der schon zur Zeit der Fertigstellung eingesetzten Biberschwänze neu gedeckt. Die Erhöhung des Dachaufbaus ein wenig zu verunklären, gelingt durch eine zusätzliche farbliche Gliederung der Trauf- und Ortgangbretter. Je eine relativ große kupferbekleidete Dachgaube auf beiden Seiten des Satteldachs besetzt einen Teil der zuvor weitgehend ungestörten Dachflächen. Leicht zum First hin gekippt und – mittlerweile nachgedunkelt – im Farbton des Ziegeldachs wirken die beiden Körper trotz ihrer Dimension geradezu unauffällig. Besonders die Gaube zur Straße, vermeintlich fensterlos, wirkt abstrakt und gibt dem aufmerk­samen Passanten ein Rätsel mit auf den Weg.

Ebenso eigenständig wie die Gestaltung der Dachaufbauten fällt auch der Umgang mit der nahezu komplett originalen Reibeputz-Fassade aus. Nach nur kleinen Ausbesserungsarbeiten am Putz wurde die Fassade zunächst im blassen Kupferton der neu lackierten Fensterläden gestrichen. Ein zweiter »oberflächlicher« Anstrich, bei dem die Vertiefungen des Putzes ausgespart blieben, erfolgte in einem dazu komplementären grüngrauen Farbton, der sich wiederum aus dem Farbton der erhaltenen Fenstereinfassungen aus Werkstein ableitet. Durch die so realisierte Zweifarbigkeit des Anstrichs soll nach der Vorstellung der Architekten die Tiefenwirkung des Putzes gesteigert werden, ein Effekt, der sich im Ergebnis wohltuend subtil zeigt. Eher unmerklich treten auch einige veränderte Fensteröffnungen in Erscheinung: Bei vergrößerten bzw. verkleinerten Fenstern kamen statt der ansonsten aus­getauschten weißen Holzfenster fassadenbündige Festverglasungen mit Aluminium-Abdeckleisten zum Einsatz. (Teil-)Schließungen von Fenstern erhielten eine Ausfachung aus Sichtmauerwerk in Fassadenfarbe. Insbesondere das Bild eines deutlich ablesbar zugemauerten Fensters verstört zwar zunächst ein wenig, doch dank der dabei erhaltenen sichtbaren Fenster­umrandungen bleibt die ursprüngliche Fassadengliederung nach wie vor weitgehend wirksam.

Werterhaltend

Ein entscheidender Grund für den Erwerb des Hauses, bei dem Architekt Nicolaj Bechtel den Hausherrn bereits beratend zur Seite stand, war die ungewöhnlich gut erhaltene Originalsubstanz des Gebäudes – äußerlich wie auch im Innern: Parkett und Bodenfliesen hoher Qualität, eine gut erhaltene Holztreppe und eine Heizung, die noch ein paar Jahre hält. Darüber hinaus bot das Innere viel Tageslicht und sehr viel Platz – allerdings verteilt auf zwei ­abgeschlossene Drei-Zimmer-Wohnungen und ein zur Hälfte ausgebautes DG. Es galt also auf der einen Seite, den vorhandenen hohen Wert des Hauses (monetär wie ästhetisch) zu erhalten und weiter zu nutzen und auf der anderen, dem Wunsch der Bauherren nach möglichst offenem Wohnen zu entsprechen. Daraus folgte das radikale Gestaltungskonzept der Architekten des maximalen Erhalts des Vorhanden und der Lesbarkeit aller Veränderungen.

Konsequenter konnte die gewünschte offene Verbindung der Räume zuein­ander im Ergebnis kaum ausfallen: Am zuvor abgeschlossenen Treppenhaus wurden sowohl die Wände (samt Wohnungstüren) als auch der Holzverschlag zur Dachbodentreppe entfernt, beinahe jede Wand des EGs erhielt vergrößerte oder zusätzliche raumhohe Öffnungen – abgesehen vom WC alle ohne Türen. Besonders prägend zeigt sich die Ent­fernung von gut zwei Dritteln der Decke zwischen EG und OG über dem heutigen Essplatz.

Im EG (anders als im weniger stark veränderten OG mit den Kinderzimmern) wandelte sich so der ursprüngliche Grundriss mit einem innenliegenden Flur in eine Raumabfolge, die einen über einen Rundkurs wieder an seinen Ausgangspunkt zurückführt. Je nach Bezug der Räume zueinander fallen dabei die Wandöffnungen mal schmaler oder aber gleich raumbreit aus. Die Vergrößerung oder Schließung von Fensteröffnungen betont in den unterschiedlichen ineinander übergehenden Raumbereichen jeweils Hauptrichtungen und Ausblicke. Die verkleinerten Fenster des OGs im doppelt hohen Raum stellen zudem einen gewisse Intimität sowohl für den Essplatz als auch die Galerie her.

»Sollbruchstellen«

Neue Öffnungen und Verbindungen erfordern Einschnitte in die Substanz und ziehen Folgen für Oberflächen und Statik nach sich. Wie also umgehen mit einer Lücke zwischen Parkett und Fliesenbelag, an deren Stelle zuvor noch eine Wand stand? Kaschieren oder Rekonstruieren kam für die Planer nicht in Frage, ganz im Gegenteil. Die Fehlstellen wurden so simpel wie möglich wieder funktionstüchtig gemacht. Zementspachtel füllt die Löcher am Boden, notwendige Unterfangungen zeigen sich als einfache Stahlkonstruktionen.

Diese Vorgehensweise reicht so weit, dass sämtliche Wand- und Deckenoberflächen – von noch vorhandenen Holzpaneelen über Raufasertapeten bis hin zu den Stirnseiten der mit exaktem Schnitt durchtrennten Wände – lediglich einen durchgängigen, weißen Anstrich erhielten. Der latent durch solche Ruppigkeit auftretende Rohbaucharakter findet seinen Gegenpart in den geradlinigen und scharfkantigen Holzeinbauten aus Birkensperrholzplatten. Zusammen mit den Eichenholzlaibungen der vergrößerten Fensteröffnungen sorgen sie durch ihre Materialität und Präzision für das nötige Maß an Aufgeräumtheit zwischen all den »Sollbruchstellen« und geweißten Texturen.

Holz prägt auch das DG, das Refugium der Eltern. Der große offene Bereich am Austritt der Treppe, der bis unter den First eine imposante Höhe entwickelt, gibt Aufschluss über die von außen betrachtet vermeintlich fensterlose Gaube: Tageslicht fällt hier über das verglaste schmale Gaubendach ein. Geradezu meditative Atmosphäre herrscht dadurch im Raum, dessen nahezu sämtlichen Wand- und Deckenflächen mit Birkensperrholz beplankt sind. Dieses Material setzt sich auch in den Regalen des begehbaren Kleiderschranks fort. Nur durch ihn hindurch, jeweils über schmale Durchlässe, sind Bad und Schlafzimmer zu erreichen. Der insze­nierte und konsequent türlose Weg durch den »Schrank« mündet im lichten Schlafraum der Eltern mit der zweiten Gaube, deren garagentorgroße, in einem Stück festverglaste Öffnung den Ausblick auf Windisch gewährt. Auch hier bleibt das, was vorgefunden wurde, stets im Blick: Statt die Sparren im Bereich der Öffnung zu entfernen, ließ man sie als eine Art Filter stehen, der zwischen offen und geschlossen, zwischen alt und neu vermittelt.

db, Mo., 2018.12.03



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01. Dezember 2017Martin Höchst
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Zeichen der Wertschätzung

Ein zeitgemäßes städtisches Straßenreinigungsdepot ­unter einem Dach mit einer Wertstoffsammelstelle zu verwirklichen, ist sowohl technisch als auch organi­satorisch deutlich komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. KNERER UND LANG Architekten entwickelten dafür in Augsburg in regem Austausch mit dem Bauherrn eine ebenso funktionale wie gestalterisch prägnante und überzeugende Lösung, ohne dabei die ­Nutzer aus dem Auge zu verlieren.

Ein zeitgemäßes städtisches Straßenreinigungsdepot ­unter einem Dach mit einer Wertstoffsammelstelle zu verwirklichen, ist sowohl technisch als auch organi­satorisch deutlich komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. KNERER UND LANG Architekten entwickelten dafür in Augsburg in regem Austausch mit dem Bauherrn eine ebenso funktionale wie gestalterisch prägnante und überzeugende Lösung, ohne dabei die ­Nutzer aus dem Auge zu verlieren.

Die Stadt Augsburg möchte den Bereich Straßenreinigung und Abfallwirtschaft durch eine Neustrukturierung nachhaltig und wirtschaftlich ausrichten. Um die Anzahl der Standorte für die Wertstoffsammlung sowie für die Infrastruktur der Straßenreinigung zu reduzieren, wurden drei Neubauten – strategisch günstig auf das Stadtgebiet verteilt – als kombinierte Wertstoff- und Straßenreinigungsdepots ausgeschrieben. Das erste davon ist bereits seit 2012 in Betrieb, das Depot am Holzweg von KNERER UND LANG Architekten hat im Dezember 2016 seinen Dienst aufgenommen und der dritte Neubau wird derzeit errichtet. Durch das Integrieren von Waschanlagen und Streusalzlagern, die bislang ebenfalls an separaten Standorten untergebracht waren, sollen Fahrten vermieden und damit auch der Kraftstoffverbrauch und Emissionsausstoß der Fahrzeugflotte verringert werden. Die Personalräume der Straßenreinigung an den vormaligen, in die Jahre gekommenen Standorten bedurften überdies einer deutlichen Verbesserung.

Die drei Neubauten wurden an Standorten geplant, an denen die anfallenden Geruchs- und Lärmemissionen anrainerverträglich gestaltet werden konnten. Kleinere innenstadtnahe und sanierungsbedürftige Depots und Wertstoffhöfe können nun nach und nach aufgegeben werden.

Augsburg, die drittgrößte Stadt Bayerns, ist v. a. durch ihren sehenswerten historischen Stadtkern bekannt, hat aber auch eine lange Geschichte als Industriestandort. So nahm mit der »Schüleschen Kattunfabrik« 1771 die erste Textilmanufaktur auf dem europäischen Kontinent ihren Betrieb auf. Seit dem 20. Jahrhundert und bis heute prägt die Maschinenbauproduktion das Stadtgebiet mit ausgedehnten Industrie- und Gewerbearealen v. a. zwischen der Kernstadt und den im Laufe der Jahrzehnte eingemeindeten Teilorten. So auch im Norden Augsburgs, wo der Holzweg die beiden Stadt­teile Oberhausen und Löwenbräu miteinander verbindet und dabei den Wechsel von Industrie und Gewerbe im Süden hin zu Kleingartenanlagen im Norden markiert. An einer Ecke, an der der Holzweg als Brücke über die vierspurige B17 führt, lag bereits seit Jahren ein Festplatz brach. Mit ihm fand die Stadt Augsburg nach aufwendiger Suche endlich auch im Norden des Stadtgebiets ein Baugrundstück für einen Depotneubau, das sowohl die erforderliche Größe als auch eine sehr gute Verkehrsanbindung aufweist.

Wagenburg der Strassenreiniger

Um das vorgegebene umfangreiche Raumprogramm auf dem vormaligen Festplatz unterzubringen, rückten KNERER UND LANG Architekten – nach einem VOF-Verfahren beauftragt – die Außenkanten ihres U-förmigen Gebäudes bis an die mehrfach verschwenkten Baugrenzen heran. Seine Fassaden zeigen sich dadurch entlang des Holzwegs und zur B17 hin besonders plastisch. Analog zu den amorphen Umrissen wurde – statt einer Abtreppung – eine Verschleifung der unterschiedlichen erforderlichen Gebäudehöhen gewählt. Vom Holzweg aus betrachtet führt dies zusammen mit der Holz­lattenbekleidung, die nur punktuell von wenigen Fensteröffnungen unterbrochen wird, zu einer äußerst abstrakten Wirkung. Die Absicht der ­Architekten, die Dimension des Baukörpers mittels »weicher« Materiali­sierung und Farbwahl etwas zu entschärfen, ist nachvollziehbar: Durch die Tiefenwirkung des Fassadenaufbaus verliert das beträchtliche Bauvolumen tatsächlich an Wucht und lenkt die ganze Aufmerksamkeit des ortsunkun­digen Besuchers auf die Zufahrt an dem Gebäudeabschnitt, an dem die ­Fenster­­öffnungen – da nicht durch die Holzlatten kaschiert – als solche zu erkennen sind. Hier wird aus dem Volumen ein Gebäude. Im Moment der Einfahrt erschließt sich das Gebäude im Nu: Ein riesiger asphaltierter Hof wird, statt von Holzlatten wie ­außerhalb, ­nun von einer leuchtend blauen Trapezblechfassade U-förmig gefasst. Fensteröffnungen, Türen und Tore, im ­selben Farbton beschichtet, verweisen durch ihre variierenden Größen darauf, dass sich hier unterschiedliche Nutzungen nebeneinander aufreihen.

Die bewegte Oberkante der äußeren Fassade findet rund um den heiter stimmenden Hof ihr Pendant im Auf und Ab ­eines angemessen deutlich wahrnehm­baren Dachüberstands. Im Norden, direkt gegenüber der Einfahrt, wandelt sich dieser sehr elegant zur einfachen Überdachung der orangefarbenen Wertstoffcontainer.

17 Container und fünf Pressen sind ordentlich in einer Reihe aufgestellt und durch ihre übergroßen Beschriftungen – von Elektroschrott bis Papier – problemlos auffindbar. Hier im vorderen Teil des Hofs zwischen Wertstoffen und dem Personalgebäude wird geparkt und werden Wertstoffe entladen. Der hintere Bereich des insgesamt 11 000 m² großen Areals ist den Straßenreinigern vorbehalten: Der Hofbereich dient als Rangierfläche, rechts und links befinden sich die beiden Fahrzeughallen für 30 kleinere sowie 17 große Fahrzeuge, ergänzt durch zwei Waschanlagen.

Die Fahrzeughallen sind jeweils mit doppelter Tiefe ausgeführt, sodass abhängig von der Jahreszeit wechselnde Aufbauten oder Fahrzeuge für Reinigungs- bzw. Winterdiensteinsätze direkt dahinter abgestellt werden können. Eine Fußbodenheizung gewährleistet ein Temperaturniveau von mindestens 5 °C, um auch bei eisiger Witterung ohne Verzug mit dem Winterdienst beginnen zu können. Die Halle zur Lagerung von Streusalz zwischen den Fahrzeughallen schließt das Gebäude-U nach Westen hin als Hochpunkt ab. Hier lagert sowohl reines Streusalz für Straßen als auch ein Salzsplittgemisch für Geh- und Radwege. Holzschalungen schützen die Betonwände vor dem aggressiven Schüttgut. Die beeindruckende Dimension des Raums erlaubt das Kippen ­eines Sattelzuganhängers, wofür eine lichte Höhe von 9 m benötigt wird.

Neben den einzuplanenden Aufprallkräften und teilweise erheblichen Spannweiten sprach auch der Feuchteeintrag durch die beiden Waschanlagen gegen die ursprünglich favorisierte Holzkonstruktion. Stattdessen kam eine Mischbauweise aus Ortbeton und Betonfertigteilen zum Einsatz. Die tragende Struktur zeigt sich ebenso sorgfältig ausgeführt und geplant wie die größtenteils sichtbar geführten, zahlreichen Leitungen der Haustechnik. Von der Abwasserwiederaufbereitung der Waschanlagen über die Wärmerückgewinnung aus der Abluft des Personalgebäudes bis hin zur PV-Nutzung auf den extensiv begrünten Dachflächen: Bei der Haustechnik wurde Wert auf den Vorbildcharakter des städtischen Gebäudes gelegt.

Angemessen

Besonders die Qualität der Aufenthaltsräume und Umkleiden sei im neuen Gebäude deutlich besser als an den vormaligen Standorten, berichtet der ­Leiter des »Wertstoff- und Servicepunkt Holzweg« Bedros Isler. Im OG des Personalgebäudes ermöglicht ein Ruheraum den Straßenreinigern ein kurzes Nickerchen in der Pause.

Der helle Aufenthaltsraum und eine gut ausgestattete Küche im EG bieten beste Voraussetzungen für eine angenehme Frühstückspause. Wie die ­Sozialräume zeigen sich auch die Büros und der Besprechungsraum schnörkellos und großzügig und dank durchdachter Details sehr haltbar. Viel Tageslicht, weiß geschlämmtes Sichtmauerwerk und ein graubrauner Kautschukbelag schaffen eine angenehm aufgeräumte Atmosphäre.

Austausch und Abstimmung zwischen Planern und Bauherrn während des ganzen Planungsprozesses seien intensiv gewesen, meint Architektin Eva-­Maria Lang und lobt die konstruktive Zusammenarbeit. Wenn dabei die Bedürfnisse der Hauptnutzer des Gebäudes, die bei Wind und Wetter Straßen und Plätze von Unrat und Schnee befreien, angemessen und respektvoll behandelt werden, dann kann gelungene Architektur auch als Zeichen der Wertschätzung betrachtet werden. In Augsburg am Holzweg kann man sich davon ein Bild machen.

db, Fr., 2017.12.01



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05. Dezember 2016Martin Höchst
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Menschenbilder

Vielfältig wie die städtische Bürgergemeinschaft sind auch die »Menschenbilder« an der Eingangsfassade der Museumserweiterung. Dem Besucher bietet sich im entstandenen Ensemble aus mittelalterlichem Wohnturm und seiner städtebaulich wie architektonisch qualitätvollen Erweiterung ein abwechslungsreiches Ausstellungs- und Raumerlebnis.

Vielfältig wie die städtische Bürgergemeinschaft sind auch die »Menschenbilder« an der Eingangsfassade der Museumserweiterung. Dem Besucher bietet sich im entstandenen Ensemble aus mittelalterlichem Wohnturm und seiner städtebaulich wie architektonisch qualitätvollen Erweiterung ein abwechslungsreiches Ausstellungs- und Raumerlebnis.

Aarau, die Kantonshauptstadt des Aargau, liegt auf halber Strecke zwischen Zürich und Basel. Die nur gut 20 000 Einwohner zählende Kernstadt zeigt sich dem Besucher gut erhalten und umtriebig. Die überraschende Fülle kultureller Einrichtungen gründet sich auf das kleinteilig besiedelte Einzugsgebiet ringsum, in dem über 200 000 Menschen leben. Allein innerhalb der letzten rund 20 Jahre erfuhren gleich drei städtische Museen Erweiterungen durch zeitgenössische Anbauten namhafter Schweizer Architekten: Ende 2002 öffnete das durch den Züricher Architekten Arthur Rüegg erweiterte Naturkundemuseum wieder; die Kunsthauserweiterung von Herzog & de Meuron konnte 2003 bezogen werden; und im Sommer 2015 wurde schließlich das von Diener & Diener mit Martin Steinmann sanierte und deutlich vergrößerte Stadtmuseum am Rande der Altstadt eingeweiht.

Schlüssiger Seitenwechsel

Zusammen mit Diener & Diener aus Basel hatte Architekt Martin Steinmann aus Aarau den eingeladenen Wettbewerb unter den fünf Entwürfen zur Erweiterung des »Schlössli«, eines mittelalterlichen Wohnturms, in dem das Stadtmuseum seit 1938 untergebracht ist, gewonnen. »Wettbewerbe gewinnt man nicht mit Fassaden«, so erläutert Martin Steinmann. Vielmehr hätte das städtebauliche und organisatorische Konzept ihres Entwurfs die Jury überzeugt: Statt, wie in der Ausschreibung vorgesehen den Neubau östlich auf Abstand zum Turm zu positionieren, schlugen sie vor, im Westen unmittelbar an den Bestand anzubauen. Durch die bewusste Neuformulierung der Bauauf­gabe ergaben sich gleich mehrere Vorteile. So konnte durch die Verschmelzung von Alt und Neu die Erschließung über die meisten Geschosse zusammengefasst und somit auch im Turm weitgehend barrierefrei gestaltet werden. Zudem ergab sich eine schlüssige städtebauliche Neuausrichtung des Terrains, das vom Rand der Altstadt zum Aaretal hin stark abfällt. Östlich des erweiterten Stadtmuseums kann auch weiterhin der Blick über eine Grünanlage hinweg ins Tal und weiter zum Jura schweifen.

Im Westen des Bestands bildet der Anbau die Stirnseite des Schlossplatzes und rückt die scheunentorgroße Öffnung des neuen Haupteingangs in seiner ansonsten geschlossenen Fassade ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zusammen mit dem benachbarten Saalbau des Kultur- und Kongresshauses ergibt sich ein städtischer Platz, umstanden von kulturellen Institutionen, der durch seine leichte Abschüssigkeit förmlich dazu einlädt, als Tribüne für Freiluftaufführungen genutzt zu werden.

Empfangskomitee

Das umsichtige in den Kontext eingepasste Volumen mit einem verglasten Staffelgeschoss und einem Knick in der Eingangsfassade weicht zu den beiden historischen Nachbarn hin vorsichtig zurück und bildet zudem noch einen geschützten Bereich vor den verglasten Eingangsschiebetüren aus. So umsichtig das Volumen modelliert in Erscheinung tritt, so plakativ und geradezu fordernd gibt sich die Gestaltung der vorgehängten Fassade aus vorgefertigten Betonelementen: 134 Menschen in Lebensgröße blicken dem Eintretenden entgegen. 134 individuelle Zeichnungen von Männern und Frauen in zeitgemäßer Kleidung, vermeintlich in den Beton eingraviert, konfrontieren den Betrachter mit einem in der zeitgenössischen Architektur kaum eingesetzten figürlichen Ornament. Dieser ungewöhnliche Anblick erzeugt die Aufmerksamkeit, die einem Museum gebührt. Nicht zuletzt rufen die figürlichen Darstellungen Erinnerungen an die Malerei der Neoexpressionisten aus den 80er Jahren hervor. Und dies nicht von ­ungefähr: Der St. Galler Künstler Josef Felix Müller, der die Vorlagen für die Abgüsse geschaffen hat, wurde in den 80er Jahren u. a. mit seinen rauen, ausdrucksstarken Holzskulpturen bekannt. Wie damals benutzte der Künstler auch beim Stadtmuseum Aarau eine Motorsäge, um die Menschenbilder der Fassade auf Holztafeln zu skizzieren. Das Holz eines Mammutbaums, der der Erweiterung weichen musste, lieferte das Material dazu. Mit Kunststoff ausgegossen entstanden Matrizen, die wiederum in die Schalung der Betonelemente eingelegt wurden. Neben der jeweils eingeschnittenen Zeichnung bilden sich auch die Sägespuren, Nähte und Maserungen der verleimten Schalungsbretter an der Betonoberfläche ab. So wird für den Besucher visuell wie haptisch ihre Herstellung nachvollziehbar und der gefällte Mammutbaum zeugt weiterhin von der Geschichte des Orts.

Doppelte Höhe

Die drei neuen stützenfreien Säle der Erweiterung – im UG für Veranstaltungen und Vorträge im EG als Foyer und zusätzliche Ausstellungsfläche und im OG für Wechselausstellungen – sind im Wesentlichen baugleich übereinandergestapelt: glatt verputzte Stahlbetonwände überspannt von einer vorgefertigten Betonrippendecke, mit jeweils einer großen Öffnung nach Norden, die Tageslicht einfallen lässt und in den beiden oberen Räumen zudem einen Ausblick zum Aaretal bietet. Lediglich der jeweilige ­Bodenbelag wechselt von rötlich eingefärbtem Holzzement im UG über Terrazzo im EG zu Eichendielen im OG. Ein elegant geschwungenes Schienensystem an den Decken nimmt schwere Vorhänge als Ersatz für einen Windfang, als Raumteiler oder zur Verbesserung der Akustik auf. Beeindruckend hoch zeigen sich die drei Haupträume. Dies ergab sich aus der Verdopplung der Geschosshöhen des Altbaus. So ließen sich sowohl Altbau als auch Er­weiterung zusammen mit nur einem Aufzug und nur einer Treppe beinahe durchgängig barrierefrei ­erschließen. Aus Kostengründen traten leider etwas überdimensioniert wirkende Treppenpodeste an die Stelle eines ursprünglich geplanten geschossübergreifenden Schaudepots und harren derzeit noch ihrer Ausstellungs­bespielung. Noch zurückgenommener als die Oberflächen und Detaillierung der Säle in der Erweiterung zeigen sich die der Erschließungsräume. So fällt der Kontrast am Übergang zum historischen Wohnturm mit seinen teilweise mehrere Meter dicken Wänden besonders stark aus. Beim Eintritt in einen der leicht windschiefen holzvertäfelten Räume im EG scheint es, als beträte man eine ganz andere wundersame Welt. Auch in den folgenden Geschossen setzt sich dieser Eindruck fort. Sowohl der Wechsel ­zwischen Alt- und Neubau als auch die je nach Entstehungs- und Umbauzeit unterschiedlich gestalteten historischen Räume des Wohnturms, machen den Ausstellungsparcours zur abwechslungsreichen räumlich erfahrbaren Entdeckungsreise durch die Jahrhunderte. Im Turm konnten es die Planer größtenteils bei einer Pinselrenovierung bewenden lassen.

Nur einzelne statisch relevanten Teile wurden ersetzt und die hier untergebrachte Dauerausstellung, vornehmlich zu historischen Aarauer Persönlichkeiten, von den Szenografen Emyl aus Basel neu gestaltet.

Begrünt und haltbar

Das etwas ruppige Äußere des Schlössli mit seinem sichtbaren Findlings­mauerwerk war weitgehend intakt und blieb nahezu unverändert erhalten. Der ursprüngliche Gedanke, an den Fassaden der Erweiterung das Motiv des Sichtmauerwerks aufzugreifen, wurde von den Architekten glücklicherweise als zu anbiedernd verworfen, ebenso wie der Einsatz von Holz am verglasten Staffelgeschoss. Hier oben residiert die Museumsverwaltung mit wunder­barem Blick auf Stadt und Landschaft in einem stützenfreien, lichten Raum. Um eine sommerliche Überhitzung zu verhindern, könnte, da bereits baulich vorgesehen, ganz unkompliziert ein Sonnenschutz nachgerüstet werden. Bisher jedoch hat das vorgelagerte begrünte Rankgerüst diese Aufgabe gut bewerkstelligt.

Die Begrünung des Staffelgeschosses war bereits zu einem frühen Zeitpunkt Teil des Gestaltungskonzepts. Die Begrünung der weniger repräsentativen Fassaden der unteren Geschosse hingegen wurde von den Nachbarn erstritten. Innerhalb der dichten Bebauung schadet dies der Architektur in keiner Weise. Ganz im Gegenteil: Um die Edelstahlrankhilfen stabil anbringen zu können, wurde die ursprünglich als WDVS geplante Fassade mit einer verputzten Backsteinschicht vor den ­tragenden Stahlbeton-Außenwänden und der Wärmedämmung versehen. Dies wird sich an der Alterungsfähigkeit der zunächst als »Bauteil mit ­Sparpotenzial« eingestuften Fassade positiv bemerkbar machen – mit oder ohne Begrünung.

Die lange Planungs- und Bauzeit – Wettbewerb 2006, Eröffnung 2015 – gibt einen Hinweis darauf, dass viele Entscheidungen bei der Entstehung des ­Gebäudes mit städtischen Gremien und Gerichten ausgefochten werden mussten. Das ausdauernde Engagement der Planer hat sich am Ende jedoch ausgezahlt. Mit der Erweiterung des Stadtmuseums Aarau gelang es ihnen, sowohl das städtische Gefüge passgenau und intelligent zu ergänzen als auch den Ausstellungsmachern zurückhaltend robuste Räume zu bieten. Darüber ­hinaus sprechen die 134 Menschenbilder der Fassade jeden Passanten bereits vor dem Eingang direkt an und machen klar, dass Menschen trotz gänzlich unterschiedlicher Charaktere in einer Gemeinschaft zusammenfinden ­können. Was könnte zu einem Stadtmuseum besser passen?

db, Mo., 2016.12.05



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01. Dezember 2015Martin Höchst
db

Zusammen eigenständig

Einem verschlossenen zylindrischen Solitärbau eine Erweiterung hinzuzufügen, birgt viele Möglichkeiten des Misslingens. Graber und Steiger Architekten haben sich bei der Erweiterung des »Thun Panorama« für eine bestechend ausgewogene Kombination aus baulicher Verschmelzung und gegensätzlicher Konstruktionsprinzipien entschieden. Sie verhelfen damit dem Ausstellungsort des ältesten erhaltenen Panoramagemäldes der Welt zu der Aufmerksamkeit, die ihm gebührt.

Einem verschlossenen zylindrischen Solitärbau eine Erweiterung hinzuzufügen, birgt viele Möglichkeiten des Misslingens. Graber und Steiger Architekten haben sich bei der Erweiterung des »Thun Panorama« für eine bestechend ausgewogene Kombination aus baulicher Verschmelzung und gegensätzlicher Konstruktionsprinzipien entschieden. Sie verhelfen damit dem Ausstellungsort des ältesten erhaltenen Panoramagemäldes der Welt zu der Aufmerksamkeit, die ihm gebührt.

Thun im Berner Oberland glänzt sowohl durch eine perfekt restaurierte Altstadt als auch durch seine reizvolle Lage an Aare und See, inklusive majestätischer Alpenkulisse. Die Touristenströme halten sich dennoch, zumindest beim Besuch im Oktober, in Grenzen. Im Ortsteil Scherzlingen, der sich mit Industrieanlagen und Fragmenten des vormaligen Dorfs recht heterogen zeigt, liegt auch der öffentlich zugängliche Park rund um das historisierende Schloss Schadau (1852), in dem sich mittlerweile ein Restaurant und ein Gastronomiemuseum befinden.

In der ruhigen Atmosphäre der gepflegten Grünanlage direkt am Seeufer mit Blick auf steil ansteigende, schneebedeckte Berggipfel stößt man eher beiläufig auf eine kleine Dependance des Kunstmuseums Thun, das sogenannte Thun Panorama. Bis 2014 wurde es von Graber und Steiger Architekten aus Luzern erweitert und saniert, nachdem sie ein prominent besetztes Auswahlverfahren unter sieben eingeladenen Büros für sich entscheiden konnten. Gut 50 Jahre nach der letzten Restaurierung des hier ausgestellten ältesten Rundgemäldes der Welt, das eine Stadtansicht Thuns zeigt, sollten zu dessen 200-jährigem Bestehen Schadstellen ausgebessert und einen neuer Firnis aufgebracht werden. Auch seine denkmalgeschützte bauliche Hülle von 1961 sollte zum Jubiläum frisch saniert, und um ein zeitgemäßes Eingangsgebäude ergänzt, erstrahlen.

Vergessene Unikate

Der industrielle Charakter des Bestandsgebäudes mit seinem sichtbarem Stahlbetonskelett und Ziegelausfachungen, das eher an einen Wasserhochbehälter als an ein Ausstellungsgebäude erinnert, galt bei seiner Einweihung als Affront. Und dies, obwohl der für die damalige Planung verantwortliche Stadtbaumeister Thuns Karl Keller (1920-2003) die knapp 12 m hohe Rotunde mit einem Durchmesser von ca. 14 m inmitten hohen Baumbestands und mit deutlichem Abstand zu Schloss und Seeufer platzierte. Die Unauffälligkeit des kleinen Ausstellungsorts machte sich jedoch an den geringen Besucherzahlen bemerkbar und so erhielt das Rundgemälde erneut, wie schon kurz nach seiner Fertigstellung 1814, nicht die gewünschte Aufmerksamkeit.

Der Basler Künstler Marquard Wocher (1760-1830) hatte es nach zwei Aufenthalten vor Ort, bei denen er – auf einem Dach inmitten des Stadtkerns sitzend – Skizzen von Stadt und Landschaft ringsum gemacht hatte, in fünfjähriger Arbeit in Basel geschaffen. Über das ein oder andere Detail der Stadtansicht, dass es noch zu klären galt, tauschte er sich währenddessen mit einem Bekannten in Thun per Brief aus. In einer damals eigens in Basel errichteten Holzrotunde sollte zahlendes Publikum das auf 285 m² Büttenpapier gemalte Ölgemälde bestaunen. Doch die Rechnung Wochers ging nicht auf und er starb schließlich verarmt. Nach seinem Tod gelangte das Panorama in den Besitz der Stadt Thun und geriet danach über die Jahre in Vergessenheit. Erst in den 50er Jahren entdeckte man es wieder. Karl Keller erkannte die kulturelle Bedeutung des Kunstwerks für die Stadt und ließ es auf gekrümmte Holzwerkstoffplatten aufziehen und restaurieren. Um es auch als Ganzes wieder ausstellen zu können, forcierte er die Errichtung der Rotunde im Schadaupark.

Fortgeführt

Die eingeschossige Erweiterung des Baus übt sich in Respekt vor der vorgefundenen elegant kargen Gestaltung der Rotunde, ohne sich jedoch ihr anzubiedern. Tangential aus dem Umriss des Bestands heraus leiten konkave Schwünge zu einer rechteckigen Form über. Dadurch wird sowohl der alte Baumbestand geschont als auch der Eingang deutlich und einladend definiert. Verbindendes Element von Alt und Neu ist der Dachrand des Annex aus Ortbeton, der die Waagerechte des Rotunden-Betonskeletts ohne Dehnungsfugen fortführt. Mit einer Ansichtsbreite von 40 cm und in gleicher Weise geschalt war er der Ausgangspunkt für weitere konstruktive und räumliche Entscheidungen. So wurde u. a. der Boden des Veranstaltungs- und Ausstellungsraums abgesenkt, um die geforderte Raumhöhe von 3 m zu erreichen. Anders als beim Bestand, an dem sichtbare Stützen die Lastabtragung in der Fassadenebene veranschaulichen, schwebt das begrünte Flachdach der Erweiterung vermeintlich über der geschosshohen Verglasung. Tatsächlich ruht die gesamte Stahlbetondecke auf einem von den Fassaden ringsum abgelösten innenliegenden Stahlbetontisch, der Empfang, Bewirtungstheke, Toiletten, Technik und Garderoben aufnimmt. Um die beeindruckende Auskragung (8 m!) der Decke im Bereich des Veranstaltungssaals zu bewältigen, wurden vier vorgespannte Unterzüge eingebaut, deren geringe Abmessungen nur in enger Abstimmung mit dem Tragwerksplaner zu erzielen waren.

Sämtliche Oberflächen im Innern sind in Anlehnung an den Bestand einfach ausgeführt. So wurden keine aufwendigen Betonschalungen verwendet, die Fußböden erhielten einen grauen Anstrich und sämtliche Einbauten sind in weiß beschichtetem Holzwerkstoff ausgeführt. Dies steht im Kontrast zu der edlen in Teilen gekrümmten Glasfassade ohne sichtbare Profile. Je nach Lichteinfall wirkt sie entweder immateriell und lässt den Park im Innern sehr präsent werden oder aber bietet ein komplexes Reflexionsspiel dar. Durch das ausgewogene Miteinander einfacher und edler Materialien entsteht ein spannungsvoller Kontrast mit hohem ästhetischem Reiz. Zudem ist eine gewisse Robustheit der Oberflächen in Anbetracht der regelmäßigen Besuche von Schulklassen und – in deutlich größeren Abständen bei Hochwasser – des Thuner Sees vonnöten.

Im Dienste des Exponats

Temperierung von Rotunde und Erweiterung sind streng voneinander getrennt, was sich auch an den beiden Windfängen, zum einen am Haupteingang und zum andern zwischen Foyer und Rotunde, bemerkbar macht. Während die Erweiterung dank Dreischeiben-Isolierverglasung, guter Dämmung, einer Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung sowie einer Wärmepumpe für die Versorgung der Fußbodenheizung dem Schweizer Minergie-Standard entspricht, bleibt die Rotunde völlig untemperiert. Hier wird mittels zweier Luftentfeuchter lediglich die ideale Luftfeuchtigkeit für das Exponat gewährleistet. Dies hatte sich in den letzten 50 Jahren aus restauratorischer Sicht bewährt und so wurden Überlegungen zu einer Dämmung der einschaligen Bestandskonstruktion verworfen.

Beim Betreten der im Herbst sehr kühlen Rotunde unter dem Gemälde hindurch zeigt sich der Raum mit verputzten Wandsegmenten zwischen den Sichtbetonstützen wie sie auch an den Außenfassaden des EG zu finden sind. Erhellt durch ein über Kopfhöhe umlaufendes schmales Lichtband findet hier, in abgelöst von der Architektur aufgestellten Schaukästen und auf Tischen eine Dauerausstellung zu Details und Geschichte des Panoramas ihren Platz. Der Rotunde folgend führt eine geschwungene Treppe hinauf auf die frei eingestellte erhaltene Empore, die ebenfalls aus Stahlbeton elegant detailliert ist und deren Oberflächen sorgfältig saniert wurden. Die erhöhte Position auf ihr eröffnet dank der dreifachen Staffelung auch einer ganzen Schulklasse gleichzeitig den Rundumblick auf das Panorama, das vor den Außenwänden abgehängt ist. Um den aktuellen Normen zu entsprechen, wurden die bestehenden Brüstungselemente aus Metall in Anlehnung vorhandener Details angepasst. Viel weitreichender waren jedoch die Anpassungen an die verschärften Bestimmungen zur Erdbebensicherheit. So wurden vormalig gemauerte Wandscheiben im EG durch Stahlbeton ersetzt und mittels Stahlplatten mit dem bestehenden Stahlskelett kraftschlüssig verbunden. Zudem verstärken an der Innenseite in geringem Abstand übereinander waagerecht eingebaute, gebogene Stahlträger die Ziegelausfachungen der oberen Skelettkonstruktion. Seit der Sanierung erstrahlt das Exponat auch in besserem Licht: zenitales Tageslicht, das über die ersetzte Kunststofflichtkuppel im Zentrum des leicht gewölbten Kuppeldachs fällt, wird jetzt über eine abgehängte Scheibe zum Panorama hin gelenkt und kann bei Bedarf sensorengesteuert mit Kunstlicht verstärkt werden. So bedacht wie sämtliche Nachrüstungen und Ertüchtigungen ausgeführt sind, erscheint die Rotunde lediglich sehr gut saniert und nahezu unangetastet.

Die besondere Herausforderung dieses Projekts sei es gewesen, so Niklaus Steiger, »den drei starken Protagonisten – dem Park, dem Rundgemälde und dem Bestandsbau Kellers – gleichermaßen gerecht zu werden«. Einfühlsamer und eigenständiger hätte dies wohl kaum gelöst werden können. Die positiven Rückmeldungen »aus wirklich allen Richtungen«, wie Steiger berichtet, sowie die erheblich gestiegenen Besucherzahlen sprechen für sich.

db, Di., 2015.12.01



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30. November 2014Martin Höchst
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»Haus Unimog«, Ammerbuch

Um für eine kleine Bauaufgabe ein städtebaulich angemessenes Volumen zu schaffen, stapelten die Planer Fabian Evers und Christoph Wezel die Nutzungen: Werkstatt und Wohnhaus fanden in einem Hybrid übereinander zusammen. Es entstand ein Haus, das trotz geringer Abmessungen und geringen Budgets souverän seinen Platz besetzt und außerdem noch Großzügigkeit vermittelt.

Um für eine kleine Bauaufgabe ein städtebaulich angemessenes Volumen zu schaffen, stapelten die Planer Fabian Evers und Christoph Wezel die Nutzungen: Werkstatt und Wohnhaus fanden in einem Hybrid übereinander zusammen. Es entstand ein Haus, das trotz geringer Abmessungen und geringen Budgets souverän seinen Platz besetzt und außerdem noch Großzügigkeit vermittelt.

Entringen ist mit seinen knapp 4 000 Einwohnern der größte von fünf Teilorten der Gemeinde Ammerbuch. 10 km westlich von Tübingen gelegen, ist es umgeben von den Feldern des Ammertals und dem erhöhten Südwestrand eines ausgedehnten Mischwaldgebiets namens Schönbuch. Land- und Forstwirtschaft – zunehmend auch wieder etwas Weinbau – haben Landschaft und Dorf über Jahrhunderte geprägt. In den letzten Dekaden hat jedoch auch hier der Straßenverkehr dem gewachsenen Ortsbild seinen Stempel aufgedrückt. Die Nähe zur Universitätsstadt Tübingen ließ nicht nur die Mieten, sondern auch die Pendlerströme ansteigen. Banale Wohn- und Gewerbesiedlungen entstanden rings um das alte Dorf.

Mitten durch den Ort führt eine vielbefahrene Bundesstraße, an der stolze und gut erhaltene alte Bauernhäuser stehen. Dazwischen findet sich so mancher austauschbare Neubau und der ein oder andere Bestandsbau, der seiner dringend nötigen Sanierung harrt. Zum ländlichen Erscheinungsbild gehören auch die weitgehend geschlossenen Fassaden von Wirtschaftsgebäuden, bekleidet mit Holz, Putz oder Trapezblech.

Ländliche Neuinterpretation

An einer Bushaltestelle weitet sich die vorwiegend recht dicht gegenüberstehende Bebauung der Durchgangsstraße ein wenig auf. Hier steht seit Februar 2012 ein zweigeschossiges Gebäude, dessen Volumen mit Satteldach eher zu den kleinen in der Umgebung zählt. Es rückt mit seiner schlanken Giebelseite, wie viele der historischen Nachbarhäuser, bis an den Gehweg der Hauptstraße vor. Vollflächig, ohne jede Öffnung zeigen sich seine beiden eingesetzten Fassadenmaterialien: Während das EG mit transluzenten gewellten Kunststoffplatten beplankt ist, findet an den Außenwänden sowie den geneigte Dachflächen des OG anthrazitfarbenes Wellblech aus Aluminium Verwendung. Dem ersten Anschein nach meint man, ein reines Wirtschaftsgebäude vor sich zu haben. Bei näherer Betrachtung jedoch machen die Fensteröffnungen in unterschiedlichen Formaten an den Längsseiten deutlich, dass die vermeintliche Tenne auch Wohnräume birgt.

Die in der Gegend übliche historische Typologie für Bauernhäuser, bei der meist über dem Stall des EG die Wohnräume der Bauernfamilie lagen, findet hier eine neuzeitliche und eher ungewöhnliche Interpretation: als Zweizimmerwohnung über einer Werkstatt. Der einzige Bewohner und Bauherr des hybriden Gebäudes arbeitet nebenbei leidenschaftlich gerne im Wald mit seinem nicht mehr ganz neuen Unimog. Der ist dabei selbstverständlich als Zugmaschine einsetzbar, aber auch als Antrieb für die Holzbearbeitung.

Anfänglich dachte der Bauherr nicht daran, neu zu bauen, vielmehr suchte er nach einem Bestandsgebäude mit Räumlichkeiten für sich und sein Waldfahrzeug, die möglichst dicht beieinanderliegen sollten. Außerdem musste der Raum für den Unimog eine beträchtliche Höhe aufweisen, um so eine Hebebühne für notwendige Wartungs- und Reparaturarbeiten nutzen zu können. Die Suche danach scheiterte letztlich jedoch an der doch recht ungewöhnlichen Raumkombination.

Das verfügbare Budget schien für einen Neubau und ein Grundstück sehr knapp bemessen zu sein. So kam der recht günstige Bauplatz an der Durchgangsstraße in Entringen, auf dem zuvor bereits ein baufälliges Bauernhaus abgerissen worden war und das aufgrund des Straßenlärms schwer vermarktbar war, sehr gelegen. Als langjähriger Freund des Bauherrn wurde Architekt Fabian Evers zu Rate gezogen.

Weglassen, wenn möglich

Zusammen mit dem Architekturbüro Wezel investierte Fabian Evers viel Planungsarbeit in die kostengünstige Umsetzung des kleinen Projekts. Und dies obwohl die HOAI bekanntermaßen dem Planer keinerlei Anreiz für kostengünstiges Bauen bietet. Das entstandene kleine Projekt zeigt an jeder Ecke, dass sich kluges Weglassen von potenziell Unnötigem nicht nur für den Bauherrn kostensparend auswirkt, sondern sich auch in ästhetischer Hinsicht »rechnet«.

Lediglich sechs schlanke Holzstützen halten die Holzkonstruktion des OG auf knapp 4 m Abstand zur betonierten Bodenplatte und definieren so bereits die Ausdehnung der Werkstatt im EG. Auskreuzungen mit Stahlseilen sorgen für Steifigkeit. Horizontale Kanthölzer dienen als Unterkonstruktion für die Kunststoffwelle der Fassaden sowie der beiden Schiebetore der Südseite. Da der kleine Hausanschlussraum, der ein WC und einen Waschtisch birgt, von der Fassade und der Decke abgelöst ist, entsteht ein heller geradezu ätherischer Raum, der eher wie eine Skulpturengalerie als eine Werkstatt wirkt. Hebebühne, Werkstattutensilien sowie der Straßenlärm und die Kälte, die durch die leichten Wände dringen, verweisen jedoch sehr nachdrücklich auf seinen dienenden Zweck.

Hinauf zum Wohngeschoss geht es über eine einläufige, stählerne Außentreppe an der westlichen Stirnseite, die im 1. OG an der hausbreiten Loggia mündet. Diese dient als geschützter Freisitz und abgehobener Vorplatz zugleich. Der Blick von hier oben reicht über Hühnergärten, Wirtschafts- und Wohngebäude hinweg bis in die leicht bewegte, freundliche Landschaft des Ammertals. Wer eintreten möchte, der muss anklopfen, denn eine Hausklingel wurde als verzichtbar eingestuft. Außerdem bietet die großzügig verglaste Öffnung zum Wohnraum ungehinderten Sichtkontakt zwischen drinnen und draußen. Die eingebaute Balkontür als einzige Außentür des Gebäudes dient also gleichzeitig als Haustür. An die zimmergroße Loggia schließt der Wohnraum, der auch Küchenzeile und Essplatz aufnimmt, ebenfalls in Hausbreite, an. Die Wirkung dieses 30 m² großen Raums mit einer lichten Höhe von bis teilweise über 4 m sowie dem von drei Seiten einfallenden Licht hat nichts von den vermuteten bescheidenen bäuerlichen Verhältnissen. Selbst die eher simplen Oberflächen aus konstruktiv wirksamen Holzwerkstoffen können den großzügigen Charakter des Raums nicht mindern – ganz gleich ob als dunkle Siebdruckplatten am Boden oder weiß lasierte Grobspanplatten an den Wänden und Decken. Schlafzimmer und Bad werden durch konventionelle, weiß beschichtete Innenraumtüren vom Wohnzimmer aus betreten und weisen die gleichen Oberflächenqualitäten an Boden und Wänden auf.

Während das 12 m² kleine und sehr hohe Schlafzimmer über ein Fenster in der Wand erhellt wird, geschieht dies im Badezimmer, die Intimsphäre wahrend, über ein Dachfenster. Hier ist der Spritzwasserbereich oberhalb der Wanne mit weißen Fliesen belegt, was wiederum davon zeugt, dass nicht alles eingespart wurde, was man theoretisch hätte weglassen können, praktisch jedoch zwangsläufig zu Schäden geführt hätte. Der Verzicht auf die sonst üblichen Regenrinnen an den Traufen des Satteldachs hatte bisher noch keine Beeinträchtigungen zur Folge, steht jedoch unter aufmerksamer Beobachtung.

Beheizt wird die kleine Wohnung über einen Kaminofen im Wohnraum, sinnigerweise mit Holz »aus eigener Ernte«. Zusätzlich tragen die großen Fensterflächen nach Süden und Westen zur Erwärmung bei. Die mit Mineralwolle gedämmte Außenhülle wurde exakt so bemessen, dass sie den Anforderungen der geltenden EnEV entsprach, »... und keinen cm mehr«, so Architekt Evers.

Dieses kleine Haus hat nun wirklich nichts mit standardisierten Eigenheimen gemein. Die Nachbarschaft sprach anfänglich sogar mit freundlichem Spott von Hochwasserschutzmaßnahmen in Anbetracht der kleinen Wohnung, die mehr als 4 m über dem Terrain schwebt. Letztlich hat sich jedoch genau diese Anordnung als Kunstgriff beim Umgang mit einer nicht alltäglichen Bauaufgabe an einer ganz alltäglichen lauten ländlichen Straße erwiesen.

db, So., 2014.11.30



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02. Dezember 2013Martin Höchst
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Halt und Sinnlichkeit

Mit dem Umbau und der Erweiterung eines maroden Schulpavillons zu einem Schulhort schufen Boltshauser Architekten ein gelassen ruhendes Gebäude, das unaufgeregte und großzügige Räume für bis zu 100 Kinder bietet. Ein ausgewogenes Spiel zwischen Einfachheit und Komplexität sorgt dabei sowohl für räumliche Klarheit als auch für anregende sinnliche Erfahrungen.

Mit dem Umbau und der Erweiterung eines maroden Schulpavillons zu einem Schulhort schufen Boltshauser Architekten ein gelassen ruhendes Gebäude, das unaufgeregte und großzügige Räume für bis zu 100 Kinder bietet. Ein ausgewogenes Spiel zwischen Einfachheit und Komplexität sorgt dabei sowohl für räumliche Klarheit als auch für anregende sinnliche Erfahrungen.

Knapp 15 Minuten dauert die Fahrt mit der Straßenbahn vom umtriebigen Züricher Hauptbahnhof bis zum Bad Allenmoos in Zürich-Unterstrass. Kaum hat man die denkmalgeschützte Freibadanlage (Haefeli Moser Steiger, 1939) mit ihren eleganten und äußerst filigranen Überdachungen und Funktionsbauten passiert, prägt ausschließlich Wohnen das Bild der verkehrsberuhigten Straßen. Mitten durch dieses vorstädtische Quartier mit seiner lockeren zwei- bis viergeschossigen Bebauung führt ein kleiner parkartiger Grünzug. Hier, in Sichtweite zur benachbarten Volksschule und umgeben von Wohnbauten, findet sich der von Boltshauser bis Anfang 2011 grundlegend umgebaute Schulpavillon, der seither als Hort für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren dient.

Das gestreckte eingeschossige Hortgebäude (ca. 63 x 16 m) ruht ganz selbstverständlich und erdenschwer im leicht bewegten Gelände der behutsam ergänzten Grünanlage (Schmid Landschaftsarchitekten, Zürich). Über die ganze Länge seines Flachdachs zieht sich ein kastenförmiges Oberlicht, das zusammen mit der Eingangsnische an der östlichen Stirnseite und den insgesamt sechs ausgesparten Wandabschnitten der Südfassade bereits einen Hinweis auf seine einhüftige innere Organisation gibt. Aufgrund der über die Geschossdecke nach oben gezogenen Fassadenflächen und geschosshohen kastenartig ausgebildeten Fenster ergibt sich ein durchgängig sehr dünner Dachrand, der in einem spannungsreichen Kontrast zur sonstigen Massivität des Gebäudes steht. Dies trägt erheblich zu seiner wohltuend abstrakten Anmutung bei: dimensionslos, ein wenig rätselhaft, archaisch. Inmitten der mehr oder weniger gelungenen Wohnbebauung ringsum behauptet es so freundlich aber bestimmt seine Sonderstellung.

Besetzt und vernachlässigt

Die souveräne Ausstrahlung des Gebäudes lässt seine bewegte Vergangenheit beinah vergessen: In den 50er Jahren als Erweiterung der benachbarten Volksschule, eher zweckmäßig als gestalterisch hochwertig, mit fünf Unterrichtsräumen errichtet, sollte es 2002 nach einem Jahr des Leerstands schließlich dem Neubau eines bis zu viergeschossigen Schulgebäudes weichen. Der Widerstand der Anrainer gegen das Projekt – durch sämtliche juristischen Instanzen hindurch – verhinderte jedoch dessen Realisierung. 2009 schließlich, nach einer zwischenzeitlichen Hausbesetzung, schrieb die Stadt Zürich in Anbetracht des steigenden Bedarfs an Hortplätzen einen Wettbewerb unter drei eingeladenen Büros zur Umnutzung und Sanierung des Pavillons aus. Boltshauser Architekten überzeugten mit ihrem Konzept, in Grundriss und Volumen des Bestands eher zurückhaltend einzugreifen. Die angedachte behutsame Sanierung entwickelte sich jedoch v. a. aufgrund der für heutige Schneelastrichtlinien zu schwach dimensionierten bestehenden Dachkonstruktion zu einem »Beinah-Neubau«. So entstand auf dem erhaltenen UG, abgesehen von ein paar verbliebenen Raumwänden, eine neue Stahlbetonkonstruktion, die den Außenkanten des Vorgängergebäudes weitgehend folgt. Lediglich nach Westen wurde das Bauvolumen um eine Raumachse verlängert und entlang der Südfassade um einen überdachten Außenbereich erweitert.

Gebrannt oder gestampft

»Ein ganz wesentlicher Punkt, der zur ungewöhnlich hohen Akzeptanz v. a. auch bei Erziehern und Eltern führt, ist die als vertraut empfundene Materialität«, so Projektleiter Daniel Christen von Boltshauser Architekten. Ton, ob gebrannt als Bekleidung aus Klinkerplatten oder als Stampflehm wie an den Stützen der Südfassade bestimmt das Äußere des Horts. Stampflehm-Fachmann Martin Rauch musste sich schon aus Kostengründen mit der Errichtung der mächtigen U-förmigen Außenstützen begnügen, die in ihren verschließbaren Nischen Freiluftspielgeräte aufnehmen. Eingelegte horizontale Reihen schmaler, leicht auskragender Klinkerplatten, deren Abstände sich von oben nach unten zunehmend verkleinern, dienen als Tropfnasen, um starke Auswaschungen des Lehms zu verhindern. Die vom Bauherrn befürchtete Beschädigung des weichen Materials durch Kinderhand hat sich bislang nicht eingestellt, vielleicht weil sich in der Betrachtung und Berührung der archaisch anmutenden Bauteile ganz unvermittelt ein gewisser Respekt einstellt.

Die von den Architekten ursprünglich gewünschte Vormauerschale der Außenwände aus dem »Kolumba-Klinker« ließ sich nicht durchsetzen. Die aufzuwendende Graue Energie und die Kosten für diesen Wandaufbau erschienen dem Bauherrn nicht angemessen. Nach vielen Diskussionen unter den Architekten aber auch mit der Stadt Zürich kam eine eigens hergestellte nur 2 cm dicke Variante des ursprünglich favorisierten Ziegels zum Einsatz, die, nicht vermauert sondern um 90° gedreht, auf die Wärmedämmung geklebt und anschließend verfugt wurde. Gerade weil auf eine Verlegung in versetzten Stoßfugen verzichtet wurde und auch die Außenecken sowohl die Materialstärke und als auch die Verarbeitung deutlich erkennbar machen, enttäuscht dieser Kompromiss nicht. Das beträchtliche Ansichtsformat der Platten von 52,8 x 10,8 cm und die sichtbaren Spuren ihrer handwerklichen Herstellung, wie leichte Verformungen und Fingerabdrücke, sowie die präzise Verarbeitung führen zu einer solch hohen Wertigkeit der Klinkerbekleidung, das sie selbst im Zusammenspiel mit den Stampflehmoberflächen zu überzeugen vermag.

Verschränkt und verbunden

Die nach innen versetzte einzige Öffnung der östlichen Stirnseite mündet im Windfang, der mit Kunst auf die kindlichen Nutzer des Gebäudes sympathisch beiläufig verweist: Ausgewählte sich teilweise überlagernde kleine Figurenumrisse – gezeichnet von Hortkindern in einem Workshop mit den Künstlern Marta Rauch-Debevec und Sebastian Rauch – wurden auf keramischen Wandfliesen verewigt und heißen nun den Eintretenden willkommen. Ein heller über 40 m langer Raum schließt sich an und macht die eigentlichen Dimensionen des Gebäudes deutlich. Bei durchschnittlich 4 m Breite herrscht dennoch nicht die Atmosphäre eines Flurs, da die Planer die vermeintlich ungünstigen Proportionen mit gut platzierten Fensteröffnungen in der Nordfassade und Aufweitungen nach Süden unter dem Oberlicht gliedern. Hier kann das zenitale Licht gar über Wandabschnitte aus Glasbausteinen in die Schul- und Betreuungsräume im Süden fallen und bietet zudem ein Spiel mit Transparenzen. So weitet und verengt sich der lange Raum, erhält mal zenitales Licht oder bietet Ausblicke und entwickelt dabei eine Aufenthaltsqualität, die der Nutzungsflexibilität im Hortalltag zugutekommt.

Die sechs großzügigen Räume entlang der Südfassade – für Unterricht sowie Hortbetreuung und ganz im Westen die professionelle Küche mit Edelstahleinbauten – werden sowohl abschnittsweise über das Oberlichtband als auch über jeweils ein beeindruckend großes (ca. 6 x 3 m) Fenster nach Süden mit Tageslicht versorgt. Mit tiefen mittelgrauen Metalllaibungen, die auch die Türflügel bündig in sich aufnehmen, gefasst und flankiert von den Stampflehmstützen des überdachten Freibereichs präsentiert sich der kleine Park wie auf einer Bühne. Wenn zudem noch der textile Sonnenschutz in Fenstergröße langsam herunter gleitet, wirkt es, als ob sich ein Bühnenvorhang nach einer Theatervorstellung senkt.

Der ockerfarbene fugenlose Lehm-Kasein-Bodenspachtel, der durchgängig auf den Estrich aufgebracht wurde, soll, ebenso wie der unbeschichtete Lehmputz – im Erschließungsbereich blau pigmentiert – zu einem gesunden Raumklima beitragen. Der Einsatz dieser ökologisch sinnvollen Materialien kostete die Architekten jedoch viel Überzeugungsarbeit. Die Robustheit der Oberflächen scheint sich bisher bewährt zu haben und zudem verleiht ihre sichtbare Handwerklichkeit dem ansonsten sehr geradlinig gestalteten Inneren eine wohltuende Dosis an »Unvorhersehbarem«. Feinsteinzeugfliesen rund um die schwarzen Waschtische der Zahnputzecken und als Bodenbelag der Küche sowie Messingleisten an den Deckenleuchten ergänzen den überraschend vielstimmigen Materialkanon der Innenräume. Und dennoch, dank sorgfältiger Platzierung und Gewichtung kann ein klares Gesamtbild entstehen.

Dreifachverglasungen, dicke Wärmedämmschichten und die kontrollierte Lüftung lassen den Totalumbau den Minergie Standard für Neubauten erreichen. Energetisch ist der Hort also bestens für die Zukunft gerüstet. Die nicht minder zukunftsfähige Gestaltung des Gebäudes, die ohne die sehr sorgfältige Detaillierung nicht zu erreichen gewesen wäre, ist dem Blick der Planer für das Beständige, das Kindern wie Erwachsenen sowohl Aneignung als auch sinnliche Erfahrung erlaubt, zu verdanken. Als öffentlich genutztes Gebäude mit überzeugend eigenständiger Architektur leistet der Schulhort von Boltshauser einen wichtigen Beitrag zur Aufwertung des ganzen Quartiers – wie schon seit 1939 das benachbarte Bad Allenmoos.

db, Mo., 2013.12.02



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02. September 2013Martin Höchst
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»Geerdete Pusteblume«

Mit der neuen Kita in Böblingen ist es (se)arch Architekten gelungen, ein starkes Haus für die Kinder und den Stadtteil zu bauen, das Stabilität vermittelt, viel Freiraum für Pädagogik lässt und außerdem die Sinne von Kindern und Erwachsenen anspricht.

Mit der neuen Kita in Böblingen ist es (se)arch Architekten gelungen, ein starkes Haus für die Kinder und den Stadtteil zu bauen, das Stabilität vermittelt, viel Freiraum für Pädagogik lässt und außerdem die Sinne von Kindern und Erwachsenen anspricht.

Auch in Böblingen, das bislang nicht mit seinen städtebaulichen Qualitäten punkten konnte, stößt der Wohnungsmarkt an seine Grenzen. Ortsansässige große Arbeitgeber wie z. B. Daimler und IBM tragen dazu bei, dass die Nachfrage nach zeitgemäßem Wohnraum nicht abreißt. So nimmt das ehemalige Flughafengelände direkt am Bahnhof, das zwischenzeitlich von den amerikanischen Streitkräften genutzt wurde und seit den 90er Jahren brach lag eine zentrale Rolle in der städtischen Entwicklung Böblingens ein. Zusammen mit dem unmittelbar angrenzenden Sindelfingen wird das ehrgeizige Projekt in einer Zweckgemeinschaft vorangetrieben. Die künftige Gestalt des geplanten Stadtteils »Flugfeld« (Städtebaulicher Wettbewerb von 2001, Entwurf von ap'plan, Stuttgart und Kienle Planungsgesellschaft, Stuttgart) ist durch die bereits verwirklichten Straßen, Grünanlagen und Wohn- und Gewerbebauten gut abzusehen. Zentrales stadtplanerisches Gestaltungselement bildet ein lang gestreckter See, der in seinen Abmessungen die Start- und Landebahn des ehemaligen Flughafens nachzeichnet. Umgeben von großzügigen Grünflächen wird er von Baufeldern flankiert: im Westen vornehmlich für Gewerbe- und Dienstleistungsnutzungen und östlich des Sees für den schon weiter gediehenen, verdichteten Wohnungsbau und einige Bildungseinrichtungen.

Ins Zentrum gerückt

Der seit Anfang des Jahres mit Leben erfüllte neueste Baustein des Stadtteils, die Kita Flugfeld an der Nordwestecke des Wohnquartiers in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof, markiert den Schnittpunkt der beiden wichtigsten fußläufigen Wegachsen des Areals: zum einen der vom alten Stadtkern hinüber zum neuen Stadtteil und zum anderen der von Grün begleiteten Promenade entlang des Sees. Auf den beiden jetzt noch unbebauten Nachbargrundstücken der Kita werden zukünftig mehrgeschossige Gebäude in die Höhe wachsen. Darauf reagierten (se)arch Architekten aus Stuttgart beim eingeladenen Wettbewerb von 2009 mit einer Stapelung der geforderten Gruppenräume. In einem Quader zusammengefasst thronen sie leicht überkragend an der exponierten Blockrandecke auf einer geschosshohen Umfriedung des Grundstücks. Dies ermöglicht sowohl einen geschützten Außenbereich für die Kita als auch die allseitige natürliche Belichtung des angehobenen ruhigen Volumens. Um dessen Wirkung nicht durch Einschnitte für Loggien und Fluchtreppen sowie durch unterschiedliche Fensterformate zu beeinträchtigen, umgibt ein hellgraues, perforiertes Textilgewebe die oberen drei Geschosse, jeweils lediglich von drei liegenden Fenstern pro Fassade durchstoßen.

Aufgedruckte überdimensionale Pusteblumen geben zwar einen dezenten Hinweis auf die kindlichen Nutzer und die flugspezifische Vergangenheit des Orts, schmälern den abstrakten Charakter des Gebäudes jedoch nicht und bescheren ihm so die seiner Nutzung angemessene Aufmerksamkeit. Dies umso mehr, als dass der klinkerbekleidete Sockel des EGs darüber hinaus noch den Stadtteiltreff mit Bürgerbüro aufnimmt.

Während Besucher des Bürgerbüros, dessen Verglasung die Kontrolle des ihm zugeordneten Eingangs erlaubt, direkt in das gemeinsame Foyer gelangen, verläuft der Weg der Kinder und Eltern der Kita über den ummauerten Außenbereich. Mit seinem umlaufenden Dachband aus Ortbeton, seinen klinkerbekleideten Wänden und den Lattenrosten, die durchlüftete Abstellräume aufnehmen oder als Zugangstüren dienen, vermittelt er eine konzentrierte und ruhige Atmosphäre. Den »Ort des Ankommens« nennt Architekt Stephan Eberding diesen Bereich. Und in der Tat wird man selbst durch den Ausschluss von Passanten und sonstigen Ablenkungen und dank der erdenden Materialien ruhiger. Dies könnte für manches Kind, dem der tägliche Abschied von den Eltern schwer fällt, durchaus hilfreich sein.

Über verglaste Türen im Foyer angekommen, geht der Weg vorbei am teilbaren Mehrzweckraum, der sowohl von Kita als auch für Veranstaltungen des Stadtteils genutzt wird. Von der vorbeiführenden Seepromenade aus über eine in Teilen gefärbte Verglasung einsehbar, dient er als »Schaufenster« für die Angebote der Einrichtung. Auch die professionelle Küche, deren Gefahrenbereiche an Herd und Öfen für das Kochen mit Kindern gesichert werden können, kommt beiden Nutzern zugute. Eine Toilettenanlage, weitere Nebenräume sowie der Personalraum für die Erzieher mit Zugang und Blickkontakt zum Hof runden das vorbildlich synergetische Raumprogramm des EGs ab.

Treppensteigen

In den drei OGs teilen sich je eine Gruppe von Ein- bis Dreijährigen und eine Gruppe von Vier- bis Sechsjährigen das Stockwerk. Der vorhandene Aufzug steht nur für Ausnahmefälle bereit, was ein Schild an dessen Tür unmissverständlich zu verstehen gibt. Groß und Klein steigen mehr oder weniger schnell über das Treppenhaus in die drei OGs hinauf. Dies war anfänglich v. a. bei den Eltern umstritten, hat sich aber bereits eher als positiver Lerneffekt denn als Überforderung für die Kinder herausgestellt. Flächen in wechselnden kräftigen Farben an den Sichtbetonwänden des Treppenhauses verweisen bereits auf die jeweilige »Stockwerksfarbe«. Bei einem Haus mit 100 Kindern auf insgesamt vier Etagen bietet dieser Farbcode bessere Orientierung und Identifikation. Auf allen drei OGs weitgehend gleich organisiert, betritt man zunächst einen großzügigen Raum für beide Gruppen, die sogenannte Spielstraße, die an beiden Stirnseiten an großflächig verglaste Loggien anschließt. Dadurch zeigt sich dieser gemeinsame Ess- und Spielbereich der zwei angegliederten Gruppen überraschend hell. Im Wettbewerbsprogramm noch nicht vorgesehen, konnten die Architekten mit ihrem Vorschlag der Spielstraße als zusätzlicher Aktionsfläche überzeugen, die nun bestens funktioniert. Hier wie fast im gesamten Haus bestimmen etwas ruppig ausgeführte Sichtbetonwände, ein heller Linoleumboden mit Schmutz verzeihender Musterung und schalldämpfende Holzwolleplatten an den Decken den Werkstattcharakter des Gebäudes. Die Materialien erlauben und verzeihen vieles, ohne dabei ins rein Zweckmäßige abzugleiten.

Zwei Garderobennischen an den Längsseiten, ganz in der jeweiligen Stockwerksfarbe gehalten, bilden den einzigen starken Farbakzent des Raums. Verglaste Türen führen zu den pro Altersstufe jeweils zwei Gruppenräumen, die sich Dank ihrer unterschiedlichen Dimensionierung und Ausstattung für Gruppenaktivitäten oder aber für Rückzug und Mittagsschlaf (fahrbare Betten verschwinden bei Bedarf unter einem Holzpodest) eignen. Die künstliche Beleuchtung zeigt sich beinahe wie zuhause: Strahler und Pendelleuchten vermitteln ein vertrautes Bild. Für die Ein- bis Dreijährigen sind als leichte Einbauten je ein Wickelraum und ein absturzsicheres Kletterobjekt integriert. In den Gruppenräumen sorgen zusätzlich zu den markanten Panoramafenstern mit ihren tiefen Sitzlaibungen weitere bei Tage von außen nicht wahrnehmbare Fenster für viel Tageslicht und unterschiedliche Ausblicke. Und obwohl diese hinter dem Textilgewebe liegen, ist die Durchsicht kaum eingeschränkt und dennoch für Beschattung gesorgt. Auch bei den Loggien, die als zusätzliche Außenräume dienen und über die eine Treppe zum Hof hinabführt, sorgt die leichte Hülle für eine ganz eigene Qualität: abgehoben und luftig jedoch sichtgeschützt und beschattet wird hier Wäsche getrocknet und gespielt. Bei Querlüftung über die großen geöffneten Schiebetüren scheinen selbst Geräusche und Luftbewegung angenehm gedämpft durch den textilen Schleier ins Innere vorzudringen.

Stahlbeton und Individualität

Um die Lasten der als Ganzes betrachtet nicht mehr allzu leichten Hülle aufzunehmen, ist eine kräftig dimensionierte Stahlkonstruktion nötig, die auch für Abstand zur konventionellen hellgrau gestrichenen WDVS-Putzfassade der Stahlbeton-Außenwände sorgt. Beispielhaft vorausschauend wurden einige der tragenden Wandscheiben auch als Träger ausgebildet, um so möglichst auf potenziell störende Stützen im Innern verzichten zu können und damit eine große Flexibilität der Räume zu gewährleisten:»Wer weiß, ob dieses Haus in 50 Jahren noch als Kita genutzt wird!«, so Stephan Eberding. Die ursprünglich favorisierte tragende Holzkonstruktion scheiterte am zeitlichen Aufwand für etliche nötige Einzelzulassungen der Bauteile – bedingt durch die ungewöhnliche Typologie einer viergeschossigen Kita. Energetisch strebte die Stadt Passivhaus-Standard an, machte dies aber nicht zur Auflage, sodass jetzt die relevante EnVe um ca. 30 % unterschritten wird.

Wie bei der Konstruktion gab es auch bei der Vergabe der Trägerschaft der Kita, späte Entscheidungen, insofern konnten sehr spezifische gestalterische Ansätze eines pädagogischen Konzepts in die Gestaltung des Gebäudes kaum einfließen. Umso erfreulicher zeigt sich der disziplinierte Umgang des beauftragten Kitabetreibers »educcare«, der sich aus einer privaten Elterninitiative in Köln zu einem bundesweit agierenden Unternehmen entwickelt hat, mit dem großen Gebäude: Die Belegung des Hofs mit Baum, Sonnensegel, Wasserspiel und Sandkasten erfolgt im Schichtbetrieb in geordnetem Abstieg der Kinder über die Außentreppe. Etliche Spielutensilien und Gefährte werden nach Gebrauch wieder aufgeräumt. Es herrscht ein freundlicher Umgangston auf Deutsch und Englisch (Bilingualität ist Teil des Erziehungskonzepts).

Gerade der eher nutzungsunspezifische Charakter der Räume kommt dem pädagogischen Ansatz des Trägers entgegen, die Individualität des Kindes wahrzunehmen und »die Interessen und Stärken des Kindes zu bilden«. So kleben Bilder und Bastelarbeiten der Kinder an vielen der Sichtbetonwände, ohne dass es der räumlichen Qualität abträglich wäre.

Das großzügige Raumangebot lässt die Einrichtung kleiner individueller Nischen zu, die auch immer wieder umgeräumt werden können. Zudem erlauben die Spielflure die Begegnung der unterschiedlichen Altersstufen, bei denen sich die Kinder gegenseitig fordern und helfen. Die neue Kita scheint bei Eltern, Erziehern und Kindern beliebt zu sein. So sind ein halbes Jahr nach Eröffnung alle sechs Gruppen bereits belegt.

Falls bis zur projektierten Fertigstellung des Stadtteils Flugfeld im Jahr 2031 der Bedarf einer weiteren Kindertagesstätte entstünde, würde man ihr eine ähnlich eigenständige und der Aufgabe dienende Architektur wünschen, wie die der »geerdeten Pusteblume«.

db, Mo., 2013.09.02



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db 2013|09 Bauen für Kinder

03. Juni 2013Martin Höchst
db

Inszenierte Tafelrunde

Der Name ist französisch, die Küche vietnamesisch, der Innenraum beinahe gänzlich schwarz: Das »Noir« im Stuttgarter Süden bricht mit gängigen Vorstellungen von Restaurantbesuchen und erfreut sich dennoch großen Zuspruchs. Das starke Raumkonzept bildet dabei den gelungenen Rahmen für eine Mischung aus asiatischer und europäischer Esskultur im urbanen Kontext.

Der Name ist französisch, die Küche vietnamesisch, der Innenraum beinahe gänzlich schwarz: Das »Noir« im Stuttgarter Süden bricht mit gängigen Vorstellungen von Restaurantbesuchen und erfreut sich dennoch großen Zuspruchs. Das starke Raumkonzept bildet dabei den gelungenen Rahmen für eine Mischung aus asiatischer und europäischer Esskultur im urbanen Kontext.

An warmen Abenden herrscht reges Treiben auf dem großen steinernen Marienplatz mitten im aufstrebenden Stuttgarter Süden. Durch Zentrumsnähe und gute Infrastruktur steigen auch hier im ehemals eher einfachen Viertel die Mieten z. T. erheblich. Viele Nutzer der Ladenflächen an den Hauptachsen mit dichter Blockrandbebauung haben gewechselt. Zunehmend beleben Restaurants und Bars mit Tischen im Freien Straßen und Plätze. So auch im EG eines ausgesprochen reich detaillierten und denkmalgerecht sanierten Gründerzeithauses zwischen zwei Straßen, die in spitzem Winkel in eine Ecke des Marienplatzes münden.

Schwarze Bierbänke, cremefarbene Sonnenschirme und eine auf ihre technische Substanz reduzierte und dadurch objekthafte Leuchtreklame an der Fassade weisen eher unauffällig auf das Restaurant »Noir« hin. Mit der – aus der vormaligen Nutzung als Verkaufsraum eines Optikers – erhalten gebliebenen Sonnenschutzverglasung vermitteln die großen Schaufenster aufgrund ihrer verminderten Transparenz einen scheinbar unbelebten Eindruck des Innenraums. Der Erhalt dieses optischen Filters ist jedoch vielmehr Ausdruck eines dem begrenzten Budget geschuldeten Kompromisses als eines Wunschs nach Abschirmung. Die geringe Außenwirkung kann dem Zulauf des Restaurants mit vietnamesischer Küche jedoch nichts anhaben, es läuft gut.

Exotische Kombination

Die Betreiber der Szenebar »Schocken« in der Stuttgarter Stadtmitte wollten ihre Vorliebe für asiatische Küche und ihr Faible für »Film Noir« in ein gastronomisches Konzept überführen. Nach zwei abgebrochenen Versuchen mit anderen Planern fand man mit den jungen Stuttgarter Architekten von raumspielkunst in Zusammenarbeit mit dem freien Architekten Florian Lachenmann eine gemeinsame Linie: Mitten im urbanen Treiben sollte ein reizreduzierter schwarzer Raum, der sich ganz bewusst zurücknimmt, das Essen selbst inszenieren. So sollte die Gestaltung nicht als beliebige Dekoration dienen, sondern vielmehr anhand starker Hell-Dunkel-Kontraste Speisen und Gäste in den Mittelpunkt rücken. Auch das limitierte Budget und die aufgrund des mehrfachen Planerwechsels knapp gewordene Realisierungszeit galt es zu berücksichtigen. Der effizient neu organisierte tortenstückförmige Grundriss des Bestands verschafft dem eintretenden Gast ganz selbstverständlich gute Orientierung. Die zentrale Verteilerfläche ist von einer goldfarbenen Bodenbeschichtung und Leuchten, die an Straßenlaternen erinnern, gekennzeichnet. Hier zwischen Gastraum und Theke sind auch ein kleiner Wartebereich und der Abgang zum UG mit Bar und Toiletten angesiedelt; schmale Fenster mit leuchtend roten Laibungen bieten einen diskreten Einblick in die Küche.

Sämtliche sonstigen Oberflächen zeigen sich ganz in Schwarz: Tresenblock Einbauschränke und die Decke wurden lackiert, die Wände z. T. über verbliebene Tapetenreste hinweg mit Innenraumfarbe gestrichen und matt versiegelt. Den Gastraum füllt vom Boden bis auf Sitzhöhe ein Podest, dessen Schichtholzkonstruktion in mehreren Arbeitsschritten mit einer weichen PU-Beschichtung einheitlich mattschwarz überzogen wurde. Durch die eingeschnittene Rampe, die vom Verteilerniveau zur schmalen Stirnseite des Gastraums hin auf Sitzebene ansteigt, und die sechs Sitzmulden, in denen die Tische aufgestellt sind, entsteht eine Art Sitzskulptur. Die größtenteils asymmetrisch zugeschnittenen Tischplatten, ebenfalls PU-beschichtet, scheinen darüber zu schweben.

Im selben Boot

Anstelle von Stühlen eine große Sitzskulptur in den Raum einzupassen, geht auf die Idee zurück, angesichts des begrenzten Raumangebots die Gäste in der großen gemeinsamen Sitzgelegenheit bei Bedarf leichter zusammenrücken lassen zu können. Dadurch, dass alle in der durchgängigen Sitzskulptur wie zu einer Bootspartie Platz nehmen, ergibt sich automatisch das Gefühl einer temporären, die Tischrunde vereinenden Gemeinschaft. Keine Reservierungen anzunehmen, ist Teil dieses Konzepts, und so finden sich häufig bunt zusammengewürfelte Tischgemeinschaften. Das für europäische Restaurants ungewöhnliche Einsteigen in die Sitzskulptur bietet sogleich einen ersten Anlass, mit den zufälligen Tischnachbarn ins Gespräch zu kommen. Der allein wartende Gast indes kann sich Kurzweil verschaffen, indem er durch die großen Fenster die Straßenszenen draußen betrachtet, ohne sich unangenehm exponiert zu fühlen. Von außen betrachtet ergibt sich abends aufgrund der punktuell nach unten gerichteten Beleuchtung ein eher ungewohnt rätselhaftes Bild eines Restaurants: Wie Fragmente eines Film noir leuchten einzelne Gesichter und Gegenstände im Dunkel des Raums auf. Viele Passanten jenseits der Sonnenschutzverglasung fühlen sich unbeobachtet, weil sie den Innenraum nur vermindert wahrnehmen, und verhalten sich entsprechend ungezwungen. Mit zunehmender Belegung des Restaurants gewinnt jedoch die Konzentration auf das Geschehen im Innern an Gewicht.

Die ursprüngliche Idee, sich stärker an den Gepflogenheiten in einigen asiatischen Ländern zu orientieren und zu diesem Zweck Schuhe aus dem Gastraum zu verbannen, wurde als unpraktikabel eingeschätzt und wieder verworfen. Die Lösung, bei der die Schuhe anbehalten werden können, trage der europäischen wie der asiatischen Esskultur Rechnung, so Architekt Fabrice Henninger von raumspielkunst. Darüber hinaus verschafft die ansteigende Rampe den schwarzgekleideten Service-Kräften die erhöhte Aufmerksamkeit der Gäste und lässt aus ihren Wegen kleine Auftritte werden.

In der radikal schwarzen Szenerie sorgen die Gäste und gut angerichtete vietnamesische Speisen auf sorgfältig ausgewählten Geschirrteilen für Farbe und rücken dadurch in den Fokus. Besonders bei abendlicher Beleuchtung der Tischflächen durch tiefhängende Halogenleuchten kommt das starke Bild der Tischgemeinschaft zum Tragen. Zu kontemplativ wird es aber dennoch nicht, da der Geräuschpegel bei voller Belegung auch wegen der vielen schallharten Oberflächen – trotz partieller textiler, schwarzer Wandbespannung – kaum gedämpft wird. Ein Ort der Ruhe im akustischen Sinne konnte also nicht entstehen, die Unaufgeregtheit der Einrichtung vermindert jedoch wohltuend die Reizflut.

Konzept statt Luxus

Die Genehmigung für die Umnutzung des Optikerladens zum asiatischen Restaurant in dem ansonsten mit Wohnungen belegten und unter Denkmalschutz stehenden Haus war an strenge Auflagen der Behörden gebunden. So wurde, um den Schallschutz zu verbessern, der bestehende Estrich von den flankierenden Wänden aufwendig entkoppelt und eine abgehängte Gipskartondecke mit besonders hoher Dichte eingebaut. Die Nachrüstung einer leistungsstarken Absauganlage für die Küchendünste, inklusive des Abluftrohrs, das in enger Abstimmung mit der Denkmalbehörde an der Hoffassade hochgeführt wurde, war ebenso nötig, wie der Austausch des Fensterelements an der Stirnseite, das nun im Brandfall als Notausstieg bereitsteht.

Angesichts der bereits hohen Kosten für die genehmigungsrelevanten Umbauten, konnte die Innengestaltung nicht mit edlen Materialien auftrumpfen oder hohen Verarbeitungsaufwand rechtfertigen. Farbe als Gestaltungselement, zumal in Schwarz, kam diesem Zweck da sehr entgegen. Und so ist es eher charmant als der Atmosphäre abträglich, wenn Tapetenreste überstrichen wurden oder die PU-Beschichtung hie und da eine Tropfnase hat. Auch die Sanitärräume verzichten auf Überflüssiges und zeigen weiße Sanitärkeramik vor schwarz gestrichenen Wänden. Das starke und schlüssige Konzept ist so konsequent umgesetzt und so auf die vorhandenen räumlichen Qualitäten zugeschnitten, dass eine perfektionistische Ausführung vielleicht schon zu einer gewissen Kälte geführt hätte. Zu den gemäßigten Preisen, dem freundlichen und unkomplizierten Personal und dem bunten städtischen Treiben vor der Tür passt es allemal. Dem Zeitgeist verpflichtetes Publikum aus vorwiegend gestalterischen Berufen mischt sich hier mit Personen, die beim Essengehen eine gewisse Lockerheit schätzen.

Der kleinen schummrigen Bar im UG haftet noch etwas Provisorisches an, da das wichtigste Gestaltungselement, eine plastische rote Deckenbekleidung bisher noch nicht verwirklicht wurde. Aber auch schon vor deren Vollendung macht das Noir Lust, bald wieder in die Sitzskulptur zu steigen und entspannt vietnamesisch zu essen.

db, Mo., 2013.06.03



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db 2013|06 Essen und Trinken

08. April 2013Martin Höchst
db

Stein, Hof und Dach

Am neuen zentralen Friedhof der Stadt Ingelheim gelingt es, das ortstypische Bild des Bruchsteinmauerwerks in eine schützende und erdverbundene aber gleichzeitig dem Leben zugewandte Architektur zu übersetzen. Die neue Aussegnungshalle setzt dabei ein Zeichen im banalen Umfeld, das sowohl Trauernden wie denjenigen, denen die eigene Vergänglichkeit noch unvorstellbar erscheint, Halt bietet.

Am neuen zentralen Friedhof der Stadt Ingelheim gelingt es, das ortstypische Bild des Bruchsteinmauerwerks in eine schützende und erdverbundene aber gleichzeitig dem Leben zugewandte Architektur zu übersetzen. Die neue Aussegnungshalle setzt dabei ein Zeichen im banalen Umfeld, das sowohl Trauernden wie denjenigen, denen die eigene Vergänglichkeit noch unvorstellbar erscheint, Halt bietet.

Die knapp 25 000 Einwohner von Ingelheim am Rhein im größten deutschen Weinbaugebiet »Rheinhessen« gelegen verteilen sich auf fünf Teilorte, von denen einige jahrhundertealte Ortskerne besitzen. In Nieder-Ingelheim sind gar die Überreste einer Kaiserpfalz Karls des Großen aus dem 8. Jahrhundert erhalten, deren Baumaterial ein ockerfarbener Kalkstein sich auch in etlichen Fassaden und Stützmauern der Gegend wiederfindet. Zwischen den alten Ortsteilen haben sich seit Ende des 19. Jahrhunderts sowohl der Bahnhof und das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim – größter Arbeitgeber der Stadt – als auch die etwas gesichtslos immer noch wachsende Mitte der Stadt angesiedelt.

Da nicht nur das bauliche Umfeld für die Lebenden Ingelheims, sondern auch deren künftige letzte Ruhestätte zusammenwachsen soll, beschloss die Stadt, die an ihren jeweiligen Standorten begrenzt erweiterungsfähigen Friedhöfe zusammenzufassen; nicht zuletzt, um auch den veränderten Bestattungsgewohnheiten Rechnung zu tragen. So sah 2008 das Programm des beschränkten interdisziplinären Wettbewerbs zur Erweiterung des Friedhofs der Teilgemeinde Frei-Weinheim zum zentralen Friedhof neben einem Friedhofsgebäude und konventionellen Erdbestattungsfeldern auch Urnennischenwände, anonyme Urnenerdbestattungen und sogar einen Baumhain für Urnenbestattungen (in Anlehnung an einen Friedwald) vor.

Verbindend und Verschränkt

Am Standort unweit des Rheins galt es, zwischen gesichtslosem Ortsrand auf der einen und der Landschaft auf der anderen Seite eine Verbindung zu schaffen. Der realisierte erste Bauabschnitt des erfolgreichen Entwurf von Bayer & Strobel Architekten aus Kaiserslautern und den Landschaftsarchitekten jbbug Johannes Böttger Büro Urbane Gestalt aus Köln zeigt sich als streng orthogonale Anlage. Aussegnungshalle, zentrale Grünfläche und erste Erdbestattungsfelder – begrenzt von Urnenwänden – ziehen dabei ihren besonderen Reiz aus Großzügigkeit und den verwendeten wertigen Materialien, ohne dabei die nötige Zweckmäßigkeit aus dem Auge zu verlieren. Inbegriff dieser Haltung sind die geschosshohen, mit Kalkbruchstein bekleideten Betonmauern am Eingang, die sowohl durch ihre handwerkliche Qualität als auch durch ihre schiere Dimension beeindrucken. Selbstverständlich und selbstbewusst verschränken sie Ort und Friedhof und kennzeichnen den Haupteingang. Vom Friedhof aus betrachtet blenden sie die Banalität von angrenzenden Einfamilienhaus- und Gewerbegebieten aus, werden entweder Teil der großzügigen Hofanlage des Friedhofsgebäudes oder dienen als schützender »Rücken« für Urnennischengräber.

Der Belag der neuen Wege aus Kalksteinsplitt führt die Materialität der Wände am Eingang zwischen Grabfeldern und Beeten ebenso konsequent fort wie neue Rampen und Stützmauern. In einem zweiten Bauabschnitt werden noch weitere Erdbestattungsfelder und – als Überleitung zu Landschaft und Rhein – ein Feld für Urnenbestattungen unter Bäumen realisiert. Universell lesbar

Von Weitem bereits sichtbar ist das geschlossene Volumen des 60° geneigten 9 m hohen Satteldachs der Aussegnungshalle über dem eingeschossigen quadratischen Mauergeviert (38 x 38 m) von Höfen und Nebenräumen. Die Giebelwände aus Bruchstein mit Betonabschluss und die graue Blechdeckung des Dachs werden im Laufe der Jahre in ihrer Farbigkeit immer weiter miteinander verschmelzen und so dazu beitragen, den archetypischen Charakter des Gebäudes – angesiedelt zwischen Gotteshaus und Scheune – zu stärken. Darüber hinaus erlaubt die Verzinnung der Kupferblechdeckung, das anfallende Regenwasser auch zur Friedhofsbewässerung zu nutzen. Einfache Geometrie und kräftige Proportionen vertragen sich ausgesprochen gut mit dem eher ländlichen Umfeld und verleihen dem Gebäude Stärke und Würde, Gebäudequalitäten, die insbesondere einen Trauernden stützen können.

Nur wenige Meter nach dem Haupteingang gibt eine der beiden wegbegleitenden Mauern einen Durchgang zum Besucherhof des Friedhofsgebäudes frei. Ein umlaufendes 1 m auskragendes Betonvordach rahmt den Blick zum Himmel und die aufragende Giebelwand der angrenzenden Aussegnungshalle. Die drei Felsenbirnen im Zentrum dieses Hofs illustrieren anhand ihrer deutlich veränderten jahreszeitlichen Erscheinung den steten Wechsel der Natur. Ein ursprünglich vorgesehenes Wasserbecken fiel bedauerlicherweise Einsparungsmaßnahmen zum Opfer. Der Bodenbelag aus grau-beigefarbenem Terrazzo setzt sich auch hinter der verglasten EG Fassade der Aussegnungshalle fort. Die Möglichkeit, in diesem großen und freundlichen Hof einer Trauerfeier als Zaungast beizuwohnen, werde häufig praktiziert, um z. B. als entfernter Bekannter des Verstorbenen dabei sein zu können, den nahen Angehörigen aber dennoch Raum zu lassen, so Architekt Gunther Bayer. Direkt vom Windfang aus ist der Abschiednahmeraum, in dem der Sarg oder die Urne für ca. 2-3 Stunden vor der Trauerfeier aufgestellt wird, für den Besucher erreichbar. Holzdielen an Boden und einer Wand sowie der Ausblick auf einen kleinen Hof mit niedriger Bepflanzung entlang einer Bruchsteinmauer verleihen diesem Raum für eine persönliche Verabschiedung einen intimen Charakter. Zur Trauerfeier werden Sarg oder Urne von hier durch die bereits versammelte Trauergemeinde hindurch zur Stirnseite der Aussegnungshalle gebracht. Diese wirkt nicht groß aber sehr großzügig: Drei Seiten des EGs sind geschosshoch in tiefen Eichenholzlaibungen verglast und lassen den Blick bis zu den ockerfarbenen Bruchsteinmauern der angrenzenden unterschiedlich bepflanzten Höfe schweifen. Allein die vordere komplett geschlossene Giebelwand zieht den Blick nach oben: Über der scheinbar nahtlos im Innern fortgeführten eingeschossigen Bruchsteinwand des Hofs füllt eine geschlämmte Ziegelwand mit geradezu samten anmutender Oberfläche das Giebeldreieck und leitet zur aufgehellten Holzlattendecke über, die in einem durchlaufenden Oberlicht mündet. Um den First über die gesamte Länge und auch die Wände im EG öffnen zu können, spannen die Brettschichtholzträger des Dachs von Giebel zu Giebel. So entsteht ein lichtdurchfluteter Raum, der seine schützenden Wände für den Trauernden nach außen gerückt hat, um ihm Weite und gleichzeitig Geborgenheit bieten zu können. Pendelleuchten und Eichenholzbänke zeigen sich schlicht und gediegen und bringen vertraute Dimensionen in die Abstraktheit des Raums. Und obwohl das ganze Gebäude bewusst keine eindeutige christliche Symbolik aufweist – das filigrane Standkreuz lässt sich bei Bedarf leicht entfernen – und somit konfessionslose oder andere religiöse Aneignung zulässt, ist sein durch christliche Traditionen geprägter Charakter zu spüren.

Austausch und Angemessenheit

Als sehr konstruktiv erlebten die Architekten in der Überarbeitungsphase des Wettbewerbsentwurfs den Austausch am sogenannten Runden Tisch sowohl mit Vertretern der verschiedenen Glaubensgemeinschaften und der Stadt als auch mit Bestattern und Friedhofsmitarbeitern. Konfessionelle Belange standen hier ebenso zur Debatte wie funktionale. So entschloss man sich z. B. den Werkhof aus dem Gebäude an eine weniger prominente aber dennoch zentrale Stelle des Geländes auszulagern, um mehr Abstellmöglichkeiten u.a. für Fahrzeuge und Grabschachtschalungen zu gewinnen.

Als sinnvoll befand man von Anfang an hingegen die Platzierung der dienenden Räume im Mauergeviert auf der vom Haupteingang abgewandten Seite. Sie ermöglicht Mitarbeitern, Seelsorgern und Bestattern über einen untergeordneten Zugang an ihren Arbeitsplatz zu gelangen oder Anlieferungen abzuwickeln, ohne eine versammelte Trauergemeinde zu stören. Die interne Erschließung der Sozial-, Verwaltungs- und Technikräume sowie des Raums für die gekühlte Lagerung der Leichname und der Urnen mündet außerdem an der Stirnseite der Aussegnungshalle und im Abschiednahmeraum. Eine Trauerfeier begleitende Arbeiten können so aus dem Hintergrund heraus sehr dezent erledigt werden. Für ungewöhnlichen Komfort sorgt eine Fußbodenheizung, die sich aus der zuvor ungenutzten Abwärme der benachbarten Abwasserpumpstation speist. Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Bauherrenvertreter der Qualität der Bruchsteinwände. Steinsorte und -größen sowie Kantenbeschaffenheit und Fugmaterial wurden anhand mehrerer Testmauerabschnitte ausgewählt. Letztlich kam ein gespaltener und danach getrommelter Kalkstein zur Ausführung, verfugt mit dem gleichen Mörtel, der auch bei der Konservierung der Ingelheimer Kaiserpfalz Verwendung findet. Die Mühe hat sich gelohnt. Und man kann es gut nachvollziehen, wenn Architekt Gunther Bayer sagt: »Die Leute haben ihr ganzes Leben diese Mauern vor Augen, dann findet das auch hier seine stimmige Fortsetzung.«

Diese regionale Besonderheit des Bruchsteins in einen universell lesbaren und gut organisierten Entwurf miteinzubeziehen und ihn mit zeitgemäßem hohem ästhetischen Anspruch konsequent umzusetzen, hat in Ingelheim wesentlich dazu beigetragen, einen angemessenen Ort der Trauer zu schaffen.

db, Mo., 2013.04.08



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db 2013|04 Trauer braucht Raum

05. Dezember 2012Martin Höchst
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Industriekultur

Dem zukunftsfähigen Potenzial der Maschinengebäude einer ehemaligen Zeche im ostbelgischen Genk haben die Architekten von 51N4E im Zuge einer Umnutzung und Erweiterung eine Gestalt gegeben. Wo früher mächtige Kompressoren und Generatoren ihren Dienst taten, finden heute Konferenzen, Konzerte und Ausstellungen in einem Rahmen statt, der im differenzierten Zusammenspiel von Alt und Neu überraschend und selbstverständlich zugleich ist.

Dem zukunftsfähigen Potenzial der Maschinengebäude einer ehemaligen Zeche im ostbelgischen Genk haben die Architekten von 51N4E im Zuge einer Umnutzung und Erweiterung eine Gestalt gegeben. Wo früher mächtige Kompressoren und Generatoren ihren Dienst taten, finden heute Konferenzen, Konzerte und Ausstellungen in einem Rahmen statt, der im differenzierten Zusammenspiel von Alt und Neu überraschend und selbstverständlich zugleich ist.

Auf der Fahrt durch die zersiedelte flämische Provinz Limburg ziehen Backsteinfassaden aller Art am Zugfenster vorbei – bei typisch belgischem trüben Wetter eine etwas düstere Sinfonie von Ziegelrot bis Anthrazit. Auch die gut 60 000 Einwohner zählende ehemalige Zechenstadt Genk, die erst vor rund 100 Jahren mit dem Beginn des Steinkohleabbaus entstand, strahlt nichts Pittoreskes aus. Im Umfeld des heruntergekommenen Bahnhofs fallen jedoch eine neue Stadtbibliothek, ein Hotel und eine Platzgestaltung, alle im Backsteinkleid, mit ambitionierter Architektur ins Auge. Man bemüht sich offensichtlich um das Erscheinungsbild der Stadt, die sich auch drei Jahrzehnte nach Schließung der Zechen noch im Wandel befindet.

Das Bewusstsein für das wichtigste bauliche Erbe von Genk, die stillgelegten Zechen und deren erhaltene Gebäude, war in der Stadt bereits früh vorhanden. Ein zukunftsträchtiges Nachnutzungkonzept zu entwickeln und umzusetzen, hat aber viele Jahre und großes Engagement gekostet und ist noch nicht abgeschlossen. Dennoch hat die Vermarktung der hiesigen Orte der Bergbaugeschichte zusammen mit dem landschaftlichen Reiz der Gegend bereits begonnen. Dreh- und Angelpunkt dieser Strategie bildet eine der Zechenanlagen im Stadtteil Winterslag mit erhaltenen Gebäuden aus der Zeit von 1912-25, die bereits 1988 schloss.

Kultur statt Kohle

Vom Stadtzentrum zur ehemaligen Steinkohlezeche weisen zwischen kleinteiligen Wohngebieten und Einfallstraßen zwei mächtige Stahlfachwerk-Fördertürme den Weg zum heute »C-Mine« (Kulturmine) genannten Zechenareal neben einer von der Natur zurückeroberten Abraumhalde. Anhand eines Masterplans ordnete die Stadt das Gelände neu und leistete erfolgreich Überzeugungsarbeit für den Standort. In Bestandsgebäuden werden heute u. a. ein Kino, ein Fitnessstudio und ein Restaurant betrieben, in einen Neubau hielt eine Medienakademie (MAD Faculty von Bogdan & Van Broeck Architects, 2009) Einzug. Die Umbauarbeiten eines weiteren Bestandsgebäudes zu einem Zentrum für Unternehmen im Kreativbereich sind derzeit noch im Gange. ›

Das denkmalgeschützte Maschinengebäude in der Mitte von C-Mine ist das kulturelle Herz der Anlage. Seine symmetrische Backsteinfassade bildet den prägnanten Abschluss eines weiten Platzes, auf dem die beiden Fördertürme ihre kolossale Höhe zur Geltung bringen können. Entsprechend großzügig haben die Brüsseler Architekten, die den eingeladenen Wettbewerb 2005 zur Umnutzung und Erweiterung des Maschinengebäudes für sich entscheiden konnten, den Eingang als einzig sichtbaren Eingriff an dieser Fassade angelegt: Über fünf nebeneinander gereihte Windfänge, die in einem anthrazitfarbenen gefalteten Metallkörper zusammengefasst sind, werden heute die Besucher förmlich eingesaugt, wie ehemals die Frischluft für die Kumpel unter Tage. Statt unter Tage findet sich der Besucher an der Stirnseite der Kompressorenhalle, die sich über eine Länge von über 70 m erstreckt und von der rechts und links Seitenflügel mit den Maschinenhallen für die Antriebe der Fördertürme abgehen. Um das geforderte umfangreiche Raumprogramm unterzubringen und die imposante Kompressorenhalle als zentrales Foyer nutzen zu können, schlugen die Architekten von 51N4E vor, den T-förmigen Bestand eingeschossig zu einem Geviert zu erweitern. Eine 5 m hohe rote Sichtbetonwand umschließt in den Fluchten des Bestands die beiden Ergänzungen des EGs, auf denen zurückversetzt je einem silbern schimmernder Quader thront. Die Wettbewerbsidee überzeugte die Entscheidungsträger und kann auch heute in der Umsetzung sowohl durch ihre Kompaktheit als auch durch die wohldosierte Mischung aus Anpassung und Abgrenzung zwischen Alt und Neu überzeugen.

Schummrig oder licht

Einen spannungsreichen Auftakt auf zwei Ebenen bietet dem Besucher die Kompressorenhalle mit Informationstheke, an der auch die Touristeninformation der Stadt Genk eine Dependance eingerichtet hat. Von hier werden sowohl zwei Veranstaltungssäle mit 487 bzw. 200 Zuschauersitzplätzen und eine Galerie in den Erweiterungsbauten als auch ein Designzentrum, ein Restaurant und eine Ausstellung zur Bergbaugeschichte in den Bestandsflügeln erschlossen. Zudem bietet sie sich als potenzielle Erweiterungsfläche für größere Veranstaltungen wie z.B. Kongresse an.

Die bestehende horizontale Teilung des Bestands in ein dunkles EG mit dicken Betonwänden und Fundamenten und ein OG mit lichten überhohen Räumen für die mächtigen Maschinen haben die Architekten nur im Eingangsbereich der Kompressorenhalle aufgelöst. Die marode Decke sei an dieser Stelle nicht zu retten gewesen und der Blick bis unters Dach nach dem Eintritt einfach zu beeindruckend, um den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, berichtet Projektarchitektin Aline Neirynck. Diese auf der Baustelle getroffene Entscheidung erweist sich heute als Glücksgriff: Die geweckte Neugierde auf den Raum darüber spornt die Besucher an, die eher kleinen Treppen im dunklen EG zwischen verbliebenen konservierten Maschinen und Leitungen zu finden und zu überwinden.

Übergangslos

Die »rohen« Qualitäten der Oberflächen und Materialien des Bestands im EG ziehen sich bis in die Erweiterungen. So breitet sich der neu eingebaute gewaschene Zementestrich, der, gleich einer Landschaft, Niveauunterschiede ausgleichend, bis in die Eingangszonen der neuen Veranstaltungsräume hinein aus. Dabei ist der Übergang vom Bestand zur Erweiterung kaum wahrnehmbar. Die Veranstaltungssäle selbst zeigen ganz nüchtern ihre Sichtbetonkonstruktionen und weisen ansonsten ausschließlich Oberflächenbeschichtungen und Textilien in Tönen von Grau bis Schwarz auf. So huldigen sie wohlproportioniert und technisch bestens gerüstet ganz ihrer flexiblen Bespielbarkeit. Während der kleinere der beiden Säle als komplette Blackbox ausgebildet ist und dank beweglicher Akustikpaneele für optimierte Klangerlebnisse sorgen kann, weist der große Saal eine andere Besonderheit auf. Anhand eines türhoch umlaufenden Kastenfensters und verschiedener Verdunklungs- Blendschutz- und Verschattungselemente bietet er die Möglichkeit, je nach Art der Veranstaltung Tageslichteinfall und Ausblick passgenau zu steuern.

Auch der weiße Galerieraum zeigt keinen Schmuck, der nicht funktional begründet wäre. Durch Oberlichter mit Tageslicht versorgt kann der schlanke Raum anhand schwenkbarer Wandelemente seine Hängefläche vervielfachen oder Exponaten ein angepasstes Raumvolumen bieten.

Im hellen OG, in dem die typische Pracht der Industriebauten vom Anfang des 20. Jahrhundert erlebbar ist, wird ebenfalls der Bodenbelag herangezogen, um eine Verbindung zwischen Alt und Neu und zusätzlich noch zwischen Innen und Außen zu schaffen: Das rot-beige Schachbrettmuster des ausgebesserten Fliesenbelags findet sich auch auf den Dächern der eingeschossigen Zubauten wieder. Darüber hinaus dienen diese großzügigen Terrassen bei gutem Wetter als Freiluftfoyers und sind sowohl von der Kompressorenhalle zugänglich als auch von den Veranstaltungssälen. Deren vermeintlich banale Bekleidung – geknicktes Aluminium-Blech am kleinen Saal und Systemkomponenten von Industrietoren, die auch der Beschattung dienen, am großen Saal – wirken anhand wohlüberlegter Proportionen und Detaillierung abstrakt und geradezu geadelt. Zusammen mit den mindestens schulterhohen dunklen Metallkästen der Oberlichter (u.a. für die Galerie) und den sanierten Backsteinfassaden des Bestands entsteht so eine etwas surreale aber anregende Atmosphäre. Hier wie im gesamten Gebäude ist erlebbar, dass die Architekten dem Bestand mit Aufmerksamkeit gegenübergetreten sind und – ebenso sorgfältig wie selbstbewusst – funktionierende Räume und poetische Bilder geschaffen haben.

Derart gelungene Schützenhilfe von Architektenseite bei der Schaffung von Standortqualitäten für die unausweichliche Dienstleistungsgesellschaft wie bei der »Kultur-Mine« wird sich die Stadt Genk hoffentlich weiterhin leisten. Gerade hat der Fordkonzern beschlossen, sein großes Werk in Genk 2014 zu schließen, was in der Stadt und bei den Zulieferbetrieben im Umland mehrere tausend Industriearbeitsplätze kosten wird.

db, Mi., 2012.12.05



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db 2012|12 Redaktionslieblinge

05. Dezember 2011Martin Höchst
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Geschützt, nicht geschlossen

Der Pavillon auf dem kleinen Friedhof, direkt am Zürichsee gelegen, schafft die Gratwanderung, sowohl ganz alltäglichen Anforderungen als auch der sensiblen Situation des Abschiednehmens von Verstorbenen mehr als gerecht zu werden. Trotz Kompaktheit finden Tod und Trauer hier einen fein austarierten und zeitgemäßen Rahmen.

Der Pavillon auf dem kleinen Friedhof, direkt am Zürichsee gelegen, schafft die Gratwanderung, sowohl ganz alltäglichen Anforderungen als auch der sensiblen Situation des Abschiednehmens von Verstorbenen mehr als gerecht zu werden. Trotz Kompaktheit finden Tod und Trauer hier einen fein austarierten und zeitgemäßen Rahmen.

Der ehemalige Winzerort Erlenbach hat sich zur begehrten und sehr teuren Wohnstätte vor den Toren Zürichs gewandelt. 15 S-Bahn-Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, am sonnenverwöhnten Ufer des Zürichsees, eroberten in den letzten Jahren zunehmend Wohngebiete die steil ansteigenden ehemaligen Weinhänge. Das eher dörfliche Zentrum des Orts wird durch die stark befahrene Hauptstraße durchtrennt. Zwischen ihr und dem herrlichen Seeufer liegt neben der reformierten Kirche auch der kleine Friedhof der mittlerweile knapp 6 000 Einwohner zählenden Gemeinde. Das neugotische Gotteshaus markiert den Haupteingang des konfessionslosen Friedhofs und schließt gleichzeitig die gepflegte Anlage nach Norden zwischen Seeufer und Seestraße ab. Mit reichlich Grün bestanden, staffeln sich die Gräberfelder bis zum befestigten Seeufer mit kleinem Bootshafen hinab. Als zurückgenommenes Pendant zur Kirche erstreckt sich seit 2010 ein neuer eingeschossiger Baukörper entlang der Grundstücksgrenze im Süden. Ein Wandsegment des abgerissenen Vorgängerbaus aus den frühen 70er Jahren entlang der Seestraße blieb erhalten und wurde in die vor Verkehrslärm und Blicken schützende Friedhofsmauer integriert. Da das vormalige Aufbahrungs- und Infrastrukturgebäude aus den frühen 70er Jahren stark renovierungsbedürftig war und funktionelle Mängel aufwies, schrieb die Gemeinde 2007 einen begrenzt offenen Wettbewerb mit sechs ausgewählten Zuladungen aus. Zu dem bis dahin zur Verfügung stehenden Raumprogramm – Infrastrukturräumen für Friedhofsbesucher, Gärtner und Bestatter und zwei Aufbahrungsräumen – kam eine weitere Nutzung hinzu: Ein Aufenthaltsraum soll es Trauernden ermöglichen, über längere Zeit in der Nähe ihrer Verstorbenen zu verweilen oder mit anderen Hinterbliebenen zusammen zu sein.

Ordnende Zurückhaltung

Das vorgeschlagene Konzept der Architekten Andreas Fuhrimann und Gabrielle Hächler aus Zürich überzeugte die Jury auch durch die Kompaktheit des Baukörpers und dessen sorgsame Setzung auf dem am Wasser gelegenen Friedhof. Ausrichtung und Proportion des 2010 fertiggestellten Gebäudes orientieren sich an der Struktur und Lage des Areals und unterstützten das Vorgefundene ordnend. So ist der Eingang zu den öffentlich frequentierten Räumen, der sich durch eine Nische an der westlichen Längsseite zu erkennen gibt, bereits vom gegenüberliegenden Friedhofs-Haupteingang zu sehen. Zur Seestraße und an der vom Friedhof abgewandten Seite liegen die Anlieferungen der Gärtner- und Bestatterräume, welche in einen Fußweg hinunter zum Seeufer münden. Spaziergänger, aber auch Badende, können so etwas abseits des Friedhofsgeschehens an den See und den kleinen Bootshafen gelangen. Knicke der Außenkante des realisierten langgestreckten Bauvolumens weiten den Blick auf den See oder verengen eine Anlieferung zu einem Weg.

Leichtbeton und farbiges Licht

Trotz gegensätzlicher Materialien strahlt das Gebäude Homogenität und Ruhe aus, was u. a. von der betonten horizontalen Schichtung herrührt. Zwischen dem hangaufwärts eingegrabenen Sockel und einem Flachdach mit ungewöhnlich hoher Attika, beides aus Sichtbeton, schließt ein raumhohes Band aus dunklem Glas die Seiten. An dreien von ihnen folgen unsichtbar gehaltene Scheiben unterschiedlicher Breite und Farbe bündig der parallelen Außenkante von Boden und Decke. An der Schmalseite zum See hin tritt die tragend wirkende Glasfassade knapp 5 m zurück. Deren vermeintlich statische Rolle – den Großteil der Lasten tragen die von außen nicht sichtbaren Innenwände – übernehmen zwei kräftige, ornamental perforierte Betonscheiben, die so einen geschützten Außenraum definieren. Das Zusammenspiel aus verunklärter Lastabtragung und skulpturaler Formensprache verleiht dem Gebäudeäußeren die abstrakte Wirkung eines würdevollen aber doch nahbaren Objekts. Um eine derartige Klarheit zu erzielen, entwickelten die Architekten die minimierten Fassadenanschlüsse des Gebäudes konsequent durch. Dank dieser Arbeit sieht man der Gebäudehülle die unterschiedlichen Anforderungen an Temperierung, Belüftung usw. dahinter nicht an. Auch der Einsatz des Betons ist deutlich differenzierter als der eher raue Eindruck vermuten lässt: Die Attika und Teile des Sockels wurden aus Leichtbeton, die perforierten Wandsegmente aus glasfaserverstärktem Beton gegossen.

Beim Betreten des Gebäudes umfängt den Nutzer, gleich ob Gärtner, Bestatter oder Trauernden, farbiges Licht. Betonoberflächen von tragenden Innenwänden und Böden sind je nach Raum in warme bis kühle Farben getaucht. Auch der Grad der Transparenz des Isolierglases variiert von durchlässig bis opak, und wurde auf das jeweilige Diskretionsbedürfnis der Räume abgestimmt. So ist es den Architekten gelungen, jedem Bereich eine angemessene Stimmung zu verleihen, die von hygienisch rein und abgeschlossen (Bestatter) bis wärmend mit Bezug zum See (Aufenthaltsbereich) reicht. Ungefärbtes zenitales Licht hingegen erhellt die beiden Aufbahrungsräume im Zentrum des Gebäudes. Dass deren Holzbekleidung von Dacheinschnitt über Wände bis hin zum Aufbahrungssockel wie aus einem Guss wirken, ist kein Zufall. »Der ausführende Tischler hat keine Mühe gescheut, einen geeigneten Walnussbaum in der Schweiz zu finden, um sämtliche edel gemaserten Oberflächen aus einem Stamm herstellen zu können«, so die Projektarchitektin Regula Zwicky. Neben dem wärmenden Charakter des Holzes sollen Nischen für persönliche Dinge des Aufgebahrten und Sitzbänke für die Besucher die Aneignung des Raums erleichtern. Bereits im Vorraum zeichnet sich die Besonderheit der Aufbahrungsräume als hölzerner Wandabschnitt mit bündiger Tür zwischen Sichtbeton ab. Die Abwärme aus der Entlüftung der beiden Räume kommt mittels Wärmepumpe der Fußbodenheizung zugute. Im angrenzenden Aufenthaltsraum, der dreiseitig verglast ist, treffen schließlich alle Gestaltungselemente und Materialien aufeinander: eine Wand, die Decke und die Küchenzeile in Holz, der Boden aus geschliffenem Beton, Gläser in warmen Farbtönen mit unterschiedlichen Transparenzen und der Freibereich mit Blick auf den See gerahmt von den expressiven Wandscheiben – geradezu opulent im Vergleich zu den anderen monofunktionalen Bereichen. Die Bandbreite der Gestaltungsmittel, so scheint es jedoch, steht stellvertretend für die komplexen Anforderungen an den Raum: Beim Auf- und Innehalten der Trauernden treffen unterschiedliche Bedürfnisse nach Ruhe, Schutz oder Geborgenheit aber auch nach Austausch und Neuorientierung aufeinander. Es scheint gelungen: Die Qualitäten des Gebäudes würden von den Nutzern nach anfänglicher Skepsis angenommen und geschätzt, so eine Friedhofsgärtnerin vor Ort. Mittlerweile halten immer wieder Erlenbacher ihre Trauerfeiern im kleinen Kreis auf der Terrasse des Pavillons am See ab, statt sich in den beiden großen Kirchen vor Ort etwas verlassen vorzukommen.

Nach Jahrzehnten des Vermeidens und Ausblendens entwickelt sich zunehmend ein Bewusstsein für die Wichtigkeit von Tod und Trauer in der Gesellschaft. Dieser Vervollständigung des Lebens gilt es konfessionsübergreifend gültige, sinnliche und ästhetisch angemessene Räume zu bieten. In Erlenbach auf dem Friedhof am See wurde das wegweisend umgesetzt

db, Mo., 2011.12.05



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db 2011|12 Redaktionslieblinge

04. Oktober 2011Martin Höchst
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Schattiger Schaulauf

Der Versuch, einen zentralen Platz mitten im Herzen Sevillas durch eine aufsehenerregende bauliche Intervention zu neuem Leben zu erwecken, ist gelungen. Architekten und Ingenieure haben in enger Zusammenarbeit ein innovatives, wenngleich umstrittenes Wahrzeichen für die Stadt geschaffen, das nur dank technischer Neuentwicklungen bei den ingenieurbaumäßigen Verbindungsdetails der Holzkonstruktion verwirklicht werden konnte.

Der Versuch, einen zentralen Platz mitten im Herzen Sevillas durch eine aufsehenerregende bauliche Intervention zu neuem Leben zu erwecken, ist gelungen. Architekten und Ingenieure haben in enger Zusammenarbeit ein innovatives, wenngleich umstrittenes Wahrzeichen für die Stadt geschaffen, das nur dank technischer Neuentwicklungen bei den ingenieurbaumäßigen Verbindungsdetails der Holzkonstruktion verwirklicht werden konnte.

Biegt man mitten im Gewimmel der schmalen Gassen der Altstadt Sevillas um eine Ecke, kann es passieren, dass man seinen Augen nicht recht traut: Ein Gebilde schwingt sich einige Stockwerke über Straßenniveau ins Blickfeld, frei geformt und streng gerastert zugleich, voluminös und doch aufgelöst, in einer Farbigkeit, die zwar an Holz erinnert, dafür aber zu hell und homogen erscheint. Die mächtige Skulptur thront auf der weitläufigen Plaza de la Encarnación haushoch über den Köpfen der Passanten als eine Art ausschwingende Pergola, die, sich zu sechs kräftigen Stielen verjüngend, den Kontakt zur Erde hält. Das Bauwerk entzieht sich einer einfachen Deutung oder gar einer typologischen Einordnung und möchte – so scheint es – bestaunt, erforscht und in Besitz genommen werden. Passanten halten inne und wenden den Blick nach oben, um die Dimension des Gebäudes abzuschätzen. Oder sie lassen sich auf den Treppen nieder, die das Straßenniveau mit dem erhöhten Platz für Freiluftveranstaltungen verbindet, und beobachten die Wege anderer Besucher, die sich im Schatten dieses baulichen Großereignisses bewegen. Touristengruppen blicken durch amorph geformte Öffnungen im Boden auf die römischen Ausgrabungen im UG, bevor sie über eine Rampe dorthin abtauchen – entweder, um das archäologische Museum zu besuchen oder den Lift zu besteigen. Dieser bringt sie in einem der Stiele ganz nach oben auf die Beschattungskonstruktion zum »Skywalk« mit angeschlossenem Panoramarestaurant. Eiligere steuern die auf Straßenniveau gelegene Passage an, um von dort in die Markthalle zum Einkauf abzubiegen oder geradeaus weiter die fußläufige Nord-Süd-Verbindung durch das »Gebäude« hindurch zu nutzen. Die Überlagerung der verschiedenen Funktionen sorgt für eine stete Belebung und ermöglicht so die Begegnung von Menschen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen hier einfinden. Was könnte einem zentralen Platz in einer Stadt, in der das Leben draußen stattfindet, Besseres widerfahren?

Geduld und grosse Geste

Die vormalige auf der Plaza de la Encarnación errichtete Markthalle von 1842 wich schrittweise bis 1973 einem gigantischen Parkplatz. In den 80er Jahren schließlich wollte sich die Stadt dieses Makels im Herzen der Altstadt entledigen und projektierte einen adäquaten Ersatz für die von den Anwohnern vermisste alte Markthalle, ergänzt um eine Tiefgarage. Die dafür ausgehobene Baugrube offenbarte jedoch Reste römischer Grundmauern. Der prompt erfolgte Baustopp währte 15 Jahre, in denen Archäologen die Funde freilegten und dokumentierten. So klaffte also weiterhin eine Lücke mitten in Sevilla – nur eben rund 5 m tiefer. Erst 2003 unternahm die Stadt den erneuten Versuch, der unbefriedigenden Situation Herr zu werden und schrieb einen Wettbewerb aus: Neben einer Markthalle sollte nun auch ein Witterungsschutz der Ausgrabungen und eine (dem andalusischen Sommer durch Verschattung trotzende) Veranstaltungsfläche entstehen. Mit dem von J. Mayer H. verfassten Entwurf »Metropol Parasol«, dessen Bezeichnung sich ebenso wie die Formen seiner überdimensionalen »Sonnenschirme« einprägte, entschied sich die Jury für den spektakulärsten Vorschlag.

Wettbewerb und Wirklichkeit

Um eine optische Teilung des Platzes durch das Volumen der Markthalle im EG zu vermeiden, sah das kostspielige aber schlüssige Wettbewerbskonzept vor, die Oberflächen der beiden Platzniveaus zu verschmelzen. Der Straßenbelag aus grauem Granit zieht sich daher über Treppenanlagen und Rampen 5 m hinauf auf die Decke des EGs und geht in die ebene Veranstaltungsfläche über. Die darüber hinaus geplante Einbindung von Pflanztrögen, Sitzgelegenheiten und Wasserbecken in die Platzoberfläche fiel leider weitgehend dem Rotstift zum Opfer und wirkt daher teilweise recht banal. Die realisierten »Parasoles« – sie heißen bei den Sevillanos mittlerweile »Setas« also Pilze – weichen in Form und Dimension nur wenig von den Wettbewerbsplänen ab. Gebaut wurden sie jedoch nicht als mit perforiertem Blech bekleidetes Stahltraggerüst, wie es das unter Zeitdruck entstandene Wettbewerbskonzept vorsah und was Jürgen Mayer H. bald nicht mehr adäquat schien für die unkonventionelle Formgebung. Die Skulptur sollte konstruktiv homogener werden, und so untersuchten die Architekten zusammen mit den Ingenieuren von ARUP mögliche Alternativen. Nach doppelt gekrümmten zweischaligen Stahlmembranen und Studien zu Generierungsprozessen von Strukturen, die auf Schäumen basieren, fiel die Entscheidung u. a. aus Gewichts- und Kostengründen auf eine Struktur dünner vertikal angeordneter Scheiben aus polyurethanbeschichteten Schälfurnierschichtplatten. Diese Materialwahl trägt jetzt ganz entscheidend zur außergewöhnlichen Wirkung des »Riesenbaldachins« bei. Dem zuwider läuft allerdings, dass aufgrund erhöhter Brandschutzauflagen zwei der Stiele, in denen sich auch die Aufzüge bewegen, in Stahlbeton und die sie verbindende Plattform für das Panoramarestaurant als Stahl-Beton-Verbundkonstruktion ausgeführt wurden. Hier dient die vorgehängte Holzstruktur nur als Bekleidung. Auf ausdrücklichen Wunsch der Bauherren erweiterten die Architekten die in einem der Pilze integrierte Aussichtsplattform zum Panoramarestaurant mit Rundweg auf der Holzkonstruktion. Es besteht kein Zweifel, dass der beeindruckende auf- und abschwingende stählerne Skywalk »auf dem Dach der Stadt« zwischen 20 und 28 m über Straßenniveau zum festen Programmpunkt jedes Sevillabesuchs wird. Gleichzeitig jedoch bedingt diese Nutzungserweiterung auch Abstriche bei der Reinheit der Konstruktion und somit der Abstraktheit der Verschattungsskulptur.

Ideen, Versuche, Lösungen

Um das auch anhand von Schattenstudien entworfene geometrisch komplexe Volumen der »Setas« zu realisieren, bediente sich das Planerteam eines Rasters von 1,50 x 1,50 m. Die gewählte orthogonale Anordnung der Scheiben – statt einer um die Stämme radialen mit besseren Eigenschaften bei der Lastabtragung – bot die Möglichkeit, aufgrund der einfacheren Geometrie die nötigen Verbindungselemente zu standardisieren. Um unterschiedliche Lastbeanspruchungen berücksichtigen zu können und transportierbare Abmessungen zu gewährleisten, wurden die Scheiben wiederum in Abschnitte unterteilt und in einem digitalen 3D-Modell dokumentiert. Auf dieser Grundlage erfolgte die weitere Entwicklung des Tragwerks bis schließlich das ausführende Holzbauunternehmen insgesamt 3 600 unterschiedliche Holzteile per CNC-gesteuertem Abbundroboter herstellen konnte.

Da die offene Holzkonstruktion der Witterung ausgesetzt ist, besannen sich J. Mayer H. Architekten auf ein anderes ihrer Projekte: Bei der Mensa in Karlsruhe bediente man sich bereits einer 2-3 mm dicken, rissüberbrückenden und diffusionsoffenen Polyurethan-2K-Spritzbeschichtung als Holzschutz. Statt eines grünen wurde in Sevilla ein sandfarbener Ton verwendet, der sich auch in der Spezialbeschichtung der meisten sichtbaren Stahlverbindungsteile wiederfindet. Zusammen mit den Ingenieuren von Arup erarbeiteten die Holzbauer die Kopplungsdetails der Holzscheiben, die im Baukastenprinzip in über 2 700 verschiedenen Anschlüssen einsetzbar waren (s. Detailbogen, S. 94). Da sich die Befestigung der Momentanschlüsse mittels eingeklebter Gewindestangen an den Stirnseiten der Scheiben als zu hitzeunbeständig für die andalusischen Sommertemperaturen erwies, entwickelte man ein Verfahren zur Verbesserung der Eigenschaften des eingesetzten Epoxydharzes: Nach der sogenannten Temperung, bei der das Bauteil samt verklebtem Anschlussteil langsam auf 55 °C erwärmt wird, konnte eine weitergehende Vernetzung der Klebermoleküle und damit eine auf 80 °C erhöhte Temperaturbeständigkeit nachgewiesen werden. Ringförmig um die Stiele angeordnete Stahldiagonalen bewirken ein Tragverhalten ähnlich dem einer Schale und sorgen so für die Aussteifung der Schirme.

Um die Standsicherheit der gesamten Konstruktion nachzuweisen, mussten die einzelnen Bauteile und Verbindungselemente in einem Gesamtrechenmodell zusammengeführt werden. Darin wurden die Bauteilbreiten und -gewichte schrittweise bis zu ihren endgültigen Abmessungen angepasst. Diese sehr arbeitsintensive aber aufgrund der Komplexität des Projekts unumgängliche iterative Planung erforderte den steten Austausch der aktualisierten Daten und eine kooperative und zuverlässige Zusammenarbeit zwischen Arup, Finnforest und J. Mayer H..

Die mehr als selbstbewusste Geste, mit der »Metropol Parasol« im städtischen Gefüge auftritt, scheint übertrieben zu sein, aber die Rechnung der verantwortlichen Politiker, Sevillas historische um eine zeitgenössische Architekturattraktion zu erweitern, ist aufgegangen – wenn auch für sehr viel Geld, das die Stadt nicht hat. Ungeachtet dessen wich die Skepsis der Sevillanos gegenüber dem teuren Fremdkörper in ihrer Altstadt mit der Einweihung im März einem gewissen Stolz auf ihre Pilze. Die Umsetzung der Idee einer »urbanen Kathedrale« (Jürgen Mayer H.) ist gelungen: Der verschwenderisch großzügig überwölbte Raum mitten in Sevilla bildet tags wie nachts eine einzigartige Bühne für das städtische Treiben.

db, Di., 2011.10.04



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db 2011|10 Herausforderung Tragwerk

01. Dezember 2010Martin Höchst
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Unauffällig besonders

Städte verändern sich mit den Anforderungen, die die Gesellschaft an sie stellt. Auch die Bausteine, aus denen sie sich zusammensetzen, sind diesem Wandel unterworfen. Bei Sanierung und Erweiterung von zwei Stadthäusern in Zürich gelang es, auf ästhetisch hohem Niveau den Bestand zukunftsfähig zu machen und neuen urbanen Wohnraum zu schaffen.

Städte verändern sich mit den Anforderungen, die die Gesellschaft an sie stellt. Auch die Bausteine, aus denen sie sich zusammensetzen, sind diesem Wandel unterworfen. Bei Sanierung und Erweiterung von zwei Stadthäusern in Zürich gelang es, auf ästhetisch hohem Niveau den Bestand zukunftsfähig zu machen und neuen urbanen Wohnraum zu schaffen.

»Eigentlich ist es fast unmöglich, als Privatmann in der Züricher Innenstadt Baugrund zu erwerben,« berichtet der Designer Frédéric Dedelley. Er ist einer der vier befreundeten Bauherren, die ihre Idee vom gemeinsamen Wohnen trotz Widrigkeiten verwirklicht haben. Fündig wurden sie schließlich im Selnauquartier, einer klassischen Stadterweiterung des 19. Jahrhunderts jenseits einer ehemaligen Stadtbefestigung westlich des historischen Zentrums. In nur je einer viertel Stunde erreicht man zu Fuß den Hauptbahnhof und das Ufer des Zürichsees. Diese zentrale Lage entsprach ganz dem Wunsch der Bauherren nach kurzen Wegen. Hier konnten sie zwei aneinandergrenzende Häuser eines Blockrands per Erbbaurecht für 61 Jahre übernehmen und ließen sie von PARK umbauen, miteinander verbinden und um zwei Geschosse erhöhen. Der Wegfall der Grundstückskosten ermöglichte die nötigen Investitionen für Umbau und Erweiterung. Die beiden in die Jahre gekommenen Häuser an der Ecke der kleinmaßstäblichen von Wohnen geprägten Gerechtigkeitsgasse und der stark befahrenen Selnaustraße bargen Potential aber auch Risiken. So stammt das ehemals dreigeschossige Eckgebäude von Ferdinand Stadler, einem der bedeutendsten historistischen Architekten der Schweiz. Darüber hinaus prüft in der Kernzone Zürichs ein städtisches Denkmalschutzgremium jede geplante Baumaßnahme auf ihre Verträglichkeit mit dem Stadtbild.

Dieser sensiblen Situation nicht gewachsen, fiel ein erster Entwurf anderer Planer bei der Baubehörde durch, da sich die vorgesehene Aufstockung stark vom Bestand absetzen sollte. Die daraufhin beauftragten Architekten von PARK, schlugen vor, »die beiden Bestandshäuser zusammen mit der Aufstockung zu einer Einheit zu verschmelzen, die sich ruhig und selbstverständlich in die Blockrandbebauung einfügt,« so der Architekt Peter Althaus.

Verbinden statt Trennen

Der neue Maßstab des Gebäudevolumens fügt sich geradezu unauffällig in den Blockrand an der Selnaustraße ein. Die neue Traufhöhe resultiert aus der des Nachbarhauses aus den 50er Jahren und bildet so einen durchgängigen Abschluss des Straßenraums. Dieser weitet sich an der Gerechtigkeitsgasse um den Vorplatz des ehemaligen Bezirksgerichtsgebäudes, in dem heute verschiedene soziale Einrichtungen untergebracht sind. Derart exponiert und anderthalb Geschosse höher als das anschließende Wohngebäude in der Gerechtigkeitsgasse setzt der Bau eine Marke an der Straßenecke.

Das neue in Anlehnung an benachbarte historische Schieferdächer mit glatten Faserzementschindeln gedeckte Dach tritt oberhalb der Traufe nur dezent in Erscheinung. An der Fassade sind die Unterschiede zwischen Bestand und Erweiterung, zwischen Erhalt und Eingriff so subtil gestaltet, dass es einige Zeit dauert, bis man sie entdeckt, falls überhaupt. Dieser gezielten Verunklärung ging eine aufmerksame Analyse des Gestaltungsvokabulars › › der Fassaden im Quartier voraus. Die erhaltenswerten Fensterlaibungen, Sockel und Gesimse der unteren drei Geschosse und der Balkon im 1. OG bilden in Anordnung, Proportion und Ausführung als gestaltbestimmende Fassadenelemente die Grundlage für die der Aufstockung. Die neuen Fassadenelemente wurden schlichter ausgeführt als ihre Vorbilder und derart ausgewogen platziert, dass die Grenze zum Bestand verschwimmt. Auch die eingesetzten Farben (s. S. 53) vermitteln zwischen unten und oben, rechts und links. So taucht das Grau des erhaltenen Natursteins der Fensterlaibungen in denen der Aufstockung wieder auf. Die Grenze zwischen Braun und Weiß an der Fassade in der Gerechtigkeitsgasse endet nicht am Stoß von Alt und Neu, was nur bei näherem Hinsehen an den unterschiedlichen Putzqualitäten zu erkennen ist. Vielmehr markiert die Farbe exakt die ehemalige Traufhöhe und legt so eine Spur zur Geschichte des Gebäudes. Die exponierte Ecksituation wird durch die Umkehrung der Farbanordnung und die versetzte Teilung zur Selnaustraße hin dynamisiert. Während sich die Fassade hier nach dem Umbau ohne Fensterläden zeigt, sind diese an der Gerechtigkeitsgasse nur noch einseitig doppelflüglig angebracht, was den vertikaleren Charakter des neuen Volumens betont.

Ein Treppenhaus weniger

Der Hauptzugang für die zusammengeschlossenen zwei Häuser erfolgt heute auf expliziten Wunsch der Bauherren von der verkehrsärmeren Gerechtigkeitsgasse aus. Die Flächen des überflüssig gewordenen zweiten Treppenhauses wurden den angrenzenden Wohnungen zugeschlagen. Im EG finden die Arbeitsräume zweier Bauherren, ein Antiquariat und ein Designstudio, ihren Platz. In den Grundrissen der Bestandswohnungen auf den folgenden zwei Etagen wichen nichttragende Wände einer offeneren Gestaltung. Der dritte und vierte Stock sowie das Dach sind schon aus Gewichtsgründen in Holzrahmenbauweise errichtet. Trotzdem mussten die Fundamente ertüchtigt und die Mauerkrone der verbliebenen Außenwände mit einem Betonkranz versehen werden, was unerwartete Zusatzkosten verursachte. Neben einer der insgesamt fünf zur Finanzierung des Projekts verkauften Eigentumswohnungen befinden sich hier oben die zwei sehr großzügigen, aber unterschiedlich organisierten Wohnungen der Bauherren.

Die sogenannte Platzwohnung im 4. Stock gewährt Ausblicke auf den städtischen Vorplatz des Gerichtsgebäudes. Sie öffnet sich weit, wie das Innere eines weitläufigen hellen Zelts bis unter das mehrfachgeknickte Dach.

Angenehm gegliedert wird der Wohnraum durch einen Höhenversatz des Bodens. Aus der zweigeschossigen Wohnhalle der »Parkwohnung« sieht man über die Selnaustraße hinweg durch Baumwipfel bis zur Parkanlage des ehemaligen botanischen Gartens. Die interne exakt gearbeitete Treppe aus glasfaserverstärktem Kunststoff reiht sich inzwischen als weiteres Objekt in die moderne Einrichtung der Bewohner ein.

Die zurückhaltende Art des Materialeinsatzes des Äußeren wird konsequent im Inneren weitergeführt. Die Böden sind durchgängig als sichtbarbelassener Anhydritestrich (s. S. 53) ausgeführt. Geschliffen und geölt, nimmt er in den Wohnungen auch die Fußbodenheizung auf. Die Behandlung der inneren Wandoberflächen folgt der gleichen Logik: Schichtholzplatten sind weiß lasiert, Hochlochziegel geschlämmt. Kautschukbelag (s. S. 53), Geländer und Wangen der hölzernen Bestandstreppe in Hellgrau übernehmen die Farbe der ergänzten Sichtbetontreppe der Aufstockung. So fasst zwar die Farbe die Funktion der Bauteile zusammen, verweist aber gleichzeitig auf Bauart und Entstehungszeit. Was der Planer Peter Althaus als Ergebnis der »direkten Architektur« bezeichnet rührt auch daher, dass die Baumaßnahmen kostengünstig ausfallen mussten. Bauherren und Planer kamen überein, auf alles zu ver-zichten, was nicht zwingend für Entwurfskonzept und Nutzeranforderungen nötig war. Umso mehr Gewicht legten sie auf die Fortschreibung der Bestandsstruktur und eine durchdachte Detaillierung mit scheinbar konventionellen Materialien, was sich sichtbar gelohnt hat. So erhielt der Bestand zwar neue isolierverglaste Holzfenster, zugunsten der Gestalt der Fassade verzichtete man jedoch auf die Dämmung der Mauern. Dennoch hält das Gebäude in der Gesamtbilanz dank zeitgemäßer Heizungsanlage und guter Dämmwerte der Aufstockung die gesetzlichen Vorgaben ein.

Dieser Umgang mit Bestand und Erweiterung, bei dem alles ganz selbstverständlich ineinander greift, findet seinen gelungenen Abschluss im Dachgeschoss: Wenn sich die Aufzugstür öffnet, tritt man direkt auf eine beeindruckend große Dachterrasse mit Aussicht auf die Glarner Alpen hinaus. Dieser Freisitz, der der ganzen Hausgemeinschaft zur Verfügung steht, ist vom eingeschnittenen Dach, wie von einem Wall gegen den Straßenlärm geschützt. Das ebenfalls hier oben untergebrachte kleine Appartement für übernachtende Freunde des Hauses »sei ständig belegt«, ein Umstand, der einen nicht sehr überrascht.

db, Mi., 2010.12.01



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