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07. Dezember 2021Ulrike Kunkel
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Das Gedächtnis der Stadt

Mehr als zwölf Jahre nach dem Einsturz des Historischen Archivs konnte in Köln der Neubau bezogen werden. Den Architekten ist es gelungen, ideale Bedingungen nicht nur für die Archivalien, sondern auch für die Mitarbeitenden zu schaffen. Und auch der neue Standort macht deutlich: Das Archiv ist ein Ort, der sich zur Stadtgesellschaft öffnet.

Mehr als zwölf Jahre nach dem Einsturz des Historischen Archivs konnte in Köln der Neubau bezogen werden. Den Architekten ist es gelungen, ideale Bedingungen nicht nur für die Archivalien, sondern auch für die Mitarbeitenden zu schaffen. Und auch der neue Standort macht deutlich: Das Archiv ist ein Ort, der sich zur Stadtgesellschaft öffnet.

Der 3. März 2009 gilt als der Tag eines des größten kulturellen Desasters Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg: Das Historische Archiv der Stadt Köln stürzte ein und versank in der offenen Baugrube der Nord-Süd-U-Bahn. Zwei Menschen starben, 30 Regalkilometer Akten wurden im Grundwasser verschüttet. Dank einer sofort einsetzenden Rettungsaktion gelang es, 95 % der Archivalien zu bergen, zum großen Teil gefrierzutrocknen und auf diverse auswärtige Depots, sogenannte Asylarchive, zu verteilen. Die Restaurierung der Bestände, so die derzeitige Prognose, wird bis zum Jahr 2060 andauern. Die Herausforderung für die Archivarinnen und Archivare besteht aber nicht nur in der physischen Wiederherstellung der Akten, sondern auch in deren Zuordnung. Denn auch die Archivstruktur wurde komplett zerstört, sodass eine klassische Systematik nicht mehr existiert und einzelne Objekte nur bedingt Beständen zugewiesen werden können. Auch wenn die beteiligten Baufirmen inzwischen zu einer Zahlung von 660 Mio. Euro verpflichtet wurden – der gesamte materielle Schaden wird auf 1,3 Mrd. beziffert.

Fahrlässigkeit, Pfusch am Bau, Kölscher Klüngel: Darüber ist hier nicht zu urteilen. Zu konstatieren indes bleibt, dass das historische Gedächtnis der Stadt, das selbst die Zerstörung Kölns im Zweiten Weltkrieg unbeschadet überdauert hat, für mehr als eine Generation von Forschern und Nutzern kaum ernsthaft konsultierbar ist. Angesichts dieser Ausgangslage mag es zynisch anmuten, der Katastrophe auch positive Aspekte abzugewinnen. Und doch, der Neubau des Archivs, das Anfang September 2021 eröffnet wurde, ist schlicht erfreulich. Und ein Gewinn für die Stadt, auch wenn seit dem Wettbewerb 2011 zehn Jahre vergangen sind. Immerhin sind mit 90 Mio. Euro die Kosten im Rahmen geblieben.

Wirkte die in die Severinstraße eingebundene Granitfassade des Bestandsgebäudes mit ihren spärlichen Lichtschlitzen hermetisch und abweisend, so gibt sich der 3 km entfernte Neubau dezidiert als öffentliches Gebäude zu erkennen. Darin bildet sich einerseits das veränderte Selbstverständnis von Archiven ab, die sich nicht zuletzt aus Gründen politischer Legitimation weniger als Verwahrinstitutionen denn als Serviceeinrichtung für Forschende, aber auch für die interessierte Bevölkerung verstehen, andererseits wäre es ohne die Vorgeschichte der Katastrophe wohl kaum zu einem solchen Bau an diesem Ort gekommen: In Hannover beispielsweise hat man sich unlängst dazu entschieden, das Stadtarchiv zusammen mit diversen Museumsdepots an einem unwirtlichen Ort in Stadtrandlage durch Investoren erstellen zu lassen und dann zu mieten. Eine solche Lösung wäre in Köln nicht in Frage gekommen. Der Standort ist attraktiv – der Neubau steht dort, wo die nach Südwesten führende Luxemburger Straße, eine der für Köln typischen ins Umland ausstrahlenden Radialachsen, den Inneren Grüngürtel begrenzt. Während die Straße Eifelwall mit ihrer Wohnbebauung die gründerzeitliche Stadtkante darstellt, ist das Archiv nicht als direktes Gegenüber, sondern eher als Solitär im Park konzipiert, ähnlich wie die verschiedenen Institute der nahen Universität weiter im Norden. Der Bau eines die Achse fortsetzenden Studierendenwohnheims im Süden ist bisher unterblieben, sodass der solitäre Charakter des Neubaus stärker in Erscheinung tritt als ursprünglich geplant.

Hülle und Kern

Die Darmstädter Architekten Waechter + Waechter konnten die Jury mit dem stringenten Konzept einer vierseitigen orthogonalen Mantelbebauung überzeugen, die ein zentrales Schatzhaus umgibt, das eigentliche Magazingebäude. Zur Zeit des Wettbewerbs bestand die Idee, im Neubau drei Institutionen zusammenzufassen: das Historische Archiv selbst, das Rheinische Bildarchiv und die Kunst- und Museumsbibliothek, die auf zwei Standorte, das Museum Ludwig und das Museum für Angewandte Kunst aufgeteilt ist. Aus Kostengründen fiel 2003 die Entscheidung, die Bibliothek an diesen Standorten zu belassen. Somit wird der Neubau von Historischem Archiv der Stadt Köln und Rheinischem Bildarchiv genutzt, die verwaltungstechnisch und institutionell eigenständig bleiben, aber die Räume mit Besucherverkehr wie Lesesaal, Auditorium und Ausstellungsbereich gemeinsam nutzen. Eine modulare Metallfassade mit tiefen Rippen, die als Brise-Soleils dienen, vereinheitlicht umlaufend den 126 langen und 45 m breiten dreigeschossigen Baukörper. Zur Stadt hin verhält sich das Gebäude nicht anders als zum Park, was seine Eigenständigkeit unterstreicht. Je nach Perspektive zeigt es sich offen oder geschlossen; lediglich die Erdgeschosszone der nordwestlichen Stirnseite ist komplett verglast. Hier, zum neu entstandenen Vorplatz hin orientiert, findet sich der Eingang für die Nutzerinnen und Nutzer, die in ein überaus helles und freundliches zweigeschossiges Foyer eintreten. Die dunkle Metalloptik des Äußeren weicht dem hellen Farbton weiß geölten Douglasienholzes, das die öffentlichen Bereiche prägt: Ausstellungsraum und Vortragssaal im EG sowie den großzügigen Lesesaal, den man über eine Treppe erreicht und der die gesamte Gebäudebreite im 1. OG in Anspruch nimmt. Zur freundlichen und hellen Atmosphäre trägt der Ausblick in den vorderen Innenhof bei, der rückwärtig durch den geschlossenen, mit aufgefalteter Baubronze bekleideten Magazinbaukörper begrenzt wird. Ein weiterer, schmalerer Innenhof befindet sich dahinter, sodass das Magazin zu zwei Seiten hin wirkungsvoll in Erscheinung treten kann. Die hofseitigen Korridore laufen auf allen Geschossen durch und bilden die klare Erschließung für die diversen Werkstätten, Restaurierungsateliers und Büros, die sämtlich nach außen hin orientiert sind. Die Organisation des Gebäudes ist streng funktional und erschließt sich unmittelbar, sobald man das Gebäude betritt: Die nordwestliche Stirnseite ist der öffentliche Teil des Baus mit der Verwaltung im 2. OG, während die Anlieferung der Archivalien über den Eifelwall und die Zufahrt auf der südöstlichen Stirn erfolgt, wo sich auch Quarantänebereiche befinden, durch die das Einbringen von Schädlingen verhindert wird.

Verhaltene Zeichenhaftigkeit

Herz und Zentrum des Gebäudes bildet der Magazinbau, der auch zu den Korridoren hin mit Platten aus Baubronze bekleidet ist. Mittig durch Gänge erschlossen, gliedern sich die insgesamt sieben Magazingeschosse mit ihren Ausmaßen von 56 x 27 m jeweils in vier gleich große Räume, die weitgehend mit Rollregalsystemen, aber auch mit Planschränken und Aufbewahrungssystemen für diverse Medien ausgestattet sind. Standardarchivboxen, die sich zu einer maximalen Länge von 50 Regalkilometern reihen, um für zukünftige Jahrzehnte gewappnet zu sein, bildeten gewissermaßen das repetitive Grundmodul, das schließlich zu Form und Dimension des Kernbauwerks führte. Die Wände bestehen aus 30 cm, die Decken aus 32 cm dickem Stahlbeton, sodass eine maximale thermische Trägheit erzielt wird. Da Materialien mit unterschiedlichen konservatorischen Anforderungen gelagert werden, gliedern sich die Archivbereiche in sieben unterschiedlich temperierte Klimazonen. Die Massivität der Bauweise, die Unterteilung in überschaubare Einheiten und die Fensterlosigkeit erlaubten es, das Thema des Brandschutzes auf passive Weise anzugehen und auf für Akten desaströse Sprinkler oder Hochdrucksprühsysteme und für Menschen gefährliche Sauerstoffeliminationsanlagen zu verzichten. Zur Wärme- respektive Kälteversorgung dient neben Fernwärme ein Eisspeicher unter dem großen vorderen Hof: Eine Wärmepumpe entzieht dem Wasser im Behälter Wärme, sodass dieses gefriert und die Kälteenergie im Sommer für die Lüftung genutzt werden kann. Archivgüter finden sich nicht nur im Magazinbaukörper, sie werden auch in anderen Bereichen des Hauses restauriert, genutzt oder bearbeitet. Das erklärt die umlaufenden tiefen Brise-Soleils – aber auch die Tatsache, dass die Höfe zwecks Vermeidung des Eintrags von Feuchtigkeit oder Wärme in die Raumluft nicht betreten werden dürfen.

Waechter + Waechter ist es gelungen, ein funktional im besten Sinne stringentes und zudem im wahrsten Sinne des Wortes einleuchtendes Gebäude zu realisieren, das sehr gute Bedingungen für das Archivgut schafft, aber auch auf die Befindlichkeiten der durch die Katastrophe traumatisierten Mitarbeiter Rücksicht nimmt. Ein Archiv mit Tiefmagazin wäre angesichts des Grundwasserdesasters von 2009 undenkbar gewesen. Das der zentrale Archivschrein nun sichtbar die Mantelbebauung überragt, ist ein willkommener Nebeneffekt. So himmelsstürmend und zeichenhaft wie der Ziegelsteinpfeiler von Ortner & Ortner gibt sich das Gebäude in Köln nicht, doch städtebaulich präsent ist es auf jeden Fall. Und Präsenz zu markieren, steht diesem Gebäude, das das Gedächtnis der Stadt bewahrt, gut zu Gesicht.

db, Di., 2021.12.07



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db 2021|12 Redaktionslieblinge

09. November 2021Ulrike Kunkel
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Autos raus, Leute rein

Seit letztem Jahr geht es mit einem dynamisch-geschwungenen Gebäudekomplex in den Gleisdreieck-Park hinein. Wo früher das markante Parkhaus von Renzo Piano stand, wird nun nur noch zur Hälfte geparkt und zur anderen Seite hin gewohnt – mit grandiosem Blick in den Park. Eine »Umnutzung« nach Teilabriss die konzeptionell und städtebaulich überzeugt und Schule machen sollte.

Seit letztem Jahr geht es mit einem dynamisch-geschwungenen Gebäudekomplex in den Gleisdreieck-Park hinein. Wo früher das markante Parkhaus von Renzo Piano stand, wird nun nur noch zur Hälfte geparkt und zur anderen Seite hin gewohnt – mit grandiosem Blick in den Park. Eine »Umnutzung« nach Teilabriss die konzeptionell und städtebaulich überzeugt und Schule machen sollte.

debis, die Dienstleistungstocher von Daimler-Benz, ist längst Geschichte, und der 1998 eröffnete Gebäudekomplex, den Renzo Piano und Christoph Kohlbecker zwischen Potsdamer Platz und Landwehrkanal errichtet haben, hat mittlerweile andere Eigentümer. Zum Gesamtkomplex gehörte seinerzeit auch ein langgestrecktes Parkhaus entlang der auf einer Brückentrasse geführten U2. Es entstand auf einer Bahnbrache südlich des Kanals und wurde wie auch die Bürobauten auf dem Potsdamer Platz mit den für Piano ikonischen ockerfarbenen Keramikplatten bekleidet. Doch die Anzahl von 1 500 Stellplätzen stammte offenkundig noch aus Prognosen einer Ära der hemmungslosen Individualmobilität: Die Hochgarage stand stets zu weiten Teilen leer, war also am Bedarf vorbeigeplant. Diese Situation war auf Dauer weder ökologisch noch ökonomisch vertretbar, zumal die einstigen Brachflächen der Umgebung sich inzwischen in den überaus beliebten Park am Gleisdreieck verwandelt hatten. Dessen auf dem Gelände des früheren Potsdamer Güterbahnhofs entstandener und als Westpark titulierter Teil, der mit seinem nördlichen Zipfel bis ans Schöneberger Ufer vorstößt und auf der Ostseite vom Parkhaus flankiert wird, wurde 2014 fertiggestellt. Zeit also, für das unternutzte Parkhaus eine sinnvolle, zukunftsfähige und nicht zuletzt natürlich auch renditestärkere Lösung zu finden. Man entschied sich, das Gebäude längs zu kappen und damit die Stellplatzanzahl zu halbieren. Erhalten blieben die markanten Spindelrotunden im Norden und Süden sowie der zur U2 hin gelegene Strang mit den Stellplätzen, während die zum Park hin orientierte Seite rückgebaut und durch einen sechsgeschossigen Wohnbau von 185 m Länge ersetzt wurde. Unter acht Büros, die am eingeladenen Wettbewerb teilnahmen, konnte sich KSP Engel durchsetzen, 2020 war das Projekt fertiggestellt.

Gegliederter Baukörper

Der Neubau, der von den Rampenspindeln und vom verbliebenen Teil des Parkhauses dreiseitig umgriffen wird, öffnet sich mit durchgehenden Balkonen zum Park. Die unterschiedliche Bautiefe der Wohnungen führt zu einer geschwungenen Silhouette: Das Gesamtvolumen gliedert sich in vier Bauten mit je eigenem Eingang und eigener Adresse, sodass die Monotonie eines bandförmigen Megablocks vermieden wird; die Einschnitte brechen die Länge des durchgängigen Baukörpers auf angenehme Weise auf, ohne dass das Gesamtvolumen in einzelne Baublöcke zerfällt. Die stählernen Balkongeländer mit eingeschnittener Flosse wirken je nach Blickwinkel mal geschlossen und mal offen. So ergibt sich für die Bewohnerinnen und Bewohner ein Sichtschutz, ohne dass die Brüstungen massiv ausfallen. Schwarze Stahlprofile mit leichtem Braunstich, weiße Fassadenbänder und der Champagnerton der rhythmisierenden Trennwände unterstützen die attraktive parkseitige Gestalt des Neubaus, die für die Passantinnen und Passanten fast chamäleonartig stets sich wandelnd in Erscheinung tritt.

Erschliessung durch Laubengänge

Ein zurückhaltender grüner Wall, eher eine Bodenwelle, grenzt die Wohnbebauung vom Park ab. Zwischen den Vorgärten des parkseitigen EG führen Durchgänge in die Sequenz rückseitiger Erschließungshöfe, die im Osten von der Außenwand der Restparkgarage begrenzt werden, die zugleich als Brandwand fungiert. Ein mittiger, vertikaler Erschließungskern pro Haus gliedert die Hofschicht in eine Sequenz von acht offenen Räumen; Laubengänge gewährleisten die Erschließung der Wohneinheiten in der Horizontale. Das ist aufgrund der gegebenen Situation – im Osten Parkhaus und Bahn (zukünftig sogar noch eine weitere Trasse), im Westen der Park – die einzig plausible Lösung. Und sie besitzt aufgrund des Umgangs mit Restriktionen und Potenzialen auch einigen Charme: Vielleicht funktioniert so etwas nur in Berlin, wo nicht alles im landläufigen Sinne schön zu sein hat. Aber die schmalen Höfe, die im Sommer angenehm kühl sind, wirken großzügig, die Laubengänge besitzen angenehme Proportionen. Eigentlich sollte hier alles grüner aussehen, aus Kostengründen schrumpften die begrünten Wände zur Teilbegrünung, ganz abgesehen von den Schwierigkeiten der Entwässerung. Auch die schöne Idee, die Keramikelemente des rückgebauten Garagenteils hier wiederzuverwenden, gewissermaßen als Reminiszenz an die vormalige Nutzung, wurde leider nicht umgesetzt. Die Liebe zum Detail zeigt sich aber überall, so z. B. am auf dem WDVS aufgetragenen Kammputz der Fassaden auf der Laubengangseite.

Alle Wohnungen werden über die Laubengänge erschlossen und orientieren sich zum Park hin. Die durchlaufende Homogenität der Fassaden lässt dabei nicht erkennen, dass sich dahinter durchaus unterschiedliche Wohnungstypen befinden. Haus 1, also das nördlichste, ist möblierten Mini-Apartments vorbehalten. Die Häuser 2 bis 4 umfassen jeweils 34 Wohnungen mit unterschiedlichen Größen und Grundrissen; die Wohnungen im 5. OG besitzen einen Zugang zu einer individuellen Dachterrasse mit grandiosem Ausblick über den Park.

Die Eigentümer haben auf einen Mix gesetzt: einige Wohnungen werden kurzfristig vermietet, bei anderen setzt man auf langfristige Mietverträge, die dritte Kategorie sind gehobene Eigentumswohnungen.

Ökonomie und Ökologie

Gewiss: Der »Gleis Park«, so der Marketing-Name, zählt nicht zu den in Berlin so dringend notwendigen Projekten, um kostengünstigen Wohnraum zu schaffen, gleichwohl überzeugt das Konzept, weil es zeigt, wie sich ökonomische und ökologische Ideen vereinen lassen: Autos raus, Leute rein. Auf diese Weise ist es ein Baustein für eine postautomobile Gesellschaft, selbst wenn diese für die Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht nur die benachbarte Hochgarage, sondern auch eine Tiefgarage nutzen können, noch gar nicht angebrochen sein muss. Aber der Rückbau zumindest des Teils eines Parkhauses und sein Ersatz durch einen attraktiven Wohnbau ist schon einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Ganz abgesehen davon, dass das Projekt auch auf architektonischer Ebene zu überzeugen vermag.

db, Di., 2021.11.09



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db 2021|11 Wohnen am Laubengang

08. Dezember 2020Ulrike Kunkel
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Rhythmische Staffelung am Hang

Nach Jahrzehnten in einem räumlichen Provisorium hat die weit über Stuttgart hinaus berühmte John Cranko Schule endlich ein adäquates Domizil erhalten. Mit seinen beiden Eingangsbauten und der dazwischen liegenden, gelungenen und von außen ablesbaren Abfolge von Schulräumen, Ballettsälen, Erschließungsflächen, Terrassen und Innenhöfen, ist der Komplex aber auch städtebaulich ein Gewinn für die Landeshauptstadt.

Nach Jahrzehnten in einem räumlichen Provisorium hat die weit über Stuttgart hinaus berühmte John Cranko Schule endlich ein adäquates Domizil erhalten. Mit seinen beiden Eingangsbauten und der dazwischen liegenden, gelungenen und von außen ablesbaren Abfolge von Schulräumen, Ballettsälen, Erschließungsflächen, Terrassen und Innenhöfen, ist der Komplex aber auch städtebaulich ein Gewinn für die Landeshauptstadt.

Der Ruf John Crankos ist in Stuttgart legendär. Nachdem der britische Choreograf 1961 die Leitung des Stuttgarter Balletts übernommen hatte, formte er in der guten Dekade bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1973 daraus eine hochgelobte, auch international erfolgreiche Kompagnie. Das Debut 1969 an der Metropolitan Opera in New York geriet zum fulminanten Siegeszug, Gastspielreisen führten die Stuttgarter rund um den Globus. Und es gelang, den Erfolg unter den nachfolgenden Intendanten und Intendantinnen zu verstetigen.

Eine der Gründe für dieses »Stuttgarter Ballettwunder« war eine eigene Ballettschule, die Cranko 1971 in Stuttgart gegründet hatte. Heute werden zwei Drittel der Tänzer und Tänzerinnen des Stuttgarter Balletts an der John Cranko Schule ausgebildet. Ansässig war die Institution lange Jahre in einem umgebauten Druckereigebäude an der Urbanstraße nordöstlich der Innenstadt. Dem kanadischen Intendanten Reid Anderson gelang schließlich der entscheidende Schritt: Seine langjährige Überzeugungsarbeit in den Kreisen von Politik und Sponsoren führte zum Beschluss eines eigenen Neubaus für die Schule. 2011 konnte ein prominent besetzter Architekturwettbewerb durchgeführt werden. Überraschungssieger wurde der Beitrag des seinerzeit nahezu unbekannten Münchner Büros Burger Rudacs. Sie konnten die nationale und internationale Prominenz ausstechen, darunter Lederer Ragnarsdóttir Oei, Zaha Hadid, Nieto Sobejano, gmp, Snøhetta, Delugan Meissl und Sauerbruch Hutton.

Herausforderung Topografie

Als einzigen Teilnehmern des Wettbewerbs war es dem Architekturbüro aus München gelungen, mit einer Staffelung von Volumina auf die Herausforderungen der Topografie zu reagieren. Denn das Baugrundstück – vormals Standort eines alten Wasserwerks, dessen denkmalgeschützte unterirdische Kavernen erhalten bleiben mussten – erstreckt sich am Hang zwischen Urban- und Verastraße und weist eine Höhendifferenz von 21 m auf. Burger Rudacs ließen die nördliche Hälfte des Grundstücks frei, um eine für den Stuttgarter Talkessel wichtige Frischluftschneise zu bewahren, und konzentrierten die Baumasse auf der Südseite. Insgesamt fünf durch hofartige Einschnitte deutlich voneinander differenzierte Segmente erklimmen den Hang, wobei der viergeschossige Riegel des Internats mit Doppelzimmern für 80 der insgesamt 150 Schüler den markanten oberen Abschluss bildet. Die Segmente darunter werden jeweils aus der Kombination eines größeren, über Oberlichter talseitig belichteten und eines kleineren, großflächig zum Park hin geöffneten Probensaals gebildet. Mit 12 x 12 und 9 x 9 m besitzen die Säle quadratischen Zuschnitt; dem insgesamt 90 x 36 messenden Gebäude liegt ein 3-m-Raster zugrunde. Von außen kaum erkennbar, schiebt sich unter das talseitige Ende des Gebäudes eine große Probebühne mit einer Zuschauertribüne und einem doppelgeschossigen, mit einer elliptischen Öffnung verbundenen Foyer. Mit 30 x 24 m entsprechen die Abmessungen des 10 m hohen Bühnenraums exakt denen der Staatsoper, die gar nicht weit entfernt unten im Talboden liegt. Die auch für öffentliche Aufführungen genutzte Probebühne unten und der private Internatsbaukörper oben bilden mithin zwei Pole mit eigenen Eingängen, zwischen denen sich die terrassierte Sequenz der eigentlichen Unterrichtsräume aufspannt.

Begleitet wird diese auf der Südseite von einer Spange, welche die Administration, Räume für das Lehrpersonal und eine Bibliothek aufnimmt. Von den Korridoren aus erlauben große Verglasungen Einblicke in die Probensäle, am jeweiligen Ende der Gänge befinden sich kleine Loggien. Der größte Außenraum indes ist die große, mit einer kreisförmigen Dachöffnung versehene Terrasse, die sich an die im EG des Internatsbaus untergebrachte Mensa anschließt und damit so etwas wie das kommunikative Binnenzentrum des Hauses darstellt. Aufgrund dieser Anordnung ist der an dieser Stelle befindliche Probensaal hier in den Sockel verschoben.

Purismus und Klarheit

Der klaren Organisation der Räume entspricht eine ebenso klare Materialsprache. Das gesamte Gebäude wurde innen und außen in, durch weiße Titandioxid-Pigmente leicht aufgehelltem Sichtbeton realisiert, wobei Schaltafeln im liegenden Format von 3 x 1,75 m Verwendung fanden. Die Außenwände sind zweischalig aufgebaut. Eine besondere Herausforderung stellte die stützen- und unterzugslose Konstruktion der Probebühne dar: Hier fungieren die Wandscheiben der darüberliegenden Übungssäle als Träger. Die gesamte Haustechnik ist in den Decken und Wänden verborgen: Elektrorohre, Sprinkleranlage, Betonkernaktivierung und Dachentwässerung. Nichts stört damit den puristischen Charakter, der das Gebäude auch im Innern prägt.

Hinzu treten nur wenige weitere Materialien: Holz und eloxiertes Aluminium an den Fenstern, polyurethanbeschichtete Fußböden, Holzbekleidungen und natürlich die großflächigen Verglasungen. In den Tanzsälen reichen die Wandbekleidungen bis zu den Oberlichtern, die Spiegel besitzen dieselbe Höhe. Die Klarheit und Präzision, mit der Burger Rudacs vorgegangen sind, beeindruckt: Auf alles, was ablenkt, wurde verzichtet, auch auf zusätzliche Farbigkeit, um möglichst neutrale Räume für die jungen Tänzer und Tänzerinnen zu schaffen. Gottlob verhallte die von politischer Seite aus zwecks Kostenreduktion erwogene Realisierung mit einem Wärmedämmverbundsystem ungehört.

Die Architekten sprechen angesichts ihrer Baukörper von Rhythmus und Struktur und von einer Analogie zu Musik und Tanz. Solche Vergleiche mögen mitunter etwas floskelhaft anmuten – doch bewegt man sich durch das Haus mit seiner terrassierten Abfolge von Räumen und Sälen, so wird die Inspiration hier tatsächlich erlebbar. Das gilt auch für die dem Park zugewandte Südseite. Dank der Einkerbungen gliedert sich die Baumasse in fünf miteinander verbundene und doch differenziert wahrnehmbare Baukörper – die unteren vier mit den Tanzsälen, zuoberst der Wohnblock mit den Apartments der Studierenden. Eine Betontreppe führt parallel zum Gebäude durch den Park. Geplant war sie als Teil einer öffentlichen Wegverbindung von der Uhlandshöhe zum Zentrum. Doch die Schulleitung befürchtet, dass die Treppenstufen Voyeure anlocken, sodass der attraktive Weg zunächst nicht öffentlich ist.

Neuer Baustein der Kulturmeile

Burger Rudacs haben aber nicht nur einen extrem funktionalen, logischen, im besten Sinne dienenden und bei allem Purismus auch körperlich präsenten Baukörper errichtet, ihnen ist es überdies gelungen, das relativ große Volumen mit 6100 m² Nutzfläche stadtbildverträglich zu integrieren. Durch die Staffelung der Segmente wirkt die Kompaktheit nicht erdrückend und fügt sich in die Maßstäblichkeit der Umgebung wunderbar ein. Das ist umso wichtiger, als man den Neubau von verschiedenen Punkten der Stadt aus gut erkennen kann, etwa vom Turm des amputierten Hauptbahnhofs oder von der anderen Seite des Talkessels. Direkt oberhalb der Alten Staatsgalerie am Hang gelegen, ist die John Cranko Schule für die Kulturmeile der Landeshauptstadt ein wichtiger Zugewinn. Zu hoffen bleibt, dass die Öffentlichkeit möglichst bald Veranstaltungen besuchen und sich ein eigenes Bild machen kann; coronabedingt ging die offizielle Eröffnung im September weitgehend digital über die Bühne.

db, Di., 2020.12.08



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02. Oktober 2020Ulrike Kunkel
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Holz Total

Eine Innerschweizer Holzbaufirma setzt seit Längerem auf den Vollholzbau. Nun ist auf dem Werksareal ein Bürogebäude entstanden, das demonstriert, wie man (fast) ohne Verbundwerkstoffe, Leim, Schrauben und Nägel bauen kann: nur mit Holz eben – und einem Kern aus Beton.

Eine Innerschweizer Holzbaufirma setzt seit Längerem auf den Vollholzbau. Nun ist auf dem Werksareal ein Bürogebäude entstanden, das demonstriert, wie man (fast) ohne Verbundwerkstoffe, Leim, Schrauben und Nägel bauen kann: nur mit Holz eben – und einem Kern aus Beton.

Dass Bauholz im Winter geschlagen werden muss, wusste schon Vitruv: nach der Vegetationsperiode kommt der Baum zur Ruhe und gewinnt an Festigkeit. Zusätzlich von Bedeutung sind die Mondphasen, wie es verschiedene holzwirtschaftliche Traktate behaupten. Zur Zeit des abnehmenden Monds geht das Wasser im Holz zurück, nach Neumond steigt es wieder in die Spitze. Das vor Neumond geschlagene Holz ist mithin weniger feucht und dichter: Es muss weniger stark getrocknet werden und ist überdies stärker geschützt gegenüber Schädlingsbefall.

Zugegeben, am Mondholz scheiden sich die Geister. Technokratisch gesinnte Zeitgenossen mit einem instrumentellen Verhältnis zu natürlichen Ressourcen sehen darin esoterischen Schnickschnack, doch jüngere Studien legen durchaus nahe, dass lunar-korrelierte Phänomene im Holz, die über Jahrhunderte die Holzfällerregeln im zentralen Europa bestimmten, nicht von der Hand zu weisen sind. Stephan Küng ist vom Mondholz überzeugt. Sein Vater Walter hatte die lokale Zimmerei und Schreinerei 1977 in Alpnach im Schweizer Kanton Obwalden gegründet. Anfangs waren es vier Personen, die alles aus Holz anfertigten, was man im Dorf und seiner Umgebung benötigte. Fünf Jahre später arbeiteten schon 15 Beschäftigte in Alpnach, und seither ist die Firma stetig gewachsen. 2006 – Sohn Stephan war gerade ein Jahr in der Firma tätig – wurde das »holzpur-System« eingeführt. Dieses ist heute das eigentliche Aushängeschild des Unternehmens, das gleichwohl parallel auch konventionelle Holzbauten erstellt.

Nichts als Holz

holzpur, nomen est omen, ist ein Bausystem, das nur aus Holz besteht. Die Wände werden aus zwei Elementen mit jeweils sieben kreuzweise wie bei Sperrholz übereinander gelegten Bretterschichten von 3 cm gebildet, sodass sich die Gesamtwanddicke zu 42 cm addiert. Es gibt drei Hersteller für derartige Vollholzsysteme in der Schweiz, und auch diese Technik ist nicht ganz unumstritten: Kritiker führen an, dass auch mit der nachwachsenden Ressource Holz sparsam umgegangen werden sollte und man aus der Menge an Material, die für ein Vollholzgebäude verbraucht werde, mehrere konventionelle Holzbauten erstellen könnte. Allerdings findet bei den inneren Lagen der holzpur-Elemente Fichtenholz geringer Güte Verwendung, das sonst ­allenfalls geschreddert und zu Holzfaserprodukten verarbeitet oder gar thermisch verwertet wird. Unregelmäßigkeiten spielen übrigens keine Rolle, da Lufteinschlüsse im Innern der Wände sogar durchaus gewünscht sind.

Eine zusätzliche Dämmung ist bei diesem System aufgrund der Massenträgheit und der isolierenden Wirkung nicht nötig, und Holzbau Küng geht so weit, die Lagen nicht zu verschrauben, zu nageln oder zu verleimen, sondern mit angefeuchteten und dann aufquellenden Buchendübeln zu verbinden.

Ein Gebäude als Visitenkarte

Der Verzicht auf Verbundwerkstoffe sowie auf Leim, Metall und andere Zusätze, die Verwendung unbehandelter Hölzer stößt auf steigendes Interesse, und so beschäftigt die Firma derzeit 80 Mitarbeitende und 15 Projektleitende – also Personen, die für und mit den Architekten die Entwürfe umsetzen und die Details zeichnen. 2013 wurde eine Werkshalle errichtet, in der die holzpur-Elemente vollautomatisiert produziert werden. Den Auftrag erhielt das im nahen Sarnen sowie in Luzern ansässige Büro von Patrik Seiler und Søren Linhart, das mit Küng zuvor schon einige Bauten realisiert hatte. Die Beziehung zwischen Architekten und Unternehmen intensivierte sich noch, als Stephan Küng, der 2017 die Firmenleitung von seinem Vater übernahm, 2015-18 sein privates Wohnhaus durch Seiler Linhart errichten ließ. Und nun ist als jüngstes Gemeinschaftsprojekt das Bürogebäude entstanden, in dem sich die dringend benötigten Besprechungsräume sowie die Einzel- oder Doppelbüros für die Projektleiter befinden. Und in dem ganz oben unter dem Dach zukünftig in einem kleinen Ausstellungsbereich auch Gäste empfangen und mit den Produkten der Firma und dem Thema naturnahem Bauen vertraut gemachten werden können.

Das Gebäude löst also Raumnot, besitzt, als Visitenkarte der Firma, aber auch Strahlkraft nach außen. Und selbstverständlich bestehen die Wände aus holzpur – außen mit sägerohem Fichtenholz, innen mit Weißtanne verschalt. Über den Fenstern und Türen sind Mondmotive in Platten eingefräst, die ornamental auf das Mondholz verweisen.

Doch die Fassade des viergeschossigen Gebäudes tritt hinter einer äußeren Lauben-Raumschicht, die aufgrund der Exponiertheit als Hängetragwerk aus Eiche konstruiert ist, zurück. Seiler Linhart orientieren sich an der Idee der Lauben der traditionellen Innerschweizer Häuser, erweitern diese jedoch zu Umgängen. Die, aufgrund der nach oben hin zunehmenden Auskragungen leicht schräg geführten Zugstangen, die Gleichgewichtigkeit der Fassaden und das von einer Laterne durchbrochene Zeltdach lassen ein markantes, bildhaftes Volumen entstehen. Die Lauben selbst übernehmen gleich mehrere Funktionen: Über die französischen Fenster für die Mitarbeitenden zugänglich fungieren sie als Außenraum, dienen gleichzeitig der Verschattung – sodass Store überflüssig wurden – und sind natürlich auch konstruktiver Holzschutz für die Fassade.

Schale und Kern

Tritt man ins EG mit Empfang, Chefbüro und rückwärtigem Gemeinschaftsraum, in dem gemeinsam gegessen oder auch gefeiert wird, so stößt man zunächst auf einen Kamin. Das mag in einem Bürogebäude überraschen, doch die Bauherrschaft, die Wohnhäuser herstellt, wünschte sich auch hier eine ­Atmosphäre der Wohnlichkeit. Wer auch immer im Winter das Gebäude als Erster betritt, macht den Kamin an. Dieser ist integriert in den Kern des Gebäudes, der aus Sichtbeton besteht, komplett sandgestrahlt ist und die Treppen, Aufzüge und Nasszellen umfasst. Gewissermaßen stellt der Kern eine Gegenwelt zur Konstruktionslogik des umgebenden Holzbaus dar: gegossen und dunkel, nicht gefügt und hell. Die Kanten sind plastisch ausgebildet, sodass der skulpturale, fast felsige Charakter verstärkt wird, und runde Aussparungen in den Wänden lenken beim Hinauf- oder Hinabgehen den Blick in das Geschoss darüber oder darunter.

Präzision und Perfektion

Beeindruckend ist die Präzision, mit der Seiler Linhart die Materialien verwendeten. Alle Türen und Möbel, die im Kern liegen, bestehen aus schwarz geölter Eiche. Alles Übrige ist in unbehandelter Weißtanne und Fichte ausgeführt. Für die Handläufe und die Staketengeländer der Lauben kam geöltes Eisen zur Anwendung, im Eingangsbereich findet sich ein Sumpfkalkboden, der von den Mitarbeitenden selbst gestampft wurde. Der Deckenaufbau mit seinen Gitterstrukturen aus Buche ist ebenfalls eine eigene Erfindung und eigene Produktion. Wie bei holzpur möglich, wurden die Kanäle für die Heizschlaufen der Fußbodenheizung direkt in die Bretterlage gefräst. Die Trennwände im Innern sind nichttragend und gewähren daher die gewünschte Flexibilität in den Büros. Die Architekten entwarfen auch das gesamte Mobiliar und entwickelten ein Stecksystem für Schrankmöbel. Auch dieses kommt ohne Leim und Schrauben aus und kann von den Mitarbeitenden je nach Bedarf zusammengestellt und verändert werden. Dazu kommen verstellbare Tische, die mit Winden hoch- und runtergefahren werden.

Ohne Zweifel, Seiler Linhart ist die Balance zwischen Funktionalität und Opulenz aufs Beste gelungen. Es handelt sich eigentlich um ein klares, kompaktes Volumen, das aufgrund seiner umlaufenden Lauben und des skulpturalen Betonkerns überraschend vielgestaltig, also keineswegs spröde oder kantig wirkt. Es demonstriert, wie ein präziser und perfekter Holzbau heute aussehen kann, und ist damit nicht zuletzt auch das gewünschte Anschauungsobjekt für das von Küng Holzbau entwickelte Vollholzsystem.

db, Fr., 2020.10.02



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db 2020|10 Bauen mit Holz

03. März 2020Ulrike Kunkel
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Schwarzwaldfeeling

Dunkle Tannen und helle Lichtungen, Tannenzapfen und verwitterte Holzschindel-Fassaden – typische Schwarzwald-Motive, die das Gestaltungskonzept von blocher partners für die Gaststätte der Badischen Staatsbrauerei Rothaus in der Stuttgarter Mall »Gerber« aufgreift. Doch kein Zitat, keine Anlehnung an die Heimatregion der Brauerei kommt plump und anbiedernd daher; subtil wurden die einzelnen Motive in eine ansprechende, moderne und originelle Gestaltungssprache übersetzt.

Dunkle Tannen und helle Lichtungen, Tannenzapfen und verwitterte Holzschindel-Fassaden – typische Schwarzwald-Motive, die das Gestaltungskonzept von blocher partners für die Gaststätte der Badischen Staatsbrauerei Rothaus in der Stuttgarter Mall »Gerber« aufgreift. Doch kein Zitat, keine Anlehnung an die Heimatregion der Brauerei kommt plump und anbiedernd daher; subtil wurden die einzelnen Motive in eine ansprechende, moderne und originelle Gestaltungssprache übersetzt.

Seit Mai 2019 hat der Schwarzwald im sogenannten Gerber im Stuttgarter ­Süden Einzug gehalten. Einer ambitioniert gestarteten und im Innenausbau nach einem Entwurf von ippolito fleitz gestalteten Mall, die dennoch von Anfang an ihre Probleme hatte und nach wie vor nur bedingt frequentiert wird. V. a. die Gastronomieangebote im EG wollten bisher nicht recht funktionieren, sodass es seit der Eröffnung des Einkaufszentrums 2014 bereits zu zahlreichen Wechseln kam. Nun versucht sich hier – und allem Anschein nach mit wachsendem Zuspruch und Erfolg – die landeseigene Brauerei Rothaus aus dem gleichnamigen Ort im Hochschwarzwald auf 760 m² Fläche mit ihrem ersten eigenen Gastronomiebetrieb. Von einer klassischen Brauereigaststätte kann man allerdings nicht sprechen. Die Speisen sind wohlgewählt. Hochwertige, regionale Produkte verbinden sich mit Bierspezialitäten zu ­einer modernen, aber nicht überkandidelten Küche. Die Speisekarte, weitere Druckerzeugnisse sowie Logo, Naming und die Adaption für die Werbeanlagen an der Fassade sind von typenraum, der Kommunikationsagentur der Innenarchitekten, für die Gaststätte entwickelt worden.

Wer ist eigentlich Biergit?

Mindestens das Tannenzäpfle-Bier mit seinem prägnanten Etikett ist inzwischen bis weit über die Grenzen des Schwarzwalds hinaus bekannt. Das blonde Schwarzwaldmädel in typischer Tracht, das in jeder Hand ein Glas Bier hält, ist längst Kult geworden. Rothaus-Trinker haben ihr den fiktiven Namen Biergit Kraft gegeben; entstanden aus der alemannischen Aussprache der Phrase »Bier git (= gibt) Kraft«. Das Etikett zeigt außerdem sieben Tannenzapfen – die ungewöhnlicherweise hängend dargestellt sind.

Zunächst etwas überrumpelt von dem plötzlichen Kultstatus ihres traditionell in 0,33-l-Flaschen gereichten Biers, spielt die Brauerei längst recht professionell damit. Kein Wunder also, dass die Wand hinter der zentral im Raum angeordneten Bar ausschließlich mit »Tannenzäpfle-Flaschen« bestückt und ­gestaltet ist. Exakt ausgerichtet in einer beleuchteten Vitrine ergeben die Farben der unterschiedlichen Etiketten – Gold = Pils, Weiß = Pils alkoholfrei, Orange = Weizen, Blau = Weizen alkoholfrei, Hellgrün = Radler, Silber = Eis-Zäpfle, Rot = Märzen und wieder Gold – einen dezenten Farbverlauf mit eindrucksvoller Wirkung. Davor: die Kupferrohre der Zapfanlage und der langgestreckte, ebenfalls kupferne Tresen.

Doch das ist bei Weitem nicht das einzige, was den Barbereich besonders macht: Eine Deckeninstallation aus über 9.500 herabhängenden, schwarz geräucherten Holzschindeln, zwischen denen an einigen Stellen gebündeltes Licht wie Sonnenstrahlen in einem dichten Wald auf den Boden fällt, inszeniert hier die dunkle, unheimliche Seite des Schwarzwalds. Diese Deckengestaltung zieht sich bis in den seitlich, entlang der Fensterfront zur Straße gelegenen Loungebereich hinein. Hier umschließt sie einen großen, fast raumhohen dunkelgrünen Kachelofen mit umlaufender Bank, auf der es sich an kalten Tagen wohlig warm sitzen lässt, wie in der guten Stube. Eine Kachelreihe ist als Schmuckfries ausgebildet. Mit ihrem Tannenzapfen-Motiv verweist sie wiederum auf den Rothaus-Verkaufsschlager.

Dunkle Tannen, weite Lichtungen

Diese dunkel gehaltenen Bereiche, in denen mit präzise ausgerichtetem Licht und einigen wenigen Farben der Polstermöbel und Kissen gezielt Akzente gesetzt werden, sind von hellen, offen gestalteten Restaurant-Flächen umgeben. Es hat den Anschein, als würde man aus dem dunklen Wald hinaus auf eine weite, lichtdurchflutete Lichtung treten. Ein geweißter und geölter Dielen­boden aus Tannenholz und die mit Fichtenholz-Schindeln bekleideten Wände – teilweise werden in abstrahierter Form Tannenzapfen dargestellt, die in ­ihrer Art an die Grafik der Tannenzäpfle-Etiketten erinnern –, bestimmen die Atmosphäre. In diesem Teil findet sich auch das wohl typischste Schwarzwald-Symbol: die Kuckucksuhr. Hier in einer reich verzierten, mannshohen Version, die der traditionellen Uhrmacher- und Handwerkskunst huldigt. Ein unter der Decke geführtes System aus dünnen Kupferrohren mit integrierten Leuchten erhellt diese Bereiche des Restaurants. Es stellt einen gelungenen Bezug zu den Kupferkesseln und -rohren, die beim Bierbrauen bzw. -zapfen verwendet werden, her.

Das helle, schlichte Holzmobiliar wurde nach Entwürfen der Architekten von der Schweizer Möbel-Manufaktur horgenglarus gefertigt. Mittendrin fällt plötzlich ein Tisch-Stuhl-Ensemble auf und aus der Reihe: ein alter Holztisch mit zehn Stühlen drumherum – übernommen aus einem Schwarzwaldgasthaus. Ein gelungener »Störer« innerhalb der ansonsten so edlen Innenraumgestaltung und Ausstattung.

Das Schwarzwald-Motiv wird übrigens sogar bis in die Sanitärbereiche hinein gespielt. Der Offenburger Künstler Stefan Strumbel hat für die WC-Trennwände ein kaleidoskopartiges Ornament aus Schinken, Brot, Schwarzwälderkirschtorte und weiteren Schwarzwald-typischen Lebensmitteln entwickelt – skurril. Buchstäblich überall im Lokal kann man den Schwarzwald förmlich spüren, aber stets auf eine unterschwellige Art und Weise und ganz ohne Folklore-Tümelei. Mit der Rothaus-Gaststätte sollte nun eine reelle Chance bestehen, im »Gerber« eine attraktive Gastronomie zu etablieren.

db, Di., 2020.03.03



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09. Dezember 2019Ulrike Kunkel
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Verdrehte Architektur

Die Idee des Twists bestimmt den Neubau von BIG im Skulpturenpark Kistefos nördlich von Oslo. Das Gebäude ist Brücke, Museum und Skulptur zugleich – und beweist, dass attraktive Ausstellungsbauten nicht aus der konventionellen Reihung von White Cube und Black Box bestehen müssen.

Die Idee des Twists bestimmt den Neubau von BIG im Skulpturenpark Kistefos nördlich von Oslo. Das Gebäude ist Brücke, Museum und Skulptur zugleich – und beweist, dass attraktive Ausstellungsbauten nicht aus der konventionellen Reihung von White Cube und Black Box bestehen müssen.

Von Oslo aus erreicht man Kistefos mit dem Auto in einer guten Stunde. Einige Kilometer südlich von Jevnaker gelegen stellt es – mit seiner Kombination aus historischen Industrieanlagen, einem vom mäandrierenden Fluss Randselva durchzogenen waldreichen Tal und zeitgenössischen künstlerischen Installationen – das ideale Ziel für einen Tagesausflug dar. Ein anheimelndes Restaurant gibt es auch, Spielplätze ohnehin, und so ist das Areal auch an diesem trüben und regenreichen Herbstnachmittag gut besucht. Was wohl auch damit zu tun hat, dass vor Kurzem, am 18. September, die jüngste Attraktion von Kistefos eröffnet wurde: »The Twist«, das nach Aussagen seines Architekten Bjarke Ingels einen Hybrid aus Architektur, Infrastruktur und Skulptur darstellt. Als Ausstellungsgebäude überspannt das Bauwerk den Fluss – und wirkt doch zugleich wie eine weitere künstliche Intervention in diesem größten Skulpturenpark Norwegens. Prominentester Gast unter den 500 zur Eröffnung geladenen Gästen war Königin Sonja. Was vielleicht weniger mit der Prominenz von Bjarke Ingels, etwas mehr mit den Netzwerken des Kistefos-Mäzen Christen Sveaas, v. a. aber mit dem Ziel zu tun hat, Kistefos national und international zur touristischen Destination auszubauen. Der norwegische Staat und die Kommune Jevnaker sind – wenn auch zu geringeren Anteilen – an der Finanzierung des Projekts beteiligt, denn das Hügelland nördlich von Oslo zählt bisher nicht zu den touristischen Hotspots des Landes. Eher könnte man von einer Gegend sprechen, die man lediglich durchquert, um zum Norwegen der Berge, Fjorde und Gletscher zu gelangen. So ist eine Attraktion, die nicht nur die Bewohner aus der Kapitale zum Sonntagsausflug anlockt, hier überaus willkommen.

Zurück zu den Wurzeln

Der Wasserfall Kistefossen gab dem 1889 von Andres Sveaas gegründeten Unternehmen A/S Kistefos Træsliberi seinen Namen. Der Ort war ideal für den Bau einer Papiermühle geeignet: der Wasserfall verhalf dem Unternehmen zur nötigen Energie, das Holz wurde rund um den Randsfjord geschlagen, einer der größten Binnenseen Norwegens. Von dort gelangte es geflößt über den Wasserweg direkt bis zur Mühle. War Papier bisher im Allgemeinen aus Textilien gefertigt worden, so erlaubten technische Innovationen des 19. Jahrhunderts die kostengünstigere Herstellung auf Holzbasis: die Zerkleinerung von Holz mit Mahlsteinen und die Wasserturbine. Durch seine natürlichen Ressourcen Holz und Wasser war Norwegen prädestiniert für das neue Verfahren, und so schossen Ende des 19. Jahrhunderts etwa 100 Papiermühlen aus dem Boden. Mit den ebenfalls neu entstandenen Eisenbahnverbindungen gelangten die Rohpapierballen zu den Häfen, von wo aus sie nach Kontinentaleuropa oder ins Vereinigte Königreich verschifft wurden. Nach Zusammenschluss mit einem anderen Unternehmen, wurde das Ursprungswerk 1955 geschlossen. Um aber auf etwaige Veränderungen in der Firmenstruktur reagieren zu können, legte man die Anlage nur still. So blieb die Fabrik mit samt dem Maschinenpark als einzige ihrer Art in Norwegen erhalten. Christen Sveaas, Nachfahre des Firmengründers und im Finanzsektor reich geworden, kaufte acht Jahre später die Aktienmehrheit zurück. Der Mischkonzern ist mittlerweile in diversen Geschäftsfeldern wie Öl oder Schiffslogistik tätig, Holzwirtschaft spielt nur noch eine marginale Rolle.

Doch das Gesamtpaket umfasste auch den historischen und namensgebenden Standort Kistefos. Der norwegische Staat drängte auf den Erhalt der Fabrik und die Umwandlung in ein Industriemuseum, und Sveaas beschloss, die umgebende Landschaft in einen Skulpturenpark umzuwandeln. Sukzessive ist dieser seit der Gründung 1996 gewachsen, die meisten der Arbeiten wurden speziell für den jeweiligen Ort angefertigt. Viele der Beteiligten sind prominente Vertreter der norwegischen und internationalen Gegenwartskunstszene, darunter Claes Oldenburg, Coosje van Bruggen, Olafur Eliasson, Anish Kapoor und Tony Cragg. Der Hauptzugang zum Skulpturenpark befindet sich im Norden, neben der alten Fabrikantenvilla. Vom Pförtnerhäuschen mit verknautschter Metallhaut von Elmgreen og Dragset führt der Weg leicht abwärts zum Gebäudeensemble mit der Papiermühle. Die Besichtigung des Industriedenkmals allein lohnt den Besuch schon: Alles an Technik ist noch vorhanden, von den Turbinen im UG über die Sägerei zum Grobzuschnitt der Stämme und die Mahlwerke bis hin zu den Pressen für die Papierballen. Das ist faszinierend anzusehen – und überdies informativ erklärt. Die eher sparsam eingesetzten künstlerischen Installationen verblassen angesichts der Kraft und Stärke, welche die alten Maschinen ausstrahlen.

Skulptur im Licht

The Twist bildet nun seit Kurzem gewissermaßen den zeitgenössischen Gegenpol zur alten Fabrikanlage. Steht die Papiermühle dort, wo die beiden Arme des Randselva sich trennen, so überbrückt das Gebäude von BIG den Fluss dort, wo er wieder zu einem Bett zusammengefunden hat. Tatsächlich handelt es sich zunächst einmal um ein Infrastrukturprojekt, denn durch die Überbrückung werden die beiden bisher getrennten Teile des Parks zu einem Rundgang verbunden – Bjarke Ingels spricht vom »Loop«. Diese Setzung hat natürlich Auswirkungen auf die Atmosphäre der Ausstellungsräume: Der Twist ist nicht ausschließlich Ziel des Besuchs, sondern zugleich Durchgangsstation. Und da es keinen konkreten Rundgang gibt, betreten die Besucher das Gebäude sowohl von der einen als auch von der anderen Seite. Wobei der Parkrundgang entgegen dem Uhrzeigersinn letztlich plausibler ist, weil man sich dem Twist entlang des nördlichen Flussarms nähert und sehen kann, wie aus der gleißenden Skulptur in der Ferne Schritt für Schritt ein Gebäude wird.

Christen Sveaas hatte Studien mit tordierten Körpern von BIG gesehen, als er das dänische Büro 2011 mit dem Auftrag für ein Ausstellungsgebäude betraute. Ein konventionelleres Projekt, das der Sammler schon seit der Jahrtausendwende verfolgte, war zuvor gescheitert. Mit BIG erfolgte der Neustart, und der Gedanke des Twists wurde zur entscheidenden Entwurfsidee. Der 75 m lange Baukörper, der mit 40 cm breiten, vertikal versetzten Aluminiumpaneelen bekleidet ist, scheint in seiner Mitte um 90 Grad verdreht zu sein. Natürlich ist die konstruktive Realität eine völlig andere, denn konstruktiv handelt es sich um eine Stahlfachwerkstruktur, die ohne jegliche Torsion auskommt. Das Bild des Twists entsteht mittels der schmalen Aluminiumelemente, die sich auffächern und um das Gebäude herumwinden – nachvollziehbarerweise erwähnt Ingels einen Kartenstapel als Referenz.

Gewiss: Diese Form ist für das Brückengebäude nicht zwingend, sie will ein Hingucker sein. Aber hier kommt zum Tragen, dass es sich um eine architektonische Intervention in einem Skulpturenpark handelt. Es geht auch um optische Phänomene im Landschaftsraum, wie beispielsweise die auf einer Insel im Fluss platzierte S-Curve von Anish Kapoor beweist. BIG überträgt derlei Phänomene bei seinem 20-Mio.-Euro-Gebäude in den großen Maßstab.

Der Twist bietet die Möglichkeit, den Innenraum zu gliedern. Damit gibt es keine klassische Enfilade, sondern eine Abfolge drei miteinander verbundener Raumbereiche. Der nördliche Raumteil ist breitgelagert und relativ niedrig, die gesamte Ostseite ist verglast und öffnet den Blick über den Fluss zur alten Papiermühle. Es folgen der Twist mit auch im Innern schrägen Wänden – und schließlich ein 9 m hoher, vertikal orientierter Galeriebereich, der sich bei Bedarf durch eine Zwischendecke unterteilen lässt. Von den Fenstern abgesehen, bestimmen schmale vertikale Holzleisten das Innere – Wände ebenso wie Decken und Boden, weil im Twist das eine in das andere übergeht. Alles ist weiß gestrichen, ohne permanente Reinigung – gerade in den feuchten Herbsttagen – geht das nicht. Und abends, so erklärt es eine freundliche Aufsichtskraft, muss der Boden stets neu gestrichen werden. Weil die Wandfarbe, für die der Architekt sich entschieden habe, eben für den Boden nicht recht geeignet sei.

Puristen, die sich am liebsten in klassischen Museumsräumen bewegen, mögen sich hier so manche Frage stellen. Doch BIG ist es gelungen ein spannungsvolles Raumgefüge zu inszenieren, das zwischen Architektur und Skulptur oszilliert. Drei unterschiedliche Räume verbinden sich: Panoramic Gallery, Twisted Gallery und Closed Gallery, mit einer Ausstellungsfläche von insgesamt 800 m². In der Eröffnungsausstellung ist die Bespielung jedenfalls gelungen. Dialogisch zueinander treten die britischen Künstler Howard Hodgin – mit ihm begann Sveaas 1990 seine inzwischen 1 700 Werke umfassende Sammlung zeitgenössischer Kunst – und Martin Creed. Der Twist dient saisonal wechselnden Sonderausstellungen und nicht einer Querschnittspräsentation der umfangreichen Sammlung. Er beweist, dass es Alternativen zu Black Box und White Cube gibt, selbst wenn die Platzierung von Bildern auf den schrägen Flächen der Twisted Gallery vielleicht nicht jedermanns Sache ist.

Unbedingt lohnend ist aber auch ein Besuch der unterhalb der Treppe gelegenen Toiletten im UG. Nicht nur wegen der Videos von Tony Oursler, sondern auch, weil die Idee der tordierten Balken in anderer Materialität fortgesetzt wird – und sich vom Vorraum aus den Augen ein beeindruckendes Landschaftspanorama unter dem Gebäude darbietet.

db, Mo., 2019.12.09



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12. August 2019Ulrike Kunkel
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Gerichteter Blick

Der Stuttgarter Online-Weinhändler viDeli wollte aus der virtuellen Unsichtbarkeit auftauchen. Gemeinsam mit dem befreundeten Architekten Marco Hippmann wurde ein Grundstück gesucht und im Gewerbegebiet im Stuttgarter Osten auch gefunden. Entstanden ist eine schlichte Beton-Kiste, die einen funktionalen Lagerraum, Büros und den reduzierten, aber atmosphärischen Verkostungsraum »club traube« beherbergt. Durch wohl gesetzte Öffnungen werden Ein-, aber v. a. reizvolle Ausblicke gewährt – mitten im Gewerbegebiet an einer viel befahrenen Straße kein ganz einfaches Unterfangen.

Der Stuttgarter Online-Weinhändler viDeli wollte aus der virtuellen Unsichtbarkeit auftauchen. Gemeinsam mit dem befreundeten Architekten Marco Hippmann wurde ein Grundstück gesucht und im Gewerbegebiet im Stuttgarter Osten auch gefunden. Entstanden ist eine schlichte Beton-Kiste, die einen funktionalen Lagerraum, Büros und den reduzierten, aber atmosphärischen Verkostungsraum »club traube« beherbergt. Durch wohl gesetzte Öffnungen werden Ein-, aber v. a. reizvolle Ausblicke gewährt – mitten im Gewerbegebiet an einer viel befahrenen Straße kein ganz einfaches Unterfangen.

Auf dem alten Schlachthofareal, direkt an der Verkehrsachse Wangener Straße in Stuttgart-Ost zwischen Büro- und Gewerbebauten der letzten Jahrzehnte steht das neue Domizil des Online-Weinhändlers viDeli, der an diesem Standort seine drei, bislang auf das Stadtgebiet verteilten Firmen (einen Weingroßhandel, eine Beraterfirma im Weinbereich sowie den Online-Weinhandel), zusammenführt. Eine sicher nicht auf Anhieb ansprechende Gegend, aber spannend und passend, wie sich die Bauherren Sabine Harms und Oliver Schmid mit dem Architekten und Stadtplaner Marco Hippmann einig waren. Schnell war klar, dass das Erscheinungsbild des Gebäudes in diesem heterogenen Umfeld nicht marktschreierisch, sondern unauffällig und ­zurückhaltend sein sollte. »Ich wollte den Ort, so unspektakulär er auch ist, nicht ignorieren«, sagt Hippmann. Und so ist die Gestaltung und die Materialwahl ein gut Stück aus der Umgebung heraus entwickelt: Beton für die Hülle, Asphalt für den Vorplatz, ein einfacher straßenbegleitender Grünstreifen anstatt einer aufwendigen Außenraumgestaltung und Leitplanken als Zäune. Entstanden ist eine langgezogene Kiste aus Beton-Fertigteilen in Sandwischbauweise auf einem Grundriss von 50 x 18 m – nichts ist angefügt und fast nichts auf­gebracht, lediglich der kleine, edle Messingschriftzug »club traube« gibt einen dezenten Hinweis auf die Bestimmung des Gebäudes.

Wobei, wie Marco Hippmann erzählt, neben Beton durchaus auch andere Materialien für die Gebäudehülle überlegt wurden: Holz, wegen des Bezugs zum Wein und zu den Weinfässern, aber auch Metall, da das Budget begrenzt war und strikt eingehalten werden sollte. »Metall haben wir jedoch wegen des aufwendigen und dann doch wieder kostenintensiven Brandschutzes schnell verworfen, Holz lange präferiert. Da es uns aber wichtig war, auf eine Kühlung zu verzichten, hat der Stahl-Betonbau seine klaren Vorteile. Er erwärmt sich langsam, was für die schonende Lagerung des Weins wichtig ist, denn Temperaturschwankungen sind nicht per se problematisch, sie sollten aber auf keinen Fall plötzlich erfolgen.« So haben die Architekten ein »träges Gebäude« in einfachster Konstruktion geplant: 8 cm Beton-Außenschale, 12 cm Styrodur-Dämmung, 20 cm Innenschale und ein Dach aus Trapez­blechen, das begrünt wurde. Elektronisch gesteuerte Lüftungsklappen sorgen, gemeinsam mit den Dachfenstern selbst bei sommerlichen Spitzen­temperaturen (fast immer) für die erforderliche Nachtauskühlung. Falls einmal nicht, stehen mobile Klimageräte bereit, um die Qualität der Weine nicht zu gefährden.

Öffnungen – präzise gesetzt

Passend zum Äußeren ist auch das Innere zurückhaltend gestaltet und in ­jeder Hinsicht sparsam möbliert und ausgestattet. Versprüht das Gebäude nach Außen aber allenfalls einen spröden Charme, so sind die Büros, der kleine Besprechungsraum, die Erschließungsbereiche und v. a. der große »Weinraum« für Verkostungen, Präsentationen und Events trotz aller Schlichtheit wohnlich zu nennen. Dafür sorgen die Proportionen, die Stringenz der Gestaltung mit nur wenigen Materialien und Farben und v. a. die wohl gesetzten Fensteröffnungen, die stets den Bezug zu den umliegenden Räumen und zum Außenraum herstellen und dabei geschickt den Blick eben nicht auf den Asphalt der Straße und die vorbeifahrenden Autos, sondern auf den Wiesenblumenstreifen davor lenken.

Wirken die unterschiedlich großen, quadratischen Öffnungen von außen noch wie zufällig auf der Fassade verteilt, wird ihre durchaus sehr präzise Platzierung im Innern schnell klar. Jede Öffnung hat ihren Sinn und ist das Ergebnis einer eingehenden Planung und Analyse von Blickachsen und -beziehungen. So ist eine z. B. gen Himmel ausgerichtet und blendet die Gewerbebauten davor aus, eine andere ist wiederum so platziert, dass sie exakt die kleine Sitzgruppe belichtet und auch belüftet. Die Fenster zwischen den einzelnen Räumen erklären sich einerseits aus den Betriebsabläufen heraus und gewähren andererseits Einblicke in die unterschiedlichen Nutzungsbereiche des Gebäudes.

Dezent, aber wohnlich – der Weinraum

Nach Passieren des Eingangs steht man fast unmittelbar im Weinraum »club traube«, dem thematischen Zentrum des Hauses, und es gelingt schlagartig, das eben noch sehr präsente Gewerbebiet komplett auszublenden. In dem ­angenehm geschnittenen Raum, der durch den mittig platzierten, hohen Eichenholztisch und das vorherrschende Hellgrau (RAL 7032) geprägt wird, fühlt man sich auf Anhieb willkommen. Nur wenige Farbtupfer in Form von Bezugsstoffen der Sessel zweier Sitzgruppen an den Schmalseiten und großformatiger, an einer Wand konzentrierter Grafiken, setzen weitere Akzente. Nach und nach soll die Wand mit der momentan erst angedeuteten Petersburger Hängung mit Bildern, Fotos und Fundstücken, die die Bauherren von ihren Besuchen bei den Winzern mitbringen, gefüllt werden, sodass eine »Erzählwand« entsteht, die viel über das Unternehmen, seine Inhaber, ihre Partner sowie die Produkte mitteilt.

Im wahrsten Sinne luxuriös und überaus wirkungsvoll nehmen sich die raumhohen, wandbegleitenden und farblich perfekt abgestimmten Vorhänge aus, mit denen sich der Raum auf vielfältige Weise variieren lässt. Akustik-Baffeln unter der Decke sorgen zusätzlich für eine sanfte Atmosphäre. Leuchten über der langen Tafel, aber v. a. eine einfache Deckenbeleuchtung, die zusammen mit dem Elektriker entwickelt und umgesetzt wurde, tauchen den Weinraum in ein angenehmes Licht. Aus der angeschlossenen, offenen Küchennische schiebt sich der 1,60 x 1,60 m große »Travertinblock« ins Bild. Er dient bei Verkostungen und Events als Anrichte und ist in Wirklichkeit natürlich aus 2 cm dicken Platten gefügt – was seiner Wirkung keinen Abbruch tut.

Doch dieser Raum, der jetzt so selbstverständlich wirkt, hat eine lange Entstehungsgeschichte. »Das Herzstück des Projekts, an dem gewissermaßen der Onlinehandel offline gehen sollte, erwies sich als echte Herausforderung. Wie lässt sich das darstellen? Fragten wir uns immer wieder«, erzählt Marco Hippmann. Und um die Frage nicht ausschließlich aus Architektensicht zu behandeln, nahmen sie das Stuttgarter Design Studio Projekttrangle hinzu. Alle Themen wurden gemeinsam behandelt, alle Entscheidungen gemeinsam getroffen und dass die Zusammenarbeit sehr gut funktioniert hat, bräuchte Hippmann eigentlich nicht extra zu betonen, denn das Ergebnis spricht für sich.

db, Mo., 2019.08.12



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db 2019|07-08 Offen / Geschlossen

05. März 2019Ulrike Kunkel
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Farbfilm

Wand, Decke und Bestuhlung — alles Ton in Ton: Jeder Kinosaal im neuen Delphi Lux in der Berliner City West ist anders, aber alle sind komplett in eine Farbe ­getaucht. Zusätzlich prägendes Element: LED-Bänder zeichnen grafische Lichtlinien auf Decken und Wände.

Wand, Decke und Bestuhlung — alles Ton in Ton: Jeder Kinosaal im neuen Delphi Lux in der Berliner City West ist anders, aber alle sind komplett in eine Farbe ­getaucht. Zusätzlich prägendes Element: LED-Bänder zeichnen grafische Lichtlinien auf Decken und Wände.

Während der Ausbauzeit war die Verwunderung groß: Wo sollte im EG des bereits fertiggestellten Gebäudes entlang der Bahntrasse zwischen Kant- und Hardenbergstraße bitte ein Kino mit mehreren Sälen Platz finden? Doch nun reihen sich hier tatsächlich sieben individuell gestaltete Kinoboxen und -säle mit fast 600 Plätzen aneinander, nebst einem kleinen Foyer und Erschließungsbereich. Ein Gewinn für die Gegend und erfreulicherweise eine weitere Aufwertung der viel zu lange vernachlässigten City West.

Die unterschiedlich großen Kinos unterscheiden sich sowohl in ihrer Farbigkeit im Innern als auch in der Materialität ihrer Hülle. So ist eine Box mit Holzschindeln in verschiedenen Rosatönen bekleidet, eine andere z. B. mit Fichtensperrholz und eine weitere mit Sandwichpaneelen. Die Farbe des Äußeren wird in den Sälen jeweils aufgegriffen. Bereits von der Straße aus werden Einblicke auf die verschiedenen Materialien und Farben gewährt. Der in allen Bereichen des Dephi Lux einheitliche Teakholz-Parkett-Boden sorgt für wohltuende Ruhe. Ein weiteres verbindendes Element zwischen den Kinosälen und dem Foyer sind die LED-Lichtlinien. Sie ziehen sich durch alle Bereiche und setzen markante, gestalterische Akzente an der Decke und an den Wänden.

Ein Kino also, bei dem sich ein Besuch auch ganz unabhängig vom gezeigten Film lohnt.

db, Di., 2019.03.05



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Presseschau 12

07. Dezember 2021Ulrike Kunkel
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Das Gedächtnis der Stadt

Mehr als zwölf Jahre nach dem Einsturz des Historischen Archivs konnte in Köln der Neubau bezogen werden. Den Architekten ist es gelungen, ideale Bedingungen nicht nur für die Archivalien, sondern auch für die Mitarbeitenden zu schaffen. Und auch der neue Standort macht deutlich: Das Archiv ist ein Ort, der sich zur Stadtgesellschaft öffnet.

Mehr als zwölf Jahre nach dem Einsturz des Historischen Archivs konnte in Köln der Neubau bezogen werden. Den Architekten ist es gelungen, ideale Bedingungen nicht nur für die Archivalien, sondern auch für die Mitarbeitenden zu schaffen. Und auch der neue Standort macht deutlich: Das Archiv ist ein Ort, der sich zur Stadtgesellschaft öffnet.

Der 3. März 2009 gilt als der Tag eines des größten kulturellen Desasters Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg: Das Historische Archiv der Stadt Köln stürzte ein und versank in der offenen Baugrube der Nord-Süd-U-Bahn. Zwei Menschen starben, 30 Regalkilometer Akten wurden im Grundwasser verschüttet. Dank einer sofort einsetzenden Rettungsaktion gelang es, 95 % der Archivalien zu bergen, zum großen Teil gefrierzutrocknen und auf diverse auswärtige Depots, sogenannte Asylarchive, zu verteilen. Die Restaurierung der Bestände, so die derzeitige Prognose, wird bis zum Jahr 2060 andauern. Die Herausforderung für die Archivarinnen und Archivare besteht aber nicht nur in der physischen Wiederherstellung der Akten, sondern auch in deren Zuordnung. Denn auch die Archivstruktur wurde komplett zerstört, sodass eine klassische Systematik nicht mehr existiert und einzelne Objekte nur bedingt Beständen zugewiesen werden können. Auch wenn die beteiligten Baufirmen inzwischen zu einer Zahlung von 660 Mio. Euro verpflichtet wurden – der gesamte materielle Schaden wird auf 1,3 Mrd. beziffert.

Fahrlässigkeit, Pfusch am Bau, Kölscher Klüngel: Darüber ist hier nicht zu urteilen. Zu konstatieren indes bleibt, dass das historische Gedächtnis der Stadt, das selbst die Zerstörung Kölns im Zweiten Weltkrieg unbeschadet überdauert hat, für mehr als eine Generation von Forschern und Nutzern kaum ernsthaft konsultierbar ist. Angesichts dieser Ausgangslage mag es zynisch anmuten, der Katastrophe auch positive Aspekte abzugewinnen. Und doch, der Neubau des Archivs, das Anfang September 2021 eröffnet wurde, ist schlicht erfreulich. Und ein Gewinn für die Stadt, auch wenn seit dem Wettbewerb 2011 zehn Jahre vergangen sind. Immerhin sind mit 90 Mio. Euro die Kosten im Rahmen geblieben.

Wirkte die in die Severinstraße eingebundene Granitfassade des Bestandsgebäudes mit ihren spärlichen Lichtschlitzen hermetisch und abweisend, so gibt sich der 3 km entfernte Neubau dezidiert als öffentliches Gebäude zu erkennen. Darin bildet sich einerseits das veränderte Selbstverständnis von Archiven ab, die sich nicht zuletzt aus Gründen politischer Legitimation weniger als Verwahrinstitutionen denn als Serviceeinrichtung für Forschende, aber auch für die interessierte Bevölkerung verstehen, andererseits wäre es ohne die Vorgeschichte der Katastrophe wohl kaum zu einem solchen Bau an diesem Ort gekommen: In Hannover beispielsweise hat man sich unlängst dazu entschieden, das Stadtarchiv zusammen mit diversen Museumsdepots an einem unwirtlichen Ort in Stadtrandlage durch Investoren erstellen zu lassen und dann zu mieten. Eine solche Lösung wäre in Köln nicht in Frage gekommen. Der Standort ist attraktiv – der Neubau steht dort, wo die nach Südwesten führende Luxemburger Straße, eine der für Köln typischen ins Umland ausstrahlenden Radialachsen, den Inneren Grüngürtel begrenzt. Während die Straße Eifelwall mit ihrer Wohnbebauung die gründerzeitliche Stadtkante darstellt, ist das Archiv nicht als direktes Gegenüber, sondern eher als Solitär im Park konzipiert, ähnlich wie die verschiedenen Institute der nahen Universität weiter im Norden. Der Bau eines die Achse fortsetzenden Studierendenwohnheims im Süden ist bisher unterblieben, sodass der solitäre Charakter des Neubaus stärker in Erscheinung tritt als ursprünglich geplant.

Hülle und Kern

Die Darmstädter Architekten Waechter + Waechter konnten die Jury mit dem stringenten Konzept einer vierseitigen orthogonalen Mantelbebauung überzeugen, die ein zentrales Schatzhaus umgibt, das eigentliche Magazingebäude. Zur Zeit des Wettbewerbs bestand die Idee, im Neubau drei Institutionen zusammenzufassen: das Historische Archiv selbst, das Rheinische Bildarchiv und die Kunst- und Museumsbibliothek, die auf zwei Standorte, das Museum Ludwig und das Museum für Angewandte Kunst aufgeteilt ist. Aus Kostengründen fiel 2003 die Entscheidung, die Bibliothek an diesen Standorten zu belassen. Somit wird der Neubau von Historischem Archiv der Stadt Köln und Rheinischem Bildarchiv genutzt, die verwaltungstechnisch und institutionell eigenständig bleiben, aber die Räume mit Besucherverkehr wie Lesesaal, Auditorium und Ausstellungsbereich gemeinsam nutzen. Eine modulare Metallfassade mit tiefen Rippen, die als Brise-Soleils dienen, vereinheitlicht umlaufend den 126 langen und 45 m breiten dreigeschossigen Baukörper. Zur Stadt hin verhält sich das Gebäude nicht anders als zum Park, was seine Eigenständigkeit unterstreicht. Je nach Perspektive zeigt es sich offen oder geschlossen; lediglich die Erdgeschosszone der nordwestlichen Stirnseite ist komplett verglast. Hier, zum neu entstandenen Vorplatz hin orientiert, findet sich der Eingang für die Nutzerinnen und Nutzer, die in ein überaus helles und freundliches zweigeschossiges Foyer eintreten. Die dunkle Metalloptik des Äußeren weicht dem hellen Farbton weiß geölten Douglasienholzes, das die öffentlichen Bereiche prägt: Ausstellungsraum und Vortragssaal im EG sowie den großzügigen Lesesaal, den man über eine Treppe erreicht und der die gesamte Gebäudebreite im 1. OG in Anspruch nimmt. Zur freundlichen und hellen Atmosphäre trägt der Ausblick in den vorderen Innenhof bei, der rückwärtig durch den geschlossenen, mit aufgefalteter Baubronze bekleideten Magazinbaukörper begrenzt wird. Ein weiterer, schmalerer Innenhof befindet sich dahinter, sodass das Magazin zu zwei Seiten hin wirkungsvoll in Erscheinung treten kann. Die hofseitigen Korridore laufen auf allen Geschossen durch und bilden die klare Erschließung für die diversen Werkstätten, Restaurierungsateliers und Büros, die sämtlich nach außen hin orientiert sind. Die Organisation des Gebäudes ist streng funktional und erschließt sich unmittelbar, sobald man das Gebäude betritt: Die nordwestliche Stirnseite ist der öffentliche Teil des Baus mit der Verwaltung im 2. OG, während die Anlieferung der Archivalien über den Eifelwall und die Zufahrt auf der südöstlichen Stirn erfolgt, wo sich auch Quarantänebereiche befinden, durch die das Einbringen von Schädlingen verhindert wird.

Verhaltene Zeichenhaftigkeit

Herz und Zentrum des Gebäudes bildet der Magazinbau, der auch zu den Korridoren hin mit Platten aus Baubronze bekleidet ist. Mittig durch Gänge erschlossen, gliedern sich die insgesamt sieben Magazingeschosse mit ihren Ausmaßen von 56 x 27 m jeweils in vier gleich große Räume, die weitgehend mit Rollregalsystemen, aber auch mit Planschränken und Aufbewahrungssystemen für diverse Medien ausgestattet sind. Standardarchivboxen, die sich zu einer maximalen Länge von 50 Regalkilometern reihen, um für zukünftige Jahrzehnte gewappnet zu sein, bildeten gewissermaßen das repetitive Grundmodul, das schließlich zu Form und Dimension des Kernbauwerks führte. Die Wände bestehen aus 30 cm, die Decken aus 32 cm dickem Stahlbeton, sodass eine maximale thermische Trägheit erzielt wird. Da Materialien mit unterschiedlichen konservatorischen Anforderungen gelagert werden, gliedern sich die Archivbereiche in sieben unterschiedlich temperierte Klimazonen. Die Massivität der Bauweise, die Unterteilung in überschaubare Einheiten und die Fensterlosigkeit erlaubten es, das Thema des Brandschutzes auf passive Weise anzugehen und auf für Akten desaströse Sprinkler oder Hochdrucksprühsysteme und für Menschen gefährliche Sauerstoffeliminationsanlagen zu verzichten. Zur Wärme- respektive Kälteversorgung dient neben Fernwärme ein Eisspeicher unter dem großen vorderen Hof: Eine Wärmepumpe entzieht dem Wasser im Behälter Wärme, sodass dieses gefriert und die Kälteenergie im Sommer für die Lüftung genutzt werden kann. Archivgüter finden sich nicht nur im Magazinbaukörper, sie werden auch in anderen Bereichen des Hauses restauriert, genutzt oder bearbeitet. Das erklärt die umlaufenden tiefen Brise-Soleils – aber auch die Tatsache, dass die Höfe zwecks Vermeidung des Eintrags von Feuchtigkeit oder Wärme in die Raumluft nicht betreten werden dürfen.

Waechter + Waechter ist es gelungen, ein funktional im besten Sinne stringentes und zudem im wahrsten Sinne des Wortes einleuchtendes Gebäude zu realisieren, das sehr gute Bedingungen für das Archivgut schafft, aber auch auf die Befindlichkeiten der durch die Katastrophe traumatisierten Mitarbeiter Rücksicht nimmt. Ein Archiv mit Tiefmagazin wäre angesichts des Grundwasserdesasters von 2009 undenkbar gewesen. Das der zentrale Archivschrein nun sichtbar die Mantelbebauung überragt, ist ein willkommener Nebeneffekt. So himmelsstürmend und zeichenhaft wie der Ziegelsteinpfeiler von Ortner & Ortner gibt sich das Gebäude in Köln nicht, doch städtebaulich präsent ist es auf jeden Fall. Und Präsenz zu markieren, steht diesem Gebäude, das das Gedächtnis der Stadt bewahrt, gut zu Gesicht.

db, Di., 2021.12.07



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09. November 2021Ulrike Kunkel
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Autos raus, Leute rein

Seit letztem Jahr geht es mit einem dynamisch-geschwungenen Gebäudekomplex in den Gleisdreieck-Park hinein. Wo früher das markante Parkhaus von Renzo Piano stand, wird nun nur noch zur Hälfte geparkt und zur anderen Seite hin gewohnt – mit grandiosem Blick in den Park. Eine »Umnutzung« nach Teilabriss die konzeptionell und städtebaulich überzeugt und Schule machen sollte.

Seit letztem Jahr geht es mit einem dynamisch-geschwungenen Gebäudekomplex in den Gleisdreieck-Park hinein. Wo früher das markante Parkhaus von Renzo Piano stand, wird nun nur noch zur Hälfte geparkt und zur anderen Seite hin gewohnt – mit grandiosem Blick in den Park. Eine »Umnutzung« nach Teilabriss die konzeptionell und städtebaulich überzeugt und Schule machen sollte.

debis, die Dienstleistungstocher von Daimler-Benz, ist längst Geschichte, und der 1998 eröffnete Gebäudekomplex, den Renzo Piano und Christoph Kohlbecker zwischen Potsdamer Platz und Landwehrkanal errichtet haben, hat mittlerweile andere Eigentümer. Zum Gesamtkomplex gehörte seinerzeit auch ein langgestrecktes Parkhaus entlang der auf einer Brückentrasse geführten U2. Es entstand auf einer Bahnbrache südlich des Kanals und wurde wie auch die Bürobauten auf dem Potsdamer Platz mit den für Piano ikonischen ockerfarbenen Keramikplatten bekleidet. Doch die Anzahl von 1 500 Stellplätzen stammte offenkundig noch aus Prognosen einer Ära der hemmungslosen Individualmobilität: Die Hochgarage stand stets zu weiten Teilen leer, war also am Bedarf vorbeigeplant. Diese Situation war auf Dauer weder ökologisch noch ökonomisch vertretbar, zumal die einstigen Brachflächen der Umgebung sich inzwischen in den überaus beliebten Park am Gleisdreieck verwandelt hatten. Dessen auf dem Gelände des früheren Potsdamer Güterbahnhofs entstandener und als Westpark titulierter Teil, der mit seinem nördlichen Zipfel bis ans Schöneberger Ufer vorstößt und auf der Ostseite vom Parkhaus flankiert wird, wurde 2014 fertiggestellt. Zeit also, für das unternutzte Parkhaus eine sinnvolle, zukunftsfähige und nicht zuletzt natürlich auch renditestärkere Lösung zu finden. Man entschied sich, das Gebäude längs zu kappen und damit die Stellplatzanzahl zu halbieren. Erhalten blieben die markanten Spindelrotunden im Norden und Süden sowie der zur U2 hin gelegene Strang mit den Stellplätzen, während die zum Park hin orientierte Seite rückgebaut und durch einen sechsgeschossigen Wohnbau von 185 m Länge ersetzt wurde. Unter acht Büros, die am eingeladenen Wettbewerb teilnahmen, konnte sich KSP Engel durchsetzen, 2020 war das Projekt fertiggestellt.

Gegliederter Baukörper

Der Neubau, der von den Rampenspindeln und vom verbliebenen Teil des Parkhauses dreiseitig umgriffen wird, öffnet sich mit durchgehenden Balkonen zum Park. Die unterschiedliche Bautiefe der Wohnungen führt zu einer geschwungenen Silhouette: Das Gesamtvolumen gliedert sich in vier Bauten mit je eigenem Eingang und eigener Adresse, sodass die Monotonie eines bandförmigen Megablocks vermieden wird; die Einschnitte brechen die Länge des durchgängigen Baukörpers auf angenehme Weise auf, ohne dass das Gesamtvolumen in einzelne Baublöcke zerfällt. Die stählernen Balkongeländer mit eingeschnittener Flosse wirken je nach Blickwinkel mal geschlossen und mal offen. So ergibt sich für die Bewohnerinnen und Bewohner ein Sichtschutz, ohne dass die Brüstungen massiv ausfallen. Schwarze Stahlprofile mit leichtem Braunstich, weiße Fassadenbänder und der Champagnerton der rhythmisierenden Trennwände unterstützen die attraktive parkseitige Gestalt des Neubaus, die für die Passantinnen und Passanten fast chamäleonartig stets sich wandelnd in Erscheinung tritt.

Erschliessung durch Laubengänge

Ein zurückhaltender grüner Wall, eher eine Bodenwelle, grenzt die Wohnbebauung vom Park ab. Zwischen den Vorgärten des parkseitigen EG führen Durchgänge in die Sequenz rückseitiger Erschließungshöfe, die im Osten von der Außenwand der Restparkgarage begrenzt werden, die zugleich als Brandwand fungiert. Ein mittiger, vertikaler Erschließungskern pro Haus gliedert die Hofschicht in eine Sequenz von acht offenen Räumen; Laubengänge gewährleisten die Erschließung der Wohneinheiten in der Horizontale. Das ist aufgrund der gegebenen Situation – im Osten Parkhaus und Bahn (zukünftig sogar noch eine weitere Trasse), im Westen der Park – die einzig plausible Lösung. Und sie besitzt aufgrund des Umgangs mit Restriktionen und Potenzialen auch einigen Charme: Vielleicht funktioniert so etwas nur in Berlin, wo nicht alles im landläufigen Sinne schön zu sein hat. Aber die schmalen Höfe, die im Sommer angenehm kühl sind, wirken großzügig, die Laubengänge besitzen angenehme Proportionen. Eigentlich sollte hier alles grüner aussehen, aus Kostengründen schrumpften die begrünten Wände zur Teilbegrünung, ganz abgesehen von den Schwierigkeiten der Entwässerung. Auch die schöne Idee, die Keramikelemente des rückgebauten Garagenteils hier wiederzuverwenden, gewissermaßen als Reminiszenz an die vormalige Nutzung, wurde leider nicht umgesetzt. Die Liebe zum Detail zeigt sich aber überall, so z. B. am auf dem WDVS aufgetragenen Kammputz der Fassaden auf der Laubengangseite.

Alle Wohnungen werden über die Laubengänge erschlossen und orientieren sich zum Park hin. Die durchlaufende Homogenität der Fassaden lässt dabei nicht erkennen, dass sich dahinter durchaus unterschiedliche Wohnungstypen befinden. Haus 1, also das nördlichste, ist möblierten Mini-Apartments vorbehalten. Die Häuser 2 bis 4 umfassen jeweils 34 Wohnungen mit unterschiedlichen Größen und Grundrissen; die Wohnungen im 5. OG besitzen einen Zugang zu einer individuellen Dachterrasse mit grandiosem Ausblick über den Park.

Die Eigentümer haben auf einen Mix gesetzt: einige Wohnungen werden kurzfristig vermietet, bei anderen setzt man auf langfristige Mietverträge, die dritte Kategorie sind gehobene Eigentumswohnungen.

Ökonomie und Ökologie

Gewiss: Der »Gleis Park«, so der Marketing-Name, zählt nicht zu den in Berlin so dringend notwendigen Projekten, um kostengünstigen Wohnraum zu schaffen, gleichwohl überzeugt das Konzept, weil es zeigt, wie sich ökonomische und ökologische Ideen vereinen lassen: Autos raus, Leute rein. Auf diese Weise ist es ein Baustein für eine postautomobile Gesellschaft, selbst wenn diese für die Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht nur die benachbarte Hochgarage, sondern auch eine Tiefgarage nutzen können, noch gar nicht angebrochen sein muss. Aber der Rückbau zumindest des Teils eines Parkhauses und sein Ersatz durch einen attraktiven Wohnbau ist schon einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Ganz abgesehen davon, dass das Projekt auch auf architektonischer Ebene zu überzeugen vermag.

db, Di., 2021.11.09



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db 2021|11 Wohnen am Laubengang

08. Dezember 2020Ulrike Kunkel
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Rhythmische Staffelung am Hang

Nach Jahrzehnten in einem räumlichen Provisorium hat die weit über Stuttgart hinaus berühmte John Cranko Schule endlich ein adäquates Domizil erhalten. Mit seinen beiden Eingangsbauten und der dazwischen liegenden, gelungenen und von außen ablesbaren Abfolge von Schulräumen, Ballettsälen, Erschließungsflächen, Terrassen und Innenhöfen, ist der Komplex aber auch städtebaulich ein Gewinn für die Landeshauptstadt.

Nach Jahrzehnten in einem räumlichen Provisorium hat die weit über Stuttgart hinaus berühmte John Cranko Schule endlich ein adäquates Domizil erhalten. Mit seinen beiden Eingangsbauten und der dazwischen liegenden, gelungenen und von außen ablesbaren Abfolge von Schulräumen, Ballettsälen, Erschließungsflächen, Terrassen und Innenhöfen, ist der Komplex aber auch städtebaulich ein Gewinn für die Landeshauptstadt.

Der Ruf John Crankos ist in Stuttgart legendär. Nachdem der britische Choreograf 1961 die Leitung des Stuttgarter Balletts übernommen hatte, formte er in der guten Dekade bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1973 daraus eine hochgelobte, auch international erfolgreiche Kompagnie. Das Debut 1969 an der Metropolitan Opera in New York geriet zum fulminanten Siegeszug, Gastspielreisen führten die Stuttgarter rund um den Globus. Und es gelang, den Erfolg unter den nachfolgenden Intendanten und Intendantinnen zu verstetigen.

Eine der Gründe für dieses »Stuttgarter Ballettwunder« war eine eigene Ballettschule, die Cranko 1971 in Stuttgart gegründet hatte. Heute werden zwei Drittel der Tänzer und Tänzerinnen des Stuttgarter Balletts an der John Cranko Schule ausgebildet. Ansässig war die Institution lange Jahre in einem umgebauten Druckereigebäude an der Urbanstraße nordöstlich der Innenstadt. Dem kanadischen Intendanten Reid Anderson gelang schließlich der entscheidende Schritt: Seine langjährige Überzeugungsarbeit in den Kreisen von Politik und Sponsoren führte zum Beschluss eines eigenen Neubaus für die Schule. 2011 konnte ein prominent besetzter Architekturwettbewerb durchgeführt werden. Überraschungssieger wurde der Beitrag des seinerzeit nahezu unbekannten Münchner Büros Burger Rudacs. Sie konnten die nationale und internationale Prominenz ausstechen, darunter Lederer Ragnarsdóttir Oei, Zaha Hadid, Nieto Sobejano, gmp, Snøhetta, Delugan Meissl und Sauerbruch Hutton.

Herausforderung Topografie

Als einzigen Teilnehmern des Wettbewerbs war es dem Architekturbüro aus München gelungen, mit einer Staffelung von Volumina auf die Herausforderungen der Topografie zu reagieren. Denn das Baugrundstück – vormals Standort eines alten Wasserwerks, dessen denkmalgeschützte unterirdische Kavernen erhalten bleiben mussten – erstreckt sich am Hang zwischen Urban- und Verastraße und weist eine Höhendifferenz von 21 m auf. Burger Rudacs ließen die nördliche Hälfte des Grundstücks frei, um eine für den Stuttgarter Talkessel wichtige Frischluftschneise zu bewahren, und konzentrierten die Baumasse auf der Südseite. Insgesamt fünf durch hofartige Einschnitte deutlich voneinander differenzierte Segmente erklimmen den Hang, wobei der viergeschossige Riegel des Internats mit Doppelzimmern für 80 der insgesamt 150 Schüler den markanten oberen Abschluss bildet. Die Segmente darunter werden jeweils aus der Kombination eines größeren, über Oberlichter talseitig belichteten und eines kleineren, großflächig zum Park hin geöffneten Probensaals gebildet. Mit 12 x 12 und 9 x 9 m besitzen die Säle quadratischen Zuschnitt; dem insgesamt 90 x 36 messenden Gebäude liegt ein 3-m-Raster zugrunde. Von außen kaum erkennbar, schiebt sich unter das talseitige Ende des Gebäudes eine große Probebühne mit einer Zuschauertribüne und einem doppelgeschossigen, mit einer elliptischen Öffnung verbundenen Foyer. Mit 30 x 24 m entsprechen die Abmessungen des 10 m hohen Bühnenraums exakt denen der Staatsoper, die gar nicht weit entfernt unten im Talboden liegt. Die auch für öffentliche Aufführungen genutzte Probebühne unten und der private Internatsbaukörper oben bilden mithin zwei Pole mit eigenen Eingängen, zwischen denen sich die terrassierte Sequenz der eigentlichen Unterrichtsräume aufspannt.

Begleitet wird diese auf der Südseite von einer Spange, welche die Administration, Räume für das Lehrpersonal und eine Bibliothek aufnimmt. Von den Korridoren aus erlauben große Verglasungen Einblicke in die Probensäle, am jeweiligen Ende der Gänge befinden sich kleine Loggien. Der größte Außenraum indes ist die große, mit einer kreisförmigen Dachöffnung versehene Terrasse, die sich an die im EG des Internatsbaus untergebrachte Mensa anschließt und damit so etwas wie das kommunikative Binnenzentrum des Hauses darstellt. Aufgrund dieser Anordnung ist der an dieser Stelle befindliche Probensaal hier in den Sockel verschoben.

Purismus und Klarheit

Der klaren Organisation der Räume entspricht eine ebenso klare Materialsprache. Das gesamte Gebäude wurde innen und außen in, durch weiße Titandioxid-Pigmente leicht aufgehelltem Sichtbeton realisiert, wobei Schaltafeln im liegenden Format von 3 x 1,75 m Verwendung fanden. Die Außenwände sind zweischalig aufgebaut. Eine besondere Herausforderung stellte die stützen- und unterzugslose Konstruktion der Probebühne dar: Hier fungieren die Wandscheiben der darüberliegenden Übungssäle als Träger. Die gesamte Haustechnik ist in den Decken und Wänden verborgen: Elektrorohre, Sprinkleranlage, Betonkernaktivierung und Dachentwässerung. Nichts stört damit den puristischen Charakter, der das Gebäude auch im Innern prägt.

Hinzu treten nur wenige weitere Materialien: Holz und eloxiertes Aluminium an den Fenstern, polyurethanbeschichtete Fußböden, Holzbekleidungen und natürlich die großflächigen Verglasungen. In den Tanzsälen reichen die Wandbekleidungen bis zu den Oberlichtern, die Spiegel besitzen dieselbe Höhe. Die Klarheit und Präzision, mit der Burger Rudacs vorgegangen sind, beeindruckt: Auf alles, was ablenkt, wurde verzichtet, auch auf zusätzliche Farbigkeit, um möglichst neutrale Räume für die jungen Tänzer und Tänzerinnen zu schaffen. Gottlob verhallte die von politischer Seite aus zwecks Kostenreduktion erwogene Realisierung mit einem Wärmedämmverbundsystem ungehört.

Die Architekten sprechen angesichts ihrer Baukörper von Rhythmus und Struktur und von einer Analogie zu Musik und Tanz. Solche Vergleiche mögen mitunter etwas floskelhaft anmuten – doch bewegt man sich durch das Haus mit seiner terrassierten Abfolge von Räumen und Sälen, so wird die Inspiration hier tatsächlich erlebbar. Das gilt auch für die dem Park zugewandte Südseite. Dank der Einkerbungen gliedert sich die Baumasse in fünf miteinander verbundene und doch differenziert wahrnehmbare Baukörper – die unteren vier mit den Tanzsälen, zuoberst der Wohnblock mit den Apartments der Studierenden. Eine Betontreppe führt parallel zum Gebäude durch den Park. Geplant war sie als Teil einer öffentlichen Wegverbindung von der Uhlandshöhe zum Zentrum. Doch die Schulleitung befürchtet, dass die Treppenstufen Voyeure anlocken, sodass der attraktive Weg zunächst nicht öffentlich ist.

Neuer Baustein der Kulturmeile

Burger Rudacs haben aber nicht nur einen extrem funktionalen, logischen, im besten Sinne dienenden und bei allem Purismus auch körperlich präsenten Baukörper errichtet, ihnen ist es überdies gelungen, das relativ große Volumen mit 6100 m² Nutzfläche stadtbildverträglich zu integrieren. Durch die Staffelung der Segmente wirkt die Kompaktheit nicht erdrückend und fügt sich in die Maßstäblichkeit der Umgebung wunderbar ein. Das ist umso wichtiger, als man den Neubau von verschiedenen Punkten der Stadt aus gut erkennen kann, etwa vom Turm des amputierten Hauptbahnhofs oder von der anderen Seite des Talkessels. Direkt oberhalb der Alten Staatsgalerie am Hang gelegen, ist die John Cranko Schule für die Kulturmeile der Landeshauptstadt ein wichtiger Zugewinn. Zu hoffen bleibt, dass die Öffentlichkeit möglichst bald Veranstaltungen besuchen und sich ein eigenes Bild machen kann; coronabedingt ging die offizielle Eröffnung im September weitgehend digital über die Bühne.

db, Di., 2020.12.08



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02. Oktober 2020Ulrike Kunkel
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Holz Total

Eine Innerschweizer Holzbaufirma setzt seit Längerem auf den Vollholzbau. Nun ist auf dem Werksareal ein Bürogebäude entstanden, das demonstriert, wie man (fast) ohne Verbundwerkstoffe, Leim, Schrauben und Nägel bauen kann: nur mit Holz eben – und einem Kern aus Beton.

Eine Innerschweizer Holzbaufirma setzt seit Längerem auf den Vollholzbau. Nun ist auf dem Werksareal ein Bürogebäude entstanden, das demonstriert, wie man (fast) ohne Verbundwerkstoffe, Leim, Schrauben und Nägel bauen kann: nur mit Holz eben – und einem Kern aus Beton.

Dass Bauholz im Winter geschlagen werden muss, wusste schon Vitruv: nach der Vegetationsperiode kommt der Baum zur Ruhe und gewinnt an Festigkeit. Zusätzlich von Bedeutung sind die Mondphasen, wie es verschiedene holzwirtschaftliche Traktate behaupten. Zur Zeit des abnehmenden Monds geht das Wasser im Holz zurück, nach Neumond steigt es wieder in die Spitze. Das vor Neumond geschlagene Holz ist mithin weniger feucht und dichter: Es muss weniger stark getrocknet werden und ist überdies stärker geschützt gegenüber Schädlingsbefall.

Zugegeben, am Mondholz scheiden sich die Geister. Technokratisch gesinnte Zeitgenossen mit einem instrumentellen Verhältnis zu natürlichen Ressourcen sehen darin esoterischen Schnickschnack, doch jüngere Studien legen durchaus nahe, dass lunar-korrelierte Phänomene im Holz, die über Jahrhunderte die Holzfällerregeln im zentralen Europa bestimmten, nicht von der Hand zu weisen sind. Stephan Küng ist vom Mondholz überzeugt. Sein Vater Walter hatte die lokale Zimmerei und Schreinerei 1977 in Alpnach im Schweizer Kanton Obwalden gegründet. Anfangs waren es vier Personen, die alles aus Holz anfertigten, was man im Dorf und seiner Umgebung benötigte. Fünf Jahre später arbeiteten schon 15 Beschäftigte in Alpnach, und seither ist die Firma stetig gewachsen. 2006 – Sohn Stephan war gerade ein Jahr in der Firma tätig – wurde das »holzpur-System« eingeführt. Dieses ist heute das eigentliche Aushängeschild des Unternehmens, das gleichwohl parallel auch konventionelle Holzbauten erstellt.

Nichts als Holz

holzpur, nomen est omen, ist ein Bausystem, das nur aus Holz besteht. Die Wände werden aus zwei Elementen mit jeweils sieben kreuzweise wie bei Sperrholz übereinander gelegten Bretterschichten von 3 cm gebildet, sodass sich die Gesamtwanddicke zu 42 cm addiert. Es gibt drei Hersteller für derartige Vollholzsysteme in der Schweiz, und auch diese Technik ist nicht ganz unumstritten: Kritiker führen an, dass auch mit der nachwachsenden Ressource Holz sparsam umgegangen werden sollte und man aus der Menge an Material, die für ein Vollholzgebäude verbraucht werde, mehrere konventionelle Holzbauten erstellen könnte. Allerdings findet bei den inneren Lagen der holzpur-Elemente Fichtenholz geringer Güte Verwendung, das sonst ­allenfalls geschreddert und zu Holzfaserprodukten verarbeitet oder gar thermisch verwertet wird. Unregelmäßigkeiten spielen übrigens keine Rolle, da Lufteinschlüsse im Innern der Wände sogar durchaus gewünscht sind.

Eine zusätzliche Dämmung ist bei diesem System aufgrund der Massenträgheit und der isolierenden Wirkung nicht nötig, und Holzbau Küng geht so weit, die Lagen nicht zu verschrauben, zu nageln oder zu verleimen, sondern mit angefeuchteten und dann aufquellenden Buchendübeln zu verbinden.

Ein Gebäude als Visitenkarte

Der Verzicht auf Verbundwerkstoffe sowie auf Leim, Metall und andere Zusätze, die Verwendung unbehandelter Hölzer stößt auf steigendes Interesse, und so beschäftigt die Firma derzeit 80 Mitarbeitende und 15 Projektleitende – also Personen, die für und mit den Architekten die Entwürfe umsetzen und die Details zeichnen. 2013 wurde eine Werkshalle errichtet, in der die holzpur-Elemente vollautomatisiert produziert werden. Den Auftrag erhielt das im nahen Sarnen sowie in Luzern ansässige Büro von Patrik Seiler und Søren Linhart, das mit Küng zuvor schon einige Bauten realisiert hatte. Die Beziehung zwischen Architekten und Unternehmen intensivierte sich noch, als Stephan Küng, der 2017 die Firmenleitung von seinem Vater übernahm, 2015-18 sein privates Wohnhaus durch Seiler Linhart errichten ließ. Und nun ist als jüngstes Gemeinschaftsprojekt das Bürogebäude entstanden, in dem sich die dringend benötigten Besprechungsräume sowie die Einzel- oder Doppelbüros für die Projektleiter befinden. Und in dem ganz oben unter dem Dach zukünftig in einem kleinen Ausstellungsbereich auch Gäste empfangen und mit den Produkten der Firma und dem Thema naturnahem Bauen vertraut gemachten werden können.

Das Gebäude löst also Raumnot, besitzt, als Visitenkarte der Firma, aber auch Strahlkraft nach außen. Und selbstverständlich bestehen die Wände aus holzpur – außen mit sägerohem Fichtenholz, innen mit Weißtanne verschalt. Über den Fenstern und Türen sind Mondmotive in Platten eingefräst, die ornamental auf das Mondholz verweisen.

Doch die Fassade des viergeschossigen Gebäudes tritt hinter einer äußeren Lauben-Raumschicht, die aufgrund der Exponiertheit als Hängetragwerk aus Eiche konstruiert ist, zurück. Seiler Linhart orientieren sich an der Idee der Lauben der traditionellen Innerschweizer Häuser, erweitern diese jedoch zu Umgängen. Die, aufgrund der nach oben hin zunehmenden Auskragungen leicht schräg geführten Zugstangen, die Gleichgewichtigkeit der Fassaden und das von einer Laterne durchbrochene Zeltdach lassen ein markantes, bildhaftes Volumen entstehen. Die Lauben selbst übernehmen gleich mehrere Funktionen: Über die französischen Fenster für die Mitarbeitenden zugänglich fungieren sie als Außenraum, dienen gleichzeitig der Verschattung – sodass Store überflüssig wurden – und sind natürlich auch konstruktiver Holzschutz für die Fassade.

Schale und Kern

Tritt man ins EG mit Empfang, Chefbüro und rückwärtigem Gemeinschaftsraum, in dem gemeinsam gegessen oder auch gefeiert wird, so stößt man zunächst auf einen Kamin. Das mag in einem Bürogebäude überraschen, doch die Bauherrschaft, die Wohnhäuser herstellt, wünschte sich auch hier eine ­Atmosphäre der Wohnlichkeit. Wer auch immer im Winter das Gebäude als Erster betritt, macht den Kamin an. Dieser ist integriert in den Kern des Gebäudes, der aus Sichtbeton besteht, komplett sandgestrahlt ist und die Treppen, Aufzüge und Nasszellen umfasst. Gewissermaßen stellt der Kern eine Gegenwelt zur Konstruktionslogik des umgebenden Holzbaus dar: gegossen und dunkel, nicht gefügt und hell. Die Kanten sind plastisch ausgebildet, sodass der skulpturale, fast felsige Charakter verstärkt wird, und runde Aussparungen in den Wänden lenken beim Hinauf- oder Hinabgehen den Blick in das Geschoss darüber oder darunter.

Präzision und Perfektion

Beeindruckend ist die Präzision, mit der Seiler Linhart die Materialien verwendeten. Alle Türen und Möbel, die im Kern liegen, bestehen aus schwarz geölter Eiche. Alles Übrige ist in unbehandelter Weißtanne und Fichte ausgeführt. Für die Handläufe und die Staketengeländer der Lauben kam geöltes Eisen zur Anwendung, im Eingangsbereich findet sich ein Sumpfkalkboden, der von den Mitarbeitenden selbst gestampft wurde. Der Deckenaufbau mit seinen Gitterstrukturen aus Buche ist ebenfalls eine eigene Erfindung und eigene Produktion. Wie bei holzpur möglich, wurden die Kanäle für die Heizschlaufen der Fußbodenheizung direkt in die Bretterlage gefräst. Die Trennwände im Innern sind nichttragend und gewähren daher die gewünschte Flexibilität in den Büros. Die Architekten entwarfen auch das gesamte Mobiliar und entwickelten ein Stecksystem für Schrankmöbel. Auch dieses kommt ohne Leim und Schrauben aus und kann von den Mitarbeitenden je nach Bedarf zusammengestellt und verändert werden. Dazu kommen verstellbare Tische, die mit Winden hoch- und runtergefahren werden.

Ohne Zweifel, Seiler Linhart ist die Balance zwischen Funktionalität und Opulenz aufs Beste gelungen. Es handelt sich eigentlich um ein klares, kompaktes Volumen, das aufgrund seiner umlaufenden Lauben und des skulpturalen Betonkerns überraschend vielgestaltig, also keineswegs spröde oder kantig wirkt. Es demonstriert, wie ein präziser und perfekter Holzbau heute aussehen kann, und ist damit nicht zuletzt auch das gewünschte Anschauungsobjekt für das von Küng Holzbau entwickelte Vollholzsystem.

db, Fr., 2020.10.02



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db 2020|10 Bauen mit Holz

03. März 2020Ulrike Kunkel
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Schwarzwaldfeeling

Dunkle Tannen und helle Lichtungen, Tannenzapfen und verwitterte Holzschindel-Fassaden – typische Schwarzwald-Motive, die das Gestaltungskonzept von blocher partners für die Gaststätte der Badischen Staatsbrauerei Rothaus in der Stuttgarter Mall »Gerber« aufgreift. Doch kein Zitat, keine Anlehnung an die Heimatregion der Brauerei kommt plump und anbiedernd daher; subtil wurden die einzelnen Motive in eine ansprechende, moderne und originelle Gestaltungssprache übersetzt.

Dunkle Tannen und helle Lichtungen, Tannenzapfen und verwitterte Holzschindel-Fassaden – typische Schwarzwald-Motive, die das Gestaltungskonzept von blocher partners für die Gaststätte der Badischen Staatsbrauerei Rothaus in der Stuttgarter Mall »Gerber« aufgreift. Doch kein Zitat, keine Anlehnung an die Heimatregion der Brauerei kommt plump und anbiedernd daher; subtil wurden die einzelnen Motive in eine ansprechende, moderne und originelle Gestaltungssprache übersetzt.

Seit Mai 2019 hat der Schwarzwald im sogenannten Gerber im Stuttgarter ­Süden Einzug gehalten. Einer ambitioniert gestarteten und im Innenausbau nach einem Entwurf von ippolito fleitz gestalteten Mall, die dennoch von Anfang an ihre Probleme hatte und nach wie vor nur bedingt frequentiert wird. V. a. die Gastronomieangebote im EG wollten bisher nicht recht funktionieren, sodass es seit der Eröffnung des Einkaufszentrums 2014 bereits zu zahlreichen Wechseln kam. Nun versucht sich hier – und allem Anschein nach mit wachsendem Zuspruch und Erfolg – die landeseigene Brauerei Rothaus aus dem gleichnamigen Ort im Hochschwarzwald auf 760 m² Fläche mit ihrem ersten eigenen Gastronomiebetrieb. Von einer klassischen Brauereigaststätte kann man allerdings nicht sprechen. Die Speisen sind wohlgewählt. Hochwertige, regionale Produkte verbinden sich mit Bierspezialitäten zu ­einer modernen, aber nicht überkandidelten Küche. Die Speisekarte, weitere Druckerzeugnisse sowie Logo, Naming und die Adaption für die Werbeanlagen an der Fassade sind von typenraum, der Kommunikationsagentur der Innenarchitekten, für die Gaststätte entwickelt worden.

Wer ist eigentlich Biergit?

Mindestens das Tannenzäpfle-Bier mit seinem prägnanten Etikett ist inzwischen bis weit über die Grenzen des Schwarzwalds hinaus bekannt. Das blonde Schwarzwaldmädel in typischer Tracht, das in jeder Hand ein Glas Bier hält, ist längst Kult geworden. Rothaus-Trinker haben ihr den fiktiven Namen Biergit Kraft gegeben; entstanden aus der alemannischen Aussprache der Phrase »Bier git (= gibt) Kraft«. Das Etikett zeigt außerdem sieben Tannenzapfen – die ungewöhnlicherweise hängend dargestellt sind.

Zunächst etwas überrumpelt von dem plötzlichen Kultstatus ihres traditionell in 0,33-l-Flaschen gereichten Biers, spielt die Brauerei längst recht professionell damit. Kein Wunder also, dass die Wand hinter der zentral im Raum angeordneten Bar ausschließlich mit »Tannenzäpfle-Flaschen« bestückt und ­gestaltet ist. Exakt ausgerichtet in einer beleuchteten Vitrine ergeben die Farben der unterschiedlichen Etiketten – Gold = Pils, Weiß = Pils alkoholfrei, Orange = Weizen, Blau = Weizen alkoholfrei, Hellgrün = Radler, Silber = Eis-Zäpfle, Rot = Märzen und wieder Gold – einen dezenten Farbverlauf mit eindrucksvoller Wirkung. Davor: die Kupferrohre der Zapfanlage und der langgestreckte, ebenfalls kupferne Tresen.

Doch das ist bei Weitem nicht das einzige, was den Barbereich besonders macht: Eine Deckeninstallation aus über 9.500 herabhängenden, schwarz geräucherten Holzschindeln, zwischen denen an einigen Stellen gebündeltes Licht wie Sonnenstrahlen in einem dichten Wald auf den Boden fällt, inszeniert hier die dunkle, unheimliche Seite des Schwarzwalds. Diese Deckengestaltung zieht sich bis in den seitlich, entlang der Fensterfront zur Straße gelegenen Loungebereich hinein. Hier umschließt sie einen großen, fast raumhohen dunkelgrünen Kachelofen mit umlaufender Bank, auf der es sich an kalten Tagen wohlig warm sitzen lässt, wie in der guten Stube. Eine Kachelreihe ist als Schmuckfries ausgebildet. Mit ihrem Tannenzapfen-Motiv verweist sie wiederum auf den Rothaus-Verkaufsschlager.

Dunkle Tannen, weite Lichtungen

Diese dunkel gehaltenen Bereiche, in denen mit präzise ausgerichtetem Licht und einigen wenigen Farben der Polstermöbel und Kissen gezielt Akzente gesetzt werden, sind von hellen, offen gestalteten Restaurant-Flächen umgeben. Es hat den Anschein, als würde man aus dem dunklen Wald hinaus auf eine weite, lichtdurchflutete Lichtung treten. Ein geweißter und geölter Dielen­boden aus Tannenholz und die mit Fichtenholz-Schindeln bekleideten Wände – teilweise werden in abstrahierter Form Tannenzapfen dargestellt, die in ­ihrer Art an die Grafik der Tannenzäpfle-Etiketten erinnern –, bestimmen die Atmosphäre. In diesem Teil findet sich auch das wohl typischste Schwarzwald-Symbol: die Kuckucksuhr. Hier in einer reich verzierten, mannshohen Version, die der traditionellen Uhrmacher- und Handwerkskunst huldigt. Ein unter der Decke geführtes System aus dünnen Kupferrohren mit integrierten Leuchten erhellt diese Bereiche des Restaurants. Es stellt einen gelungenen Bezug zu den Kupferkesseln und -rohren, die beim Bierbrauen bzw. -zapfen verwendet werden, her.

Das helle, schlichte Holzmobiliar wurde nach Entwürfen der Architekten von der Schweizer Möbel-Manufaktur horgenglarus gefertigt. Mittendrin fällt plötzlich ein Tisch-Stuhl-Ensemble auf und aus der Reihe: ein alter Holztisch mit zehn Stühlen drumherum – übernommen aus einem Schwarzwaldgasthaus. Ein gelungener »Störer« innerhalb der ansonsten so edlen Innenraumgestaltung und Ausstattung.

Das Schwarzwald-Motiv wird übrigens sogar bis in die Sanitärbereiche hinein gespielt. Der Offenburger Künstler Stefan Strumbel hat für die WC-Trennwände ein kaleidoskopartiges Ornament aus Schinken, Brot, Schwarzwälderkirschtorte und weiteren Schwarzwald-typischen Lebensmitteln entwickelt – skurril. Buchstäblich überall im Lokal kann man den Schwarzwald förmlich spüren, aber stets auf eine unterschwellige Art und Weise und ganz ohne Folklore-Tümelei. Mit der Rothaus-Gaststätte sollte nun eine reelle Chance bestehen, im »Gerber« eine attraktive Gastronomie zu etablieren.

db, Di., 2020.03.03



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db 2020|03 Essen und Trinken

09. Dezember 2019Ulrike Kunkel
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Verdrehte Architektur

Die Idee des Twists bestimmt den Neubau von BIG im Skulpturenpark Kistefos nördlich von Oslo. Das Gebäude ist Brücke, Museum und Skulptur zugleich – und beweist, dass attraktive Ausstellungsbauten nicht aus der konventionellen Reihung von White Cube und Black Box bestehen müssen.

Die Idee des Twists bestimmt den Neubau von BIG im Skulpturenpark Kistefos nördlich von Oslo. Das Gebäude ist Brücke, Museum und Skulptur zugleich – und beweist, dass attraktive Ausstellungsbauten nicht aus der konventionellen Reihung von White Cube und Black Box bestehen müssen.

Von Oslo aus erreicht man Kistefos mit dem Auto in einer guten Stunde. Einige Kilometer südlich von Jevnaker gelegen stellt es – mit seiner Kombination aus historischen Industrieanlagen, einem vom mäandrierenden Fluss Randselva durchzogenen waldreichen Tal und zeitgenössischen künstlerischen Installationen – das ideale Ziel für einen Tagesausflug dar. Ein anheimelndes Restaurant gibt es auch, Spielplätze ohnehin, und so ist das Areal auch an diesem trüben und regenreichen Herbstnachmittag gut besucht. Was wohl auch damit zu tun hat, dass vor Kurzem, am 18. September, die jüngste Attraktion von Kistefos eröffnet wurde: »The Twist«, das nach Aussagen seines Architekten Bjarke Ingels einen Hybrid aus Architektur, Infrastruktur und Skulptur darstellt. Als Ausstellungsgebäude überspannt das Bauwerk den Fluss – und wirkt doch zugleich wie eine weitere künstliche Intervention in diesem größten Skulpturenpark Norwegens. Prominentester Gast unter den 500 zur Eröffnung geladenen Gästen war Königin Sonja. Was vielleicht weniger mit der Prominenz von Bjarke Ingels, etwas mehr mit den Netzwerken des Kistefos-Mäzen Christen Sveaas, v. a. aber mit dem Ziel zu tun hat, Kistefos national und international zur touristischen Destination auszubauen. Der norwegische Staat und die Kommune Jevnaker sind – wenn auch zu geringeren Anteilen – an der Finanzierung des Projekts beteiligt, denn das Hügelland nördlich von Oslo zählt bisher nicht zu den touristischen Hotspots des Landes. Eher könnte man von einer Gegend sprechen, die man lediglich durchquert, um zum Norwegen der Berge, Fjorde und Gletscher zu gelangen. So ist eine Attraktion, die nicht nur die Bewohner aus der Kapitale zum Sonntagsausflug anlockt, hier überaus willkommen.

Zurück zu den Wurzeln

Der Wasserfall Kistefossen gab dem 1889 von Andres Sveaas gegründeten Unternehmen A/S Kistefos Træsliberi seinen Namen. Der Ort war ideal für den Bau einer Papiermühle geeignet: der Wasserfall verhalf dem Unternehmen zur nötigen Energie, das Holz wurde rund um den Randsfjord geschlagen, einer der größten Binnenseen Norwegens. Von dort gelangte es geflößt über den Wasserweg direkt bis zur Mühle. War Papier bisher im Allgemeinen aus Textilien gefertigt worden, so erlaubten technische Innovationen des 19. Jahrhunderts die kostengünstigere Herstellung auf Holzbasis: die Zerkleinerung von Holz mit Mahlsteinen und die Wasserturbine. Durch seine natürlichen Ressourcen Holz und Wasser war Norwegen prädestiniert für das neue Verfahren, und so schossen Ende des 19. Jahrhunderts etwa 100 Papiermühlen aus dem Boden. Mit den ebenfalls neu entstandenen Eisenbahnverbindungen gelangten die Rohpapierballen zu den Häfen, von wo aus sie nach Kontinentaleuropa oder ins Vereinigte Königreich verschifft wurden. Nach Zusammenschluss mit einem anderen Unternehmen, wurde das Ursprungswerk 1955 geschlossen. Um aber auf etwaige Veränderungen in der Firmenstruktur reagieren zu können, legte man die Anlage nur still. So blieb die Fabrik mit samt dem Maschinenpark als einzige ihrer Art in Norwegen erhalten. Christen Sveaas, Nachfahre des Firmengründers und im Finanzsektor reich geworden, kaufte acht Jahre später die Aktienmehrheit zurück. Der Mischkonzern ist mittlerweile in diversen Geschäftsfeldern wie Öl oder Schiffslogistik tätig, Holzwirtschaft spielt nur noch eine marginale Rolle.

Doch das Gesamtpaket umfasste auch den historischen und namensgebenden Standort Kistefos. Der norwegische Staat drängte auf den Erhalt der Fabrik und die Umwandlung in ein Industriemuseum, und Sveaas beschloss, die umgebende Landschaft in einen Skulpturenpark umzuwandeln. Sukzessive ist dieser seit der Gründung 1996 gewachsen, die meisten der Arbeiten wurden speziell für den jeweiligen Ort angefertigt. Viele der Beteiligten sind prominente Vertreter der norwegischen und internationalen Gegenwartskunstszene, darunter Claes Oldenburg, Coosje van Bruggen, Olafur Eliasson, Anish Kapoor und Tony Cragg. Der Hauptzugang zum Skulpturenpark befindet sich im Norden, neben der alten Fabrikantenvilla. Vom Pförtnerhäuschen mit verknautschter Metallhaut von Elmgreen og Dragset führt der Weg leicht abwärts zum Gebäudeensemble mit der Papiermühle. Die Besichtigung des Industriedenkmals allein lohnt den Besuch schon: Alles an Technik ist noch vorhanden, von den Turbinen im UG über die Sägerei zum Grobzuschnitt der Stämme und die Mahlwerke bis hin zu den Pressen für die Papierballen. Das ist faszinierend anzusehen – und überdies informativ erklärt. Die eher sparsam eingesetzten künstlerischen Installationen verblassen angesichts der Kraft und Stärke, welche die alten Maschinen ausstrahlen.

Skulptur im Licht

The Twist bildet nun seit Kurzem gewissermaßen den zeitgenössischen Gegenpol zur alten Fabrikanlage. Steht die Papiermühle dort, wo die beiden Arme des Randselva sich trennen, so überbrückt das Gebäude von BIG den Fluss dort, wo er wieder zu einem Bett zusammengefunden hat. Tatsächlich handelt es sich zunächst einmal um ein Infrastrukturprojekt, denn durch die Überbrückung werden die beiden bisher getrennten Teile des Parks zu einem Rundgang verbunden – Bjarke Ingels spricht vom »Loop«. Diese Setzung hat natürlich Auswirkungen auf die Atmosphäre der Ausstellungsräume: Der Twist ist nicht ausschließlich Ziel des Besuchs, sondern zugleich Durchgangsstation. Und da es keinen konkreten Rundgang gibt, betreten die Besucher das Gebäude sowohl von der einen als auch von der anderen Seite. Wobei der Parkrundgang entgegen dem Uhrzeigersinn letztlich plausibler ist, weil man sich dem Twist entlang des nördlichen Flussarms nähert und sehen kann, wie aus der gleißenden Skulptur in der Ferne Schritt für Schritt ein Gebäude wird.

Christen Sveaas hatte Studien mit tordierten Körpern von BIG gesehen, als er das dänische Büro 2011 mit dem Auftrag für ein Ausstellungsgebäude betraute. Ein konventionelleres Projekt, das der Sammler schon seit der Jahrtausendwende verfolgte, war zuvor gescheitert. Mit BIG erfolgte der Neustart, und der Gedanke des Twists wurde zur entscheidenden Entwurfsidee. Der 75 m lange Baukörper, der mit 40 cm breiten, vertikal versetzten Aluminiumpaneelen bekleidet ist, scheint in seiner Mitte um 90 Grad verdreht zu sein. Natürlich ist die konstruktive Realität eine völlig andere, denn konstruktiv handelt es sich um eine Stahlfachwerkstruktur, die ohne jegliche Torsion auskommt. Das Bild des Twists entsteht mittels der schmalen Aluminiumelemente, die sich auffächern und um das Gebäude herumwinden – nachvollziehbarerweise erwähnt Ingels einen Kartenstapel als Referenz.

Gewiss: Diese Form ist für das Brückengebäude nicht zwingend, sie will ein Hingucker sein. Aber hier kommt zum Tragen, dass es sich um eine architektonische Intervention in einem Skulpturenpark handelt. Es geht auch um optische Phänomene im Landschaftsraum, wie beispielsweise die auf einer Insel im Fluss platzierte S-Curve von Anish Kapoor beweist. BIG überträgt derlei Phänomene bei seinem 20-Mio.-Euro-Gebäude in den großen Maßstab.

Der Twist bietet die Möglichkeit, den Innenraum zu gliedern. Damit gibt es keine klassische Enfilade, sondern eine Abfolge drei miteinander verbundener Raumbereiche. Der nördliche Raumteil ist breitgelagert und relativ niedrig, die gesamte Ostseite ist verglast und öffnet den Blick über den Fluss zur alten Papiermühle. Es folgen der Twist mit auch im Innern schrägen Wänden – und schließlich ein 9 m hoher, vertikal orientierter Galeriebereich, der sich bei Bedarf durch eine Zwischendecke unterteilen lässt. Von den Fenstern abgesehen, bestimmen schmale vertikale Holzleisten das Innere – Wände ebenso wie Decken und Boden, weil im Twist das eine in das andere übergeht. Alles ist weiß gestrichen, ohne permanente Reinigung – gerade in den feuchten Herbsttagen – geht das nicht. Und abends, so erklärt es eine freundliche Aufsichtskraft, muss der Boden stets neu gestrichen werden. Weil die Wandfarbe, für die der Architekt sich entschieden habe, eben für den Boden nicht recht geeignet sei.

Puristen, die sich am liebsten in klassischen Museumsräumen bewegen, mögen sich hier so manche Frage stellen. Doch BIG ist es gelungen ein spannungsvolles Raumgefüge zu inszenieren, das zwischen Architektur und Skulptur oszilliert. Drei unterschiedliche Räume verbinden sich: Panoramic Gallery, Twisted Gallery und Closed Gallery, mit einer Ausstellungsfläche von insgesamt 800 m². In der Eröffnungsausstellung ist die Bespielung jedenfalls gelungen. Dialogisch zueinander treten die britischen Künstler Howard Hodgin – mit ihm begann Sveaas 1990 seine inzwischen 1 700 Werke umfassende Sammlung zeitgenössischer Kunst – und Martin Creed. Der Twist dient saisonal wechselnden Sonderausstellungen und nicht einer Querschnittspräsentation der umfangreichen Sammlung. Er beweist, dass es Alternativen zu Black Box und White Cube gibt, selbst wenn die Platzierung von Bildern auf den schrägen Flächen der Twisted Gallery vielleicht nicht jedermanns Sache ist.

Unbedingt lohnend ist aber auch ein Besuch der unterhalb der Treppe gelegenen Toiletten im UG. Nicht nur wegen der Videos von Tony Oursler, sondern auch, weil die Idee der tordierten Balken in anderer Materialität fortgesetzt wird – und sich vom Vorraum aus den Augen ein beeindruckendes Landschaftspanorama unter dem Gebäude darbietet.

db, Mo., 2019.12.09



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db 2019|12 Redaktionslieblinge

12. August 2019Ulrike Kunkel
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Gerichteter Blick

Der Stuttgarter Online-Weinhändler viDeli wollte aus der virtuellen Unsichtbarkeit auftauchen. Gemeinsam mit dem befreundeten Architekten Marco Hippmann wurde ein Grundstück gesucht und im Gewerbegebiet im Stuttgarter Osten auch gefunden. Entstanden ist eine schlichte Beton-Kiste, die einen funktionalen Lagerraum, Büros und den reduzierten, aber atmosphärischen Verkostungsraum »club traube« beherbergt. Durch wohl gesetzte Öffnungen werden Ein-, aber v. a. reizvolle Ausblicke gewährt – mitten im Gewerbegebiet an einer viel befahrenen Straße kein ganz einfaches Unterfangen.

Der Stuttgarter Online-Weinhändler viDeli wollte aus der virtuellen Unsichtbarkeit auftauchen. Gemeinsam mit dem befreundeten Architekten Marco Hippmann wurde ein Grundstück gesucht und im Gewerbegebiet im Stuttgarter Osten auch gefunden. Entstanden ist eine schlichte Beton-Kiste, die einen funktionalen Lagerraum, Büros und den reduzierten, aber atmosphärischen Verkostungsraum »club traube« beherbergt. Durch wohl gesetzte Öffnungen werden Ein-, aber v. a. reizvolle Ausblicke gewährt – mitten im Gewerbegebiet an einer viel befahrenen Straße kein ganz einfaches Unterfangen.

Auf dem alten Schlachthofareal, direkt an der Verkehrsachse Wangener Straße in Stuttgart-Ost zwischen Büro- und Gewerbebauten der letzten Jahrzehnte steht das neue Domizil des Online-Weinhändlers viDeli, der an diesem Standort seine drei, bislang auf das Stadtgebiet verteilten Firmen (einen Weingroßhandel, eine Beraterfirma im Weinbereich sowie den Online-Weinhandel), zusammenführt. Eine sicher nicht auf Anhieb ansprechende Gegend, aber spannend und passend, wie sich die Bauherren Sabine Harms und Oliver Schmid mit dem Architekten und Stadtplaner Marco Hippmann einig waren. Schnell war klar, dass das Erscheinungsbild des Gebäudes in diesem heterogenen Umfeld nicht marktschreierisch, sondern unauffällig und ­zurückhaltend sein sollte. »Ich wollte den Ort, so unspektakulär er auch ist, nicht ignorieren«, sagt Hippmann. Und so ist die Gestaltung und die Materialwahl ein gut Stück aus der Umgebung heraus entwickelt: Beton für die Hülle, Asphalt für den Vorplatz, ein einfacher straßenbegleitender Grünstreifen anstatt einer aufwendigen Außenraumgestaltung und Leitplanken als Zäune. Entstanden ist eine langgezogene Kiste aus Beton-Fertigteilen in Sandwischbauweise auf einem Grundriss von 50 x 18 m – nichts ist angefügt und fast nichts auf­gebracht, lediglich der kleine, edle Messingschriftzug »club traube« gibt einen dezenten Hinweis auf die Bestimmung des Gebäudes.

Wobei, wie Marco Hippmann erzählt, neben Beton durchaus auch andere Materialien für die Gebäudehülle überlegt wurden: Holz, wegen des Bezugs zum Wein und zu den Weinfässern, aber auch Metall, da das Budget begrenzt war und strikt eingehalten werden sollte. »Metall haben wir jedoch wegen des aufwendigen und dann doch wieder kostenintensiven Brandschutzes schnell verworfen, Holz lange präferiert. Da es uns aber wichtig war, auf eine Kühlung zu verzichten, hat der Stahl-Betonbau seine klaren Vorteile. Er erwärmt sich langsam, was für die schonende Lagerung des Weins wichtig ist, denn Temperaturschwankungen sind nicht per se problematisch, sie sollten aber auf keinen Fall plötzlich erfolgen.« So haben die Architekten ein »träges Gebäude« in einfachster Konstruktion geplant: 8 cm Beton-Außenschale, 12 cm Styrodur-Dämmung, 20 cm Innenschale und ein Dach aus Trapez­blechen, das begrünt wurde. Elektronisch gesteuerte Lüftungsklappen sorgen, gemeinsam mit den Dachfenstern selbst bei sommerlichen Spitzen­temperaturen (fast immer) für die erforderliche Nachtauskühlung. Falls einmal nicht, stehen mobile Klimageräte bereit, um die Qualität der Weine nicht zu gefährden.

Öffnungen – präzise gesetzt

Passend zum Äußeren ist auch das Innere zurückhaltend gestaltet und in ­jeder Hinsicht sparsam möbliert und ausgestattet. Versprüht das Gebäude nach Außen aber allenfalls einen spröden Charme, so sind die Büros, der kleine Besprechungsraum, die Erschließungsbereiche und v. a. der große »Weinraum« für Verkostungen, Präsentationen und Events trotz aller Schlichtheit wohnlich zu nennen. Dafür sorgen die Proportionen, die Stringenz der Gestaltung mit nur wenigen Materialien und Farben und v. a. die wohl gesetzten Fensteröffnungen, die stets den Bezug zu den umliegenden Räumen und zum Außenraum herstellen und dabei geschickt den Blick eben nicht auf den Asphalt der Straße und die vorbeifahrenden Autos, sondern auf den Wiesenblumenstreifen davor lenken.

Wirken die unterschiedlich großen, quadratischen Öffnungen von außen noch wie zufällig auf der Fassade verteilt, wird ihre durchaus sehr präzise Platzierung im Innern schnell klar. Jede Öffnung hat ihren Sinn und ist das Ergebnis einer eingehenden Planung und Analyse von Blickachsen und -beziehungen. So ist eine z. B. gen Himmel ausgerichtet und blendet die Gewerbebauten davor aus, eine andere ist wiederum so platziert, dass sie exakt die kleine Sitzgruppe belichtet und auch belüftet. Die Fenster zwischen den einzelnen Räumen erklären sich einerseits aus den Betriebsabläufen heraus und gewähren andererseits Einblicke in die unterschiedlichen Nutzungsbereiche des Gebäudes.

Dezent, aber wohnlich – der Weinraum

Nach Passieren des Eingangs steht man fast unmittelbar im Weinraum »club traube«, dem thematischen Zentrum des Hauses, und es gelingt schlagartig, das eben noch sehr präsente Gewerbebiet komplett auszublenden. In dem ­angenehm geschnittenen Raum, der durch den mittig platzierten, hohen Eichenholztisch und das vorherrschende Hellgrau (RAL 7032) geprägt wird, fühlt man sich auf Anhieb willkommen. Nur wenige Farbtupfer in Form von Bezugsstoffen der Sessel zweier Sitzgruppen an den Schmalseiten und großformatiger, an einer Wand konzentrierter Grafiken, setzen weitere Akzente. Nach und nach soll die Wand mit der momentan erst angedeuteten Petersburger Hängung mit Bildern, Fotos und Fundstücken, die die Bauherren von ihren Besuchen bei den Winzern mitbringen, gefüllt werden, sodass eine »Erzählwand« entsteht, die viel über das Unternehmen, seine Inhaber, ihre Partner sowie die Produkte mitteilt.

Im wahrsten Sinne luxuriös und überaus wirkungsvoll nehmen sich die raumhohen, wandbegleitenden und farblich perfekt abgestimmten Vorhänge aus, mit denen sich der Raum auf vielfältige Weise variieren lässt. Akustik-Baffeln unter der Decke sorgen zusätzlich für eine sanfte Atmosphäre. Leuchten über der langen Tafel, aber v. a. eine einfache Deckenbeleuchtung, die zusammen mit dem Elektriker entwickelt und umgesetzt wurde, tauchen den Weinraum in ein angenehmes Licht. Aus der angeschlossenen, offenen Küchennische schiebt sich der 1,60 x 1,60 m große »Travertinblock« ins Bild. Er dient bei Verkostungen und Events als Anrichte und ist in Wirklichkeit natürlich aus 2 cm dicken Platten gefügt – was seiner Wirkung keinen Abbruch tut.

Doch dieser Raum, der jetzt so selbstverständlich wirkt, hat eine lange Entstehungsgeschichte. »Das Herzstück des Projekts, an dem gewissermaßen der Onlinehandel offline gehen sollte, erwies sich als echte Herausforderung. Wie lässt sich das darstellen? Fragten wir uns immer wieder«, erzählt Marco Hippmann. Und um die Frage nicht ausschließlich aus Architektensicht zu behandeln, nahmen sie das Stuttgarter Design Studio Projekttrangle hinzu. Alle Themen wurden gemeinsam behandelt, alle Entscheidungen gemeinsam getroffen und dass die Zusammenarbeit sehr gut funktioniert hat, bräuchte Hippmann eigentlich nicht extra zu betonen, denn das Ergebnis spricht für sich.

db, Mo., 2019.08.12



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db 2019|07-08 Offen / Geschlossen

05. März 2019Ulrike Kunkel
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Farbfilm

Wand, Decke und Bestuhlung — alles Ton in Ton: Jeder Kinosaal im neuen Delphi Lux in der Berliner City West ist anders, aber alle sind komplett in eine Farbe ­getaucht. Zusätzlich prägendes Element: LED-Bänder zeichnen grafische Lichtlinien auf Decken und Wände.

Wand, Decke und Bestuhlung — alles Ton in Ton: Jeder Kinosaal im neuen Delphi Lux in der Berliner City West ist anders, aber alle sind komplett in eine Farbe ­getaucht. Zusätzlich prägendes Element: LED-Bänder zeichnen grafische Lichtlinien auf Decken und Wände.

Während der Ausbauzeit war die Verwunderung groß: Wo sollte im EG des bereits fertiggestellten Gebäudes entlang der Bahntrasse zwischen Kant- und Hardenbergstraße bitte ein Kino mit mehreren Sälen Platz finden? Doch nun reihen sich hier tatsächlich sieben individuell gestaltete Kinoboxen und -säle mit fast 600 Plätzen aneinander, nebst einem kleinen Foyer und Erschließungsbereich. Ein Gewinn für die Gegend und erfreulicherweise eine weitere Aufwertung der viel zu lange vernachlässigten City West.

Die unterschiedlich großen Kinos unterscheiden sich sowohl in ihrer Farbigkeit im Innern als auch in der Materialität ihrer Hülle. So ist eine Box mit Holzschindeln in verschiedenen Rosatönen bekleidet, eine andere z. B. mit Fichtensperrholz und eine weitere mit Sandwichpaneelen. Die Farbe des Äußeren wird in den Sälen jeweils aufgegriffen. Bereits von der Straße aus werden Einblicke auf die verschiedenen Materialien und Farben gewährt. Der in allen Bereichen des Dephi Lux einheitliche Teakholz-Parkett-Boden sorgt für wohltuende Ruhe. Ein weiteres verbindendes Element zwischen den Kinosälen und dem Foyer sind die LED-Lichtlinien. Sie ziehen sich durch alle Bereiche und setzen markante, gestalterische Akzente an der Decke und an den Wänden.

Ein Kino also, bei dem sich ein Besuch auch ganz unabhängig vom gezeigten Film lohnt.

db, Di., 2019.03.05



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03. Dezember 2018Ulrike Kunkel
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Zwischen Kiefern, in Küstennähe

In einem Waldgebiet außerhalb von Tallinn wurde im ­Oktober das Arvo-Pärt-Zentrum eröffnet. Das niedrige, versteckt zwischen Bäumen liegende Gebäude birgt das Archiv des Komponisten, eine Bibliothek sowie einen Veranstaltungssaal und funktioniert bereits jetzt als gerne angesteuertes Ausflugsziel und als Ort der Begegnung — für Leute von nah und fern.

In einem Waldgebiet außerhalb von Tallinn wurde im ­Oktober das Arvo-Pärt-Zentrum eröffnet. Das niedrige, versteckt zwischen Bäumen liegende Gebäude birgt das Archiv des Komponisten, eine Bibliothek sowie einen Veranstaltungssaal und funktioniert bereits jetzt als gerne angesteuertes Ausflugsziel und als Ort der Begegnung — für Leute von nah und fern.

»Tabula Rasa«, produziert von Manfred Eicher, erschien 1984. Die Platte ­bedeutete den internationalen Durchbruch für den 1935 geborenen Komponisten, der vier Jahre zuvor aus der Estnischen Sowjetrepublik emigriert und über Wien mit einem Stipendium nach Berlin gelangt war: Arvo Pärt. »Tintinnabuli« nannte Pärt den Stil, den er in den Jahren zuvor entwickelt hatte und der seine Werke unverkennbar macht. Der Titel Tabula Rasa war programmatisch zu verstehen, denn zur Melodiestimme tritt lediglich eine zweite Stimme aus Dreiklängen, durch die der für den Komponisten typische ­glockenartige und sugges­tive Sound entsteht. Verfechtern der Neuen Musik, die gemeinhin die Abkehr von der Tonalität als Grundkonsens ansehen, war die Pärt‘sche Melodik und Harmonik stets in höchstem Maße verdächtig, zumal ihr Schöpfer noch in der UdSSR in die orthodoxe Kirche eingetreten war. Dessen ungeachtet gelang Pärt etwas, was ihnen versagt blieb: Seine langsamen und meditativ anmutenden Klänge, die von ostkirchlicher Spiritualität beseelt zu sein scheinen, sind fast populär geworden; Arvo Pärt gilt als der meistaufgeführte zeitgenössische Komponist.

Mehrere Jahrzehnte befand sich sein Lebensmittelpunkt in Berlin, bis er sich um das Jahr 2000 entschloss, in seine inzwischen unabhängige Heimat Estland, in die Gegend von Laulasmaa, 35 km westlich von Tallinn, zurückzukehren. Auch sein umfangreiches Archiv wurde zunächst dort untergebracht. Doch es stellte sich die Frage, was damit langfristig geschehen sollte.

Die Akademie der Künste Berlin, die Pärt als Mitglied aufgenommen hatte, signalisierte Interesse, aber der Komponist wünschte sich einen öffentlicheren Ort ein angesichts des notorisch schwierigen Zugriffs auf Akademie-Archivalien nachvollziehbarer Wunsch. Der Staat Estland brachte sich ins Spiel und es entstand die Idee eines »Arvo Pärt Centre«, mit dem das Land seinen prominentesten lebenden Kulturschaffenden ehrt. Als Bauplatz wählte man ein küstennahes Waldgebiet bei Laulasmaa.

»Perle statt Mammut«

Aus einem Spektrum von 71 Bewerbern waren 20 Architekturbüros 2013 zu einem Wettbewerb eingeladen worden, darunter internationale Prominenz wie Zaha Hadid, Coop Himmelb(l)au und Henning Larsen, aber auch eine Reihe estnischer Architekten. Das Rennen machte schließlich der Beitrag des spanischen Teams Nieto Sobejano, den die Jury als »humbly iconic« (demütig ikonisch) bezeichnete. »A pearl, not a mammooth« hatte die Vorgabe gelautet, und in den ­Auslobungsunterlagen fanden sich eine Reihe von Stichworten, die man im zukünftigen Gebäude umgesetzt wissen wollte, darunter: Reinheit, Einfachheit und Radikalität. Ziel sollte ein lebendiges Environment sein, kein Museum. Der Beitrag der Spanier zeigte ein organisch geformtes Gebäude inmitten der Waldlandschaft samt einem dazugehörigen Aussichtsturm. Die Fassaden des Hauptbaus waren ringsum verglast, und aus dem Volumen hatten Nieto Sobejano insgesamt 28 Höfe ausgestanzt. Zweck dieser Innenhöfe war nicht nur die Belichtung des Innern, sie dienten auch dazu, das Fällen von Kiefern zu vermeiden, und somit Architektur und Natur miteinander zu verzahnen. Im Verlauf des Bearbeitungsprozesses hat sich der Entwurf, dessen Tarnname »Tabula Rasa« auf Pärts Schlüsselwerk referiert, verändert und abermals vereinfacht, ohne dass allerdings das Grundkonzept verlorenging. Auf Initiative des Komponisten wurde der Standort leicht verschoben und die Anzahl der Höfe erheblich verringert – sie beträgt nunmehr lediglich sechs. Auch handelt es sich primär um Lichthöfe, denn die eigentlich sympathische Idee, die vorhandenen Kiefern zu erhalten, wurde aufgegeben. In den schier endlosen Kiefernwäldern Estlands dürfte das Fällen einiger Bäume zu verschmerzen sein.

Stützenwald ringsherum

Eine gute Dreiviertelstunde benötigt man mit dem Bus oder dem Auto von Tallinn bis nach Laulasmaa. In einigen Abschnitten verläuft die Straße entlang der Küste, doch die meiste Zeit führt sie durch Wälder – Besiedlung gerät kaum in den Blick, sobald man den Großraum Tallinn einmal verlassen hat.
Immer noch mitten im Wald, leitet ein Wegweiser von der Straße zum Parkplatz, und auf einem Fußweg zwischen Kiefern und Heidelbeersträuchern ­gelangt man in wenigen Minuten zum Arvo-Pärt-Zentrum. Dieses besitzt einen polygonalen Grundriss mit abgerundeten Ecken und wird von einer Dachstruktur aus Blechstreifen überfangen, die von der Eingangsseite aus gesehen leicht ansteigt und rückwärtig wieder abfällt. Durch die Einbuchtung im Süden und den Mitarbeiterparkplatz im Osten deutet sich ein Vorne und ein Hinten an, doch das äußere Tragwerk der Fassade, bestehend aus Stahlstützen unterschiedlichen Durchmessers und in unterschiedlichem Abstand gesetzt, umgibt das frei im Wald stehende Bauwerk auf allen Seiten. Die Stützen ruhen auf einem schmalen, mit sibirischer Lärche beplankten Sockel, der im Vorbereich des Cafés zu einer Terrasse ausgeweitet ist. Die verglaste Fassade tritt hinter die Stützenstruktur zurück, der obere Teil wurde ­ab­weichend vom ursprünglichen Entwurf mit dunkel gebeiztem Kiefernholz bekleidet. Optisch verbinden sich die Rundstützen mit den Baumstämmen. Die Architekten verweisen auch auf Taktstriche. Natürlich darf man diese Bezüge nicht zu direkt verstehen, denn es handelt sich bei dem filigranen, sich in die Fläche ausdehnenden Volumen, nicht – die beinahe inflationär gebrauchte Metapher sei hier noch einmal zitiert – um »gefrorene Musik«, auch wenn Nieto Sobejano in einem Ende 2017 erschienenen Katalog der Architekturgalerie Aedes Pläne ihres Gebäudes mit der Notation von Tabula Rasa überlagerten, sondern um ein eher pavillonartig wirkendes Gebilde.

Der informelle, fast fließende Charakter des Gebäudes setzt sich auch im Innern fort. Vom Foyer mit Empfangstresen gelangt man entlang der Garderobe zum Café und dem Pädagogikbereich. Geht man nach links in die Tiefe des Gebäudes, so passiert man einen kleinen Filmsaal, in dem alle halbe Stunde eine Einführung zu Leben und Werk von Pärt gezeigt wird, und weiter zu einem Auditorium mit 140 Plätzen, das regelmäßig für Konzerte, Vorträge und andere Veranstaltungen genutzt wird. Daran schließt sich südwestlich die öffentlich zugängliche Bibliothek an, von der aus man durch die Ausstellungsbereiche wieder zurück Richtung Foyer gelangt. Das eigentliche Archiv bildet das Herzstück des für die Besucher nicht zugänglichen Administrationsbereichs im Südwesten des Baukörpers.
Gegliedert und differenziert wird die Raumfolge durch die Höfe, die auf fünfeckigen Grundrissen aufbauen. Deren größter besteht aus drei zu einem Kontinuum verbundenen Fünfecken und birgt eine schlichte orthodoxe Kapelle.

Gewissermaßen die Umkehrung der eingeschnittenen Fünfecke ist der ebenfalls auf einem fünfeckigen Grundriss aufbauende und separat vor der Westseite des Gebäudes stehende Aussichtsturm, der ab nächstem Frühjahr geöffnet ist. Pärt versteht ihn als Zeichen der Transzendenz, als Symbol der Verbindung von Himmel und Erde. Steht man oben, so geht der Blick bis zum nahen Meer. Die Küstennähe prägt das Gebiet um Laulasmaa, mit dem der Komponist seit Langem verbunden ist. Zu Sowjetzeiten besaßen Komponisten und andere Vertreter der Intelligenzija vorzugsweise hier ihre Sommerhäuser. So auch Heino Eller, seinerzeit Lehrer am Tallinner Konservatorium. Er brachte Freunde und Bekannte mit in diese abgeschiedene Gegend – darunter eben auch seinen Studenten Arvo Pärt.

Die Liebe zur estnischen Landschaft mit ihren endlosen Wäldern und den fast menschenleeren Küsten war es, die Pärt bewog, in diesem Umfeld nicht nur sein Domizil zu beziehen, sondern auch das Musikzentrum mit seinem Nachlass errichten zu lassen. Und die Lage inmitten des Waldes ist es auch, die den besonderen Reiz des Gebäudes ausmacht. Das Erlebnis des Orts haben die Architekten gekonnt in Szene gesetzt. Auf die nordische Landschaft antworten sie mit einem Bauwerk, dessen organische Formen nicht zuletzt an Alvar Aalto erinnern. Man hält sich gerne hier auf, auch wenn es gar nicht viel an Exponaten zu sehen gibt; blättert in der Bibliothek in Büchern, genießt die Abendstimmung im Café und geht dann vom Duft der Kiefern umgeben zurück zum Parkplatz oder zur Bushaltestelle, um entspannt die Rückreise anzutreten.

db, Mo., 2018.12.03



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db 2018|12 Redaktionslieblinge

01. Dezember 2017Ulrike Kunkel
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Wege in die Geschichte

Ein neues Museum an der jütländischen Küste setzt sich mit dem unter deutscher Besatzung entstandenen Atlantikwall auseinander. Das zum überwiegenden Teil unterirdisch in die Dünenlandschaft eingefügte Ausstellungsgebäude reagiert antithetisch auf den benachbarten Bunker und schafft ein überzeugendes, zeitgenössisches Gegengewicht.

Ein neues Museum an der jütländischen Küste setzt sich mit dem unter deutscher Besatzung entstandenen Atlantikwall auseinander. Das zum überwiegenden Teil unterirdisch in die Dünenlandschaft eingefügte Ausstellungsgebäude reagiert antithetisch auf den benachbarten Bunker und schafft ein überzeugendes, zeitgenössisches Gegengewicht.

Der Leuchtturm von Blåvandshuk im Südwesten Jütlands markiert den westlichsten Punkt Dänemarks. Die langen Sandstrände machen die Gegend zu einer beliebten Ferienregion, wozu zweifelsohne auch der Umstand beiträgt, dass man mit dem Auto von der deutschen Grenze aus nur zwei Stunden hierher benötigt. Die Fahrt geht an Esbjerg vorbei, man umrundet die Bucht von Ho, passiert das mit Cafés, Geschäften und Supermarkt auf die Versorgung von Touristen ausgerichtete Blåvand und gelangt dann, die Dünen- und Heide­landschaft durchquerend, zum Strandparkplatz am Leuchtturm. Unweit von diesem steht in den Dünen ein weiterer Turm. Es handelt sich dabei um den Betonunterbau einer Funkmessanlage aus der Zeit der deutschen Besatzung – weithin sichtbares Zeichen für die strategische Bedeutung, die dieser Region Dänemarks beigemessen wurde.

Durchstreift man die Dünen, so sieht man überall Überreste deutscher Befestigungsanlagen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Auch der Strand ist übersät mit Bunkern, Resten einer Heeres-Küstenbatterie, die, da direkt auf dem Sand betoniert, z. T. in den Boden eingesunken sind und wie gestrandete Wale erscheinen. Bei den Befestigungsanlagen handelte es sich um Teile des Atlantikwalls, der auf Befehl Hitlers zwischen 1942 und 1944 entstand und sich von der französisch/spanischen Grenze bis zum äußersten Norden Norwegen erstreckte. Ziel der niemals fertiggestellten Verteidigungslinie war es, die Westflanke des Deutschen Reichs und der von Deutschland besetzten Länder vor einer vermuteten Invasion der Alliierten zu schützen. Als diese sich tatsächlich im Juni 1944 ereignete, erwies sich der Atlantikwall als völlig wirkungslos: Die Landemanöver zielten auf wenig befestigte Strandabschnitte ab und nicht auf die gesicherten Hafenstädte und erfolgten auch nicht wie vermutet an der schmalsten Stelle des Ärmelkanals. Und einmal überrannt, waren die statischen Befestigungen des Walls aufgrund der geringen Verteidigungstiefe ohne jeglichen Nutzen. So wurde noch im Juli 1944 mit ­einer weiteren Verstärkung der Festungsanlagen begonnen, der sogenannten »Tirpitz-Stellung« (Tarnname: Vogelnest).

Teile der Stellung wurden nach dem Krieg beseitigt, doch die beiden gewal­tigen Geschützbunker blieben in den Dünen erhalten. Im südlichen wurde 1991 eine kleine Ausstellung über den Atlantikwall eingerichtet. Auf Dauer befriedigte die Präsentation jedoch nicht, und außerdem wünschten sich die Verantwortlichen weitere Ausstellungsfläche für küstenbezogene Themen, um die Attraktivität des Orts zu stärken. So entschied man 2012 die Errichtung eines eigenen Museumsgebäudes in der Dünenlandschaft in unmittelbarer Nachbarschaft des Bunkers und beauftragte das dänische Architekturbüro BIG, das wohl am stärksten Garant dafür war, den Slogan, der heute auf der Homepage prangt, »En topattraktion i verdensklasse« (Eine Weltklasse-Top­attraktion) Wirklichkeit werden zu lassen. Tirpitz, wie das neue Museum heißt, wurde am 30. Juni dieses Jahres nach dreijähriger Bauzeit eingeweiht. Die Finanzierung wurde größten Teils durch Stiftungen ermöglicht.

Ober- und Unterwelt

Bjarke Ingels ist ein brillanter Promotor seiner Architektur. Es gelingt ihm, auf komplexe Fragestellungen Antworten zu finden, die, weil unerwartet, zunächst ­irritieren, aber dann dadurch überzeugen, dass sie so bildhaft und klar sind, als hätte es nie eine andere Lösung geben können. Vielleicht ist das von ihm gerne für das Tirpitz-Museum verwendete Bild einer kreuzförmig eingeschnittenen gebackenen Kartoffel, die unter der Schale ihr weiches Inneres zeigt, allzu platt, aber tatsächlich erweist sich der neue Baukörper als Antithese zum Bunker: Während dieser massiv ist, sich hermetisch zeigt und als Fremdkörper in der Dünenlandschaft steht, stellt sich das Museum filigran und offen dar und ist in seinen wesentlichen Teilen in den Boden eingetieft, mithin unsichtbar, und verschmilzt mit der Landschaft. Vom Parkplatz aus führt ein geschwungener Weg am Bunker vorbei durch die Dünenlandschaft. Von Süden aus betritt man das Areal des neuen Ausstellungsbaus. Dieses gibt sich durch vier Einschnitte in einer künstlichen Topografie zu erkennen: Von allen vier Himmelsrichtungen aus führen gerade Wege windmühlenartig versetzt auf einen zentralen Platz zu. Die Wege werden von Glasfronten flankiert, die zum Platz hin kontinuierlich bis auf eine Höhe von max. 6 m ansteigen und letztlich die Seitenwände von prismatischen Oberlichtern bilden, deren diagonal geführte Dächer von Erde bedeckt sind.

Oberirdisch ergibt sich die Struktur einer versetzt, entlang der Kanten aufgeschnittenen Pyramide. Vermittels einer Stahlbrücke hinter der Tür im nordöstlichen Prisma gelangt man zum Kassentresen, neben dem sich auf gleicher Ebene das Café befindet. Ein diagonaler Treppenlauf leitet hinunter zum Foyer, das direkt unter dem zentralen Platz auf der unteren Ebene liegt und den Zugang zu allen Ausstellungsbereichen ermöglicht. Hier wiederholt sich der oberirdische Grundriss: Vier rechteckige Säle gruppieren sich um das zentrale Foyer.

Verbindungsgänge und Nebenräume trennen diese vier Ausstellungsbereiche voneinander, doch lassen sie sich bei Bedarf auch mittels rückwärtigen Durchgängen ringförmig zusammenschalten. Betreten werden die Säle aber üblicherweise vom Foyer aus: Die vier Wände sind drehbar gelagert. Damit öffnen sich Zugänge für die Besucher und zugleich dringt – sofern die »Oberlichter« nicht verdunkelt sind – auf diese Weise Licht in das ansonsten tiefdunkle Foyer ein.

Ein Blick auf den Grundriss verdeutlicht die überaus logische Grundstruktur: Ein rechteckiges Betonvolumen wird durch die vier windmühlen­flügelartig angeordneten Säle untergliedert. Die schräg geführten Decken, ebenfalls vor Ort betoniert, kragen im EG zur Mitte hin freitragend aus und bilden die Unterkonstruktion der prismatischen und bewachsenen Hügel, die jeweils zweiseitig zum Eingangshof hin verglast sind. Zum Sichtbeton der Konstruktion treten auf der Ausstellungsebene gewalzte Stahlplatten als Bekleidung der nach innen orientierten Wände. In verwandelter Form nutzt BIG also die Baumaterialien des Bunkers, der ja den eigentlichen Grund für die ­Errichtung des Ausstellungsgebäudes darstellt und den man über den nach Süden führenden unterirdischen Gang erreicht. Der Bunker ist zweigeschossig, von 3,5 m ­dicken Betonmauern umgeben – insgesamt wurden dort rund 2 000 m³ Beton verbaut – und hätte eigentlich als Unterkonstruktion für den Geschützturm mitsamt den beiden Kanonen dienen sollen. Die Nebenräume, die den Zentralraum auf allen vier Seiten umgeben, waren für tech­nische Einrichtungen sowie als Lagerräume für Munition und Zünder vor­gesehen.

Inszenierung als Obsession

Die Gestaltung aller Ausstellungsbereiche wurde dem in Utrecht ansässigen Büro Tinker Imagineers übertragen. Dies setzte ein Konzept um, das völlig auf Texttafeln und Beschriftungen verzichtet. Sämtliche Informationen werden an Audiostationen über individuelle Audioguides abgerufen. Diese Art der Vermittlung ist Geschmackssache, bringt aber auf jeden Fall ein etwas ratloses Zappen mit sich, da es viele Hörstationen gibt und man nicht recht weiß, wo wichtige Informationen und wo eher Nebensächliches vermittelt wird. Im Übrigen treten die niederländischen Gestalter getreu ihrem Büronamen nicht als Szenografen auf, die Objekte in Szene setzen, sondern als »Imagineers«, die Erzählungen erfinden und Bildwelten dazu erschaffen. Besonders penetrant wirkt das im Ausstellungsbereich »Geschichten der Westküste«, der ohnehin schon mit Ausstellungselementen überfrachtet ist und alle halbe Stunde einem Sound- und Lichtspektakel Raum bietet, in dem sich Projektionen und dreidimensionale Elemente mischen. Die zweite Ausstellung (»Gold der Westküste«) ist dem Thema Bernstein gewidmet, die dritte (»Eine Armee aus Beton«) den Menschen am Atlantikwall. In einer Szenografie, die den versinkenden Bunkern am Strand von Blåvandshuk nachempfunden ist, kann man sich anhand der Biografien von sechs Personen in die Zeit zurückversetzen, in welcher der Wall gebaut wurde. Es geht um einen jungen deutschen Marinesoldaten, der Rommel bewundert, einen anderen Deutschen, der als Deserteur von Dänen versteckt wird sowie einen dritten, der sich in die dänische Küchenhilfe Anna verliebt. Und dann ist da noch Nielsen, der als dänischer Ingenieur im Auftrag der Organisation Todt Bunker baut und Anna, deren Eltern wegen des Festungsbaus ihr Haus verlieren …

Der vierte Ausstellungsbereich, eigentlich für Sonderausstellungen vorgesehen, dient derzeit als Auditorium. Da hier keine Einbauten vorgenommen wurden, zeigt er das räumliche Konzept von BIG und seine von außen kaum zu ahnenden Dimensionen am deutlichsten: 10 560 t Beton und 600 t Armierungsstahl wurden verbaut. Die Architekten aus Kopenhagen haben ein robustes Konzept entwickelt, das im Ausstellungsbereich eine hohe Flexibilität gewährleistet, auf den Bunker intelligent mit einer antithetischen und komplementären Strategie reagiert und überdies überzeugend in die Dünenlandschaft eingefügt ist. Durch die versetzten Wege ist der Hof im Zentrum windgeschützt und wird in diesen Tagen Anfang November trotz stürmischem Wetter und sich ballenden Wolkenformationen als Picknickplatz frequentiert. Man kann das Gelände dann in alle Richtungen verlassen – oder auch auf die Dächer hinaufsteigen und über die Landschaft blicken.

db, Fr., 2017.12.01



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05. Dezember 2016Ulrike Kunkel
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Umgarntes Wohnen

Auf dem Areal der Schweizer Spinnerei »Zwicky« ist ein beachtenswertes neues Wohnquartier entstanden. Die außergewöhnliche Konstellation von Auftraggebern und der von schroffen Nachbarschaften und Gegensätzen ­geprägte Ort bilden die Grundlage für ein radikales Statement für Verdichtung und urbanes Leben an der ­Peripherie.

Auf dem Areal der Schweizer Spinnerei »Zwicky« ist ein beachtenswertes neues Wohnquartier entstanden. Die außergewöhnliche Konstellation von Auftraggebern und der von schroffen Nachbarschaften und Gegensätzen ­geprägte Ort bilden die Grundlage für ein radikales Statement für Verdichtung und urbanes Leben an der ­Peripherie.

Wasserkraft war das im wahrsten Sinne treibende Element für die Mechanisierung der Schweizer Textilindustrie im frühen 19. Jahrhundert. Mit der ­Eigenart, dass sich die Fabriken zumeist nicht mit den bestehenden Siedlungszentren verbanden, sondern entstanden, wo die Ressource Wasser in ausreichendem Maße vorhanden war. Das galt auch für die auf Nähfäden und Webgarne spezialisierte Spinnerei »Zwicky«, die 1840 ihre Produktion auf ­einem 10 km nordöstlich vom Stadtkern Zürichs gelegenen Areal zwischen den damaligen Dörfern Wallisellen und Dübendorf aufnahm – dort, wo der Chriesbach in das Flüsschen Glatt mündet. Das Fabrikgelände erweiterte sich sukzessive, mit aller Macht um 1900; vom Renommee der Firma zeugte nicht zuletzt die Tatsache, dass sich die Eigentümer ihre Fabrikantenvilla vom Zürcher Stadtbaumeister Gustav Gull errichten ließen. Das Logo der Firma, die Katze mit der Garnspule, wurde zu einer Schweizer Ikone. Doch die um 1970 einsetzende Krise der Textilindustrie verschonte auch die Zwicky & Co. AG nicht. Die Produktion – Zwirnerei, Färberei, Spulerei – wurde ins Ausland verlagert, 2001 erfolgte das Aus für den Standort. Schrittweise begann die Umnutzung der historischen Bauten, Hausarchitekt Tomaso Zanoni entwickelte die Pläne für eine Transformation und Neubebauung des Areals mit insgesamt sieben Baufeldern. Das vielleicht problematischste, aber auch größte Baufeld E ­befand sich im Süden des Geländes. Es ist auf der Nord­seite durch ein S-Bahn-Viadukt vom ehemaligen Produktionsareal mit den historischen Bauten abgetrennt und wird nach Osten und Süden von zwei viel­ ­befahrenen Ausfallstraßen begrenzt. Dazu kam eine unwirtliche Umgebung: Autohäuser, ­Gewerbegebiete und keine Anbindung an den öffentlichen ­Nahverkehr.

Was also machen mit solch einem Terrain? Die Grundstückseigentümer schalteten die Immobilienberatungsgesellschaft Wüest & Partner ein, und diese nahm Kontakt mit der Stadt-Zürcher Baugenossenschaft Kraftwerk 1 auf, die einerseits seit ihrer Gründung stark alternative Ansätze im Wohnungsbau verfolgt und andererseits Erfahrung mit städtischen Randlagen besitzt: Die erste Siedlung (2001) entstand im Zürcher Westen an der viel befahrenen Hardturmstraße zu einer Zeit, als dieses Gebiet noch nicht als trendig galt; 2012 wurde ein Mehrgenerationenhaus im Außenbezirk Höngg fertiggestellt.

Kraftwerk 1 ließ sich auf das Experiment ein und so wurde 2009 ein Studienauftrag ausgeschrieben, den das junge Büro Schneider Studer Primas für sich entscheiden konnte. Da der finale Nutzungsschlüssel hinsichtlich des Verhältnisses von Wohn- zu Gewerbeflächen noch nicht feststand, war von den Wettbewerbsteilnehmern Flexibilität gefordert. Das kam Schneider Studer Primas entgegen, die auch in anderen Projekten Ideen aufgezeigt haben, wie sich auf die jeweiligen Nutzungsanforderungen reagierende Häuser ­entwickeln lassen und die selbst die sonst herrschende Mutlosigkeit bei Baugenossenschaften beklagen.

Beim Areal Zwicky-Süd reüssierten sie im Studienauftrag mit einem Konzept, das aus drei Grundtypen besteht: schmalen Scheiben, die in winkelförmiger Konfiguration (nicht zuletzt aus Gründen des Lärmschutzes) die Siedlung umgeben, ebenso hohen massiven Blocks mit Grundflächen von 30 x 40 m und schließlich zweigeschossigen Hallen. Eine Vielzahl brückenartiger Übergänge sollte die einzelnen Volumina auf unterschiedlichen Ebenen mitein­ander verbinden.

Natürlich unterlag das Projekt im Laufe der Planungs- und Realisierungs­phase einigen Modifikationen. Doch das starke und klare Grundkonzept ist bestehen geblieben – und es hat sich bewährt, obwohl die zusammen mit dem Projektentwickler Senn aus St. Gallen erstellte Siedlung am Ende drei verschiedene Bauherren besitzt – der Baugenossenschaft Kraftwerk 1 sind das Unternehmen Pensimo mit zwei Anlagestiftungen und die Swiss Life zur Seite getreten. Das ist überaus erfreulich und eine Tatsache, die dieses Projekt so bemerkenswert macht. Denn das Engagement von Pensimo und Swiss Life zeigt, dass auch renditeorientierte Anleger konventionelle Pfade zu verlassen bereit sind und an einem ungewöhnlichen Standort in ein ungewöhnliches Projekt investieren. Durch die Bauweise mit tragenden Fassaden aus Betonfertigelementen ließ und lässt sich der Innenausbau variieren, die Bauten der Genossenschaft sehen also von außen gleich aus wie die der privatwirtschaftlichen Investoren. Das führt zu einem einheitlichen Bild der Siedlung und stärkt deren Identität. Veränderungen ergaben sich während der Planungszeit besonders durch die Erhöhung des Wohnungs- gegenüber dem Gewerbeanteil. Dieser Entwicklung fielen einige der zweigeschossigen Hallen zum Opfer. Auch die Anzahl der ursprünglich vorgesehenen Brücken und Übergänge zwischen den Gebäuden wurde aus Kostengründen reduziert. Dass es ­dennoch zwei gibt, verdankt sich einem glücklichen Zufall: Es handelt sich um aus Stahlträgern zusammengeschweißte Passerellen, die als Provisorien während des Umbaus des Escher-Wyss-Platzes in Zürich eingesetzt waren, günstig erworben werden konnten und im Zwicky-Süd-Areal ihre zweite, nunmehr dauerhafte Verwendung gefunden haben.

Die Scheiben mit ihrer Bautiefe von 8 m werden z. T. über Laubengänge ­erschlossen, dort allerdings, wo sie direkt an Verkehrsstraßen stoßen, durch Treppenhäuser, um die lärmabgewandte Seite für private Außenräume freizuspielen. In den Scheiben finden sich kleine und mittelgroße Wohnungen, ­Studios, unten auch Räume für Kleingewerbe und Läden. Ein Teil der südöstlichen Scheibe dient als Hotel, das von der auch das Café ZwiBack samt ­Bäckerei unterhaltenden Stiftung Altried – Zentrum für Menschen mit ­Behinderung betrieben wird.

Die ungewöhnlichsten Wohnungstypologien weisen die beiden Großblocks auf. Von der Idee eines Geschäftshauses mit flexibel einteilbarer Bürofläche inspiriert, demonstrieren sie, dass kompakte Volumina, wie sie nicht zuletzt aus energetischen Gründen gefordert werden, auch für Wohnzwecke genutzt werden können. Im Block von Kraftwerk 1 bringen zwei Treppenhäuser und ein Lichthof Tageslicht in das Innere, wobei einige Wohnungen durch die gesamte Gebäudetiefe von 30 m hindurchgesteckt sind. Dunklere Bereiche in den Wohnungen können als Fernsehzimmer, Studio oder Bibliothek genutzt werden. Die Wohnungen besitzen bis zu 14 Zimmer und sind für (nicht-studentische) Wohngemeinschaften vorgesehen. Der Block der Anlagestiftung Adimora umfasst hingegen primär Familienwohnungen, die sich um zwei große, gleichsam in das Volumen gestanzte Erschließungshallen gruppieren.

Die zweigeschossigen Hallenvolumina fungieren als inwärts ausgreifende Sockel der Scheiben. Sie dienen als Geschäfts- und Lagerräume sowie als Einstellhallen für Fahrräder und (die wenigen in der Siedlung zugelassenen PKWs); im Westen wird das Hallenvolumen in Form von zweigeschossigen, über kleine Patios im OG belichteten Reihenlofts für Wohnzwecke genutzt.

Zwicky-Süd, das unweit der Stadtgrenze von Zürich auf dem Gebiet der Gemeinde Wallisellen und Dübendorf liegt, ist in vielerlei Hinsicht vorbildlich. Es zeigt, wie Genossenschaften neue Wohnformen entwickeln, Bewohnerinnen und Bewohner in den Planungsprozess involvieren und einen sozialen Mix erzeugen, der, so der Anspruch, dem der Stadt Zürich üblichen Durchschnitt entsprechen soll, um soziale Homogenität zu vermeiden und ein ­lebendiges Quartier mit eigener Identität zu bilden. Es beweist, dass derlei Konzepte, die noch vor wenigen Jahren nur von pionierhaften Genossenschaften verfolgt wurden, inzwischen auch bei Investoren auf Akzeptanz stoßen. Schließlich aber ist das Projekt von Schneider Studer Primas auch ein überaus gelungenes Beispiel für ein zeitgemäßes und intelligentes dichtes Bauen an einem suburbanen Standort. Der Rauheit der Umgebung begegnen die Architekten weder mit romantisierender Kleinteiligkeit, noch mit herkömmlichen städtebaulichen Mustern, die – wie das unweit auf Basis eines Masterplans von Vittorio Magnago Lampugnani entwickelte Richti-Areal – seltsam ­unwirklich erscheinen. Auch ästhetisch verfolgen sie die Idee des Rohbaus – ein Bild, das sich durch die Fassaden mit ihren dreischaligen, kerngedämmten Thermowänden aus Betonfertigteilen, die teilweise Bekleidung aus rostenden Stahlplatten sowie die ­Metallgestänge und Maschendrahtgitter der Laubengänge und Balkonzonen einstellt. Um den städtischen Charakter zu unterstützen und die Intensität innerhalb der Siedlung zu stärken, verzichten sie auf Rasenflächen, Beete, ­Hecken und Bäume. Stattdessen werden Rank- und Kletterpflanzen mit der Zeit die Außenräume überwuchern: die Laubengänge, die filigranen und transparenten Balkontürme, die Dachbereiche der Hallen, die stählernen Passerellen. Kein Abstandsgrün also, das hilflos mit den Bewohnern koexistieren muss, sondern Pflanzen, die Räume schaffen und die Außenbereiche der Wohnungen und die Zwischenzonen beleben.

Das Projekt ist in seiner Konzeption radikaler als fast alles, das derzeit in ­Zürich entsteht. Mag sein, dass der Standort mit seinen diversen Beeinträchtigungen die Stringenz befördert hat. Auf jeden Fall ist Zwicky-Süd ein dezidiertes Statement für Verdichtung und urbanes Leben in der Peripherie. Einer Peripherie, die langsam ihren unwirtlichen Charakter verliert: Seit einigen Jahren hält die Glatttalbahn direkt vor der Haustür, und der Chriesbach ­wurde inzwischen renaturiert.

db, Mo., 2016.12.05



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db 2016|12 Redaktionslieblinge

29. September 2016Ulrike Kunkel
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150 Jahre db deutsche bauzeitung

150 Jahre! Das ist erst mal ein starkes Stück. Keine andere Fachzeitschrift im Bereich Architektur, Ingenieurwesen und Gestaltung in Deutschland kann auf eine solche Geschichte, auf eine so weit in die Vergangenheit reichende Traditionslinie zurückblicken. Insofern macht uns diese Jubiläums-Zahl schon ein wenig stolz. Gerne nutzen wir diesen Anlass, um einen Moment innezuhalten, um zurück- und vorauszublicken.

150 Jahre! Das ist erst mal ein starkes Stück. Keine andere Fachzeitschrift im Bereich Architektur, Ingenieurwesen und Gestaltung in Deutschland kann auf eine solche Geschichte, auf eine so weit in die Vergangenheit reichende Traditionslinie zurückblicken. Insofern macht uns diese Jubiläums-Zahl schon ein wenig stolz. Gerne nutzen wir diesen Anlass, um einen Moment innezuhalten, um zurück- und vorauszublicken.

Mit der Tradition ist es so eine Sache. Die Deutsche Bauzeitung hat in ihren 150 Jahren Höhen und Tiefen erlebt. Ihre Entwicklung verlief im Ganzen ­betrachtet alles andere als kontinuierlich. Es gab Umbrüche und Brüche. Es gab eine mehrjährige, kriegsbedingte Unterbrechung. Und es gab, man kann es aus heutiger Perspektive nicht anders sagen, bedrückende Irrwege.

Die Entwicklung des Blatts spiegelt die bisweilen von dramatischen Zäsuren gekennzeichnete politische, gesellschaftliche und kulturelle Geschichte unseres Landes wider. Noch deutlicher ist in den schier zahllosen Nummern der Zeitschrift die Geschichte der Architektur und der damit verbundenen Debatten ablesbar. Auch über das Selbstverständnis des Berufsstands und den ­Wandel, der sich hier in 150 Jahren vollzog, gibt das Blatt Auskunft.

Der Blick zurück stellte sich für uns als überraschend spannend und anregend dar.

Manchmal spürt man über viele Dekaden hinweg und ungeachtet altertümlicher Formulierungen eine große gedankliche Nähe und eine fortdau­ernde Aktualität. Manchmal aber erscheint uns, was einst gedruckt wurde, kaum noch nachvollziehbar. Wir haben uns viele alte Jahresbände der Zeitschrift angeschaut und ein paar Tiefenbohrungen gemacht. Gerne lassen wir Sie an unseren Funden teilhaben.

Der Anfang

Alles begann am 15. Dezember 1866 mit der Gründung durch die Architekten Wilhelm Böckmann (1832-1902), Anton Hubert Göbbels (1835-74) und Emil Otto Fritsch (1838-1915) in Berlin. Einige Wochen später, am 5. Januar 1867, erschien dann erstmals das als »Wochenblatt« betitelte Periodikum, »herausgegeben von Mitgliedern des Architekten-Vereins zu Berlin«. »Erscheint jeden Sonnabend« war links oben auf dem Titelblatt zu lesen – ein Cover gab es noch lange nicht – und auf der linken Seite: »Preis vierteljährlich 18 3/4 Sgr.« Sgr., das steht für Silbergroschen und genau dieses Detail markiert viel deutlicher als die abstrakte Zahl 150 den historischen Abstand zum Gründungsdatum. Sgr. zeigt an, wir befinden uns noch im alten Preußen. Im Königreich Preußen, in dem Schinkel gebaut hat und Stüler, der gerade mal zwei Jahre vorher verstorben war und von dem sich damals noch einige ­Gebäude – so etwa die Alte Nationalgalerie – im Bau befanden. Das ist nun wirklich lange, lange her. Und ein Jahr später, als über dem Titel Wochenblatt erstmals ganz selbstbewusst der Name »Deutsche Bauzeitung« gedruckt ­wurde, da gab es Deutschland noch gar nicht, zumindest nicht als klar ­definierte politische Einheit. Das sollte sich bekanntlich erst 1870/71 mit der Reichsgründung ändern.

Vereinsnachrichten und Fachinformation

Der Architekten-Verein zu Berlin war eine berufsständische Gruppierung, in der sich in erster Linie die wachsende Zahl der freischaffenden Architekten organisierte. Ähnliche Vereinigungen gab es praktisch in allen größeren Städten im deutschsprachigen Raum. Die Gründung des Wochenblatts entsprach dem Bedürfnis nach interner Kommunikation. Das ­redaktionelle Konzept verfolgte zwei Ziele: Erstens, vereinsinterne Nachrichten bekannt zu machen und zweitens, fachbezogene Informationen zu vermitteln. Anfänglich betraf dies v. a. Fragen der Baukonstruktion. Der erste im Blatt erschienene Artikel »Versuche über die Druckfestigkeit von Mauerwerk« zeigt dies beispielhaft.

Der spontane Erfolg des Wochenblatts gab seinen Machern Recht. Die Zahl der Abonnenten stieg innerhalb kurzer Zeit auf 3 000 – das können unmöglich nur Berliner gewesen sein. Das überregionale Interesse an der Publikation rechtfertigte den neuen Haupttitel Deutsche Bauzeitung.

Das intellektuelle und sprachliche Niveau der Zeitschrift war von Anfang an erstaunlich hoch, die Bebilderung aus technischen und finanziellen Gründen hingegen minimal. Anfänglich gab es allenfalls Schemazeichnungen und mal einen Grundriss zu sehen. Erst in den 1880er Jahren tauchen Zeichnungen, Ansichten und Perspektiven auf. Gegen Ende des Jahrhunderts werden die ersten Fotografien abgedruckt. Längere Aufsätze, die meist über mehrere Nummern hinweg veröffentlicht wurden (eine Praxis, die sich sehr lange halten sollte), wechselten sich mit kürzeren Meldungen ab. Bald entstanden fixe Rubriken: »Mitteilungen aus Vereinen«, »Aus der Fachliteratur«, »Personal-Nachrichten«, »Offene Stellen«, »Brief- und Fragekasten«. Später kamen ­neben »Vermischtes« und »Todtenschauen«, »Konkurrenzen« bzw. »Preisaufgaben« hinzu, wie man Wettbewerbe damals bezeichnete. Wir lernen daraus, ­an den Informationsbedürfnissen des Fachpublikums hat sich in den letzten ­­150 Jahren nicht so viel verändert und der Servicegedanke gehörte von Anfang an zu den Genen des Blatts. Auch interessant: immerhin fast ein Viertel des Umfangs nahmen schon früh die Stellen- und Sachanzeigen ein.

Breites Themenspektrum

Über was wurde in den ersten Jahrzehnten der Zeitschrift geschrieben und berichtet? Zunächst fällt die enorme Bandbreite der behandelten Themen auf, die den gesamten Hoch- und Tiefbau (inklusive Straßen- und Eisenbahnbau) abdeckten. Im Mittelpunkt stand das zeitgenössische architektonische Schaffen, wobei fast alle Bauaufgaben Berücksichtigung fanden. Die großen, repräsentativen Projekte – Rathäuser, Museen, Kirchen, Bahnhöfe, große Geschäftsbauten, bisweilen Villen und Landhäuser – überwogen, aber auch Gewerbebauten und gewöhnliche Wohnungsbauten kamen vor. Selbst die Anfänge des ­Sozialen Wohnungsbaus fanden Berücksichtigung, wie an einem in den 1880er Jahren erschienenen Bericht über »Arbeiter-Wohnhäuser der Gemeinnützigen Baugesellschaft zu Mannheim« deutlich wird. Im Bereich des Tiefbaus wurden vornehmlich Brücken und wasserwirtschaftliche Projekte behandelt. So fand etwa der Bau des Nord-Ostsee-Kanals (1887-95) größte Beachtung im Blatt. Die Deutsche Bauzeitung scheint zu dieser Zeit wirklich ein Spiegel des nationalen Baugeschehens und ein Forum der Fachdiskussion gewesen zu sein. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf die sehr eingehende Berichterstattung zum viel diskutierten Reichstagswettbewerb von 1882.

Spezialitäten

Was gab es sonst? Kunst- und Architekturgeschichte in umfangreichen Aufsätzen, so z. B. »Die kirchliche Baukunst des Abendlandes«. In den Zeiten des Historismus war das freilich keine abstrakte Kunstgeschichte, sondern höchst praktische Unterweisung in Stilkunde.

Bisweilen werden innenarchitektonische Projekte und städtebauliche Fragen besprochen.

Einen breiten Raum nahmen technische Themen ein. Man konnte »Ueber Konstruktion und Leistung von Dampf-Straßenwalzen« ebenso lesen, wie einen detaillierten Bericht über »Die Heizung und Lüftung des neuen Rathhauses zu Hamburg«. Regelmäßig veröffentlichte die Deutsche Bauzeitung anspruchsvolle Texte über Baukonstruktion und Statik, so etwa »Ueber dynamische Spannungen in Eisenbahnbrücken«, die den Stand der Wissenschaft reflektierten und schon damals für viele Leser schwer verdaulich gewesen sein dürften. Zugänglicher waren da schon die ebenfalls immer wieder erscheinenden Texte über Baumaterialien und Neuentwicklungen auf diesem Gebiet. Um die Jahrhundert­wende gliederte die Deutsche Bauzeitung die bau- und ingenieurstechnischen Themen dann vermehrt in Sonderbeilagen aus, so etwa die »Mitteilungen über Zement, Beton- und Eisenbetonbau«.

Zuletzt fielen uns noch aus heutiger Sicht eher kuriose Themen auf. Ein langer Artikel mit der Überschrift »Der Festschmuck Dresdens zur Jubelfeier des Wettiner Herrscherhauses« gehört in diese Kategorie.

Vorbildliche Kritik

Wie sah Architekturkritik am Ende des 19. Jahrhunderts aus? Wie waren die Texte strukturiert? Was fand Erwähnung? Wir untersuchen beispielhaft einen 1889 erschienenen Bericht über »Die Kirche zum Heiligen Kreuz« im Berliner Bezirk Kreuzberg. Dieser Kirchenneubau fand seinerzeit aus architektur- und religionspolitischen Gründen große überregionale Beachtung. Und so verwundert es nicht, dass zunächst auf die lange Vorgeschichte des Baus, inklusive der direkten Beteiligung des preußischen Königshauses eingegangen wurde. Man vergaß dabei auch nicht zu erwähnen, wie ungewöhnlich es doch sei, dass ein wichtiger hauptstädtischer Kirchenbau – auf Allerhöchsten Wunsch hin – an einen auswärtigen Architekten, nämlich ­Johann Otzen aus Hamburg, vergeben worden sei.

Im Text folgt dann eine nüchterne, spürbar um Objektivität und Vollständigkeit bemühte Beschreibung des Gebäudes mitsamt genauen Maßangaben, die sich wie ein Exzerpt aus einem Dehio Handbuch Deutscher Kunstdenkmäler liest. Es geht dabei in vorbildlicher Manier vom Großen zum Kleinen und von außen nach innen. Konstruktive Details werden erwähnt, wo es sinnvoll ist. Es mündet in eine Analyse und Bewertung der künstlerisch-gestalterischen Qualitäten des Gebäudes, die wohlwollend ausfällt und doch leise Kritik formuliert. Schließlich geht es noch um Fragen der Haustechnik, um die am Bau beteiligten Firmen sowie die Baukosten und wie sie gedeckt wurden. Im Resümee wird kurz auf die positive Resonanz beim Fachpublikum und in der ­Bevölkerung hingewiesen. Der Aufbau des Texts mag uns heute ein wenig schematisch anmuten, sachlich aber ist da schon alles drin, was wir uns von einer guten Architekturkritik erwarten.

Weltausstellung 1889

Eher selten wird in der Deutschen Bauzeitung über Projekte außerhalb des deutschsprachigen Raums geschrieben. 1889 aber fand die Weltausstellung in Paris statt und um dieses Thema kam man nicht herum. Eher zögerlich, im Juni, begannen die Berichte aus Paris. Das ging freilich nicht ohne eine lange allgemeine Vorrede, in der auf die schwindende Ausstrahlung der französischen Nation hingewiesen wurde: »Das französische Volk ist für uns Deutsche schon lange nicht mehr das, was es einst, und zwar mit theilweiser Berechtigung, gewesen ist: ein ideales Volk, dem wir möglichst in allen Stücken nachzueifern hätten. Nein, diese Zeiten sind vorbei!« Da wird dem zeittypischen Nationalismus, zu dem in Deutschland die »Erbfeindschaft« mit Frankreich gehörte, unverhohlen Raum gegeben. Im weiteren Verlauf des Texts kann der Autor aber trotz seiner sehr kritischen Grundhaltung nicht umhin, einzelne Bauwerke zu würdigen. Von der legendären Maschinenhalle heißt es am 29. Juni etwa: »Diese viel bewunderte Halle, von der mit Staunen weiter erzählt wird, dass sich 30 000 Mann Soldaten (sic!) bequem darin lagern könnten, ist neben dem Eiffelthurm allerdings ein sehr bemerkenswerthes Bauwerk.« Nachdem die gewaltigen Dimensionen der Halle einzeln aufgezählt und die Konstruktion kurz erklärt wurde, liest man weiter: »Bei seinen großen Abmessungen verschwindet nämlich die Eisenkonstruktion, die man sonst in derartigen Hallen allzu sehr bemerkt, hier fast ganz; man sieht nur den ungeheuren Raum. Da die Giebelseiten recht geschmackvoll dekoriert und sogar mit sehr wirksamen Glasmalereien versehen sind, wird der Eindruck des Bauwerks sogar zu einem beinahe feierlichen erhoben.« Man spürt förmlich, wie der Autor sich dieses »beinahe« in den Text zwingen musste, um nicht als Franzosenfreund zu gelten. Umso überraschter nehmen wir das Ende der ­Artikelserie zur Kenntnis: »(…) und somit ist, Alles in Allem, die Weltausstellung des Jahres 1889 eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges, welche sich anzusehen für jeden Fachmann aus dem Gebiete des Bauwesens im höchsten ­Maaße lohnt«. Wir sehen, da ist jemand zuletzt doch noch glücklich über ­seine Ressentiments und Vorurteile gesprungen!

Konservativer Schwenk

Während sich die Deutsche Bauzeitung in den 1880er Jahren noch als Forum für die Diskussion über Stilfragen präsentierte, in der auch vorsichtige Kritik am Eklektizismus und der zeittypischen Verzierwut mancher Architekten ­geäußert werden durfte, schwenkte man am Ende des 19. Jahrhunderts offensichtlich ins konservative, reformkritische Lager.

Als um 1900 in Deutschland der Jugendstil erstarkte, konnten das die Leser der Deutschen Bauzeitung, wenn überhaupt, nur am Rande bemerken. Die Ausstellung auf der Darmstädter Mathildenhöhe von 1901, mit berühmten Häusern von Peter Behrens und Joseph Maria Olbrich, die als ein Höhepunkt dieser architektonischen Reformbewegung gilt, fand, soweit wir sahen, keinen Niederschlag im Blatt. Auch zu Peter Behrens bekannter AEG-Turbinenhalle in Berlin Moabit von 1909 suchten wir vergeblich einen Text.

Wie war das 1914, als in Köln die große Werkbund-Ausstellung stattfand?
Auch dieses architekturgeschichtlich bedeutende Ereignis wird im Blatt beharrlich beschwiegen. Stattdessen konnte man einen langen Bericht über die Deutsche Gartenbau-Ausstellung in Altona lesen und einen nicht enden wollenden Text über den von Ernst von Ihne entworfenen neobarocken Neubau der Preußische Staatsbibliothek zu Berlin. Über diesen letzten vollendeten wilhelminischen Prunkbau, bemerkte das Blatt mit patriotisch geschwollener Brust, dass Deutschland jetzt den weltgrößten und modernsten Bibliotheksbau besitze, der die Konkurrenz in Paris und London weit hinter sich lasse.

1914 — Ein Gipfel der Verblendung

Am 1. August 1914 begann für Deutschland der Erste Weltkrieg. Die deutsche Armee fiel völkerrechtswidrig im neutralen Belgien ein und brach den Widerstand der Belgier mit großer Brutalität. Besonders die Zerstörung der Stadt Löwen, die von deutschen Truppen mitsamt all ihrer Kulturgüter, u. a. der ­berühmten Universitätsbibliothek, Ende August 1914 in Brand gesteckt wurde, stieß international auf scharfe Kritik. Deutschlands Ruf als Kulturnation war ernsthaft und nachhaltig beschädigt. Die Deutsche Bauzeitung reagierte beachtlich schnell. Am 9. September machte sie mit einem Artikel auf, der mit »Belgien und der Krieg« überschrieben war. Wir zitieren die ersten Sätze: »In den Freudenbecher des unaufhaltsamen Siegeszuges unserer herrlichen ­Armee ist für den Kunstfreund ein bitterer Wermutstropfen gefallen. Politische Verblendung hat ein reiches blühendes Land in tiefes Unglück gestürzt. Krieg und Tod, Vernichtung und Not sind da eingezogen, wo bis vor kurzem emsige Arbeit eine Fülle des Segens brachte und die seltenste Kunst sorgsamste Pflege fand. Aber neben der höchsten Kunstentfaltung, die menschlichem Können je gegeben war, steht der schändlichste Verrat und schonungslos hat die strafende Vergeltung gewaltet.«

Noch mehr als 100 Jahre später liest man solch eine perfide Verdrehung der Tatsachen, die mit patriotischer Verblendung kaum zu entschuldigen ist, mit Abscheu und Beschämung.

Interessant und vielsagend ist, dass die Zeitschrift in den folgenden Monaten eine lange Artikelserie über belgische Architektur- und Kunstdenkmale publizierte – gerade so, als plage einen doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen und als wolle man der Welt beweisen, wie kunstsinnig und gebildet man trotz der in Belgien verübten Kriegsverbrechen doch ­eigentlich ist.

Patriotisch gab sich das Blatt, das ununterbrochen erscheinen konnte, den ­gesamten Krieg über. Jede Ausgabe begann mit einem schwarz umrahmten Kasten, in dem, unter der Überschrift »Für das Vaterland« den gefallenen Fachgenossen gedacht wurde. Das ist nicht ohne Würde und illustriert am Beispiel der Architektenschaft auf eindrucksvolle Weise, welch einen erschreckenden Blutzoll der Krieg forderte.

Ermattung

Deutschland Ende 1918: Der Krieg ist zu Ende und verloren. Der Kaiser dankt ab, das Land wird Republik, die Not ist groß. Kunst und Kultur aber blühen auf, viel ist in Bewegung.

1919 wird in Weimar das Bauhaus gegründet. Deutschland macht sich auf den Weg in die Moderne. Und die Deutsche Bauzeitung? Keine Spur von Neuanfang und Aufbruch. Keine Spur von Umdenken und Selbstkritik. Das Blatt wirkt ermattet und seltsam orientierungslos. Mangels neuer Projekte – jahrelang wird ja kaum gebaut im Land – wälzt man alte, noch im Krieg entstandene Bauten aus und publiziert allgemeinere Texte, kunstgeschichtliche Aufsätze und Überlegungen zum Städtebau, etwas Bautechnik. Die konservative Grundhaltung, die man gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingenommen hatte, blieb bestehen.

Le Corbusier der Fanatiker

Was sagt man zum Bauhaus und zum Neuen Bauen? Einen Artikel über das 1925/26 errichtete Bauhaus-Gebäude in Dessau sucht man lange vergeblich. Erst im Frühjahr 1927 bequemt man sich zu einem längeren Bericht, in dem auch die Meisterhäuser behandelt werden. Der Versuch, die Sache neutral und möglichst objektiv anzugehen, missglückt. Die Kritik, die harsch ausfällt und nicht ohne Häme, zeigt v. a. eins: man kann und will die Modernen nicht ­verstehen. Man fühlt sich durch deren bloße Existenz angegriffen und in die ­Enge getrieben.

Wie sehr, zeigen die Reaktionen auf die Stuttgarter Weißenhof-Siedlung, die gleich zwei Mal, im Juli und im November, zum Thema gemacht wird. Während der erste Text noch die sachliche Auseinandersetzung suchte, offenbart der zweite Artikel, der unter der Überschrift »Neues Bauen« (im Original auch in Anführungszeichen gedruckt) die Haltung des Blatts ganz ungeschminkt. Besonders hart geht der Berichterstatter, ein Regierungsrat a. D. mit Le Corbusiers Arbeiten ins Gericht. Unter dem Zwischentitel »Protest bis zum Äußersten« heißt es, anfänglich noch auf die Ausstellung als Ganzes bezogen: »Mit radikalem Fanatismus ist alles Hergebrachte vermieden, jeder Wandschmuck verpönt und bei le Corbusier, dem fanatischsten der Künstler, auch auf jede Wohnlichkeit in jeder Form, jede Raumbildung, die Ruhe oder Harmonie vermitteln könnte, verzichtet. (…) Mit Ausnahme des Dachgartens, ­wo an der Schönheit von Aussicht, Blumen und Himmel eben nichts zu ändern ist, verbindet das Haus mit der Engigkeit und Brutalität eines Zuchthauses die röhrenstarrende Nüchternheit eines dunkelwandigen, ungepflegten Maschinenraumes und die hygienische Spülsteinstimmung einer Molkerei. (…) Die Brutalität der hohen, völlig ungegliederten, klotzhaften, auf dünnen Eisenstielen stehenden Baumassen wirkt wie der Schrei eines an der Häßlichkeit der Welt verbitterten Künstlers, der aus einer im Grunde grausamen Zivilisation die verlogenen Polster herausreißt und den zivilisierten Stall baut für die Menschenbestie, wie sie ist, oder wie er sie sieht.«

Man würde es gerne mit Humor nehmen, aber vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung bleibt einem da doch das Lachen im Hals stecken. Hinter einer sorgsam gepflegten bildungsbürgerlichen Fassade zeigt sich hier eine ressentimentgeladene Gehässigkeit, die einem sachlichen Diskurs längst nicht mehr zugänglich ist. Da ist, sechs Jahre vor der Machtergreifung der Nazis, die Sprache des Dritten Reichs schon vollständig entwickelt.

1933 — zügige Gleichschaltung

In den letzten Jahren der Weimarer Republik schien sich das Blatt mit der Moderne arrangieren zu wollen. Man nannte sich jetzt »DBZ Deutsche Bauzeitung. Illustrierte Wochenschrift für Baugestaltung, Bautechnik, Stadt- und Landplanung, Bauwirtschaft u. Baurecht« und gab sich ein frisches Layout mit einer serifenlosen Typo. Stolz verzeichnete man prominente Architekten als »Mitarbeiter der Herausgeber«. Wir lesen hier Namen wie Bartning, ­Fahrenkamp, Poelzig und Schumacher. Das blieb so bis zum Heft 11 1933, das am 15. März erschien. Mit Heft 12, das am 22. März publiziert wurde, verschwinden diese Namen spur- und kommentarlos – ein erstes Zeichen der Gleichschaltung.

Welcher Wind von nun an wehen sollte, offenbarte sich dann in aller Deutlichkeit in Heft 27, vom 5. Juli 1933. Der Hauptartikel ist der »Führertagung der Deutschen Architekten und Ingenieure« in Weimar gewidmet, bei der der bereits gesäuberte Berufsstand auf Linie gebracht wurde. In der folgenden Nummer wird ein Vortrag von Schultze-Naumburg abgedruckt, der die ­besagte »Führertagung« abschloss. Er trug den vielsagenden Titel »Blutgebundene oder zeitgebundene Kunst« und argumentierte ganz unverhohlen mit der kruden Rassenbiologie der Nazis. Ein unsäglicher Text, der mit einem Loblied auf die SA endete, die, so Schultze-Naumburg, »die Wesenszüge des kommenden deutschen Menschen« aufzeige. Sie sei, heißt es weiter »stahlhart, mit heldischer Gesinnung, aufrecht, stolz auf ihre Herkunft und bekennt sich für deutsches Wesen. Diese Gesinnung auszudrücken ist die Zukunftsaufgabe der deutschen Künstler«.

Im März 1933, das wusste Schultze-Naumburg so gut wie jeder andere, ­konnte es freilich keinen Zweifel mehr geben über den wahren Charakter ­dieses verbrecherischen Schlägertrupps.

Nischen

Wir wissen natürlich, auch in der Nazizeit gab es Nischen, in denen, jenseits von Staatsmonumentalismus und Heimattümelei, gute Architektur entstand: Einfamilienhäuser, Industrie- und Ingenieurbauten. Bisweilen finden sich Beispiele dafür auch in der Deutschen Bauzeitung, die sich mittlerweile als »Wochenschrift für nationale Baugestaltung« bezeichnete. Dominierend sind freilich die offiziellen oder zumindest offiziösen Bauten, die die Ideologie des Regimes transportierten. Für Kritik war dabei ebenso wenig Platz, wie für ­eine offene Fachdiskussion. Selbst der Blick ins Ausland war einer durch die braune Brille. Ein 1937 erschienener Bildbericht über zeitgenössische Architektur in Finnland zeigt nicht eine Arbeit von Alvar Aalto, der in seiner Heimat damals längst zur beherrschenden Figur aufgestiegen war. Und bei den Berichten über die Pariser Weltausstellung von 1937, in deren Mittelpunkt selbstredend Speers auftrumpfender Ausstellungspavillon stand, wurde alles herausgefiltert, was nicht auf der Parteilinie lag. Ob das unter äußerem Zwang geschah oder mit innerer Überzeugung müssen wir dahingestellt sein lassen.

Im September 1939 brach Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg vom Zaun und die Deutsche Bauzeitung feierte mit einer langen Bildstrecke die Neue Reichskanzlei, die sich Hitler von seinem Lieblingsarchitekten Speer hatte errichten lassen. Es war nicht anders zu erwarten.

Eher unerwartet dürfte für die Leserschaft der Deutschen Bauzeitung gewesen sein, was sie am 30. Dezember 1942 unter der Überschrift »An alle Freunde unserer Zeitschrift!« zur Kenntnis nehmen musste: »Die Kriegswirtschaft erfordert stärkste Konzentration aller Kräfte. Diese Zusammenfassung macht es notwendig, dass unsere Zeitschrift mit dem heutigen Tage bis auf weiteres ihr Erscheinen einstellt, um Menschen und Material für andere, kriegs­wichtige Zwecke freizumachen. (…) Mögen nach siegreicher Beendigung ­dieses Krieges alle Freunde unserer Zeitschrift sich zu neuem Schaffen zum ­Nutzen der deutschen Baukunst zusammenfinden.« Dieser Wunsch, wir wissen es, ging nicht in Erfüllung. Die Geschichte der Deutschen Bauzeitung, die über viele Jahrzehnte ein führendes Fachblatt ­gewesen war, fand damit ein vorläufiges, abruptes Ende.

Ein Neuanfang?

Im Oktober 1948 erschien in Stuttgart bei der Deutschen Verlags-Anstalt »Die Bauzeitung vereinigt mit der Süddeutschen Bauzeitung München, Süddeutscher Baugewerkszeitung und Deutscher Bauten-Nachweis.« Im Untertitel bezeichnete man sich als »Fachzeitschrift für das gesamte Bauwesen.« Die Vorgeschichte dieser Publikation geht auf das Jahr 1904 zurück. Damals wurde das Blatt als »Württembergische Bauzeitung« gegründet. In den folgenden Jahrzehnten gab es mehrfache Namenswechsel und Zusammenschlüsse mit diversen anderen Publikationen. In den 20er und 30er Jahren gelang es, sich als führende Fachzeitschrift im gesamten süddeutschen Raum zu etablieren. Der Schriftleiter H. P. Eckart, der in der Nachkriegszeit die Neugründung ­des Blatts betrieb, war seit 1925 mit der Zeitschrift verbunden. Im Editorial schrieb er, der Fokus sei auf den südwestdeutschen Raum gerichtet. Und ­so war es.

Was wurde publiziert? Neben grundsätzlichen Texten, etwa über »Die Lage in der Bauwirtschaft« oder »Wahrheit im Städtebau«, stand die Wiederaufbauplanung im Mittelpunkt der Berichterstattung. Vielfach wurden städtebauliche Wettbewerbe dokumentiert, die die These von der Kontinuität von Architektur und Städtebau über 1945 hinweg aufs Schönste bestätigen. Ein häufig behandelter Themenkreis war daneben der preisgünstige, materialsparende Wohnungsbau, mit dem der akuten Raumnot in der Nachkriegszeit abgeholfen werden sollte. Bisweilen wagte man einen zaghafter Blick über die Grenze in die Schweiz oder nach Dänemark und Belgien. Insgesamt betrachtet, präsentierte sich das grafisch völlig uninspiriert aufgemachte Blatt als biedere, in negativem Sinn provinzielle Publikation, die weder intellektuell noch gestalterisch auf der Höhe der Zeit stand. Das zeigte sich beispielhaft, als im Dezember 1949 über die in Stuttgart gezeigte Bauausstellung »Wie wohnen? – Bautechnik, Möbel, Hausrat« berichtet wurde, auf der u. a. Möbel von Hugo ­Häring und Egon Eiermann gezeigt wurden. Über die Arbeiten des Letzteren heißt es da: »Besonders eigenartig sind die Möbel und Wohnungsentwürfe von Professor Egon Eiermann von der Technischen Hochschule Karlsruhe, der unter anderem – dies sei als Kuriosität erwähnt – eine polierte Baumschwarte (sic!) als Blumentisch verwendet und eigenartige runde Korbmöbel zeigt.« Das zeigte sich auch an der ungebrochenen und unkritischen Wertschätzung von Paul Schmitthenner, dessen tiefe Verstrickung mit den Nazis man für entschuldbar hielt, weil er ja deren Monumentalarchitektur abgelehnt hätte. Von wegen Neuanfang!

Übernahme der Verlags- und Namensrechte

1951 konnte »Die Bauzeitung« die Verlags- und Namensrechte der mit ­Abstand ältesten deutschen Fachzeitschrift, der Deutschen Bauzeitung, ­erwerben. 1951 und 1952 erschien man unter dem Titel »Die Bauzeitung, vereinigt mit Deutscher Bauzeitung und Süddeutscher Bauzeitung«. 1953 bis 1959 firmierte das Blatt unter »Die Bauzeitung – Deutsche Bauzeitung«. 1960 schließlich nannte man sich erstmals »db Deutsche Bauzeitung« und im ­Untertitel »Fachzeitschrift für Architektur und Bautechnik«. Die alte Jahrgangszählung der Deutschen Bauzeitung wurde übernommen.

Mit der Namensänderung veränderte sich auch der Fokus der Zeitschrift. Die anfängliche Beschränkung auf den süddeutschen Raum fiel weg. Die Leserschaft erweiterte sich entsprechend. Dass der Ort von Verlag und Redaktion den Charakter des Hefts bis heute beeinflusst und mitprägt, kann und soll nicht bestritten werden.

Der holprige Weg zurück zur Moderne

Ganz allmählich findet man in den 50er Jahren den Weg aus Nachkriegsmief und provinzieller Beschränktheit. Junge Kräfte in der Redaktion wagen ­immer öfter den Blick über die Grenze. Amerika wird entdeckt. Plötzlich tauchen Häuser von Marcel Breuer im Heft auf. Und Eiermanns Projekte werden nicht länger als »eigenartig« abqualifiziert. Es fällt freilich auf, dass – womöglich um alte Gräben nicht wieder aufzureißen – im Heft nur wenig inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet. Die Auswahl der Projekte erscheint etwas willkürlich, die Berichterstattung ist bildlastig, die Begleittexte sind entsprechend kurz und rein informativ gehalten. Architekturkritik im eigentlichen Sinn, findet so gut wie nicht statt. Die grafische Aufmachung wird ein wenig frischer, hinkt aber noch immer der Zeit hinterher. Ende der 50er Jahre ­tauchen sporadisch die ersten Farbaufnahmen auf. Das allein macht freilich noch kein gutes Blatt.

Zäsur 1960

Endlich, im Januar 1960, können wir aufatmen. Die db Deutsche Bauzeitung ist wieder in der Spur. Ein grafischer Relaunch markiert das schon äußerlich. Das Titelfoto, es zeigt das Haus Staehelin von Marcel Breuer, verweist auf den Heftinhalt. Es geht um Einfamilienhäuser. So ist es von da an: Es gibt einen Themenschwerpunkt in jedem Heft und der Titel steht dazu in Beziehung. Das von Gerhard Schwab verfasste Editorial vom Jan. 1960 erklärt das ­zukünftige Programm und Selbstverständnis der Zeitschrift:
»Die Deutsche Bauzeitung, die im Januar 1960 in vergrößertem Format ­erscheint, folgt im 65. Jahrgang neuen Ideen. Den vielfältigen Strömungen in der Architektur unserer Zeit nachzuspüren, sie durch Publikation und Diskussion aufzugreifen und weiterzugeben ist als Aufgabe wie als Pflicht gleichermaßen bedeutungsvoll. So wird sich die Zeitschrift der Dokumentation baukünstlerischen Schaffens, der Besprechung der Zeugnisse des Modernen Bauens, der Weitergabe von Erfahrungen, der Darstellung heutiger Entwurfs-, Form- und Konstruktionsprobleme und ebenso der unendlichen Vielzahl technischer Erfordernisse des Bauens widmen.«

Wir würden das heute etwas anders formulieren und vielleicht da und dort ­eine Ergänzung vornehmen. Im Kern aber entspricht dieses Programm ­unseren Vorstellungen. Hier erkennen wir eine Tradition, auf die wir uns ­gerne beziehen.

Die 70er Jahre — bunter und politischer

In den 70er Jahren setzt die db deutsche bauzeitung den in den 60er Jahren ­begonnenen Kurs fort. Man ist am Puls der Zeit, wird bunter, poppiger, aber auch politischer. Eine Serie widmet sich dem »Bauen in der Dritten Welt«. ­Soziologische Themen drängen ins Heft, oft verbunden mit komplexen Bauaufgaben: Großsiedlungen, Universitätsbauten und natürlich mit dem seinerzeit heftig diskutierten Thema der Stadtsanierung. Im Kampf zwischen Kahlschlagsanierern und behutsamen Stadterneuerern schlägt man sich vorsichtig auf Seiten der Letzteren. Implizit zumindest, indem man den Wert der ­Altstädte herausstellt und wie etwa in Heft 1/1974 über die Sanierungspraxis in Polen berichtet. Eher neutral bleibt man in dem sich verschärfenden Konflikt zwischen Spät- und Postmoderne.

Dem Anspruch aber, die verschiedenen Strömungen in der zeitgenössischen Architektur dar- und zur Diskussion zu stellen, wird man gerecht. Der Serviceteil erfährt einen weiteren Ausbau. Die Rubriken werden neu ­geordnet bzw. neu benannt. Aus db-Haus wird ­db-innen, aus db-technik und db-detail wird db-baupraxis. Unter db-kalei­doskop werden vermischte ­Meldungen zusammengefasst: Architektenrecht, ­Honorarfragen, Ausbildungsthemen und – wir erinnern uns an die Ölkrise – Energiediskussion. Großer Beliebtheit erfreut sich nachweislich die monat­liche Serie »Bau­schaden des Monats«.

db, Do., 2016.09.29



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db 2016|10 150 Jahre Standpunkte in der Architektur

01. September 2016Ulrike Kunkel
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Die Tore auf, es brennt im Tal

Als auffällig unauffälliger Monolith aus rotbraunem Sichtbeton präsentiert sich das Feuerwehrhaus der ­Architekten-Brüder Alexander und Armin Pedevilla ­im Südtiroler Ort Vierschach. Durch die konsequente Ausrichtung des Projekts zu zwei Seiten hin und die klare Funktionstrennung kommuniziert das Gebäude zielgerichtet mit seiner Umgebung.

Als auffällig unauffälliger Monolith aus rotbraunem Sichtbeton präsentiert sich das Feuerwehrhaus der ­Architekten-Brüder Alexander und Armin Pedevilla ­im Südtiroler Ort Vierschach. Durch die konsequente Ausrichtung des Projekts zu zwei Seiten hin und die klare Funktionstrennung kommuniziert das Gebäude zielgerichtet mit seiner Umgebung.

Im 400-Seelen-Ort Vierschach, in der Gemeinde Innichen im Hochpustertal, gut 30 km östlich von Bruneck, befindet sich auf 1 130 m das neue Feuerwehrhaus mit Fahrzeughalle und Schulungs- bzw. Veranstaltungssaal für Feuerwehr und Gemeinde zugleich. Das Hochtal der Dolomiten ist UNESCO Welterbe und wird vom üppigen Grün der Wiesen und Wälder und natürlich vom weißen Dolomitengestein geprägt. Von den rund 400 Einwohnern Vierschachs engagieren sich 50 in der freiwilligen Feuerwehr – ein Nachwuchsproblem gibt es nicht. Nachdem das alte Feuerwehrhaus längst nicht mehr den räumlichen und technischen Ansprüchen genügte, schrieb die Gemeinde bereits 2011 einen einstufigen Wettbewerb für ein neues Gebäude aus.

Eigenständiger Monolith

Der lang gestreckte, monolithische Neubau aus rot pigmentiertem Leichtbeton liegt an der Staatsstraße, durch einen leicht ansteigenden Vorplatz respektvoll von ihr zurückgesetzt. Zumindest sommertags, wenn sich nicht, wie auf den gezeigten Fotos, der Schnee gnädig über das heterogene Umfeld aus undefinierten Freiflächen und verstreut liegender Bebauung legt, kann man das Feuerwehrhaus fast übersehen; zumal es, durch den Höhensprung des Geländes aus kaum einer Perspektive mit seinem gesamten Volumen in Erscheinung tritt. Dass der Entwurf diesen Höhenunterschied so geschickt löst und sich zunutze macht, trägt ganz wesentlich zur Qualität des Projekts bei und führte u. a. dazu, dass sich das Architekturbüro Pedevilla ­Architects ­zusammen mit dem Ingenieurteam Bergmeister gegen elf andere Büros im geladenen Wettbewerb durchsetzen konnte. Eine weitere Qualität liegt in der konsequenten Nord/Süd-Ausrichtung und der übersichtlichen Gliederung des Gebäudes sowie der klaren Funktionstrennung und -zuordnung: Auf der unteren Ebene, nach Süden hin, ist die Fahrzeughalle mit der breiten Ausfahrt für die Feuerwehrautos und einem Übungsplatz davor angeordnet, darüber befindet sich der nach Norden ausgerichtete und nur von der oberen Ebene aus zugängliche Saal. Hinzu kommen auf beiden Geschossen Serviceeinrichtungen, die die jeweiligen Bereiche unabhängig voneinander machen. Die Ebenen mit ihren Vorplätzen werden über eine ins Gebäudevolumen integrierte, außenliegende und somit öffentliche Wendeltreppe aus pulverbeschichtetem Stahl miteinander verbunden.

Die sich ergebenden zwei Hauptfassaden des Feuerwehrhauses sind im ­Wesentlichen identisch aufgebaut: mit einem breiten gläsernen Fenster- bzw. Türband, das sich nahezu über die gesamte Gebäudelänge zieht, und einer ­geschlossenen Fläche aus rotbraunem Beton darüber. Die wenigen weiteren Öffnungen sind nicht verglast und ebenfalls in Rotbraun gehalten, was den monolithischen Charakter des Gebäudes stärkt. Dem Wunsch der Gemeindevertreter, auch ein Fenster gen Ortschaft, mit Blick auf die Kirche zu haben, wurde von den Architekten nachvollziehbarer Weise nicht entsprochen, um das Erscheinungsbild und die eindeutige Orientierung des Entwurfs nicht zu verwässern. So kommuniziert der Bau ausschließlich zu den beiden Vorplätzen hin, unten über die Falttüren der Fahrzeughalle und den direkt anschließenden verglasten »Kommandoraum«, oben über die gläserne Saalseite, die die Gliederung der Fahrzeughallen-Fassade aufnimmt.

Manuell, nicht automatisch

Die Falttüren sind Standardanfertigungen, die, was den Architekten sehr wichtig war, bündig eingesetzt wurden. Die Farbe der pulverbeschichteten Metallprofile orientiert sich am rotbraunen Ton des Betons. Die Türen sind leicht zu handhaben und werden manuell bedient. Um einen natürlichen Wetter-, in dieser Lage v. a. Schneeschutz zu erhalten und die Funktionsfähigkeit der Falttüren jederzeit zu gewährleisten, ist die Tür-Ebene einen Meter zurückgesetzt. Der Übergang zum asphaltierten Vorplatz ist niveaugleich. Die Dreifachverglasung kann man durchaus infrage stellen, so merkte auch ­Alexander Pedevilla an, da die Tore ohnehin nicht 100-prozentig dicht ­abschließen. Die im gesamten Gebäude eingesetzten braun getönten Gläser fungieren als Sonnen- und als Blendschutz und lassen das Gebäude kom­pakter und geschlossener erscheinen.

Um das Feuerwehrhaus eindeutig als Funktionsgebäude zu kennzeichnen und ihm ein monolithisches Erscheinungsbild zu geben, es aber nicht als Fremdkörper in seiner Umgebung wirken zu lassen, fiel die Entscheidung auf Rotbraun pigmentierten Sichtbeton für innen und außen. »Das Material und der durchgängige Einsatz einer naturnahen Farbe, über die sich das Gebäude in die Umgebung einfügt, waren bereits während der Wettbewerbsphase klar«, so Alexander Pedevilla. Was zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, dass für die Außenhülle Konstruktionsleichtbeton zum Einsatz kommen ­würde. Doch erfreulicherweise trug die Gemeinde die Idee mit. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten, die v. a. witterungsbedingt waren, bekam die ausführende Firma, die bisher noch keine Erfahrungen beim Einsatz von konstruktivem Leichtbeton hatte, ein überzeugendes Ergebnis hin. Der Beton erhält durch den Zusatz von Blähton als künstlichem Leichtzuschlag hochwärmedämmende Eigenschaften, wodurch keine weiteren Dämmmaßnahmen erforderlich waren. Neben der tragenden Funktion übernimmt der mit roten ­Eisenoxidpigmenten gefärbte Sichtbeton, der am Ende fein abgeschliffen und hydrophobiert wurde, auch die Aufgabe der frostsicheren Fassade. Aus ­Gründen der geforderten Energieeffizienz ergaben sich 60 cm dicke Stahl­betonwände für die Gebäudehülle; in den stützenlosen Räumen wurden ­Trägerspannweiten von 27 m realisiert, auch für konstruktiven Leichtbeton eine ­gewisse Herausforderung.

Die »Stube«

Kommt man aus der einheitlich rot gehaltenen Fahrzeughalle über die ebenfalls rotbraune Wendeltreppe nach oben in den Saal, riecht man den Unterschied förmlich: nicht Beton, sondern Zirbenholz prägt das Raumerlebnis hier. Bis auf die Fensterfront, sind Wand, Decke und Boden damit bekleidet. Die Architekten wollten, obwohl der Raum immerhin 100 Personen fasst, die heimelige Atmosphäre einer Südtiroler Stube erzeugen. Und das ist durchaus gelungen! Akustisch wirksame Maßnahmen, eine kontrollierte Lüftung und die Fußbodenheizung unterstützen die wohlige Ausstrahlung. Die Besonderheit ist ein großer Vorhang aus hellgrauem, heimischen Loden, mit dem sich die gesamte Fensterseite »schließen« lässt.

Mit dem Feuerwehrhaus in Vierschach ist den Architekten-Brüdern aus Bruneck, die ihre Entwürfe, wie Alexander Pedevilla erzählt, zunächst stets gemeinsam entwickeln, bevor in Ausarbeitung und Umsetzung jeder eigene betreut, wieder einmal ein bemerkenswert konsequentes Stück Architektur gelungen, das ortsbezogen und eigenständig zugleich ist.

db, Do., 2016.09.01



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db 2016|09 Tür und Tor

03. Juni 2016Ulrike Kunkel
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Bar jeder ­Bergidylle

Unter Verwendung natürlicher Materialien, weniger ­Formen und dezenter Farben entwickelten die Architekten ein veränderbares Ausstellungssystem, das die dargestellten Themen auch architektonisch erfahrbar macht und in das die einzelnen Exponate wie eingewoben sind. Die variable Struktur zieht sich konsequent durch die Ausstellungsgestaltung und setzt das sensible Thema »Tirol im Ersten Weltkrieg« angemessen in Szene.

Unter Verwendung natürlicher Materialien, weniger ­Formen und dezenter Farben entwickelten die Architekten ein veränderbares Ausstellungssystem, das die dargestellten Themen auch architektonisch erfahrbar macht und in das die einzelnen Exponate wie eingewoben sind. Die variable Struktur zieht sich konsequent durch die Ausstellungsgestaltung und setzt das sensible Thema »Tirol im Ersten Weltkrieg« angemessen in Szene.

Fläche und Linie – darauf basiert ganz wesentlich das bestechend klar und einfach gehaltene architektonische Gesamtkonzept der Ausstellung »Front – Heimat« von münzing architekten aus Stuttgart am Tiroler Landesmuseum in Innsbruck. Vertikal oder horizontal angeordnet, verdichtet oder aufgeweitet, nebeneinander oder ineinander verschränkt, geordnet oder in Unordnung geraten: Das System aus Flächen und Linien wird über die neun Ausstellungsstationen jeweils variiert und verdeutlicht so auf architektonische Weise die dargestellten Themen eindrücklich für den Betrachter.

Ordnung und Unordnung

Die Sonderausstellung (gezeigt von Mai bis November 2015) thematisierte auf rund 1 200 m² auf zwei Ebenen die Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Kriegsende in Tirol. Mit dem Kriegseintritt Italiens am 23. Mai 1915 wurde auch Tirol zum Kriegsschauplatz und in den Alltag der Bevölkerung, in ihre Heimat, drängte sich die Frontlinie hinein – daher auch der Ausstellungstitel Front – Heimat. Erzählt wird aus der Perspektive von Einzelpersonen, das besondere Augenmerk liegt auf dem Menschen und seinen alltäglichen Erfahrungen und Katastrophen in dieser Zeit. Als Grundthema gingen die Architekten, die frühzeitig in die Überlegungen zum Ausstellungskonzept mit einbezogen wurden und dieses mit entwickelten, den Fragen nach: Was verändert sich, wenn plötzlich in der Heimat eine Front entsteht? Welche Umwidmung erfahren gewohnte Gegenstände, Themen und ­Situationen in Kriegszeiten? Um das zu beantworten und für den Besucher nachvollziehbar zu machen, bildet den Auftakt der Ausstellung eine Art ­Bestandsaufnahme Tirols im frühen 20. Jahrhundert. Mit wenig Text und zahlreichen Objekten wie Tourismusplakaten, Modelleisenbahnen, Möbeln und Gebrauchsgegenständen wird ein Stimmungsbild erzeugt. Die Ausstellungsarchitektur ist hier klar und geordnet, wie das ungestörte Leben vor Kriegseinbruch, Flächen und Linien bilden Räume für verschiedene Situationen, die skizzenhaft Eindrücke vermitteln.

Nachdem der Besucher zunächst also auf die damalige Zeit eingestimmt ­wurde, kommen am sogenannten Strategietisch und in den Rahmenstruk­turen gegenüber geschichtliche Fakten und Hintergründe hinzu. Daran ­anschließend, in einem immer dichter und unübersichtlicher werdenden »Stelenwald« werden Einzelschicksale anhand von Totenbildern und Totenbüchern dargestellt; der Krieg wird präsent, die Geschichten der Front stören den Alltag und prägen ihn. Dies wird auch über die Ausstellungsinstallation vermittelt: Die Struktur beginnt sich aufzulösen, die Installation lässt den Raum nach hinten hin immer enger werden, der Besucher wird (durch den Krieg) bedrängt und eingeengt. Verstärkt wird dieser Eindruck zusätzlich durch die gegenüber liegende, sich schräg in den Raum schiebende Medienwand, auf der über projizierte Bilder und Schlagzeilen von Flugblättern und Zeitungen den persönlichen Schicksalen die offizielle Kriegspropaganda ­gegenübergestellt wird. Die riesige Wand verbindet außerdem die beiden Ausstellungseben miteinander; entlang einer künstlerischen Großgrafik auf der Rückseite gelangt der Museumsbesucher ins OG. In einer Punktewolke werden hier die gefallenen Tiroler Soldaten sinnbildlich dargestellt.

In der nächsten Sektion, »Hinterland« (hinter der Front), begegnen einem wiederum Alltagsgegenstände und -themen, nun aber durch den Krieg in ­ihren Funktionen umdefiniert. Die in den ersten Ausstellungsstationen noch stehenden Rahmenstrukturen sind wie in sich zusammengefallen und in­einander verschränkt.

Die definierten Flächen sind hier weitgehend als Flachvitrinen ausgebildet, in ihnen und auf der Holzstruktur direkt sind die Expo­nate verteilt. Ebenso die begleitenden Objekt- und Ausstellungstexte, die, ­­wie angepinnt, mal in der Vitrine, mal auf dem Holz, mal neben, dann wieder über dem Objekt angeordnet sind. Die nicht definierte Platzierung, die ­unterschiedlichen Formate sowie die gewählte Typografie nehmen Bezug auf ­Aushänge und plakatierte Bekanntmachungen in der Zeit des Ersten ­Weltkriegs.

Natürliche Materialien, dezente Farben

Die von den Architekten für die gesamte Ausstellung gewählte zurück­haltende Farbigkeit hat etwas Natürliches; sie orientiert sich am Menschen. So sind die Flächen, auf denen die Exponate präsentiert werden, in zartem Matt-Rosa gehalten.

Die durchgängig verwendete Rahmenstruktur aus gehobelten Kanthölzern ist an den ersten Stationen der Ausstellung noch dunkler, kontrastreicher lasiert, zum Ende hin wird die Lasur immer heller und dezenter: Das Leben, das Gewohnte ist in Auflösung begriffen, die Ausstellungsarchitektur ist es ebenfalls und auch die Farbe schwindet mehr und mehr.

Von der Sektion »Hinterland« aus hat man den Blick »an die Front«. Ein ­zerlegtes Großfoto (gedruckt auf Stoff) zeigt den mühsamen Aufstieg der ­Soldaten zur Frontlinie. In dieser Sektion strebt auch die Architektur nach oben; die Holzrahmen wachsen in die Höhe, ähnlich einem Gebirge entstehen Spalten und Nischen, die die Objekte beherbergen. Der Besucher bahnt sich den Weg hindurch und wieder zurück, bevor er sich im mittleren Bereich des Ausstellungsraums abermals mit persönlichen Kriegsschilderungen u. a. in Form von Briefen sowie offizieller Berichterstattung konfrontiert sieht.

Den Abschluss bildet das »Plateau der Funde«. Wie Eis- oder Erdschollen ­liegen die begehbaren Flächen auf dem Boden, leicht angehoben durch Kanthölzer; in den spaltenartigen Zwischenräumen befinden sich die Exponate ­direkt auf dem Boden. Es sind archäologische Funde des Ersten Weltkriegs, die erst mit der Zeit freigegeben wurden.

Das Ausstellungsprojekt war bereits die sechste erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen münzing architekten und dem Tiroler Landesmuseum. Das »bestehende Grundvertrauen«, so Uwe Münzing, »merkt man dem Ergebnis durchaus an.« Beide Seiten profitieren auch davon, dass die Architekten mit der nicht ganz einfachen Raumsituation – im Grunde ein großer Erschließungsbereich, der ursprünglich nicht für Ausstellungen vorgesehen war – bereits vertraut sind. So konnte dieses komplexe Projekt in kürzester Zeit quasi Hand in Hand zwischen Kuratorin, Architekten und der Werkstatt des Museums überzeugend entwickelt und umgesetzt werden. Wollen wir hoffen, dass es nicht das letzte war!

db, Fr., 2016.06.03



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db 2016|06 Ausstellung gestalten

01. Dezember 2015Ulrike Kunkel
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Seelenlandschaft

In einem Dorf im Südtiroler Schnalstal wurde der Friedhof erweitert und um eine Totenkapelle ergänzt. Entstanden ist ein bemerkenswerter Ort, der durch klare Formen und zurückhaltende Gestaltung Ruhe und Konzentration ausstrahlt. Ein Platz für Trauer und Abschiednahme – ohne Pathos und bedrückende Schwere.

In einem Dorf im Südtiroler Schnalstal wurde der Friedhof erweitert und um eine Totenkapelle ergänzt. Entstanden ist ein bemerkenswerter Ort, der durch klare Formen und zurückhaltende Gestaltung Ruhe und Konzentration ausstrahlt. Ein Platz für Trauer und Abschiednahme – ohne Pathos und bedrückende Schwere.

Das Dorf Katharinaberg im Schnalstal liegt recht spektakulär auf einem Bergsporn in 1 245 m Höhe. Von Meran kommend, erschließt sich das ca. 22 km lange Tal rechter Hand nach Nordwesten. Durch einen Tunnel gelangt man in die felsige Eingangsschlucht, passiert zunächst das Schloss Juval und erreicht nach einiger Zeit den Abzweig Richtung Katharinaberg. Die schmale Straße schlängelt sich auf den ca. 200-Seelen-Ort zu und gibt in der einen oder anderen Biege bereits den Blick auf den Kirchberg mit neuer Friedhofserweiterung und -einfassung sowie Totenkapelle preis. Durch die steile Hanglage und das damit einhergehende hohe »Fundament«, ragt die Kapelle aus dieser Perspektive doppelt so hoch auf, wie auf der Eingangsseite zur Kirche hin. Die Pfarrkirche St. Katharina im Hintergrund behauptet sie sich also durchaus selbstbewusst vor ihrem Nachbarn.

Bisher hatte die Gemeinde Schnals, zu der neben Katharinaberg noch vier weitere Ortschaften gehören, keine Totenkapelle, da die dreitägige Aufbahrung vor dem Begräbnis traditionell zu Hause stattfand. Durch veränderte Wohn- und Lebensformen kommt man allerdings auch hier mehr und mehr davon ab, sodass eine Kapelle für die Aufbahrung erforderlich wurde. Der kleine, in Form und Gestaltung bestechend simple und zurückhaltende Bau bietet nun den angemessenen Rahmen für die stille und persönliche Trauer und Verabschiedung, aber auch für die gemeinschaftliche am Tag der Beerdigung, an dem sich die Trauergemeinde auf der Rasenfläche vor der Kapelle versammelt.

Bei nicht einmal 1 300 Einwohnern im gesamten Schnalstal, überrascht es zunächst, dass auch eine Friedhofserweiterung notwendig wurde. Doch die Erklärung liegt in einer Besonderheit des Schnalstals: Jeder Verstorbene bekommt hier eine neue Grabstelle, sodass alle Familien mehrere Gräber haben, und das erfordert Platz. Daher wurde der Friedhof bereits einmal vergrößert und mit einer Stützmauer eingefasst. Nun stand eine neuerliche Erweiterung an und ein geeignetes Terrain musste gefunden werden. Den Bereich direkt an der Kirche zu nutzen kam nicht in Frage, da wegen des sehr steinigen Bodens die mögliche Aushubtiefe nach heutigen Anforderungen zu gering gewesen wäre. Also folgte die Gemeinde der Idee des Architekten, um die erste Ringerweiterung einen zweiten Ring zu legen; ebenfalls befestigt durch eine verputzte Mauer. Diese wird auf der westlichen Hangseite von einer Treppe begleitet, die einen wieder auf das Geländeniveau der Kirche und auf die Rasenfläche davor, einem alten Gräberfeld, bringt. Von hier aus ist auch die neue Totenkapelle zugänglich. Die kleine Kapelle ist als Teil der Einfriedungsmauer zu lesen und wächst quasi aus dieser heraus. Beide sind in Betonkonstruktion errichtet und einheitlich mit einem verriebenen, grobkörnigen Putz verputzt. Die Dachfläche aus Lärchenholz unterstreicht die Verbundenheit mit der Natur, farblich hat sich das silber-grau gewordene Holz inzwischen der hellen Farbe des Putzes angeglichen. Die Sparren aus Lärchenholz sind im Innenraum sichtbar; darüber liegt eine Schalung, auf der Schalung eine PVC-Haut, die das Wasser in die Dachrinne führt, darüber, mit einigem Abstand, die Holzbretter. So kann die Dachrinne versteckt liegen und nichts stört die klare, einfache Linie.

Ein Ort der Helligkeit

Durch ein großes zweiflügliges Tor, das in die Eingangsseite aus Lärchenholz eingeschnitten ist, betritt man das Innere des Aufbahrungsraums. Die hellen, glatt verputzten Wände, der offene Dachraum und der polierte Betonestrich prägen den nahezu undekorierten Raum. Und natürlich die Natur!

Die komplett verglaste Stirnseite öffnet sich zum Tal hin und holt die grandiose Landschaft in das Gebäude hinein. Der Blick zu den Bergen, den Wäldern und in den Himmel spendet den Trauernden Trost. Im Vordergrund lediglich ein minimalistisches Kreuz. Der neutral gehaltene Raum und der Bezug zur Natur berühren die Sinne und schaffen einen friedlichen Ort der Ruhe und der Einkehr. Eine »Stube«, die Platz für den schwierigen Prozess des Abschiednehmens bietet und Nähe zum Verstorbenen zulässt.

Trauer und Tod architektonisch eben nicht mit Dunkelheit, Schwere und üppiger Symbolik gleichzusetzen, das war dem Architekten Arnold Gapp ein wichtiges Anliegen. Dass Architektur im Falle der Trauer unterstützend wirken kann, diesen Eindruck vermittelt der kleine Bau durchaus eindrucksvoll.

db, Di., 2015.12.01



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db 2015|12 Redaktionslieblinge

11. Oktober 2015Ulrike Kunkel
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Mit Weitblick

Ein Paarhof am Hang, bestehend aus Wohnhaus und Stadel — ein ortstypisches Bild, das sich das Weingut auch nach der Erweiterung bewahrt hat. Der Neubau ersetzt den »Vorgängerstadel« an der selben Stelle und mit unwesentlich größerer Kubatur, was das Hof-Ensemble aber sehr gut verträgt.

Ein Paarhof am Hang, bestehend aus Wohnhaus und Stadel — ein ortstypisches Bild, das sich das Weingut auch nach der Erweiterung bewahrt hat. Der Neubau ersetzt den »Vorgängerstadel« an der selben Stelle und mit unwesentlich größerer Kubatur, was das Hof-Ensemble aber sehr gut verträgt.

Kommt man Anfang August aus dem brütend heißen Bozener Talkessel ins Eisacktal hinauf Richtung Völs am Schlern zum Weingut »Bessererhof«, versteht man die Bedeutung des Worts Sommerfrische sofort; es überrascht nicht, dass für den deutschsprachigen Raum die besonders frühe Verwendung des Begriffs gerade von hier überliefert ist, wo die Bewohner den heißen Talkessel in den Sommermonaten gen Ritten, St. Konstantin oder eben Völs verlassen: immer noch warm, geht ein angenehmes Lüftchen und die Nächte bringen verlässlich Kühle. Zusammen mit den besonderen Böden, ist es genau diese Kombination, die dem Bessererhof, dem südlichsten Weingut im Eisacktal, seine besonderen Weine beschert.

Das ortstypische Paarhof-Ensemble liegt in imposanter Hanglage inmitten von Weinreben und Apfelplantagen. Mit einer Produktion von 40 000 Flaschen pro Jahr und neun unterschiedlichen Sorten gehört das Weingut zu den mittleren Betrieben Südtirols. Umso erstaunlicher, dass bis zur Einweihung des neuen Wirtschaftsgebäudes mit der Ernte 2014 die gesamte Weinverarbeitung einschließlich kleinerer Verkostungen und der anfallenden Verwaltungs- und Büroarbeit recht beengt im Keller des Wohnhauses der Familie und im Haus selber untergebracht waren. Der Wunsch nach einem gesonderten, großzügigen Produktionskeller entstand, und die Bauherren beauftragten den Architekten Theodor Gallmetzer, von dem sie u. a. den »Weinraum Kobler« in Margreid (s. db 9/11, S. 30) kannten, mit der Planung.

Architektonische und landschaftliche Bezüge

Das neben dem Wohnhaus gelegene, ehemalige Wirtschaftsgebäude aus den 60er Jahren erwies sich als ungeeignet, um es den heutigen Anforderungen anzupassen und entsprechend umzubauen; also entschied man sich für einen Abriss und anschließenden Neubau mit sehr ähnlichen Proportionen an derselben Stelle. Zum einen war es eine Auflage der Gemeinde, das charakteristische Erscheinungsbild als Paarhof zu erhalten, zum anderen auch das Anliegen des Architekten: »Ich wollte ein Gebäude realisieren, das sich nicht zwanghaft vom Bestand und vom Vorgängerbau abhebt, aber auch nicht anbiedernd auftritt. Mein Ziel war es, eine zurückhaltende, dabei aber eigenständige und eindeutig zeitgenössische Sprache zu finden, die ortstypische Architektur-Merkmale aufnimmt, sie aber nicht einfach kopiert.« Und so formuliert und interpretiert das neue Wirtschaftsgebäude gewohnte Architektur-Elemente und Materialien geschickt neu und komplettiert dadurch das Hof-Ensemble.

Als ortstypisch lassen sich im Wesentlichen vier Merkmale ausmachen: die Gliederung des Baukörpers in zwei Bereiche, die ihrerseits in unterschiedlichen Materialien ausgeführt sind – der untere gemauert, der obere in Holz. Außerdem springt das obere Geschoss des zum Haus gehörenden »Stadels« hervor und besitzt einen Balkon. Gallmetzer nimmt die klassische Zweiteilung und die wechselnden Materialien auf, verwendet aber Beton für den Sockel und Streckmetall aus Corten-Stahl als Bekleidung für den in Holzkonstruktion errichteten Aufbau; dieser kragt aus, und die schlanke Balkonkonstruktion ist gleichzeitig seitliche Erschließung, die den Zugang zum Gebäude im ersten Stock ermöglicht. Auf einen zentralen Eingang wurde bewusst verzichtet. Über die großen Glasfenster und -türen werden dem Besucher von dem Erschließungsbalkon aus zudem Einblicke in das Gebäude gewährt, auch wenn die Besitzer nicht vor Ort sind: eine offene und einladende Geste.

Die leichte Rosafärbung des Betonsockels überrascht nur im ersten Moment; beim Blick hinauf zu den Felswänden der Dolomiten wird der Bezug klar: Der mit Eisenoxidpigmenten gefärbte Beton lehnt sich an das Porphyr-Gestein der Berge an. Unterstützt wird die Verwandtschaft noch durch die grobe Körnung und die raue, zerklüftete Oberfläche der vorbetonierten Sichtbetonschale, von der nach der Trocknung mit einem Hochdruck-Wasserstrahl mit ca. 2 000 Bar rund 1,5 cm wieder abgetragen wurden – Gesteinsverwitterung im Zeitraffer. Doch es gibt sogar noch einen weiteren Bezug: Die Textur des Betons erinnert an die Weinstein-Ablagerungen in den Fässern. ›

Wein-Unterwelt

Das Herzstück des Gebäudes ist in gewisser Weise aber der Keller. Schließlich findet hier die Weinproduktion und -lagerung statt. Ein Treppensystem, das um die Hauptmauer herum gebaut ist, erschließt jede Ebene (Lager, Weinproduktion, Anlieferung/Verkostung). Den eigentlichen Weinkeller, der genau genommen im EG liegt, betritt man über eine Art Kanzel; von hier aus lässt sich der große Raum mit seinen Stahl- und einigen Holzfässern wunderbar überblicken. Treppe und Innenwände sind in glattem Sichtbeton ausgeführt und haben dieselbe Pigmentierung wie die Außenwand. Die Deckenleuchten sind sehr sauber in den Beton eingelassen, die Epoxidharzbeschichtung des Bodens ermöglicht ihn hygienisch einwandfrei zu halten. Der Keller schiebt sich in den Hang hinein, wobei ein schönes Detail die Aussparung in der hinteren Wand ist, wodurch der Blick auf den Fels freigegeben wird. Ursprünglich war diese Wand sogar gar nicht vorgesehen, sondern der Fels sollte die Rückwand bilden. Die Tragkraft erwies sich allerdings als nicht ausreichend.

Durch die konstante Temperatur des umgebenden Erdreichs von ca. 12 °C und die zweischalige Betonkonstruktion liegt die Raumtemperatur sommers wie winters um die 15 °C und ist damit optimal für die Weinproduktion. Mit Flaschen- und Weinlager sowie Technikräumen und einem Raum für eine eventuelle Schnapsbrennerei liegt der weitaus größere Teil des Gebäudes unterirdisch. Nur gut 1 000 der insgesamt 4 000 m³ schauen aus der Erde heraus; etwas mehr als beim Vorgängerbau, was das Ensemble aber nicht aus dem Gleichgewicht bringt.

Weinverkostung mit Ausblick

Taucht man aus der Wein-Unterwelt wieder auf, wird man im talseitig gelegenen, angenehm proportionierten Verkostungsraum mit dem grandiosen Blick über das Eisacktal belohnt. Auf dem vorgelagerten, großzügigen Balkon schwebt man über den Weinbergen. Einziger Wermutstropfen ist die nicht unerhebliche Geräuschkulisse der Brennerautobahn, die dem Tal schon ziemlich zusetzt und die sich nur schwerlich ausblenden lässt. Im Verkostungsraum selber bestimmen warme, natürliche Materialien und Farben die Atmosphäre. Zunächst fallen die erlesenen Tischlermöbel auf. Barhocker, Theken und bewegliche Korpora, die sich je nach Bedarf frei anordnen lassen, wurden nach den Entwürfen des Architekten aus Eiche gefertigt. Erst dann entdeckt man den individuellen Fußboden: handwerklich gefertigte, gegossene, dann geschliffene Fliesen wieder aus demselben Beton. Im rötlich-braunen Lehmputz der Wände glitzern feine Glasbeimischungen und über allem schwebt die hölzerne Lamellendecke aus Nussbaum, Eiche und Birke, in die Beleuchtung und Belüftung integriert sind und die akustisch wirksam ist. Ein kleines Labor und das nun endlich adäquate Büro der Winzerin mit einem inszenierten Ausblick nach Schlern und zu den Weinreben der Familie hinauf schließen sich an. In beiden Räumen wurde ein heller, glatt abgezogener Lehmputz verwendet.

Doch selbst ein Besuch der sanitären Anlagen lohnt: Die Wände aus gehobelten Fichtenbrettern sind im Vorraum mit der »Lege« (Rückständen) aus den Weinfässern gestrichen und erhalten davon ihre satte rote Farbe. Von dem kleinen Vorraum aus gelangt man auch zur Anlieferung und zur Abladestation der Trauben auf der Rückseite des Gebäudes. Die Trauben werden hier von den Kämmen befreit und über Schläuche direkt in die darunter liegenden Stahlfässer gefüllt.

Der Erweiterungsbau des Weinguts Bessererhof besticht durch seine gelungene Einbettung in die Landschaft und die überzeugende Interpretation der ortstypischen Bautradition. Die bemerkenswerte Entwurfssorgfalt und die Verarbeitungsqualität der Materialien sind eine Freude.

db, So., 2015.10.11



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07. Juli 2015Ulrike Kunkel
db

Gestalteter Großstadtdschungel

Das 25hours im Bikini-Ensemble in Berlin kreierten Werner Aisslinger und sein Team als Quintessenz von Berlin. Ein Großstadtdschungel, bei dem das Improvisierte Methode hat. Überspitzt gesagt: Es ist aber eben gerade nichts improvisiert, gibt sich aber sehr viel Mühe, so zu erscheinen. Einen Besuch und eine Übernachtung ist das Hotel aber allemal wert; folgerichtig erfreut es sich bei den Bewohnern der Stadt und ihren Besuchern auch gleichermaßen großer Beliebtheit.

Das 25hours im Bikini-Ensemble in Berlin kreierten Werner Aisslinger und sein Team als Quintessenz von Berlin. Ein Großstadtdschungel, bei dem das Improvisierte Methode hat. Überspitzt gesagt: Es ist aber eben gerade nichts improvisiert, gibt sich aber sehr viel Mühe, so zu erscheinen. Einen Besuch und eine Übernachtung ist das Hotel aber allemal wert; folgerichtig erfreut es sich bei den Bewohnern der Stadt und ihren Besuchern auch gleichermaßen großer Beliebtheit.

Mit dem Fahrrad ins Hotel zu kommen, ist mittlerweile nichts wirklich Ungewöhnliches mehr, aber mit dem Fahrrad aus dem Hotel heraus die Stadt zu erkunden, ist regelrecht Trend. Und der Gipfel dieses Trends ist es, mit dem Fahrrad direkt im Hotelzimmer zu starten. Gewissermaßen jedenfalls. Doch es geht ja um die Metaphorik des Fahrrads als dem ökologisch korrekten Fortbewegungsmittel schlechthin. Es geht darum, den Gästen des Hotels eben dieses Image zu vermitteln: auf der Höhe der Zeit und des Zeitgeists zu sein. Praktischerweise kann man sich also an der Rezeption ein Fahrrad ausleihen, so man nicht in einer derjenigen Zimmerkategorien gebucht hat, in denen ohnehin eines inbegriffen ist und nahe der Zimmertür an der Wand hängt.

Im 25hours ist alles bis ins kleinste Detail durchkonzipiert und -komponiert. Dem Zufall wird hier nichts überlassen und das, obwohl es genauso wirken will. Das Hotel ist so hip, wie es nur geht, dabei aber unterschwellig funktional, wie es die Klientel vorzugsweise kreativer Menschen jüngeren Alters verlangt. Die legen sich zwar gerne mal in eine der Hängematten, die in der weiträumigen Lobby zu finden sind oder sogar im eigenen Zimmer vor dem Panoramafenster, aber lieber noch arbeiten sie immer und überall an ihren Laptops, für deren Wiederaufladung es nicht an einer ausreichenden Zahl von Steckdosen mangelt.

Für die Innenausstattung des 25hours, das sich in dem sogenannten kleinen Hochhaus seitlich des Bikini-Hauses zwischen Gedächtniskirche und Zoologischem Garten befindet, war der in Berlin ansässige Designer Werner Aisslinger zuständig, während das Münchener Büro Hild und K für die Sanierung der Gebäudehülle sowie die Wiederherstellung und den behutsamen Weiterbau des über die Jahre arg vernachlässigten gesamten Bikini-Komplexes verantwortlich zeichnet (siehe db 6/2014, S. 122 ff.).

Die Grundidee ist die des »Urban Jungle«, entwickelt aus der besonderen Lage des Komplexes heraus. Auf der einen Seite die Stadt, der Breitscheidplatz mit der Gedächtniskirche als dem emblematischen Zentrum des alten West-Berlin, auf der anderen der Zoo, der im Sommer unter grünen Baumwipfeln fast verschwindet und nahtlos in den weitläufigen Tiergarten, die grüne Lunge der Stadt, überleitet. Aus dieser durchaus einmalig zu nennenden städtischen Situation ist die Ausstattung der 149 Zimmer entwickelt, die auf sechs Etagen (4-9) des Hauses zu beiden Seiten eines mittigen Flurs liegen. Als besonderer Gag – und Aisslinger spart wahrlich nicht an diesen – sind die Zimmer im tiefschwarzen Flur durch Zahlen aus Neonröhren bezeichnet.

Das 3. OG des Gebäudes ist den öffentlichen Bereichen vorbehalten. Die Rezeption ist mit den schönen grünen, ins Blaue changierenden Fliesen bekleidet, die der kundige Berliner vom U-Bahnhof Alexanderplatz kennt, jenem gestalterischen Meisterwerk Alfred Grenanders aus dem Jahr 1930. Bei der links in den Blick rückenden »Bakery«, der Backstation mit holzbefeuertem Backofen, die ganztags Brot, aber auch Muffins und dergleichen mehr offeriert, kamen die kleinen, an allen Seiten abgeflachten weißen Fliesen der Pariser Metro zum Einsatz, die sich mittlerweile in zahlreichen Ländern großer Beliebtheit erfreuen. Der weitgereiste Gast wird diese subtilen Signale zu deuten wissen. Wiederum durch Neonschriften sind die unterschiedlichen Bereiche des 3. OG gekennzeichnet. Auf »Work Labs«, wo man unter einer Art von Zeltdächern state-of-the-art-Rechner vorfindet, aber wohl nicht wirklich arbeiten mag, folgt die »Lounge« mit einer segmentbogenförmigen Wand aus Stereoanlagen-Lautsprechern, die nostalgische Erinnerungen provoziert, so derartige noch vorhanden sind. Seitlich verdeckt eine vertikale Grüngewächsinstallation die schnöde Wand. Danach wird’s ernst: Es folgen »Meeting« und, reichlich prosaisch, »Konferenzraum«; abgeteilte, gläserne Innenräume, vom Haus als »Boxen« bezeichnet, mit durchaus konventionellem Gestühl. Man kann eben nicht durchweg auf den farbenfrohen Polstern der »Lounge« relaxen.

Urbaner Dschungel

Die Zimmer auf der »Jungle« genannten Tiergartenseite besitzen bodentiefe Fenster; es ist die Seite des Gebäudes, die nicht der denkmalpflegerischen Wiederherstellung unterlag. Anders bei der »Urban«-Seite, wo die Fenster in charakteristischer Teilung innerhalb der durch asymmetrische schmale Betonstreifen rhythmisierten Fassade sorgsam wiederhergestellt wurden. Beim Blick von außen lassen allein die faltenreichen Vorhänge hinter den Fensterscheiben erahnen, dass sich im Hochhaus, anders als früher, keine Büros mehr befinden, sondern eben Wohnbereiche auf Zeit.

Die Zimmer sind in zwei Größen – M und L – verfügbar, auf der Urban-Seite kommen noch einige wenige in XL hinzu. Das Mehr an Raum kommt zunächst den Bädern zugute, die ab »L« eine zusätzliche Badewanne haben. Durch die großflächige Fensterscheibe zwischen Bad und Schlafbereich kann der Gast von hinten ins Zimmer blicken. Raumteiler nehmen klappbare Schreibplatte sowie Minibar – mit einschlägigen Szene-Getränken bestückt – auf, dazu, anstelle eines Kleiderschranks, offene Regale mit Bügelstangen. Während die Zimmer auf der Tiergartenseite in ihrer Anmutung »weicher« gestaltet sind, kommen die stadtseitigen in Materialien und Farbe »härter« (Kupferblech als Wandbekleidung) daher. Ob das allen Räumen gemeinsame knuddelige Stofftier, der »Schlafaffe« auch vom Designer stammt? Es steht zu vermuten. Der kennt das Regressionspotenzial des modernen Nomaden.

Werner Aisslinger, dessen Studio in dem noch weitgehend brachliegenden Areal der Heidestraße nördlich des Hauptbahnhofs in einem stehen gebliebenen Gewerbehof ansässig ist, legt auf den Berlin-Bezug seiner Arbeit größten Wert. Als Quelle der Inspiration nennt er interessanterweise São Paulo, wo ihm Oscar Niemeyers Copan Building Anschauungsmaterial für eine »Stadt in der Stadt« bot. Etwas Ähnliches, jedoch im Kontext Berlins, sollte auch das 25hours werden. Doch Aisslinger, der nach dem Studium u. a. an der damaligen Berliner Hochschule (heute Universität) der Künste lange Jahre in Mailand gearbeitet hat, schränkt ein: »Ein Konzept wie ›Urban Jungle‹ darf nicht zu simplistisch oder zu offenkundig angewendet werden. Ebenso wenig darf es zu pompös oder zu intellektuell gemacht werden.« Dass er sich auch auf eigene Berlin-Erlebnisse bezieht, etwa auf den in Vorwendezeiten berühmten Club mit dem bezeichnenden Namen »Dschungel« nicht weit vom heutigen 25hours-Hotel, versteht sich. Aber eben nur »auch«: »Ich hoffe nicht«, sagt er, »dass ich mich in meinen Aktivitäten immer auf eine Sozialisierungsphase beziehe, die in den 90er Jahren stattgefunden hat.« Keine Sorge, dazu ist das grundsanierte Bikini-Areal viel zu sehr Gegenwart, als dass nostalgische Gefühle für die wilden Nachwendejahre aufkommen könnten. Längst hat sich in Berlin eine neue, lässige Eleganz etabliert. Dem trägt die Gastronomie in dem auf das Gebäude aufgesetzten, rundum verglasten 10. Stockwerk Rechnung. Hier befinden sich das Restaurant »Neni« und die »Monkey Bar«. Das Restaurant besitzt im Innern eine Art revitalisiertes Gewächshaus mit erhöhtem Fußboden, sodass die Gäste in diesem Bereich gleichwohl guten Ausblick ins Freie haben. Ein besonderer Hingucker ist die »Microfarming«-Ecke, in der unter künstlichem Tageslicht Kräuter gezogen werden, während in der Mitte dieses einem Labor nachempfundenen Glashauses gleichfalls Restaurantgäste sitzen. Auf der Stadtseite und insbesondere vor der Bar verläuft eine großzügige Terrasse, Ergebnis nicht zuletzt der Forderung der Denkmalpflege, das aufgesetzte Geschoss zurückzusetzen und so für den Blick aus Höhe Straßenniveau unsichtbar zu machen.

Eine weitere, kleine Terrasse befindet sich vor dem Bereich der »Bakery« im 3. OG. Sie schließt an den rückwärtigen Bereich des Bikini-Hauses an, jene weitläufige Terrasse, die über der Einkaufspassage verläuft, mit unverstelltem Blick ins Affen-Freigehege des Zoologischen Gartens. In der begeisterten Beobachtung der lebhaften Primaten sind sich Touristen, die die Bikini-Terrasse bevölkern, mit den Gästen der Monkey Bar auf vielsagende Weise einig.

db, Di., 2015.07.07



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30. November 2014Ulrike Kunkel
db

Pack die Badehose ein

Am Rande der Baseler Vorortgemeinde Riehen, unmittelbar an der deutschen Grenze, wurde mit der Badesaison 2014 eine neue Schwimmanlage eröffnet: das Naturbad Riehen. Rutschentürme in Pink oder Sprungturmstaffeln sucht man hier vergebens: Moderat und bescheiden fügt sich die Anlage in die Umgebung ein, die von der Schwemmlandaue des Flüsschens Wiese und dem Abhang des Tüllinger Hügels, der südlichsten Spitze des Schwarzwalds, geprägt wird.

Am Rande der Baseler Vorortgemeinde Riehen, unmittelbar an der deutschen Grenze, wurde mit der Badesaison 2014 eine neue Schwimmanlage eröffnet: das Naturbad Riehen. Rutschentürme in Pink oder Sprungturmstaffeln sucht man hier vergebens: Moderat und bescheiden fügt sich die Anlage in die Umgebung ein, die von der Schwemmlandaue des Flüsschens Wiese und dem Abhang des Tüllinger Hügels, der südlichsten Spitze des Schwarzwalds, geprägt wird.

Das charmante Projekt ist vom Baseler Büro Herzog & de Meuron, das andernorts derzeit vornehmlich durch Großprojekte von sich reden macht: durch die Hochhausprojekte für Roche, die Elbphilharmonie in Hamburg, durch Museen in Kalkutta und Hongkong. Das zurückhaltende, alles andere als spektakuläre Holzgebäude des Naturbads spricht eine andere Sprache. Es knüpft an historische Badearchitekturen an und erinnert so an das Frühwerk der Architekten, das um die Auseinandersetzung mit dem Ort und der alltäglichen Architektur kreist.

Die Schweiz ist nicht nur ein Land der Berge, sondern auch eines der Quellen, Flüsse und Seen. Das Wasser war nicht nur der Motor der frühen Industrialisierung; auch seine heilende Wirkung wurde frühzeitig erkannt. Einer der ersten Kurorte war Pfäfers bei Bad Ragaz, wo Kranke schon seit dem 13. Jahrhundert – an Seilen herabgelassen – im warmen Wasser der Taminaschlucht badeten. Ihre Blüte erlebten Kurorte allerdings im 19. Jahrhundert; der Tourismus blieb nicht mehr auf die überschaubaren Kreise der Machteliten beschränkt, sondern erreichte breitere Kreise der sich ausbildenden bürgerlichen Gesellschaft. Von der medizinischen Anwendung zum Sport- und Freizeitnutzen bedurfte es noch eines längeren Wegs. Der Hygienediskurs der Lebensreformer um 1900 legte Grundlagen, auf welche auch die Protagonisten des Neuen Bauens zurückgreifen konnten. Zum Pionier der Freibadarchitektur in der Schweiz wurde der Bauingenieur Beda Hefti, der stilistisch im Neoklassizismus begann und in den 30er Jahren auf die Moderne einschwenkte. Doch auch für andere Architekten war das Thema des Schwimmbads attraktiv: Marc Piccard realisierte 1934-37 das Bad Bellerive-Plage in Lausanne-Ouchy, Max Ernst Haefeli, Werner Moser und der Landschaftsarchitekt Gustav Ammann realisierten 1938/39 das Freibad Allenmoos in Zürich, und Max Frisch konnte in seiner Zeit als Architekt 1947-49 das Bad Letzigraben in Zürich bauen. Handelt es sich bei diesen Bauten zumeist um Ikonen des Neuen Bauens, so entstanden daneben seit dem späten 19. Jahrhundert einfache hölzerne Badeanlagen an Seen und Flüssen. Sie zeigen sich aus Gründen des Sichtschutzes nach außen geschlossen, während die an die Umfriedung angebauten Garderoben- und Funktionsbereiche mit vorgelagerten Stegen und Liegeterrassen sich zum Wasser hin öffnen. Diese Typologie bildete die Referenz für das neue Naturbad in Riehen.

Ganz am Anfang verfolgten die Architekten jedoch eine andere Strategie. Denn mit einem Bad in Riehen setzten sich Herzog & de Meuron schon zum Beginn ihrer Karriere auseinander. 1979 gewannen sie einen Wettbewerb für ein Frei- und Hallenbad am Mühlenteich in Riehen, das ungefähr dort entstanden wäre, wo heute die Fondation Beyeler steht. Auch wenn eine Veranda mit Holzlamellen gestisch bewusst einfach gehalten war, entsprach die Kombination aus Frei- und Hallenbad noch ganz dem Denken und den scheinbar grenzenlosen Budgets der 70er Jahre. Das Projekt wurde bis 1982 verfolgt, dann jedoch verworfen. Vier Jahre später legten die Architekten ein neues Projekt vor, nunmehr deutlich redimensioniert und auf ein reines Freibad beschränkt. Wie große Wannen aus Beton hätten die Schwimmbecken in der Landschaft gestanden, doch aus Gründen des Grundwasserschutzes nahm man auch von diesem Konzept Abstand. Obwohl über ein Bad in Riehen weiterhin diskutiert wurde, startete man einen neuen und schließlich erfolgreichen Anlauf erst 20 Jahre später, im Jahr 2007. Der neue Standort liegt etwa 500 m nordwestlich des ursprünglich avisierten und wird auf zwei Seiten von der hier im Knick geführten Weilstraße, die Riehen und Weil am Rhein verbindet, sowie auf der südöstlichen Langseite vom Flusslauf der Wiese begrenzt. Eine hölzerne Umfassungswand in der Tradition der historischen Schweizer »Badis« umschließt das trapezoide Grundstück mit seinen rund 6 000 m² auf drei Seiten. Zur Wiese und ihrer Auenlandschaft hin bildet eine Hecke die Begrenzung, ohne für die Besucher des Bads den Blick in die Weite zu behindern.

Konzeptionell stellt das neue Bad das Gegenmodell zum Projekt aus den Jahren 1986/87 dar: Inszenierten Herzog & de Meuron seinerzeit mit ihren Betonskulpturen den Gegensatz von Architektur und Natur, forcierten also den künstlichen Charakter der Intervention, so ist das Ziel jetzt gewissermaßen minimalinvasiv: Das Bad fügt sich ganz bewusst in die landschaftliche Umgebung ein. Dies lässt sich nicht nur an der hölzernen Architektur festmachen; auch der Gedanke eines »Naturbads« folgt einem gewandelten Verständnis von einer Badeanstalt. Das Wasser wird nicht gechlort und chemisch aufbereitet, sondern biologisch regeneriert. Hierzu dienen nicht nur die mit Pflanzen bewachsenen Uferzonen, sondern mit Pflanzen bewachsene Filterkörper auf der anderen Seite der Straße. In diese Anlage, die an gestaffelte Reisterrassen erinnert, wird das gebrauchte Wasser gepumpt, bevor es im Sinne eines kontinuierlichen Kreislaufs wieder in die Becken gelangt. Ein großer, von flachen, mit Wasserpflanzen bewachsenen Kiesufern eingefasster Badesee, durch hölzerne Plattformen und Stege erschlossen und gegliedert, bildet das Zentrum des Naturbads. Der Badesee teilt sich in unterschiedliche Zonen: ein Nichtschwimmerbecken, ein 25-Meter-Becken mit vier Bahnen sowie ein Sprungbecken mit 1-Meter-Brett und 3-Meter-Plattform. Lediglich das flache Planschbecken für Kleinkinder ist separat angelegt.

Die das gesamte Areal dreiseitig umgebende Bretterwand aus Lärchenholz übernimmt sämtliche anderen Funktionen. Auf der nördlichen Schmalseite ist sie raumhaltig ausgebildet: Garderobenräume, Toiletten und ein kleines Café flankieren den Eingang, eine Treppe führt hinauf auf das als Terrasse ausgebildete Oberdeck. An den übrigen beiden Seiten wird die Wand durch eine pultartige Dachkonstruktion überfangen. Die schrägen Dachsparren, welche weit über die die Wand begleitenden Liegepodien auskragen, werden auf der Außenseite durch eine Holzzangenkonstruktion gehalten. Drei Ausbuchtungen gewähren Platz für die als Massivkonstruktionen erstellten Duschbereiche.

In Zeiten, da Ökologie als ein Megatrend verstanden werden kann, repräsentiert das Naturbad Riehen ein neues Verständnis eines Schwimmbads. Diesem Konzept entsprechen Herzog & de Meuron mit einer architektonischen Lösung, die angesichts der sonstigen Projekte des Büros durch eine angemessene Bescheidenheit und Selbstverständlichkeit überzeugt.

db, So., 2014.11.30



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db 2014|12 Redaktionslieblinge

02. Dezember 2013Ulrike Kunkel
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Ein Museumsgehöft

Ein Museum für Kunstwerke mit starkem regionalen Bezug zu entwerfen, das Modernität und Zeitgenossenschaft ausstrahlt und dennoch in Verbindung mit der Landschaft und dem für die Gegend typischen Bauen steht, ohne dabei folkloristisch zu wirken – ein hoher Anspruch, den Staab Architekten an der mecklenburgischen Ostseeküste beispielhaft einlösten.

Ein Museum für Kunstwerke mit starkem regionalen Bezug zu entwerfen, das Modernität und Zeitgenossenschaft ausstrahlt und dennoch in Verbindung mit der Landschaft und dem für die Gegend typischen Bauen steht, ohne dabei folkloristisch zu wirken – ein hoher Anspruch, den Staab Architekten an der mecklenburgischen Ostseeküste beispielhaft einlösten.

Auch wenn es in und um Ahrenshoop natürlich längst nicht mehr so beschaulich und ursprünglich zugeht wie vor rund 120 Jahren, als hier eine Künstlerkolonie gegründet wurde – malerisch ist der kleine, auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst gelegene Ort noch immer. Denn der herbe Charme der Landschaft zwischen Ostseeküste und Saaler Bodden konnte bewahrt werden und er hat seit den längst vergangenen Tagen der Künstlerkolonie immer wieder empfindsame Menschen angezogen und inspiriert. Ahrenshoop etablierte sich auf diese Weise bald als Künstler-Ort; eine bis heute ungebrochene Tradition, die ganz wesentlich zur Popularität und Bekanntheit des Seebads beiträgt.

Ihren Ruf als regionales Kunstzentrum bekräftigt und untermauert die kleine Gemeinde seit Kurzem mit einem neu erbauten Museum, das explizit dem mit Ahrenshoop verbundenen Kunstschaffen gewidmet ist. Das Haus verdankt seine Entstehung einer privaten Initiative und wurde zu einem erheblichen Teil durch die von einem Förderverein eingeworbenen Mittel finanziert. Es beeindruckt sowohl durch seine Sammlung – Gemälde, Grafiken und Skulpturen von Künstlern, die in der nahen Küstenregion gelebt und gearbeitet haben oder als Sommergäste kamen – als auch durch seine Architektur, für die Staab Architekten aus Berlin verantwortlich zeichnen. Denn in vorbildlicher Weise erfüllt der aus einem 2008 durchgeführten Wettbewerb hervorgegangene Entwurf den selbst gestellten Anspruch, ein zeitgemäßes Museumsgebäude zu schaffen, das die landschaftliche und architektonische Eigenart der Gegend reflektiert.

Gehöft und Reetdach-Assoziation

Wer nach Ahrenshoop kommt, kann den direkt an der Althäger Straße (der Haupt- und Durchgangsstraße des Orts) gelegenen Museumskomplex nicht übersehen. Der hier zwischen 2011 und 2013 auf einem knapp 3 000 m² großen Grundstück für rund 7,7 Mio. Euro realisierte Neubau mag seine Bestimmung nicht unmittelbar zu erkennen geben, dass es damit etwas Besonderes auf sich hat, wird aber unmissverständlich klar.

Der Besucher erblickt eine scheinbar unregelmäßig angeordnete Gruppe von gleichartig gestalteten Gebäuden in einem messingfarbenen, fein profilierten Blechgewand. Die weitgehend geschlossenen Baukörper sind klar definiert. Über einem jeweils langrechteckigen, eingeschossigen Volumen entwickeln sich, ohne Überstand an der Traufkante, steil aufragende Walmdächer mit einem abgeflachten, kastenförmig ausgebildeten First. Zur Straße hin definieren zwei der fünf Baukörper eine Art Vorplatz. Zwischen ihnen zeigen große Glastüren den Eingang des Museums an.

In bildhafter Anlehnung an eine Gruppe reetgedeckter Häuser entstand das Museum als Ensemble von Einzelhäusern, die in loser Anordnung um ein zentrales Foyer gruppiert sind. Die Baukörper nehmen dabei in abstrahierter Weise die Kubatur einer traditionellen Bauern- bzw. Fischerkate auf. Ihre Maßstäblichkeit orientiert sich an der Nachbarbebauung und ist dem dörflichen Charakter des Orts gemäß. Das aus Messing gefertigte Blechkleid des Museums erklärt sich aus dem Wunsch, ein industrielles Material zu finden, das auf visuelle Art an die für die Küstenregion typischen Reetdächer erinnert. Um diese Assoziation weiter zu fördern, wurde auch die unregelmäßige Falzung der Blechpanelle entwickelt, die der Fassade eine besonders lebendige Struktur verleiht. Der Effekt dieser Bemühungen lässt sich am eben vollendeten und daher noch recht gülden schimmernden Bau noch nicht beurteilen. Schon bald aber soll sich die Metallhaut durch die natürliche Ausbildung einer schützenden Oxidationsschicht verändern. Die Farbe wird, je nach Witterungseinwirkung in individueller Nuancierung, von Grünbraun über Graubraun zu Dunkelbraun Anthrazit wechseln und dann vielleicht in der Tat eine visuelle Parallele zu einem alten Reetdach aufweisen.

Galerien in Ein-Raum-Häusern

Wer das Museum über einen geräumigen Windfang, in dessen holzbekleidete Seitenwand die Namen der Stifter eingekerbt wurden, betritt, gelangt zunächst in das zwischen den Einzelhäusern aufgespannte, flachgedeckte Foyer. Der Blick fällt auf den aus Eichenholz getischlerten, in schlichten Formen gehaltenen Empfangs-, Kassen- und Shoptresen, der als ein großes Möbel unter einem runden Oberlicht im Raum platziert wurde. Einbaumöbel, ebenfalls aus Eiche, die zum einen als Garderobenschließfächer zum anderen als Display und Stauraum für den Shop dienen, flankieren den Tresen an zwei Seiten. Die Einbauten verleihen dem Raum im Zusammenspiel mit dem hellen, sandfarbenen Terrazzo-Boden und den weiß gestrichenen Wänden eine angenehme, freundlich-nüchterne und dabei doch gediegene Atmosphäre. Schmale Fensteröffnungen, die die Räume zwischen den einzelnen Baukörpern des Komplexes schließen, erlauben Ausblicke in die Umgebung. Infotafeln und einzelne Kunstwerke stimmen auf die eigentliche Ausstellung ein.

Das Foyer, das auch für kleinere Veranstaltungen genutzt werden kann, dient in erster Linie als Verteiler- und Verkehrsfläche. Von hier aus betritt man, eine wandbündig eingelassene Eichenholzlaibung durchschreitend, die vier in den Ein-Raum-Häusern situierten Ausstellungsgalerien (der fünfte Baukörper wird für museumspädagogische Zwecke genutzt und enthält daneben Funktions- und Verwaltungsräume). Die in der Form gleichen, in ihrer Größe nur wenig differenzierten Säle, in denen die Kubatur der Gebäude präzise ablesbar ist, überzeugen durch ihre stimmigen Dimensionen. Sie sind großzügig genug, um den Bildern und Skulpturen Raum zum Atmen zu geben, gleichzeitig aber so »häuslich«, dass in ihnen auch kleine Formate bestehen können. Gar nicht genug lässt sich die Lichtsituation in den Galerien loben. Über horizontale Oberlichtbänder, die dem aufmerksamen Besucher schlagartig den Sinn der abgeflachten Dachfirste verdeutlichen, strömt gleichmäßiges weiches Licht in die Räume.

Spezielle Prismengläser verhindern direkte Sonneneinstrahlung und sorgen für eine Streuung des Lichts. Ein externer Sonnenschutz wird dadurch hinfällig. An trüben Tagen und bei Dunkelheit garantiert eine auf zeitgemäßer LED-Technologie basierende künstliche Beleuchtung eine adäquate Belichtung der Räume. In jeder Galerie gibt es, stets direkt neben einer Gebäudeecke situiert, eine als Fluchtweg nutzbare Fensteröffnung. Schmal gehalten, um den Einfall störenden Seitenlichts zu minimieren, stellt sie visuell die Verbindung zur Außenwelt her – der Blick nach draußen, der in fast jedem Museumsraum wohltuend wirkt, erscheint gerade in diesem Haus so sinnfällig wie selten sonst.

Baukonstruktiv beschreitet das Museum mit seinen rund 1 300 m² Nutzfläche keine neuen Wege. Es ist als konventioneller Stahlbetonbau mit gedämmter Metallfassade errichtet worden. Zur Wärmeversorgung bzw. Kühlung des Gebäudes wird Geothermie genutzt. Insgesamt 24 Sonden wurden dafür bis in eine Tiefe von 90 m abgeteuft. Thermisch aktiviert sind jeweils die Dachschrägen und die Fußböden. Dass die Besucher von all dem nichts mitbekommen, ist der Sinn der Sache.

Das in Ahrenshoop realisierte Grundrisskonzept gleicht – vielleicht nicht ganz zufällig – demjenigen, das Gigon & Guyer, inspiriert durch einen Vortrag des Künstlers Remy Zaugg, vor über 20 Jahren für das Kirchner Museum in Davos entwickelten. Es erweist auch in Ahrenshoop seine Stärken. Die Galerieräume sind frei von Durchgangsverkehr. Das erleichtert die Konzentration auf die Kunst und fördert den Dialog zwischen Werk und Betrachter. Vorteilhaft ist auch, dass es keine Hierarchie unter den Ausstellungsälen gibt, die eine bestimmte kuratorische Erzählung fordern würde. Die Idee der Ein-Raum-Häuser und ihre Gruppierung zu einem Gehöft stärken dieses Konzept und verleihen ihm hier zusätzliche Plausibilität. Insofern ist die Hoffnung, dass das 2009 unter förderungspolitischen Aspekten zum »Leuchtturmprojekt« des Landes ausgerufene Museum überregionale Strahlkraft entwickelt, mehr als berechtigt.

db, Mo., 2013.12.02



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03. Juni 2013Ulrike Kunkel
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Restaurant-Bar-Hybrid

Turbulente Tavernen-Atmosphäre, gutes Essen, gesellige Runden, Feierlaune bis in die Morgenstunden – dieser gastronomische Hybrid in der Innenstadt von Stuttgart vereint Essen, Trinken, Feiern und Tanzen unter einem Dach. Die einfache, klare und dennoch anheimelnde Raumgestaltung zitiert dabei gekonnt und z. T. eigenwillig den Stil traditioneller griechischer Tavernen.

Turbulente Tavernen-Atmosphäre, gutes Essen, gesellige Runden, Feierlaune bis in die Morgenstunden – dieser gastronomische Hybrid in der Innenstadt von Stuttgart vereint Essen, Trinken, Feiern und Tanzen unter einem Dach. Die einfache, klare und dennoch anheimelnde Raumgestaltung zitiert dabei gekonnt und z. T. eigenwillig den Stil traditioneller griechischer Tavernen.

Die griechische Taverne »Cavos« in Stuttgart Mitte ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine Adresse »gemacht wird« und nicht von vornherein besteht; und – vielleicht etwas ernüchternd – dass es, wenn Restaurant- und Raum-Konzept stimmen, auf die architektonische Hülle nicht ankommt, um in der Gastronomie erfolgreich zu sein. Das Konzept einer quirligen Taverne, die Restaurant, Club und Bar miteinander vereint und in der erst gegessen und später (auf den Tischen!) getanzt und gefeiert wird, mag zunächst überraschen und ist sicher auch nicht jedermanns Sache, in sich stimmig und konsequent umgesetzt ist das Konzept im Cavos aber allemal. Und der Erfolg gibt den Betreibern Florian Faltenbacher und Petros Bakirtzis Recht: Erst im Oktober letzten Jahres eröffnet, ist das Lokal, das sich hinter einer wenig einladenden dunkelbraunen, kupferbekleideten Fassade in der Lautenschlagerstraße 20 fast ein wenig versteckt, an den Wochenenden bereits auf lange Zeit ausgebucht.

Individuell und Massgeschneidert

Das Gestaltungskonzept basiert auf dem Einsatz natürlicher, »griechischer« Materialien und heller, naturverbundener Farbtöne, kombiniert mit einigen wenigen Pastelltönen, meist Blau. Stoffbezüge in hellem Braun-Grau, beigefarbenes Korbgeflecht, weiße Tische, Wände und Textilien, Bambusrohr, Dielenböden und Theken aus Eiche prägen den großen, sich über zwei Ebenen erstreckenden Gastraum. Im oberen Bereich wird er durch einen »Barblock« mit wunderbar luftiger Lichtdecke aus vielfach eng zusammengenommenem, weißem Vorhangstoff und im ebenerdigen durch eine lang gestreckte prominent gegenüber vom Eingang platzierte Bar zusätzlich gegliedert. Ein Hingucker ist hier aber v. a. die hinterleuchtete, farbige Flaschenwand der Münchener Designerin Nadja Belg, die die gesamte, in diesem Teil des Lokals beachtliche Raumhöhe nutzt. Die weiß gestrichenen Holzstühle mit hoher Rückenlehne und handgeflochtenem Sitz wurden in Griechenland, in einem der beiden letzten Betriebe, die diese traditionellen Stühle noch komplett von Hand fertigen, in Auftrag gegeben. Kombiniert mit den ebenfalls weiß gestrichenen Massivholztischen, die statt mit Tischtüchern mit Packpapier eingedeckt sind, entsteht eine angenehm gastliche Atmosphäre mit edler Note und rustikalem Touch. Der klare, einfache Einrichtungsstil sowie das gastronomische Gesamtkonzept orientieren sich an dem Stil traditioneller griechischer Tavernen; interpretieren und transformieren ihn aber geschickt in eine zeitgemäße und nordeuropäische Sprache. So sitzt man auf der oberen Ebene des Gastraums z. B. unter einer Lichtdecke, bei der das Kunstlicht durch weiß gestrichene Bambusstäbe fällt und einen zwangsläufig an die schattenspendenden »Bambussegel« griechischer Bars denken lässt.

Man spürt die Sonne förmlich. Es handelt sich aber nicht nur um ein schönes Zitat, sondern verleiht dem in diesem Bereich relativ niedrigen Raum zudem eine gewisse Großzügigkeit. Im Gastraum auf Straßenniveau sitzt man unter einer originellen, dicht an dicht gehängten Korb-Leuchten-Decke.

Mittlerweile haben die Inhaber gemeinsam mit ihrem Designer Panagiotis Desfiniotis offensichtlich ein gutes Gespür dafür entwickelt, was funktioniert und was nicht, welcher Standort und welche Gestaltungsrichtung zu ihrem Konzept passen. Bereits vor 20 Jahren eröffneten sie ihr erstes Lokal in München, wo sie inzwischen drei Tavernen nach demselben Muster betreiben. Die gestalterische Grundlinie zieht sich wie ein roter Faden durch alle Lokale, wird aber jeweils individuell ausgestaltet. »Kein Design von der Stange«, das ist ihnen wichtig; nach ersten, eher groben Planzeichnungen werden Materialien und Details vor Ort auf der Baustelle mit dem Designer entwickelt und im Weiteren von diesem mit einem bewährten Handwerkerteam umgesetzt. »Rock and Roll-Style« nennt Florian Faltenbacher diese Art zu »entwerfen«. Dabei wird viel diskutiert, experimentiert, ausprobiert und wieder verworfen. So waren für das Cavos z. B. bereits 100 m² Spiegel bestellt und vom Glaser geliefert und montiert worden. An Ort und Stelle entsprach die Spiegelwand dann aber doch nicht den Vorstellungen, »sie war einfach zu schick für unser Konzept, also ließen wir sie wieder entfernen«. Kostengünstig plant man so natürlich nicht, aber auf jeden Fall mit einer Menge Spaß an der Sache!

Geschickt gegliedert

Mit rund 600 m² ist die Taverne relativ weitläufig; durch geschickte Zonierungen nimmt man als Gast die Größe aber nicht als unangenehm wahr. Der Bereich vor den Toiletten bildet eine Art Übergangszone zwischen Restaurant und dem sich anschließenden Club-/Barbereich, in dem geraucht werden darf. Mit Raum- und Nutzungswechsel ändert sich auch die Gestaltung: Im hinteren Teil herrschen dunkle Farben vor; man verlässt in gewisser Weise Griechenland, wie es der Designer umschreibt. Wand- und Thekenbekleidungen sind hier aus dem afrikanischen Holz Abachi; von Panagiotis Desfiniotis handgebürstet und mit verdünnter blauer Tinte lasiert, bis es die gewünschte Oberflächenbeschaffenheit und Farbe hatte. Hinterleuchtet werden die Holzbekleidungen mit farbigen LEDs. Das gesamte Lichtkonzept basiert auf einer Kombination aus unterschiedlichen Lichtquellen und Leuchtmitteln. Auf bloße Raum-Dekorationen wurde erfreulicherweise vollständig verzichtet. Lediglich einige aussagekräftige Schwarz/Weiß-Fotografien, wie die eines lebenslustigen Opas, der sich in allen Lokalen der Betreiber findet, sowie ausgewählte Kunstwerke hauptsächlich griechischer Künstler setzten wohlüberlegte Akzente.

Doch was hat es nun mit dem eingangs erwähnten »Tanz auf den Tischen« auf sich? Nun, wenn man an einem Donnerstag, Freitag oder Samstag im Cavos ist, klärt sich die Frage schnell. Gegen 23 Uhr wird der Wechsel von Restaurant zu Partylocation eingeläutet: Die Musik wird lauter und zunächst griechischer, das Licht dunkler, die Kellner sammeln Geschirr und Kerzen ein und beginnen damit (auf den Theken stehend), eine Unmenge weißer Papierservietten in die Luft zu werfen! Wie ich mir von einem griechisch-schwäbischen Kollegen bestätigen ließ, die harmlose, da gefahrlose Variante der seit den 60er Jahren in Griechenland praktizierten und beliebten Sitte, in den Lokalen Teller oder später zumindest noch Blumen zu werfen. Am Ende dieses herrlich dekadenten Spektakels, bei dem es natürlich ordentlich mitzumachen gilt, steht man fast kniehoch in Servietten und viele der Gäste bereits auf den Tischen. Wer mag, kann dann bis in die Morgenstunden weiter feiern und tanzen – auch gerne auf Tisch und Stuhl.

Egal ob nur essen oder essen und feiern – auch nur feiern ist am späteren Abend erlaubt – es sei empfohlen, in nicht zu warmer Kleidung zu erscheinen. Denn während der Raucherbereich gut be- und entlüftet wird, sodass er sogar für Nichtraucher erträglich ist, wird es im großen Gastraum doch relativ warm und stickig – und das nicht erst, nachdem er zum Tanzparkett erklärt wurde. Eigentlich unnötig zu erwähnen, dass Akustikmaßnahmen eine untergeord- nete Rolle spielen. Zur Tavernen-Atmosphäre gehört ein gewisser Geräuschpegel eben dazu. Wer also einen ruhigen Abend verbringen möchte, sollte sich besser für ein anderes Restaurant entscheiden. Wer aber ausgehen und sich in geselliger Runde amüsieren möchte, der kann in der »Cavos Taverna« einen durchaus besonderen Abend erleben und das begleitet von sehr gutem, nicht ausschließlich griechischem Essen zu angemessenen Preisen – ab dem Sommer (hoffentlich) auch draußen, die Terrasse ist derzeit jedenfalls in Planung.

db, Mo., 2013.06.03



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db 2013|06 Essen und Trinken

08. April 2013Ulrike Kunkel
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Der Tod gehört zum Leben

Das Bestattungshaus als Erweiterung des bestehenden Bestattungsinstituts bietet Räume für Abschiednahme und Trauergesellschaften. Das in sich gekehrte Gebäude, das nur wenige, meist indirekte Ausblicke zulässt und kaum Einblicke gewährt, ohne dabei abweisend zu wirken, kreiert einen Ort der Einkehr und der Ruhe – ganz ohne Pathos.

Das Bestattungshaus als Erweiterung des bestehenden Bestattungsinstituts bietet Räume für Abschiednahme und Trauergesellschaften. Das in sich gekehrte Gebäude, das nur wenige, meist indirekte Ausblicke zulässt und kaum Einblicke gewährt, ohne dabei abweisend zu wirken, kreiert einen Ort der Einkehr und der Ruhe – ganz ohne Pathos.

Die Lage des neuen Bestattungshauses Feuerstein in Bludenz ist herausfordernd und gleichzeitig sehr gut, darin sind sich Bauherr und Architekt einig. Das Bestattungshaus, das kleinere Aufbahrungsräume für die stille Abschiednahme sowie einen Raum für größere Trauerfeiern bietet, liegt, wenn auch von der Straße nicht direkt einsehbar, mitten im 13 800 Seelen Ort Bludenz in Vorarlberg. »Sterben und Tod gehören ebenso wie Geburt zum Leben dazu und somit in die Gesellschaft hinein. Daher sollten wir auch die entsprechenden Räume und Institutionen nicht an den Stadtrand verbannen«, so der Architekt Eckhard Amann. Und auf die Frage hin, ob das Bauvorhaben an dieser Stelle auf Akzeptanzschwierigkeiten in der Bevölkerung gestoßen sei, meint der Bestattungsunternehmer und Bauherr Christoph Feuerstein: »Ganz und gar nicht. Im Gegenteil, man hat sogar den Eindruck, dass auf dieses Angebot gewartet wurde.« Und in der Tat, das Bestattungshaus bietet in weitem Umkreis bisher die einzige offizielle Möglichkeit, Trauerfeiern außerhalb des kirchlichen Rahmens abzuhalten. Noch bis 2005 war es in Österreich privaten Bestattern nicht einmal erlaubt, Aufbahrungsräume oder Trauerhallen zu errichten; dies war allein der Kirche und den Kommunen vorbehalten.

Für die Umsetzung des lange gereiften Wunschs, seinen Kunden für die Trauerfeiern konfessionslose Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, bot sich ein in Familienbesitz befindliches Grundstück etwa 80 m unterhalb des in der Innenstadt gelegenen Bestattungsinstituts an. Da, wie so oft, das Bestattungsunternehmen Feuerstein aus einer Familienschreinerei, die der Bruder inzwischen führt, hervorgegangen ist, bestand durch verschiedene gemeinsam realisierte Bauprojekte bereits der Kontakt zum Architekturbüro rainer + amann. »Die Bauaufgabe reizte uns sehr; die verschiedenen Nutzungen innerhalb der beengten, innerstädtischen Grundstückssituation überzeugend unterzubringen, war eine zusätzliche Herausforderung, der wir uns gerne stellten«, berichtet Eckhard Amann. Zum Raumprogramm gehören neben drei Verabschiedungsräumen ein Arbeitsbereich mit Thanatopraxie und Kühlraum, einem Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter mit angeschlossener, geschützter Terrasse, getrennte Sanitäreinrichtungen für Kunden und Mitarbeiter, eine Tiefgarage mit Waschplatz für die Fahrzeuge, ein Sarglager und eine Werkstatt, in der die Särge vorbereitet und ausgestattet werden sowie verschiedene andere Lagerräume. Büro und Besprechungsräume bedurfte es nicht, da die Verwaltung sowie der Kundenkontakt im ursprünglichen Bestattungsbüro verblieben sind. Architektonisch gesehen mag man das bedauerlich finden, nimmt es einem doch die Möglichkeit, ein ganzheitliches Gestaltungskonzept, das sowohl Räume für die Beratung und für Vorgespräche als auch die Verabschiedungsräume beinhaltet, umzusetzen. Im Alltag erweist sich die klare räumliche Trennung wohl als durchaus sinnvoll, da auf diese Weise diejenigen, bei denen die Erfahrung mit dem Tod und der Verlust eines geliebten Menschen noch ganz frisch ist, nicht in Kontakt mit denjenigen kommen, für die die Erfahrung schon ein wenig zurückliegt, die sich also bereits in einer anderen Phase der Trauer befinden.

Erdverbundenheit

Nähert man sich dem Gebäude über die schmale Zufahrt, gelangt man in einen Hof, der gleichzeitig der Vorplatz des Bestattungshauses ist und von diesem durch eine gold gelb schimmernde Stampflehmwand und einen mit gefalzten Kupferblechen bekleideten Gebäudeteil gefasst wird. Die Kupferhülle wird entlang der Tiefgaragenrampe und auf der Rückseite als perforiertes Blech weitergeführt. Durch die Lochung, die die Fassadenhülle durchlässig, aber nicht durchsichtig macht, ergibt sich nicht nur ein verblüffendes Spiel mit Licht und Schatten, sondern v. a. ist Diskretion bei der Anlieferung und Blickschutz für die Mitarbeiter bei gleichzeitigem Bezug zur Umgebung sichergestellt.

Durch einen verglasten Windfang betritt man das Bestattungshaus. Das Material der Außenhülle wird in diesem Bereich ins Gebäude hineingezogen; allerdings ist das hier verwendete Kupferblech bereits vorverwittert, damit sich mit der Zeit kein starker Kontrast zur Fassadenbekleidung ergibt. Die Lehmwand bildet das »Rückgrat« für den sich nun anschließenden Bereich für die Trauergesellschaften, gegliedert in eine Verweilzone und einen größeren Verabschiedungsraum, der sich durch eine mobile Trennwand abermals vergrößern lässt, sowie zwei kleine Aufbahrungs /Verabschiedungsräume. Die selbsttragende zwei schalige Stampflehmwand mit Wärmedämmung und Stahlverstärkung (zum Lastenabtrag der Oberlichter) ist etwa 55 cm dick; die gegenüberliegende Lehmwand ist nach außen als Sichtbetonwand ausgebildet, da das Nachbargrundstück bis an die Wand bebaut werden darf, zum Innenraum hin aber ebenfalls aus Stampflehm (18 cm dick). In dem gesamten Bereich gibt es keine direkten Blickbeziehungen nach draußen, nichts, was von der inneren Einkehr ablenken könnte. Die Belichtung erfolgt ausschließlich über Oberlichtbänder bzw. Fluter, die auf die Lehmwände gerichtet sind. Das über die gold gelben Wände einfallende Streiflicht hinterlässt immer wieder andere, flüchtige Zeichnungen auf der Wand und taucht die Räume in eine angenehme Lichtstimmung. Als weitere, prägende Materialien kommen Travertin für den Boden und Nussbaum für die Türen und mobilen Wandelemente zum Einsatz. Glatt gespachtelte Akustikdecken verstärken die gedämpfte Atmosphäre. Besonders intensiv ist der Eindruck in den beiden kleinen Aufbahrungsräumen. Bei geschlossener Tür kehrt ein Gefühl der Ruhe und Konzentration ein. Eine Raum Atmosphäre, von der man sich gut vorstellen kann, dass sie bei Trauer und Abschied unterstützend wirkt. Ein elektronisches Zugangssystem ermöglicht den Trauernden mit einem entsprechend programmierten Chip Tag und Nacht Zutritt zu den Aufbahrungsräumen.

Kühl aber nicht kalt

Während im öffentlichen Teil warme, erdverbundene Töne eingesetzt werden, herrscht im Arbeitsbereich technische Nüchternheit und Hygiene wie in einem Krankenhaus; tatsächlich ist der Raum, in dem der Körper hergerichtet wird (Thanatopraxie) ein vollwertiger OP Saal, in dem auch seziert werden kann. Direkt gegenüber liegt der Kühlraum für 12 Leichname. Böden, Wände und Decken sind in leicht getöntem Weiß gehalten und abwaschbar beschichtet. Die Oberlichter ermöglichen ein Arbeiten mit natürlichem Licht. Der Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter liegt auf der Südseite, hier lassen sich die gelochten Fassadenpaneele zur Seite schieben. Zu öffnen sind die Fenster nicht, da es sich um die »Brandwand« zur Nachbarparzelle handelt. Das ist insofern aber unproblematisch, denn hinter der Fassade, über der Tiefgaragenrampe, haben die Angestellten einen großzügigen Balkon zum Rauchen und frische Luft schnappen. Türen, Einbauten und Möbel sind im nicht öffentlichen Bereich in naturbelassener Eiche ausgeführt.

Geheizt und gekühlt wird das Bestattungshaus über eine Grundwasserwärmepumpe in Kombination mit Solarmodulen auf dem Dach. Sowohl der Verabschiedungs als auch der Arbeitsbereich können zusätzlich klimatisiert werden.

Mit dem Bestattungshaus in Bludenz ist es den Architekten über Materialwahl und geschickte Lichtführung gelungen, einen Ort zu schaffen, der Kunden und Mitarbeitern gut tut und dem man zutraut, dass er einem auch im Falle der Trauer und des Schmerzes Geborgenheit gibt.

db, Mo., 2013.04.08



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db 2013|04 Trauer braucht Raum

05. Dezember 2012Ulrike Kunkel
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Klare Kante für ABC-Schützen

Der zunehmende Bedarf an Grundschulplätzen im angesagten Berliner Innenstadtbezirk Friedrichshain machte für die Ludwig-Hoffmann-Schule einen Erweiterungsbau erforderlich. Dieser interpretiert geschickt Gestaltungsmotive des Bestandsbaus neu und schafft so eindeutige Bezüge, ohne sich bei diesem anzubiedern.

Der zunehmende Bedarf an Grundschulplätzen im angesagten Berliner Innenstadtbezirk Friedrichshain machte für die Ludwig-Hoffmann-Schule einen Erweiterungsbau erforderlich. Dieser interpretiert geschickt Gestaltungsmotive des Bestandsbaus neu und schafft so eindeutige Bezüge, ohne sich bei diesem anzubiedern.

Zunächst sei die von AFF entwickelte städtebauliche Lösung hervorgehoben – wobei angemerkt sein soll, dass eine stadträumliche und funktionale Aufwertung des Standorts im Allgemeinen und der bestehenden Schulanlage im Besonderen im Wettbewerb explizit gefordert war. Die Ausgangslage auf dem etwas südwestlich des Frankfurter Tors gelegenen Areal darf als schwierig gelten. Städtebaulich präsentiert sich die Gegend so heterogen, so unentschieden und fragmentarisch, wie sie es in Berlin nur sein kann. Neben Resten der gründerzeitlichen Bebauung finden sich in der Nachbarschaft der Schule Wohnzeilen aus der Frühzeit der DDR (als Scharouns Konzept der durchgrünten Stadt auch im Osten noch Gültigkeit hatte), blockartige Strukturen aus der stalinistischen Epoche (die sich um den historischen Stadtgrundriss nicht scheren) und eine äußerst mediokre, der Stimmannschen Doktrin folgende Blockrandbebauung aus den 90er Jahren. Und zuletzt gibt es da noch die zu mickrigen Grünanlagen aufgewerteten Kriegsbrachen.

Der vergleichsweise kleine Neubau konnte in dieser Situation natürlich keine Wunder bewirken. Im Rahmen seiner Möglichkeiten glückt ihm aber Beachtliches. Dem dreiflügeligen, um einen kleinen Hofraum herum organisierten Gebäude gelingt es nämlich, dem gesamten Schulgelände so etwas wie eine Fassung und einen Zusammenhalt zu geben. V. a. der als Spiel- und Pausenfläche genutzte Bereich zwischen dem alten Hauptgebäude, dem daran anschließenden Hort und dem Erweiterungsbau kann jetzt als gemeinsamer Raum erfahren werden. Bemerkenswert erscheint außerdem, wie geschickt der zweistöckige Flachbau mit seiner mal leicht ansteigenden, dann wieder abfallenden Dachkante zwischen der unterschiedlich hohen Bebauung in seiner unmittelbaren Nachbarschaft vermittelt und dabei dem Baukörper auch etwas von seiner kantigen Härte nimmt. Schließlich wird die faktische Zweiteilung des historischen Baublocks durch den Grünstreifen zwischen Lasdehner und Kadiner Straße von der neuen Schule akzentuiert und städtebaulich geklärt.

Dialog mit dem Hauptgebäude

Das auffälligste Merkmal des Neubaus ist seine rote Klinkerfassade. Sie nimmt erkennbar Bezug auf das vom Namenspatron der Schule, dem Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, entworfene und 1909 fertiggestellte Hauptgebäude. Damit nicht genug – AFF architekten haben, so könnte man sagen, ihren Entwurf im Dialog mit dem Hoffmannschen Altbau entwickelt – nicht aus formaler Spielerei, sondern um den Kindern den Zusammenhang zwischen den Teilen ihrer Schule mit den Mitteln der Architektur und der Gestaltung zu verdeutlichen. Das fängt bei der Entscheidung für einen dreiflügeligen Baukörper an und hört bei der Wahl der Fassadenbekleidung noch lange nicht auf. Denn wo Hoffmann die Fassade mit Pilastern vertikal gliederte, betonen AFF bei ihrem Neubau die Horizontale. Das kommt in seiner bescheidenen Höhe und in den verwendeten Fensterformaten zum Ausdruck. Das bestimmte auch die sorgfältige Auswahl des auffällig flachen Klinkersteins. Und was es bei Hoffmann als Bauschmuck gab, Sandsteinverblendungen mit Blumengirlanden und medaillonartigen Porträtreliefs, verwandelt sich bei AFF nun in Rautencluster, die die Klinkerhaut des Gebäudes perforieren (sodass, wenn man nur nahe genug an die Fassade tritt, Einblicke ins Innere möglich sind), oder ihr als Relief eingeprägt sind.

Lichthof mit Treppenskulptur

Erschlossen wird der Schulkomplex über die Lasdehner Straße. Man geht durch ein niedriges, mit Punktmustern verziertes Blechtor, betritt eine sanft ansteigende Rampe, die die Schmalseite des linken Schulflügels entlangführt und gelangt nach wenigen Metern auf den dreiseitig gefassten, mit Klinkern gepflasterten Hof. Ein fast intimer Raum, der einen freundlich empfängt und Einblick gewährt in das Innere des Hauses. Links in die Schul- küche und die daran anschließende Mensa, mittig in den Flurraum des EGs. Dort geht es rein. Einen schmalen Windfang passierend betritt man den an dieser Stelle kaum breiteren Flur und hoppla – da wäre man doch fast in die Wand gelaufen. Herrje!

Eben noch die Freude über die schöne Empfangsgeste des Hofs und dann so ein Anfängerfehler. Dass dann das Erste, was man in diesem Flur erblickt, die Toilettentüren sind, macht die Sache nicht besser, auch wenn die Sanitärräume selbst, mit ihrem knallorangefarbenen Anstrich und den großen Gemeinschaftswaschbecken durchaus zu gefallen vermögen und wohl auch bei den Kindern großen Anklang finden. Im Flur jedenfalls, dessen Beton-Terrazzoboden übrigens eine weitere Reminiszenz an Hoffmanns alten Schulbau darstellt, geht es entweder links in Richtung Mensa und Lehrerzimmer oder, was lohnender ist, nach rechts, wo man bald zu einem überraschend luftigen, über zwei Stockwerke reichenden Lichthof gelangt. Von hier werden die drei ebenerdigen Klassenzimmer mitsamt den dazugehörigen Betreuungsräume erschlossen. Beherrscht aber wird dieser, von vier großen, runden Oberlichtern erhellter Raum durch eine fast skulptural anmutende Treppe, die nach einem Absatz knapp auf halber Höhe zweiläufig weiter in das obere Stockwerk führt. Wir bemerken auf dem Weg nach oben mit Schmunzeln die im Fuß der Treppe eingebaute, mit drei Matten ausgelegte »Höhle«, und wir übergehen dabei ein missglücktes »Kunst-am-Bau-Projekt«. Stattdessen wenden wir uns dem oberen Flurraum zu, der trotz seiner insgesamt bescheidenen Maße, jene Großzügigkeit atmet, die man im Eingangsbereich vermisst. Möglich war das durch einen kleinen Kunstgriff der Architekten. Sie verlegten die amtlich geforderten Garderobenschließfächer der Schüler, die normalerweise in den Klassenräumen untergebracht werden, einfach in die Flure. Aus den reinen Erschließungsflächen werden so Räume mit erstaunlicher Aufenthaltsqualität, die obendrein den gemeinschaftlichen Charakter des Schulhauses unterstreichen. Wie der im EG, ist auch der obere Flur zum Hof hin ausgerichtet. Das Licht kommt hier durch ein weiteres Oberlicht und v. a. durch die rautenförmig perforierte, vorgehängte Klinkerfassade, die – so die Sonne scheint – das grelle Südlicht bricht und ein schönes Licht- und Schattenspiel auf den Boden wirft. Die inklusive der Schulwerkstatt sieben Klassenzimmer und die dazwischengeschalteten fünf Betreuungsräume sind bewusst zu den Außenseiten des Gebäudes hin orientiert. Die Schüler sollen eben nicht durch den Blick auf im Hof spielende Kinder vom Unterricht abgelenkt werden. Sonst ist zu diesen Räumen nicht viel zu sagen. Die Klassenzimmer wirken eher klein, entsprechen aber der Norm, großzügige Fensterflächen sorgen für genügende Helligkeit und der sandfarbene Wandanstrich verbreitet eine nüchtern-freundliche Atmosphäre. In den nach Norden ausgerichteten Klassen sorgt zudem eine dynamische Lichtsteuerung für optimale Lichtverhältnisse in Anhängigkeit zur Tages- und Jahreszeit. ›

Zum Schluss wollen wir noch ein Wort über das grafische Punktmuster verlieren, das die Architekten eigens für den Schulbau entwickelt haben. Es begegnet einem zuerst auf den perforierten Blechpaneelen des Eingangstors und findet sich dann im Gebäude großflächig an den Akustikdecken der Klassenzimmer und im oberen Drittel der Flurwände wieder. Auf den schwarz grundierten Türen aber verwandelt sich das hell abgesetzte Punktmuster in eine Art Leitsystem. Auf jeder Tür erkennt man oben eine freie Form und auf den Türen, die in die Klassenräume führen, verdichten sich die Punkte im unteren Bereich zu einer Tierfigur. Das sieht hübsch aus und macht auch noch Sinn. Es ist kindgerecht, ohne kindisch zu sein, und es steht damit stellvertretend – so möchte man zumindest meinen – für die Grundhaltung mit der AFF architekten hier ans Werk gegangen sind.

db, Mi., 2012.12.05



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db 2012|12 Redaktionslieblinge

05. Dezember 2011Ulrike Kunkel
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Umwölkte Felsen

Ikonische Kulturbauten sind gemeinhin nicht unbedingt das, was man vom Architekturbüro von Gerkan, Marg und Partner erwartet. Dass das Büro auch diese Spielart der Architektur beherrscht, beweist das Ende 2010 fertiggestellte Grand Theater in der ostchinesischen Millionenstadt Qingdao. Beispielhaft gelang es hier, eine vom genius loci inspirierte Metaphorik in eine markante architektonische Form zu bringen.

Ikonische Kulturbauten sind gemeinhin nicht unbedingt das, was man vom Architekturbüro von Gerkan, Marg und Partner erwartet. Dass das Büro auch diese Spielart der Architektur beherrscht, beweist das Ende 2010 fertiggestellte Grand Theater in der ostchinesischen Millionenstadt Qingdao. Beispielhaft gelang es hier, eine vom genius loci inspirierte Metaphorik in eine markante architektonische Form zu bringen.

Die Umgebung der Stadt Qingdao gehört zu den bekanntesten Landschaften Chinas. Die schnell wachsende Metropole am Gelben Meer, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein deutscher Kolonial-Handelsstützpunkt und Hauptstadt des »Deutschen Schutzgebiets Kiautschou« war, ist ein beliebtes Seebad und der nahe gelegene Berg Laoshan gehört zu den heiligen Bergen Chinas. Seinen mystisch-geheimnisvollen Charakter verdankt er wesentlich einer klimatischen Besonderheit: Wegen der Nähe zum Meer nämlich sind seine Gipfel oft in Wolken gehüllt und genau so ist der Berg durch zahlreiche Abbildungen ins kollektive Gedächtnis des Land eingegangen.

Von dieser auf den Ort bezogenen landschaftlichen Charakteristik ließen sich gmp beim Entwurf des als Grand Theater bezeichneten Gebäudekomplexes leiten. Aus dem Bild umwölkter bzw. von Wolken durchzogener Berggipfel generierten sie eine metaphorisch aufgeladene und zugleich funktional überzeugende architektonische Form, die Identifikationspotenzial bietet und einen hohen Wiedererkennungswert besitzt.

Das aus einem internationalen, 2004 durchgeführten Wettbewerb hervorgegangene Grand Theater von Qingdao umfasst ein Opernhaus, einen Konzert- sowie einen Multifunktionssaal, außerdem ein Medienzentrum und ein Hotel mit Restaurant. Um das umfangreiche Programm zu bewältigen, entschlossen sich die Architekten, den Komplex in vier Baukörper mit jeweils rautenförmigem Grundriss zu gliedern. Zwei annähernd gleich große Volumen nehmen die Oper respektive den Konzert- und Multifunktionssaal auf. Zwei deutlich kleinere Körper beherbergen das Medienzentrum und das Hotel. Zusammengehalten wird der Komplex auf struktureller Ebene durch einen gemeinsamen Sockelbereich sowie durch eine zwischen den Volumen aufgespannte und über sie hinausragende Dachzone. Auf der gestalterischen Ebene dient diesem Zweck ein aus der Region stammender hellgrauer Granitstein, der hier als Fassadenbekleidung und als Bodenbelag im Außenraum sowie in den Foyers Verwendung findet.

Inszenierung des Landschaftlichen

Als Solitär inmitten eines neu geschaffenen Grünzugs gelegen, der sich vom Ufer des Gelben Meers bis zum Fuß des Laoshan erstreckt, thematisiert der Entwurf für das Grand Theater die landschaftlichen Reize der Stadt, die sich aus dem Gegensatz von Meer und Berg ergeben. Dies gelingt v. a. durch die Anlage des 4,5 m hohen Gebäudesockel auf dem gleichsam wie auf einem Hochplateau die einzelnen Baukörper platziert sind. Zwischen den Volumen ergibt sich so ein über breite Freitreppen erschlossener, überaus großzügig dimensionierter »Terrassenraum«. Von dieser als Plaza bezeichneten Plattform aus, die als allgemein zugänglicher öffentlicher Platz konzipiert ist, bietet sich ein architektonisch gerahmter und inszenierter Blick auf die Naturphänomene der Umgebung. Nach Süden hin rückt das Gelbe Meer in den Fokus des Betrachters, nach Norden das Massiv des Laoshan. Der Sockel leistet aber noch weit mehr: Zum einen nimmt er sekundäre Funktionen wie Anlieferung, Umkleiden und Proberäume auf, zum anderen ermöglicht er eine ganz selbstverständlich wirkende Trennung des Publikums- und des internen Verkehrs.

Das markanteste Merkmal des Grand Theater ist freilich sein Dach. Wie eine riesige Pergola überspannt es, stützenfrei und bisweilen enorm weit auskragend, den gesamten Komplex. Abgeleitet vom Bild einer zwischen den Berggipfeln dahinziehenden Wolke, die in eine architektonische Form transferiert wurde, scheint es tatsächlich zwischen den Baukörpern des Komplexes zu schweben. Die rippenartig gegliederte Struktur des nach dem Prinzip eines Flächentragwerks konstruierten Fächerdachs – im Kern ein mit Naturstein ummantelter Stahl-Leichtbau – verschleiert dabei erfolgreich seine wahre Dimension. Immerhin beträgt seine Dicke an der Vorderkante bereits 4 m und wächst an den Stellen, an denen 60 m überspannt werden müssen, auf bis zu 7 m an.

Nichts weniger als eine selbstverliebte konstruktive Spielerei, dient das »Wolkendach« neben seinen ideellen Werten recht handfesten Zwecken: Es beschirmt die darunter liegende Plaza und spendet dabei den v. a. in der Sommerzeit willkommenen luftigen Schatten, durch den die Aufenthaltsqualität der Besucherterrasse sichergestellt wird.

Genau damit leistet es auch einen Beitrag zum Energiekonzept des Komplexes. Klimaschutz ist mittlerweile in China nicht weniger gefragt als im Westen und die entsprechende Bilanz des Neubaus ist schon deshalb günstig, weil die solide gedämmten Fassaden relativ wenige Öffnungen besitzen und der Sonneneintrag entsprechend gering ausfällt. Eine Solarthermie-Anlage auf den Dachflächen der Baukörper tut ein Übriges, um dem ökologischen Anspruch der Bauherrschaft gerecht zu werden.

Gross aber nicht monumental

Die Dimensionen des Grand Theater sind – v. a. aus mitteleuropäischer Perspektive betrachtet – gewaltig. Aber einmal abgesehen von der Tatsache, dass Größe relativ ist und in China eine andere Maßstäblichkeit gilt als hierzulande, gelang es gmp, mit architektonischen Mitteln jeden Eindruck von kalter Monumentalität zu vermeiden. Dazu leistet die sorgfältige, oft fast filigrane Detaillierung des Gebäudes einen wesentlichen Beitrag. Die leicht geneigten Außenwände mit ihrem abgetreppten, horizontal geschichteten Steinkleid, die vielfach abgerundeten Ecken und Kanten der Baukörper, die Feingliedrigkeit des Dachfächers, die fast demonstrative Anti-Monumentalität bestimmter architektonischer Elemente wie etwa der gläsernen Geländerbrüstungen und nicht zuletzt das ausgefeilte Beleuchtungskonzept – im Zusammenspiel nehmen sie dem Gebäude alles vermeintlich Schwere und Bedrohliche. Hinzu kommt, dass die Architekten in den Foyerbereichen und bei der Erschließung der Hauptsäle auf repräsentative, Ehrfurcht heischende Gesten verzichteten. Ganz im Gegensatz zur Großzügigkeit der Plaza sind hier die räumlichen Dimensionen, nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen, in erster Linie von funktionaler Notwendigkeit bestimmt.

Herzstück des »Felsenmassivs«

Die Herzstücke des Komplexes sind die beiden großen Säle für musikalische Darbietungen, das Operntheater und der Konzertsaal. Sie beherrschen jeweils einen der Hauptbaukörper und setzen sich gestalterisch deutlich voneinander ab. Eines ist ihnen freilich gemeinsam: Die Innen- und Außenhüllen der Säle wurden formal in beiden Fällen gleich behandelt. Schon von der Plaza aus ist so dank der großflächig verglasten Foyers die unterschiedliche Materialisierung bzw. Farbstimmung der Säle ersichtlich. Der Opernsaal, bei dessen Bau Betonfertigteile zum Einsatz kamen, ist in dunklem Rot und in Schwarz gehalten. Das folgt klassischen (westlichen) Vorbildern, nimmt Bezug auf den emotionalen und dramatischen Charakter der Oper und weckt zugleich Assoziationen an chinesische Lackarbeiten. Typologisch betraten die Architekten hier kein Neuland. Sie schufen eine traditionelle Guckkastenbühne und einen 1 600 Personen fassenden Zuschauerraum mit zwei hufeisenförmigen Rängen.

Auch der für 1 200 Besucher ausgelegte Konzertsaal entspricht in seiner Struktur der klassischen Typologie derartiger Räume, bei der sich Konzertpodium und Zuschauerbereich gegenüberliegen. Ganz anders als das Operntheater präsentiert sich der Konzertsaal als vergleichsweise nüchterner Holzkörper. Die Inspirationsquelle für seine Ulmenholz-Vertäfelung, die Wärme und Wertigkeit zugleich ausstrahlt, war der Korpus einer Violine. Die Holzpaneele, die das Motiv der horizontalen Schichtung der Außenfassade wieder aufnehmen, prägen aber nur den unteren Bereich des Saals. In seiner oberen Zone erregen ondulierende Gipskartonbekleidungen der Wände die Aufmerksamkeit des Publikums. Effektvoll unterstützt vom Beleuchtungskonzept, verleihen sie dem Saal Dynamik und festliche Eleganz. Ob die Besucher in den gewellten Wänden das ihnen zugrunde liegende Motiv entdecken – das von der Brandung geschaffene Sandrelief am nahe gelegenen Strand, sei dahingestellt.

Versteht sich, dass bei der Gestaltung und Detaillierung der beiden Säle akustischen Belangen höchste Priorität eingeräumt wurde. Die funktionalen Aspekte drängen sich aber nie in den Vorderrund, sondern ordnen sich harmonisch in den Gesamteindruck ein. Das lässt sich beispielhaft an der von gmp eigens für dieses Projekt entwickelten Saalbestuhlung ablesen. Sie dient dem Komfort des Publikums, sorgt für eine ausgewogene Raumakustik und enthält zugleich die geräuschlos funktionierende Belüftung der Säle.

Mit dem Grand Theater in Qingdao ist es dem Büro von Gerkan, Marg und Partner in bemerkenswerterweise gelungen, einen Kulturkomplex zu schaffen, der bei aller Größe und Monumentalität, dennoch den menschlichen Maßstab wahrt.

db, Mo., 2011.12.05



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db 2011|12 Redaktionslieblinge

04. Juli 2011Ulrike Kunkel
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Menschen im Hotel

Auf dem Killesberg entstand auf einem Teilstück des ehemaligen Messegeländes in topografisch exponierter Lage und unmittelbarer Nachbarschaft zur Weißenhofsiedlung das zweite Augustinum in Stuttgart. Trotz der erheblichen Baumasse fügt sich das Seniorenwohnstift der gehobenen Art städtebaulich und architektonisch gut in die Umgebung ein.

Auf dem Killesberg entstand auf einem Teilstück des ehemaligen Messegeländes in topografisch exponierter Lage und unmittelbarer Nachbarschaft zur Weißenhofsiedlung das zweite Augustinum in Stuttgart. Trotz der erheblichen Baumasse fügt sich das Seniorenwohnstift der gehobenen Art städtebaulich und architektonisch gut in die Umgebung ein.

Der Gedanke an eine Seniorenwohnanlage oder gar ein Pflegeheim kommt bei diesem Ensemble aus vier »Doppeltürmen« nun wirklich nicht auf. An eine ganz »normale« Wohnsiedlung denkt man und wundert sich beim Näherkommen allenfalls, dass die Gebäude über einen gläsernen Sockelbereich miteinander verbunden sind. Beim Eintreten in die großzügig gestaltete Lobby mit Rezeption, Loungebereich und Bar glaubt man dann doch, sich geirrt zu haben: keine Wohnhäuser, sondern ein gediegen luxuriöses Hotel. Beide Assoziationen sind durchaus gewünscht; in den Häusern des Augustinums sollen sich die Bewohner sicher, aber dennoch frei, gut versorgt und betreut, aber nicht eingeengt und bevormundet fühlen. Eben eher wie in einer komfortaben Wohnan- lage mit Hotel-Service, nur, dass das Personal auf die speziellen Bedüfnisse älterer und alter Menschen eingestellt ist. Wesentlicher Bestandteil des Augustinum-Konzepts – und für viele bei der Entscheidung, in ein Haus dieses Trägers zu ziehen, durchaus ausschlaggebend – ist aber v. a. die garantierte vollumfängliche Pflege in der eigenen Wohnung.

Das Seniorenwohnstift auf dem Killesberg ist das jüngste der mittlerweile 22 Augustinum-Häuser, die über ganz Deutschland verteilt sind und von denen das erste 1962 eröffnet wurde. Das große Bauvolumen, das 290 Appartements sowie verschiedene Gemeinschaftsbereiche und -einrichtungen umfasst, verteilt sich geschickt auf acht Baukörper und einen verbindenden Sockelbereich, der sich wiederum in zwei Ebenen gliedert. Die obere (Erdgeschossebene) umfasst zusammenhängend im Wesentlichen Foyer, Veranstaltungssaal, Restaurant, Küche, Läden, Bankfiliale, Bibliothek, Musikzimmer und Kapelle. Die untere Ebene beinhaltet Schwimmbad, Wellness, Fitness, Pflege und Arztzimmer. Diese klare Nutzungsgliederung sowie Außenbezüge nach Norden und Süden erleichtern die Orientierung innerhalb der ausgedehnten Anlage. Beide Ebenen sind außerdem direkt anzufahren, so dass optimale Betriebsabläufe gewährleistet sind.

Die acht Baukörper haben für sich genommen eine relativ kleine Grundfläche von 23 x 23 m, auf der jeweils nur sechs Wohnungen zwischen 50 und 80 m² untergebracht sind. Diese kleinen Einheiten vermitteln ein Gefühl von Individualität und Privatheit. In einigen der oberen Stockwerke befinden sich wenige Appartements mit über 100 m². Bis auf die kleinsten Wohnungen werden alle von zwei Seiten belichtet, ausschließliche Nord-Ausrichtungen gibt es keine; alle Appartements haben eine geschützte Loggia sowie großzügige Fensterflächen und sind mit Parkett, Küchenzeile, Bad und teilweise zusätzlichem Gäste-WC komfortabel und barrierefrei ausgestattet.

Immer zwei dieser »Wohnkuben« sind leicht versetzt zueinander über ein verglastes Treppenhaus zusammengekoppelt. Die entstehenden »Doppeltürme« sind in ihrer Höhe gestaffelt: von acht Geschossen zur verkehrsreichen Stresemannstraße im Westen bis hin zu sechs Geschossen zur im Osten angrenzenden Weißenhofsiedlung. Die Bebauung folgt damit dem Gelände, das ein Höhengefälle von ca. 10 m aufweist.

Differenziertes Volumen- und Fassadenkonzept

Die durchgrünte, offene Bauweise lässt immer wieder Blicke auf den alten Baumbestand des im Norden angrenzenden Höhenparks Killesberg bzw. auf die Nachbarhäuser zu. Doch nicht nur die städtebauliche Anordnung, sondern auch das differenzierte Fassadenkonzept löst das große Bauvolumen gekonnt auf und ermöglicht einen maßstäblichen Übergang zur benachbarten, z.T. kleinteiligen Wohnbebauung. Die eigentlich schlichten, hellgrauen Putzfassaden (WDVS) erhalten ihre besondere Gliederung und Rhythmisierung durch die nicht übereinander, sondern versetzt zueinander angeordneten Loggien und begleitenden Fensterflächen. Ein weiteres gestaltendes Element – das bei den Bewohnern allerdings auf leichte Irritation stößt – sind die zwar zu öffnenden, aber ansonsten nicht durchsichtigen, sondern weißen Fensterflügel. Zusammen mit den weißen Rahmen und den weiß ausgestrichenen Loggien unterstützen sie die plastische Qualität der Fassade. Noch stärker wäre die Wirkung allerdings, wenn die Fassaden in dunklem Grau und die Loggien, Brüstungsabdeckungen und weißen Fensterelemente in Marmor ausgeführt worden wären – eine Idee, die Wulf und Partner im Wettbewerb noch verfolgten. Es hätte vielleicht nicht unbedingt Marmor sein müssen, aber die Verwendung hochwertigerer Materialien hätte der Nahwirkung gut getan und wäre dem Projekt durchaus angemessen gewesen.

Urbaner Vorplatz — unbelebt

Der Haupteingang zur Seniorenwohnanlage liegt zentral an der verkehrsberuhigten Oskar-Schlemmer-Straße und ist über einen gepflasterten, städtisch anmutenden Vorplatz zu erreichen, der gleichzeitig als Begegnungsort für die Bewohner untereinander, aber auch mit der Öffentlichkeit dient. Eineinhalb Jahre nachdem die ersten Bewohner eingezogen sind, ist es hier, wie auch in den Begegnungsbereichen im Gebäude allerdings noch sehr ruhig; das Wohnstift ist bisher nicht annähernd voll belegt. Durch die Eingangshalle gelangt man in einen der mit Rasenflächen, Staudenbeeten und niedrigen Hecken angelegten Höfe. Über die versetzten Heckenstrukturen erfolgt eine unauffällige Abstufung der öffentlichen und halböffentlichen Bereiche. Das Grundstück ist nicht eingezäunt, sondern wird von Gabionen bzw. bräunlich-rot eingefärbten Betonmauern lediglich locker eingefasst.

Trotz großzügigem Vorplatz ist der Eingang an sich relativ unauffällig; bei einem ersten Besuch hat man jedenfalls ein wenig Mühe, ihn zu finden. Einen markanten Akzent sollte hier eigentlich der Veranstaltungssaal setzen, der von den Architekten als »Schatzkästchen« geplant war und vom Totalübernehmer (letztlich an Wulf und Partner vorbei) leider auf den Charme einer Technikzentrale heruntergespart wurde. Doppelt unverständlich, schließlich ist das zum großen Teil öffentliche Kunst- und Kulturprogramm auch ein wichtiger Bestandteil des Augustinum-Konzepts.

Ein weiterer Wermutstropfen ist das bläuliche, verspiegelte Sonnenschutzglas, mit dem sowohl die gesamte Sockelzone als auch die Verbindungstürme verglast sind. Die Architekten hatten hier eigentlich ein klareres Glas mit Sonnenschutzeigenschaften vorgesehen, doch auch dies wurde aus Kostengründen eingespart. So wirken die Gebäude merkwürdig unnahbar, was sich auch auf die Aufenthaltsqualität der umgebenden Freiflächen negativ auswirkt.

Dennoch ist auf dem Killesberg ein wohnlicher und sehr angenehmer Ort entstanden, der für seine Bewohner ein neues Zuhause geworden ist, wie die Stiftsleiterin Petra Hellenthal bestätigt. Ein Zuhause, das man sich allerdings leisten können muss: Bei Wohndarlehen zwischen 20 000 und 40 000 Euro und monatlichen Pensionspreisen von 2 550 bis 3 600 Euro – je nach Größe des Appartements (vollumfängliche Pflege noch nicht eingeschlossen), wendet sich der Träger an eine ausgesuchte, zahlungskräftige Klientel.

db, Mo., 2011.07.04



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db 2011|07 In Würde altern

11. April 2011Ulrike Kunkel
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Markante Transparenz

Roh und dennoch edel: Die in Teilen gläserne Produktionshalle im nördlichen Schwarzwald verweist mit ihren ungewöhnlichen Baumstamm-Stützen geschickt auf den Rohstoff, der hier bearbeitet wird. Ein passendes und wirkungsvolles Motiv für einen Inneneinrichter.

Roh und dennoch edel: Die in Teilen gläserne Produktionshalle im nördlichen Schwarzwald verweist mit ihren ungewöhnlichen Baumstamm-Stützen geschickt auf den Rohstoff, der hier bearbeitet wird. Ein passendes und wirkungsvolles Motiv für einen Inneneinrichter.

Übersehen kann man den Hotel- und Objekteinrichter Ziefle Koch spätestens seit den jüngsten Baumaßnahmen auf seinem Firmenareal in Waldachtal-Cresbach freilich nicht mehr. Von Osten, aus Richtung Stuttgart kommend, kündet schon aus einiger Entfernung eine Stützmauer aus ca. 500 Granitstein-Blöcken von der Größe und Bedeutung des Familienbetriebs für die Region. Eine imposante, wenngleich vielleicht etwas zu mächtig geratene Geste für die knapp 6 000 Einwohner umfassende Gemeinde Waldachtal im Landkreis Freudenstadt im nördlichen Schwarzwald und den lediglich 800 Seelen zählenden Ortsteil Cresbach. Folgt man der Straße (zunächst entlang der Steinmauer), umrundet man das Firmengelände fast vollständig, bis man von Westen die Besucherzufahrt und den Haupteingang erreicht. Rechter Hand liegt die neue »gläserne« Produktionshalle, deren Besonderheit die groben Baumstamm-Stützen hinter der Glasfassade sind: »das neue Gesicht der Firma«, wie Gunnar Ziefle, Sohn des Inhabers, das Gebäude durchaus treffend bezeichnet. Denn diese, ebenfalls markante, dabei aber wesentlich zurückhaltendere Geste erscheint schlüssig und überzeugt durchaus.

Gelungene Neuorganisation des Firmenareals

Platzmangel in den bestehenden Hallen und der Bedarf nach Erweiterung machten den Bau dieser Produktionshalle erforderlich. Da es im Zuge der Planungen aber nicht ausschließlich um den Neubau der Halle gehen sollte, sondern auch um eine Umstrukturierung des gesamten, seit den 60er Jahren kontinuierlich entwickelten Areals, erstellte das Architekturbüro Schmelzle und Partner zunächst einen Masterplan. So konnte sichergestellt werden, dass die Ausrichtung des Gebäudes, die neue Zufahrt, die Mitarbeiter- sowie Besucherparkplätze und der Logistikhof für Anlieferung und Versand funktionieren würden sowie spätere Erweiterungen auf dem Gelände möglich wären. Mit der Verlagerung des Logistikhofs auf die Ost-Seite – und damit weg vom Haupteingang und der Besucherzufahrt – bestand außerdem die Chance, das gesamte Firmen-Entree gestalterisch aufzuwerten. Das neue Gebäude sollte ein Übriges dazu beitragen und dem Holzverarbeiter und Inneneinrichter Ziefle Koch zu einer einprägsamen Adresse verhelfen.

Architektonisch gliedert sich die Halle in zwei Bereiche: Die Fassaden zum Betriebshof sind technisch und funktional gemäß den Nutzungsanforderungen gehalten, im Bereich der Besucherzufahrt sind sie hingegen als Glasfassaden ausgeführt (außen: ESG 12 mm, innen: Float 10 mm, SZR 16 mm, Ug-Wert: 1,1 W/m²K). Durch die gläserne Hülle wird Einblick in den vollautomatischen Lagerbereich für etwa 3 000 Spanplatten gewährt. Größe, Konstruktion und innere Aufteilung der Halle werden im Wesentlichen durch ihre Nutzung bestimmt. Die Abmessungen des auf zwei parallelen Schienen laufenden Portalkrans, mit dem das Plattenmaterial befördert wird, erfordern einen stützenfreien Raum, weshalb die Lasten des Stahltragwerks lediglich im Bereich der Fassaden abgetragen werden. Auf den »Schauseiten« des Gebäudes unmittelbar hinter den Glasflächen über 67 nur geraspelte, nicht geschälte, und damit relativ roh belassene, z. T. diagonal gestellte Eichenstämme mit einem Durchmesser von ca. 25 cm. »Ein Verweis auf den Rohstoff, der in der Tischlerei dann weiter bearbeitet und verfeinert wird«, so Ziefle. Die Baumstämme kommen übrigens aus dem Nachbarort und haben auf ihrem Weg zur Baustelle lediglich wenige Kilometer zurückgelegt.

Die technische Erschließung der Produktionshalle erfolgt ausschließlich über den Bestand, so dass auf neue Technikräume verzichtet werden konnte. Das Gebäude wird über eine Späneheizung, die mit anfallendem Restholz aus der Tischlerei befeuert wird, beheizt und verfügt über eine Betonkernaktivierung.

Zeichen am Ortsrand

Die Grundidee der Kombination der Materialien Glas und Holz war fast von Beginn an klar, die detaillierte Ausformulierung des Entwurfs erfolgte in einem engen Abstimmungsprozess zwischen Planer und Bauherr. Kein Problem, denn der Architekt ist mit der Bauherrn-Familie verwandt. Keine Seltenheit in der Region, oft sind die an Planung und Bau Beteiligten miteinander verwandtschaftlich verbunden oder bereits zusammen zur Schule gegangen. Im Falle des Projekts in Waldachtal scheint die Zusammenarbeit jedenfalls funktioniert zu haben. Das Ergebnis erfüllt die Wünsche und Erwartungen des Bauherrn, trifft auf große Akzeptanz bei Mitarbeitern und Kunden und setzt in der kleinen Gemeinde ein markant transparentes architektonisches Zeichen am Ortsrand, das zudem Bezüge zu seiner Nutzung herstellt.

db, Mo., 2011.04.11



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db 2011|04 Schwarzwald

01. Dezember 2010Ulrike Kunkel
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Präzise Handarbeit

Prominent am Berg mit herrlichem Blick auf Meran, könnte an der Stelle dieser Schule ebenso gut ein 5-Sterne-Hotel stehen. Beim Näherkommen besticht der Schul- und Bibliotheksbau, dessen Gebäudeteile in ihrem architektonischen Ausdruck Eigenständigkeit beweisen, durch präzise Entwurfs- und Ausführungsarbeit.

Prominent am Berg mit herrlichem Blick auf Meran, könnte an der Stelle dieser Schule ebenso gut ein 5-Sterne-Hotel stehen. Beim Näherkommen besticht der Schul- und Bibliotheksbau, dessen Gebäudeteile in ihrem architektonischen Ausdruck Eigenständigkeit beweisen, durch präzise Entwurfs- und Ausführungsarbeit.

Marling, eine Gemeinde in Südtirol mit knapp 2 500 Einwohnern südwestlich von Meran gelegen. Das Dorf liegt auf einer Höhe von 363 m über dem Meer auf einem mit Obstplantagen und Weinbergen bepflanzten Hügelgelände und ist, nicht ungewöhnlich für die Region, v. a. durch den Anbau von Tafeläpfeln sowie den Tourismus geprägt. Unterhalb des Dorfplatzes, nahe der, in ihrem heutigen Erscheinungsbild neugotisch geprägten Marlinger Pfarrkirche Maria Himmelfahrt, lag das alte Schulhaus in dem die rund 150 Grundschüler des Orts eher unzulänglich untergebracht waren. So schrieb die Gemeinde 2006 einen Wettbewerb aus, der eine neue Schule sowie eine Schul- und Dorfbibliothek umfasste. Wettbewerbssieger war der Südtiroler Architekt Arnold Gapp mit einem L-förmigen Gebäude-Ensemble, das eine eindeutige, wenn auch zurückhaltend moderne Architektursprache spricht, ohne dabei die örtlichen Gegebenheiten zu ignorieren.

Wichtige städtebauliche Funktion

Während der Klassentrakt des Schulgebäudes zur Dorf abgewandten Seite in Richtung Tal ausgerichtet ist, sind die Bibliothek als öffentliches Gebäude sowie der Eingang zur Schule konsequent zum Dorfplatz hin orientiert. Es gelingt so, eine Verbindung zwischen Dorfplatz und Schule bzw. Bibliothek herzustellen. Um diese entscheidende Verbesserung der städtebaulichen Gesamtsituation zu erreichen, wurde das Gelände vor der Schule und der Bibliothek um ca. 4,45 m angehoben – es entsteht ein neuer Vorplatz und in gewisser Weise eine Erweiterung des Dorfplatzes.

Bei der Bibliothek handelt es sich um einen transparenten zweistöckigen Bau in Stahlkonstruktion mit extensiv begrüntem Flachdach, der durch seine gläserne Hülle (doppelte Verbundglasscheiben) bereits einen Blick auf die Bücherregale im Innern zulässt. Bücher hinter Glas – das war für die Bibliotheksangestellten etwas gewöhnungsbedürftig und führte (leider) dazu, dass nach Westen hin eine Sonnenschutzfolie angebracht wurde; wodurch sich, sofern die Bibliothek nicht erleuchtet ist, nun v. a. die gegenüberliegenden Fassaden spiegeln.

Um zur Kirchseite den Blick auf den Friedhof etwas abzuschirmen, wurden im unteren Teil der Fassade satinierte Gläser eingesetzt. Nach Süden überzeugt der von Anfang an vorgesehene passive Sonnenschutz: Ein vorgelagertes, begrüntes Rankgerüst, das, zusammen mit dem Pergola ähnlichen Dachrand und dem darüber liegenden Glasdach, gleichzeitig den Eingangsbereich zur Schule markiert. Die Leichtigkeit und Großzügigkeit des Äußeren setzt sich auch im Innern der Bibliothek fort: Die Galerie in dem über zwei Geschosse reichenden Raum wird ausschließlich durch Glasbrüstungen begrenzt, schlanke Stahlprofile machen die Tragstruktur elegant und filigran. Parkettböden und Decken aus furnierter Tischlerplatte mit Schallschutzeigenschaften schaffen eine ruhige Atmosphäre an den Leseplätzen auf der Galerie – und wer dennoch lieber draußen sitzen möchte, geht einfach raus auf die Dachterrasse.

Direkt an die Bibliothek schließt das neue Schulgebäude an. Ein im Wesentlichen zweigeschossiger Baukörper in spektakulärer Hanglage, dessen südlicher Teil die bestehende Turnhalle überspannt. Der ins Tal blickende Klassentrakt, der bei der Ortsanfahrt bereits weithin sichtbar ist, wird durch seine durchlaufenden breiten Fensterbänder und die vorgesetzten bzw. -gestellten Eichenstützen, die die Fensterflächen unregelmäßig gliedern, geprägt. Eine zusätzliche, ebenfalls unauffällige, aber wirkungsvolle Gliederung erfährt die Fassade durch Rankgerüste, an denen Kletterpflanzen emporwachsen. »Wenn man den Hang hinauf schaut, blickt man über die Apfelplantage mit den Stützpfählen. Diese setzen sich an der Fassade der Schule fort.« Erläutert der Architekt Arnold Gapp das Motiv. Ursprünglich waren die Pfähle sogar immer aus Eiche, inzwischen sind sie aus Beton, was der Assoziation allerdings keinen Abbruch tut.

Städtebaulich nimmt das Schulhaus die Umfassungsmauer der benachbarten Kirche auf und führt diese geschickt fort. Der Erhalt der ehemaligen Schulhofmauer auf der Ostseite führt dazu, dass sich der Baukörper aus der Ferne als flaches, liegendes Rechteck darstellt. ›

Lichte Lernräume

Die innere Organisation der Schule ist klassisch und übersichtlich. Den jeweils fünf Klassen auf jedem Stockwerk sind Sonderräume wie Werk- und Musikräume sowie Ausweichklassen gegenüber gestellt. Hier werden z. B. gehandicapte Kinder, die in Südtirol die selben Schulen besuchen, stundenweise außerhalb des Klassenverbands unterrichtet. Wenige, helle Materialien und Oberflächen kombiniert mit dezent eingesetzter Farbe dominieren alle Räume sowie die Erschließungszonen und übertragen auch beim Schulgebäude die Leichtigkeit der Fassade ins Innere: Flure und Treppen haben einen Belag aus fast weißen Naturwerkstein-Platten, die Klassen sind mit hellem Linoleum ausgelegt, das Lehrerzimmer mit Eichenparkett, die Wände sind weiß verputzt oder mit Holz bekleidet. Als zurückhaltender Farbakzent zieht sich ein helles Grün-Gelb durch das Gebäude.

Von den Klassenräumen sowie dem Lehrerzimmer hat man einen grandiosen Blick über das Tal und über Meran. Und während die Kinder die Balkone aus Sicherheitsgründen nicht betreten dürfen, können die Lehrer ihren nutzen. »Kollegen anderer Schulen sagen, wir hätten das schönste Lehrerzimmer von ganz Südtirol«, erzählt eine Lehrerin. Man könnte wohl noch hinzufügen: Auch weit über die Grenzen Südtirols hinaus.

Beide Gebäude verfügen über eine kontrollierte Zu- und Abluftanlage mit Wärmerückgewinnung; die Bibliothek und der Lehrerbereich können bei Bedarf zusätzlich gekühlt werden. Bibliothek und Schule werden durch eine schuleigene Heizungsanlage mit Gas beheizt.

Statische Ertüchtigung der Turnhalle

Unter dem hinteren Schultrakt liegt die neue, alte Turnhalle. Früher tief eingegraben, feucht und dunkel wurde sie im Zuge des Umbaus buchstäblich ausgegraben und ans Licht geholt. Durch die umlaufenden großen Fenster fällt von »oben« Tageslicht ein. Der Umgang mit der neu gewonnen Helligkeit muss allerdings noch gelernt werden, jedenfalls waren die Jalousien auch an einem trüben Tag Ende Oktober heruntergelassen. Lichtdurchflutet und freundlich stellte sich die Halle dennoch dar: Durch das Herausschneiden einer Wand konnte eine großzügige Besuchergalerie mit direktem, ebenerdigen Zugang von der im 1. UG verglasten Ostseite der Schule realisiert werden. Da die Statik der Turnhalle relativ schlecht war, durfte das südliche, über die Halle ragende Ende der Schule die Hallendecke nicht zusätzlich belasten. Um die Konstruktionshöhe für diese Überspannung zu erreichen, wurde der Gebäudeteil daher um 90 cm gegenüber dem Schulhof angehoben. Die Tragstruktur für die Überbauung besteht aus Stahlträgern, die auf den bestehenden Stahlbetonstützen der Halle aufliegen. Die vorhandenen Fundamente mussten dafür durch Bohrpfähle verstärkt werden.

Doch nicht nur, dass die Kinder ein großzügig gestaltetes Schulhaus bekommen haben, auch der Schulhof bietet ihnen nun ausreichend Platz. Er öffnet sich nach Süden und wird zu den drei übrigen Seiten räumlich gefasst: Im Westen durch den Geländeversprung in den große Sitzstufen aus Eiche eingeschnitten sind, im Osten durch den zweigeschossigen, zu dieser Seite weiß verputzten Klassentrakt und im Norden durch die Aula, die unter der Bibliothek liegt. Auf die Frage hin, wie den Kindern ihre neue Schule denn gefalle, antwortet die Lehrerin dann auch: »Sehr gut. Sie und auch wir Lehrer merken einfach täglich, dass das Gebäude wunderbar funktioniert.« Dann verabschiedet sie sich, und obwohl es Samstag nach 19 Uhr ist, geht sie nicht nach Hause, sondern empfängt die mit ihren Schlafsäcken anrückenden Schüler zu einer Lesenacht.

db, Mi., 2010.12.01



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03. März 2010Ulrike Kunkel
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Eine Insel um den Ozean

Durch das große runde Meerwasserbecken auf der Plaza de España in Santa Cruz de Tenerife wird symbolhaft die Verbindung der Stadt zum Meer geschaffen. Der Platz, der sich wie ein Querschnitt durch die Vegetation und Tektonik der Insel liest, ist binnen kurzer Zeit zum beliebten Treffpunkt der Bewohner geworden. Ob flanieren, sonnen, lesen, spielen, schwatzen oder skaten – alles ist hier möglich.

Durch das große runde Meerwasserbecken auf der Plaza de España in Santa Cruz de Tenerife wird symbolhaft die Verbindung der Stadt zum Meer geschaffen. Der Platz, der sich wie ein Querschnitt durch die Vegetation und Tektonik der Insel liest, ist binnen kurzer Zeit zum beliebten Treffpunkt der Bewohner geworden. Ob flanieren, sonnen, lesen, spielen, schwatzen oder skaten – alles ist hier möglich.

Sonnenschein und unbeschwertes Strandleben am tief blauen, stets angenehm warmen Atlantik – Sommer ein ganzes Jahr lang: Teneriffa ist für viele der Inbegriff von Urlaub und wohl kaum jemand würde die kanarische Insel auf Anhieb mit anspruchsvoller Architektur oder Außenraumgestaltung in Verbindung bringen. Doch so unterschiedlich die Vegetation von Nord nach Süd ist, so unterschiedlich ist zum Glück – zumindest teilweise – auch die Bebauung. Während der karge, wasserarme und sonnenverwöhnte Inselsüden vom Massentourismus mit all seinen unangenehmen Begleiterscheinungen schwer gezeichnet ist und sich die aneinandergereihten Hotelanlagen an Belanglosigkeit gegenseitig überbieten, finden sich auf der wasser- und vegetationsreicheren Nordseite noch ruhigere Orte. Auch viele der Hotels haben hier ein etwas anderes Gesicht, so z. B. einige fein gegliederte, relativ gut erhaltene Hotelhochhäuser aus den 60er Jahren in Puerto de la Cruz.

Architektonische Zeichen in der Hauptstadt

In der im Nord-Osten gelegenen Hafenstadt Santa Cruz spürt man vom Tourismus nur wenig. Ihre wirtschaftliche Bedeutung verdankt die Stadt dem konsequenten Ausbau des Hafens seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Zusammen mit Las Palmas auf Gran Canaria teilt sie sich abwechselnd die Hauptstadtfunktion der autonomen spanischen Provinz Canarias. Der Mix aus Kolonialbauten, Ensembles des Jugendstils, des Art déco und der Moderne, durchsetzt mit durchaus brachial zu nennenden Spekulationsbauten, machen Santa Cruz erfreulich »normal«. Doch besteht, wie so oft, ein entscheidendes Defizit der Stadt darin, dass sie durch eine mehrspurige Hauptstraße sowie vorgelagerte Industrie- und Hafenareale vom Meer abgeschnitten ist. Die Stadtverwaltung hat dieses Manko zwar erkannt, von dem umfassenden, seit 1998 u. a. von Herzog & de Meuron entwickelten Konzept, wie die Stadt sich zum Meer hin öffnen ließe, wurde bislang allerdings nur ein erster, wenn auch wichtiger und überaus gelungener Teil umgesetzt. Dabei handelt es sich um die Neugestaltung der Plaza de España, dem wichtigsten Platz von Santa Cruz. Ehemals verkehrsumtost und vom klobigen »Monumento de los Caidos« der Franco-Ära unangenehm dominiert, ist nach der Umgestaltung ein urbaner Ort mit hoher Aufenthaltsqualität entstanden. Ein Platz, der unterschiedliche Angebote macht und sowohl neuer touristischer Anziehungspunkt als auch Identifikations- und Treffpunkt für die Bewohner geworden ist. Das monströse Denkmal wurde zwar erhalten, bildet aber nicht mehr den Platzmittelpunkt, sondern liegt etwas abseits im westlichen Teil.

Wie ein kleiner Ozean

Neuer Mittelpunkt und wesentliches Gestaltungselement dieses, am Rande der Innenstadt gelegenen Platzes, ist ein kreisrundes, bis zu einem Meter tiefes, im Durchmesser knapp 80 m messendes Meerwasserbecken. Die abschließend polierte Oberfläche des Beckens besteht aus weißem, Kunstharz gebundenen Marmorkies. Der Verlauf der Festungsmauern des unter dem Wasserbecken in Teilen erhaltenen »Castillo de San Cristóbal« ist als schwarze Linie markiert. Über einen etwas lieblos gestalteten Ab- und Zugang steigt man zu den Überresten der wehrhaften Mauern hinunter, eine kleine Ausstellung informiert über die Geschichte des Castillos und die Stadtbefestigung Santa Cruz’. Aus verschieden hohen Metallrohren schießt vier Mal täglich aus dem Wasserbecken für einige Minuten eine Fontäne empor und zeigt den Wechsel der Gezeiten an; analog zu den Gezeiten ändert sich auch die Höhe des Wasserspiegels. Da das Wasser aber nie bis ganz an den Beckenrand heranreicht, kann man im Becken immer sowohl am Wasser entlang als auch im Wasser gehen – ganz wie am Strand! Den Abschluss des Beckens bildet ein wulstartiger Rand, der unterschiedlich tief in den umgebenden Asphalt eingebettet ist, so dass sich verschiedene Sitzhöhen ergeben. Der glatte, fast schwarze Asphalt mit weißer Marmorkies-Beimischung umfließt das Becken und »ergießt« sich über die Platzfläche. Er erinnert an Lavaströme und an vulkanische Gesteinsformationen der Insel.

Querschnitt durch die Insel-Vegetation

Rund um das Wasserbecken lenken drei größere Pavillons und mehrere kleine »Verkehrsbauten«, die u. a. die Abgänge zur Tiefgarage markieren, die Aufmerksamkeit auf sich. – Keine Architekturen im eigentlichen Sinne, sondern asymmetrische Pavillon-Skulpturen, gebildet aus schrägen Ebenen, die sich aus dem Asphalt herausschieben bzw. in der Platzkruste einnisten und mehr oder minder entfernte Verwandtschaft zu Naturformen haben, ohne diese nachzuahmen. Ihre schroffen Oberflächen werden aus schwarz besprühtem Spritzbeton mit dunklen Zuschlagstoffen gebildet. Sie nehmen Motive wie Eruption und Erosion auf, die die bizarre Formenwelt der Kanarischen Inseln prägen. Doch auch die reiche und sehr unterschiedliche Vegetation Teneriffas wird zum Thema: Der französische Botaniker und Gartenkünstler Patrick Blanc verwandelte die Dachflächen in wild blühende Gärten bzw. in karge Kakteenlandschaften. Die unterschiedlich großen, locker über den Platz verteilten Baumscheiben komplettieren den Querschnitt durch die Insel-Vegetation: Jeweils ein Baum oder Strauch wird pro Scheibe gelungen in Szene gesetzt.

Die Transformation des schwarzen Lavagesteins in schwarzen Spritzbeton mag vom Konzept her zwar reizvoll erscheinen, überzeugt vor Ort allerdings nur bedingt, zumal der Beton bereits unschöne Alterungsspuren zeigt. Auch werden die Pavillons nur während der Hochsaison als Touristeninformation und zum Verkauf von Kunsthandwerk genutzt und geben in der übrigen Zeit des Jahres beim Näherkommen ein leicht verwahrlostes Bild ab. Dennoch atmet das Gesamtkonzept etwas vom Geist des kanarischen Künstlers und Architekten César Manrique, der stets im Einklang mit der Natur entwarf.

Belebt, bei Tag und bei Nacht

Am Abend wird der Platz durch hunderte von »Lampions« erleuchtet. Das Licht kommt von speziell für den Ort entworfenen, unterschiedlich großen, gläsernen Leuchtkörpern, die an Seifenblasen erinnern und den Platz wie Lichterketten überspannen. Die relativ hellen Leuchten tauchen die Plaza, die selbst im Januar am Abend fast noch belebter ist als am Tag, zusammen mit unter Wasser Strahlern in ein sehr angenehmes Licht und verleihen ihr eine rustikal festliche, leicht märchenhafte Atmosphäre.

Tagsüber und auch am Abend nimmt der Platz bereits jetzt eine wichtige Gelenk- und Mittlerfunktion zwischen Stadt und Hafen wahr. Durch das große (Meer)wasserbecken am Rande der Innenstadt als Verbindungselement zwischen Stadt und Meer, rückt das Wasser endlich zumindest symbolisch wieder an die Stadt heran und wird von ihr umschlossen. Wünschenswert wäre natürlich dennoch, dass die weitreichenden Pläne, die das Meer für die Stadt wieder erlebbar und nutzbar machen sollen, in den nächsten Jahren peu à peu umgesetzt werden. Derzeit liegen sie leider erst einmal auf Eis, so dass die Plaza de España wie ein schöner Torso und Vorbote auf weitere architektonische Interventionen am Rande der Innenstadt strahlt.

db, Mi., 2010.03.03



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09. Dezember 2009Ulrike Kunkel
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Ein Museum als Dorf

Um dem Dorf Alkersum auf Föhr sein historisches Zentrum zurück zu geben, entschlossen sich die Architekten, das Museum Kunst der Westküste nicht als Einzelbau, sondern als kleinteiliges Ensemble mit Dorfgasthof zu realisieren. Die unprätentiösen Bauten nehmen dabei den dörflichen Maßstab auf und orientieren sich auch stilistisch unterschiedlich stark an ortstypischen Vorbildern. Entstanden ist eine überraschende, für den Ort und das Sujet der Sammlung aber angemessene und sinnfällige Einhausung.

Um dem Dorf Alkersum auf Föhr sein historisches Zentrum zurück zu geben, entschlossen sich die Architekten, das Museum Kunst der Westküste nicht als Einzelbau, sondern als kleinteiliges Ensemble mit Dorfgasthof zu realisieren. Die unprätentiösen Bauten nehmen dabei den dörflichen Maßstab auf und orientieren sich auch stilistisch unterschiedlich stark an ortstypischen Vorbildern. Entstanden ist eine überraschende, für den Ort und das Sujet der Sammlung aber angemessene und sinnfällige Einhausung.

Alkersum, ein kleines Dorf auf der Nordseeinsel Föhr. Die gesamte Insel ist gerade einmal 12 x 6,8 km groß und zählt knapp 8 650 Einwohner, wovon auf Alkersum lediglich gut 400 entfallen. Hier, am Geburtsort des Vaters des Bauherrn und Sammlers Frederik Paulsen, sollte ein neues Museum entstehen. – Doch wie baut man in einem friesischen Inseldorf zwischen reetgedeckten Backstein-Wohnbauten? Wie könnte ein zeitgemäßes »Museum Kunst der Westküste«, das Meeres- und Strandansichten von skandinavischen, niederländischen und deutschen Künstlern zeigt – darunter eher regionale Größen, aber auch Werke von Max Beckmann, Edvard Munch, Max Liebermann, und Emil Nolde – überhaupt aussehen? Erschwerend kam hinzu, dass der Bauherr recht genaue, aber nicht eben leicht miteinander in Einklang zu bringende Vorstellungen formuliert hatte: Er wollte ein Ensemble, das sich baulich und sozial in den dörflichen Kontext einfügt; ein Museum, das auf dem Stand internationaler Museen ist und einen Begegnungsort und Treffpunkt für die Dorfbewohner. Was fast nach der Quadratur des Kreises klingt, sollte im Ergebnis eine architektonische Gratwanderung zwischen »schöpferischer« Rekonstruktion und moderner Architektursprache werden.

Die Ortsanalyse führte zum Ziel

Ihrer Entwurfsarbeit stellten der Architekt Gregor Sunder-Plassmann und die Kunsthistorikerin Brigitte Sunder-Plassmann eine besonders akribische Ortsanalyse voran. Bei diversen Inselrundfahrten sammelten sie umfangreiche Eindrücke und Erkenntnisse über die Struktur der Dörfer, über Baumaterialien, Gebäudetypen und -volumen. – Beobachtungen, die sie in ihre Architektur in Form von Zitaten oder Interpretationen einfließen ließen.

Entstanden ist ein in positivem Sinne heterogenes Ensemble aus sieben Gebäuden, das die z. T. brach liegende Ortsmitte Alkersums wieder besetzt bzw. wieder herstellt. Wesentlicher Bestandteil ist dabei auch der rekonstruierte Gasthaus-Garten mit Rasenfläche, Blumengarten und fünf alten Linden, den die Gebäude umschließen. Was das Gesamtbild derzeit leider noch etwas stört, ist ein in das Ensemble und den Garten hineinragendes bebautes Grundstück; eine Arrondierung wäre hier auf jeden Fall wünschenswert.

Tradition und Moderne im Einklang

Direkt an der Hauptstraße liegen die beiden »Eingangsbauten«: Ein Gasthof, der auf den Grundmauern eines ehemaligen, leer stehenden Gasthauses errichtet wurde – um 1900 Künstlertreff und Zentrum des gesellschaftlichen Insellebens. Das Gebäude ist von Weitem nicht sofort als Neubau zu erkennen. Mit seiner Fassade aus weiß geschlemmtem, massivem Ziegelmauerwerk, gegliedert durch Gesimsbänder und Kastenfenster mit schmalen Sprossen, besitzt es eindeutig historisierende Elemente. Die Aufteilung im Innern des zweigeschossigen Baus mit einer Galerie für Wechselausstellungen folgt der Struktur inseltypischer Gasthöfe des 19. Jahrhunderts. Mit seinen schön, wenn auch eher bodenständig modern gestalteten Gasträumen wird er auch von den Dorfbewohnern angenommen und für Feste und Veranstaltungen genutzt.

Das zweite Gebäude zur Hauptstraße hin ist ein scheunenartiger Ausstellungsbau. Er steht ungefähr an der Stelle der bis 1968 vorhandenen Scheune und zitiert diese bzw. friesische Scheunenbauten im Allgemeinen mit seinem kalkgeschlemmten Mauerwerk, den angedeuteten Gesimsen und seinem herabgezogenen Reetdach. Die raumhohen Fenster, bei denen sich der seitliche Lichteinfall in den Ausstellungsraum durch innen angebrachte Faltelemente aus Eichenholz individuell, je nach Sonneneinstrahlung regeln lässt, sprechen hingegen eine eindeutige, wenn auch zurückhaltend moderne Sprache. Der Umgang mit diesen, derzeit auch an einem trüben Oktobertag geschlossenen Holzläden, muss sich allerdings erst noch einspielen.

Beide Gebäude liegen mit ihren Fundamenten unter dem Grundwasserspiegel. Da sich in den Kellern die Museumsdepots befinden, war eine aufwendige Abdichtung (schwarze Wanne) erforderlich.

Der eigentliche Eingang zum Museum befindet sich etwas versteckt zwischen dem Gasthof und dem großen Ausstellungsbau. »Schlüsselloch« nennen ihn die Architekten daher auch. Der Besucher betritt ein kleines aber großzügig wirkendes Foyer, das sich mit einer Fensterfront zum Garten öffnet. Eine weitere Verbindung zwischen innen und außen wird über den Boden hergestellt: Er ist z. T. auch innen in einer Kieselsteinpflasterung ausgeführt, die sich im Garten und vor den Gebäuden wiederfindet. Vom Foyer gelangt man sowohl ins Gasthaus als auch in den scheunenartigen Ausstellungssaal. Hier fällt nicht nur die in modernen Museen eher ungewöhnliche »Salonhängung«, sondern auch die überraschende, aber gelungene Belichtung über den »aufgeschlitzten« Dachfirst auf. Entlang des Firsts sind zudem Strahler angebracht, so dass sich Tages- und Kunstlicht mischen und es in diesem wie auch in den beiden anschließenden Ausstellungssälen jeweils nur eine Quelle gibt, aus der das Licht kommt. Dem Rundgang folgend, gelangt man über eine Verbindungsschleuse, die an ihren verglasten, mit textilem Blendschutz versehenen Schmalseiten Garten und Nachbargebäude schemenhaft erkennen lässt, erst in den einen, dann in den zweiten schlichten Ausstellungssaal. Auch diese sind als Tageslichtsäle konzipiert: Das flache Glasdach mit regulierbarem Sonnenschutz ist mit einer Kunstlichtdecke kombiniert. Alle drei Gebäude sind als zweischalige Ziegelbauten mit Kerndämmung konstruiert. Der gesamte Trakt spricht eine eindeutig moderne Architektursprache. Die Kombination von hellgrau-weiß geschlemmtem Ziegelmauerwerk mit Eichenholz und Glas schafft eine überaus angenehme Raumstimmung.

Ein zur Gartenseite hin verglaster Verbindungsgang führt den Besucher zu einem weiteren Ausstellungsgebäude, dem Umbau eines unspektakulären Backsteinhauses aus den 80er Jahren, das im 1. OG sogar nach wie vor bewohnt wird. Daran schließt ein flacher Bau für die Museumspädagogik an, der gleichzeitig die Verbindung zum zweiten Bestandsgebäude – dem letzten Bau des Ensembles – herstellt. In diesem befindet sich neben einer museumspädagogischen Werkstatt noch eine Wohnung und ein Bäckerladen aus der Zeit vor dem Museumsbau. Die Integration der bestehenden Nutzungen in das Museumskonzept war zwar relativ schwierig, spiegelt aber das Anliegen des Bauherrn, das Museum baulich wie sozial im Dorf zu verankern, gut wider. Im Gegensatz zum Verbindungsgang, der sich mit seiner Glasfront zum Garten hin öffnet, wendet sich der Flachbau für die Museumspädagogik mit einer großen Glasscheibe zur Straße, während seine Gartenseite mit sägerauen Eichendielen beplankt ist.

Am Ende des »Rundgangs« hat der Besucher ein Museum durchlaufen, das sowohl über seine Sammlung als auch über seine Architektur im Dialog mit der ländlichen Umgebung steht. Keine elitäre Einhausung für die Kunst, sondern ein Dorf im Zentrum des Dorfes Alkersum. – Und so kommt man zu dem erstaunlichen Schluss, dass im dörflichen Zusammenhang sogar eine z. T. historisierende Architektursprache die angemessene sein kann.

db, Mi., 2009.12.09



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06. Juli 2009Ulrike Kunkel
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Kulturhauptstadt als Motor

Von Athen über Glasgow bis zur Ruhrregion, vom Tourismus-Festival zum Stadtentwicklungsinstrument – ein Gespräch mit dem künstlerischen Direktor der Bereiche Architektur, Stadtentwicklung und Bildende Kunst der RUHR.2010, Prof. Karl-Heinz Petzinka, und der Projektleiterin dieses Bereichs, Katja Aßmann, über 25 Jahre europäische Kulturhauptstadt und die Frage: Was bleibt, wenn das Kulturhauptstadtjahr vorüber ist.

Von Athen über Glasgow bis zur Ruhrregion, vom Tourismus-Festival zum Stadtentwicklungsinstrument – ein Gespräch mit dem künstlerischen Direktor der Bereiche Architektur, Stadtentwicklung und Bildende Kunst der RUHR.2010, Prof. Karl-Heinz Petzinka, und der Projektleiterin dieses Bereichs, Katja Aßmann, über 25 Jahre europäische Kulturhauptstadt und die Frage: Was bleibt, wenn das Kulturhauptstadtjahr vorüber ist.

Ulrike Kunkel: Lassen Sie uns eingangs kurz auf die generelle Idee einer europäischen Kulturhauptstadt eingehen. Seit dem Beschluss 1985, der einem Vorschlag der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri folgte, haben sich sowohl die Bezeichnung als auch die Idee selbst verändert: Im kommenden Jahr wird nun sogar erstmals eine gesamte Region Kulturhauptstadt sein.

Katja Aßmann: In der Tat wurden in den ersten Jahren mit Athen, Florenz, Amsterdam die gängigen europäischen Kulturmetropolen ausgewählt, bevor mit Glasgow der Titel 1990 erstmals an eine Arbeiterstadt ging. Das war eine entscheidende Zäsur. Der Kulturhauptstadt-Titel hat damals einen erfolgreichen Imagewechsel und einen städtebaulichen Wandel für die Stadt bewirkt. Das hat sich in der Folge weiterentwickelt. Ich glaube, Glasgow ist immer noch die Mutter der neuen Kulturhauptstädte. Und das Ruhrgebiet mit dem regionalen Anspruch ist eigentlich noch mal eine ganz neue Stufe: Nicht nur auf eine Stadt mit ihren Einzelproblemen zu wirken, sondern das Beziehungsgeflecht einer ganzen Region zu betrachten.

Karl-Heinz Petzinka: Man kann sagen, aus dem ursprünglichen Festival des Tourismus ist eine inhaltliche Diskussion über die Stadt geworden, von dort ging es zu einer städtebaulichen Dimension bis hin zur Betrachtung ganzer Regionen. Fakt ist aber, dass im übergeordneten Sinne die Kulturhauptstadt nach wie vor das Gleiche geblieben ist: Nämlich, die Idee, in einen Kommunikationsprozess zu treten.

Also war es durchaus ein kontinuierlicher Prozess, der fast zwangsläufig darin münden musste, dass der Kulturhauptstadtgedanke irgendwann auf eine Region ausgeweitet wurde. Aber warum nun gerade auf das Ruhrgebiet? Genießt es eine europaweite Sonderstellung?

K.-H. Petzinka: Ja vielleicht. Auch früher hatten sich Regionen beworben, die aber nicht gewählt wurden. Wenn es das Ruhrgebiet jetzt geschafft hat, dann weil der Strukturwandelprozess hier bereits spürbar ist, er ist in vollem Gange. Das hat letztendlich auch die Kommission überzeugt und es hieß: »Okay, wenn Ihr das alles schon geschafft habt, dann ist es interessant, in solche Strukturen weiter zu investieren, auch wenn es ein Wagnis bleibt.«

Gibt es herausragende Maßnahmen anderer Kulturhauptstädte, die Ihnen bis heute in Erinnerung sind?

K. Aßmann: Da denke ich natürlich an Glasgow und Porto. Beide haben die Kulturhauptstadt als Stadtentwicklungsinstrument genutzt. Porto hat 2001 die gesamte Stadtinfrastruktur erneuert. Das ist ein Beispiel, das ich wirklich herausragend finde.

K.-H. Petzinka: Mir kommt auch noch Liverpool in den Sinn. Die Stadt hat mit ihrem großen innerstädtischen Einkaufskomplex keine architektonische Marke gesetzt – das muss man dann schon differenzieren – sondern hat Ideen zu Projekten entwickelt, die ohnehin anstanden. Die Liverpooler haben das damals sehr schön formuliert: Wir hätten alles auch ohne die Kulturhauptstadt gemacht, aber die Kulturhauptstadt beflügelt zusätzlich, sie wirkt als Beschleunigungsfaktor. Ähnliches passiert ja nun auch hier im Ruhrgebiet.

K. Aßmann: Die Kunst ist eigentlich, die Kulturhauptstadt nicht nur als Marketingmaschine zu sehen, sondern zu nutzen, um nachhaltige Veränderungen für die Städte und ihre Bewohner zu lancieren. Dabei ist es vor allem wichtig, die Menschen von den Ideen zu überzeugen, sie mitzunehmen und für Neues zu öffnen. Das Bauprogramm kommt dann fast wie selbstverständlich.

Bei der RUHR.2010 bilden 53 Kommunen gemeinsam die Kulturhauptstadt. Das bedeutet viele Meinungen, Interessen, unterschiedliche städtebauliche und architektonische Voraussetzungen. Das birgt einerseits Chancen, ist andererseits aber auch mit besonderen organisatorischen Schwierigkeiten verbunden.

K.-H. Petzinka: Ich sage mal, in unserer »Stadt der Möglichkeiten« haben wir keine Schwierigkeiten. Ich sage das so pauschal, weil Sie gleich sehen werden, wie die Methodik ein Teil der Lösung ist. Unsere erste Aufgabe war es, zu definieren, welche Vorschläge und Projekte überhaupt für die Aufnahme in das Kulturhauptstadt-Programm qualifizieren. Wir haben es relativ simpel gemacht. Wenn ich die Kulturhauptstadt als meine Zielsetzung beschreiben würde, würde ich sagen, ob dabei eine Straße, eine Seenplatte oder ein Stadtquartier rauskommt, interessiert mich nicht; entscheidend ist, dass wir in einer Zusammenarbeit von verschiedenen Kommunen oder Institutionen zu einem Mehrwert kommen. Die Zusammenarbeit haben wir dann »horizontale und vertikale Verknüpfung« genannt, denn immer, wenn mehrere Beteiligte an der gleichen Idee in eine Richtung arbeiten, entsteht ein Mehrwert. Das meint, wir arbeiten immer Disziplin übergreifend und ein Projekt muss immer mehr als drei Städte betreffen. Und nur, wenn alles zusammenkommt, kann ein Projekt Teil der Kulturhauptstadt sein. Alle wichtigen Projekte haben auf dieser Ebene geklappt. Sie sind übrigens zum großen Teil 2010 nicht fertig, sondern sie haben eine Zeitschiene von bis zu 20 Jahren.

Und das ist unsere Kulturhauptstadt-Idee, die wir programmatisch verfolgen. Weniger die Frage nach einem Einkaufszentrum wie in Liverpool oder einem Konzerthaus. Vernetztes Denken ist gefragt. Für Projekte dieser Art ist die allgemeine Akzeptanz auch größer: Ein Masterplan für eine Bundesautobahn zum Beispiel oder ein 17 Museen überspannendes Konzept, das sind Dinge, die letztendlich alle 53 Kommunen betreffen.

Gibt es andere Länder oder Städte, die sich für Ihre Methodik interessieren?

K.-H. Petzinka: Aus den Niederlanden gibt es großes Interesse. Aber auch Vertreter aus Berlin waren schon zweimal hier, da man sich dort für 2017 mit der Stadtplanungsidee einer besonderen IBA für den Flugplatz Tempelhof auseinandersetzt. Auch Planer aus Hamburg waren zu Besuch und sogar aus Detroit. Und alle übrigens, ohne dass wir sie gezielt eingeladen hätten.

Im Zusammenhang mit der RUHR.2010 wird von der »Metropolregion Ruhr« gesprochen. In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist das sicher plausibel, aber zu einer Metropole gehört schließlich noch etwas mehr. Ist die Idee nicht zum Scheitern verurteilt?

K.-H. Petzinka: Wir haben gesagt: Wir sind eine andere, eine unkonventionelle Metropole. Wenn man hier aus dem Fenster schaut und die fünf Hochhäuser von Essen sieht, dann ist das natürlich nicht metropolitan. Oder die Halden, die Innenstädte, die B1, das ist alles nicht im eigentlichen Sinne metropolitan, aber es ist unsere Metropole. Von mir aus lachen alle darüber, aber wenn man einen Großraum mit 5,5 Mio. Menschen in eine Richtung bewegt, dann ist das ein durchaus urbanes Projekt. Wir bieten Randgruppen Chancen, sich zu entwickeln. Unna Massimo zum Beispiel, ein Quartier mit 350 Wohnungen, die leer stehen, weil es Übergangswohnungen von Aussiedlern waren. Dort können sich nun Kreative ansiedeln. Suchen Sie das mal in einer Großstadt, dort ist es unbezahlbar. Wir glauben, dass die Kreativen ihren Raum hier haben, und wir denken, dass die Wohnungswirtschaft zu neuem Leben erwacht, weil die Mieten niedrig sind, weil wir Wasserflächen haben und noch mehr Seenflächen bekommen werden und einen hohen Freizeitwert bieten. Wir werden dem Rheinland ganz schön Konkurrenz machen. Wir clustern die Wissenschaft, wir clustern Technologie, wir clustern kreative Branchen. Unter dem Begriff der Kreativwirtschaft bündeln wir kreativ arbeitende Industriezweige und Jungdesigner sowie Künstler. Und nicht zuletzt bieten wir attraktive Wohnortgebilde. Attraktiv kann dabei eben auch preiswert und sogar runtergekommen bedeuten, es kommt immer darauf an, für wen.

Derzeitige Schätzungen gehen allerdings davon aus, dass die Region weiter mit massiver Abwanderung und nur wenig Zuwanderung rechnen muss. Hat da ein Projekt wie die RUHR.2010 überhaupt Möglichkeiten gegenzusteuern?

K.-H. Petzinka: Ob wir erfolgreich gegensteuern können, kann ich noch nicht sagen, aber wir glauben eine geeignete Antwort auf die Abwanderungstendenz gefunden zu haben: Dort, wo Kultur und Kreativität sind, werden Sie immer Interessierte finden, die hin wollen. Wie viele kann ich nicht sagen, aber ohne Kultur und ohne Freiräume kommt gar keiner. Der nächste Schritt ist, die Lebensqualität durch Freizeit- und Wohnumfeldverbesserungen zu steigern. Die demographische Entwicklung, ist letztendlich ein gesellschaftliches Phänomen und kein spezifisches des Ruhrgebiets. Das einzige, was uns unterscheidet: Hier finden die Entwicklungen zehn Jahre früher statt. Wir haben uns also schon jetzt gewappnet, während andere noch vor sich hin dösen. Wir setzen auf Immigration und Internationalität, die Universitäten rücken zusammen in eine neue gemeinsame Ruhr-Universität. Wir haben den Sektor Gesundheitswirtschaft und nicht zuletzt die Logistik als einen großen Wachstumsmotor.

K. Aßmann: Eben sind ja schon ein paarmal die Stichworte Raum für kreativ arbeitende und Kretativquartiere gefallen. Das könnte durchaus eine Initialidee der RUHR.2010 sein, die in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten weiterverfolgt und umgesetzt wird. Derzeit sind wir noch auf dem Weg dorthin.

K.-H. Petzinka: Wenn in Rotterdam und Amsterdam die Mieten davongaloppieren, weil diese Städte einen hohen internationalen Zuzug haben, aber keine Expansionsflächen, dann ist das für viele Künstler dort nicht zu bezahlen. Und so gibt es etliche, die an unseren leerstehenden Hallen und Räumen interessiert waren, schließlich ist Rotterdam nur zwei Zug-Stunden entfernt. Und so hat sich auf einmal ein Stück Kreativwirtschaft entwickelt.

Dann konkurrieren Sie also weniger mit Rotterdam und natürlich auch nicht mit New York, wenn es um die kreative Szene geht, aber immer noch mit Berlin. Dort finden Sie ebenfalls unkompliziert günstigen Raum.

K.-H. Petzinka: Ja, natürlich. Die Attraktivität Berlins werden wir nicht toppen können. Aber zum Glück denken die Menschen verschieden und so werden sich die einen für Berlin und die anderen für das Ruhrgebiet entscheiden. Und wenn Leute zu uns kommen, wird das auch bewirken, dass die Region endlich ihre Stärken sieht und das allgemeine Selbstbewußtsein und die Identifikation mit der Gegend wieder zunimmt. Auch dabei wird uns das Kulturhauptstadt-Projekt helfen.

Da Sie von Selbstbewusstsein und Identifikation sprechen: Es gibt durchaus Kritiker, die sagen, dass sich die Planer sowohl bei der IBA als auch bei der RUHR.2010 zwar mit viel Engagement um die baulichen Hinterlassenschaften gekümmert haben, aber nicht genug um die Menschen in der Region. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

K.-H. Petzinka: Nein, sage ich einfach mal. Aber bei 5,5 Mio. Menschen werden Sie irgendwo immer ein paar Millionen finden, die sich gar nicht angesprochen fühlen. Ansonsten haben wir bewusst die Transformationsarchitektur gewählt, weil sie ganz anders Erinnerungsvermögen und Emotionen weckt als zum Beispiel der Museumsentwurf von Chipperfield in Essen, der sich einem Laien viel schwerer erschließt und der dann eher sagt, das interessiert mich nicht. Aber wenn Sie nach dem Dortmunder U, der Küppersmühle und den Halden fragen, dann hören Sie: »Ja, da habe ich gearbeitet. Die Kunst ist zwar bescheuert, aber da gehe ich hin, da verbringe ich Zeit.«

Lassen Sie uns noch auf die Zeit nach 2010 kommen. Im Anschluss an die IBA war es 1999 ja so, dass viele der Projekte stagnierten, weil es keine Folgegesellschaften gab. Wie wird es nach dem 31. Dezember 2010 aussehen und weitergehen?

K.-H. Petzinka: Ich glaube, das ist ganz einfach. Die EU-Mittel sind bedingungsgemäß auf 20 Jahre zweckgebunden. Also kann ich Ihnen sagen, dass wir zumindest 20 Jahre lang die Projekte, die mit EU-Mitteln gefördert sind, betreiben werden. Projekte wie die der Transformationsarchitektur sind ohnehin auf lange Zeit angelegt. Es sind keine Einmalergebnisse, es sind Prozesse.

K. Aßmann: Das Entscheidende denke ich, ist, dass bei den meisten Projekten die RUHR.2010 nicht der Projektträger ist, sondern wir haben immer Partner mit hinzugenommen, die die Projekte nach 2010 weiterführen. Das hat uns bei der Planung ein bisschen aufgehalten, weil wir natürlich die Partner »abholen«, für unsere Ziele gewinnen mussten. Aber wir haben darüber die Gewährleistung, dass die Projekte weitergeführt werden. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch das Besondere der Kulturhauptstadt, dass wir unangepasst sein können und Experimente zulassen. Experimente führen nicht immer zum Erfolg. Von daher finde ich das gar nicht schlimm, wenn manche Dinge nicht nachhaltig bleiben, aber wir haben Anstöße gegeben. Und wenn nur die Hälfte nachhaltig eine Wirkung zeigt, dann wäre das ein riesiger Erfolg. Auf einmal gibt es wirklich noch eine spürbare Urbanität. Vielleicht schafft man es zum Beispiel, die Metropolen-Card, diese öffentliche Nahverkehrskarte, zu behalten. Wenn das passieren würde, wären wir, glaube ich, wirklich ein Stück weiter in Richtung Ruhrmetropole.

Ein schönes Schlusswort. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

[ Das Interview führte Ulrike Kunkel am 3. Juni in der Zeche Nordstern.

Karl-Heinz Petzinka, geboren in Bocholt, ist Architekt und künstlerischer Direktor für die Bereiche Architektur, Stadtentwicklung und Bildende Kunst der RUHR.2010. Er ist Professor an der Kunstakademie Düsseldorf und Vorsitzender der Geschäftsführung des Immobilienkonzerns THS in Gelsenkirchen.

Katja Aßmann, Projektleiterin für die Bereiche Architektur, Stadtentwicklung und Bildende Kunst bei der RUHR.2010, studierte Architektur und Kunstgeschichte. Sie ist Projektleiterin im Europäischen Haus der Stadtkultur und hat den »Baukultur Salon« erfunden und etabliert. Sie arbeitete bereits maßgeblich an der IBA Emscher Park. ]

db, Mo., 2009.07.06



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22. Januar 2009Ulrike Kunkel
db

Trendfarbe oder Unfarbe?

Die Zeiten, in denen neue Produkte ausschließlich in Schwarz oder Weiß auf den Markt kamen und alle Fassaden weiß verputzt wurden, sind vorbei. Doch welche Farbtöne kommen heute und warum zum Einsatz? – Ein Gespräch über Farbtrends und wie sie entstehen.

Die Zeiten, in denen neue Produkte ausschließlich in Schwarz oder Weiß auf den Markt kamen und alle Fassaden weiß verputzt wurden, sind vorbei. Doch welche Farbtöne kommen heute und warum zum Einsatz? – Ein Gespräch über Farbtrends und wie sie entstehen.

Herr Venn, Sie sind Farbtrendforscher. – Kann man sagen, Sie bestimmen, was Trend wird?
Nun, das kann man so ausdrücken und auch wieder nicht. Eigentlich formuliere ich Trends, ich entscheide nicht darüber, ob sie entstehen – im Wesentlichen besteht meine Arbeit in der Entdeckung kommender
Trends.

Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit vor?
Zum einen bin ich Mitglied in sogenannten Trendpanels. Man arbeitet dort mit Personen zusammen, die aus verschiedenen Bereichen kommen – Journalisten, Marketingleuten, Designern und Soziologen. Die Treffen finden meist zweimal im Jahr an verschiedenen Orten statt, wir sitzen zusammen und jeder trägt seine Zukunftsideen vor: Was wird »in« sein? Was wird uns beschäftigen? Sind wir eher auf Harmonie ausgerichtet oder auf Chaos und Dynamik? Welche Ereignisse stehen uns bevor? Was wird der Gesellschaft wichtig sein? Diesem Austausch voran geht ein Scouten. Ich schaue also nicht in eine Glaskugel, sondern beobachte die Vergangenheit und die Gegenwart und gewinne darüber unter anderem Erkenntnisse für die Zukunft. Das Wissen über das Gestern und Heute ist das wichtigste Instrument jeden Scoutens. Aus der präzisen, leidenschaftlichen Beobachtung lernen wir, was sein wird; so kann man Zeitgeistströmungen erfassen.

Also beobachten und analysieren. Spielt Intuition auch eine Rolle?
Intuition ist auch immer dabei, aber darauf alleine kann man sich natürlich nicht verlassen. Das wäre zu unsicher, schließlich sind mit meiner Arbeit immer ökonomische Erfolge oder Misserfolge verknüpft. Es geht für meine Auftraggeber um viel Geld, darum liefere ich am liebsten exakte Punktlandungen.

In welchen Zyklen werden neue Farbtrends formuliert? Alle halbe Jahr. Es hängt mit dem Jahreszeitenwechsel zusammen. Wir haben im Frühjahr andere Ideen, andere Vorlieben als im Winter. Egal, auf welches Produkt bezogen, es ist immer gut, diese unabdingbaren Wechsel als Aktionsbasis zu nutzen. Derjenige Käufer, der im Frühjahr/Sommer kauft, muss mit anderen Farben und Formen konfrontiert werden als jener, der sich im Herbst oder Winter entscheidet. Wir würden nie im Sommer etwas anschaffen, was im Winter besonders angesagt ist. Das heißt natürlich nicht, dass jeder alle halbe Jahr einem neuen Trend huldigt. Man nimmt nicht jeden Trend an, aber beinahe jeder nimmt teil, meist unterbewusst, indem er Veränderungen an sich und an seiner Umgebung vornimmt und dafür eignet sich Farbe durch ihre hohe Signalhaftigkeit besonders gut. Man hat mit Farbe sofort wahrnehmbar etwas verändert: Farbe taugt besonders gut als Innovations-, Bestätigungs- und Identitätsmerkmal.

Beeinflussen politische und gesellschaftliche Ereignisse den anschließenden Farbtrend?
Eher nicht. Sportliche Ereignisse zum Beispiel, selbst von der Größenordnung einer Fußball-WM, taugen überhaupt nicht zur Trendinszenierung. Sie sind zu kurz, zu vergänglich. Aber selbst vergleichbar einschneidende Ereignisse wie der Fall der Mauer reichen nicht aus, um Einfluss auf den nächsten Trend zu nehmen. Doch wissen Sie, welche Zäsur einschneidend genug war? Die Jahrtausendwende. Sie war auch eine Farb-, Form- und Materialzäsur, da sie zeitgleich Menschen auf der ganzen Welt beherrschte und vor allem auch beunruhigte. So wurden die Dinge plötzlich runder, die Farben und Formen der Fünfziger wurden wieder aufgenommen. Viele Produkte hatten diese fast naive, warmtonige oder sanfte, kühlere Pastelligkeit; Töne des Inkarnats waren dabei, eben alles, was Streichelcharakter hatte, war up to date.

Kommt es vor, dass sich die Farbtrendforscher über den nächsten Trend nicht einig sind?
Ja, das kann es schon geben. Es passiert, weil man sich sagt, ich möchte eine Alleinstellung erreichen, also vertrete ich eine andere Meinung. Doch das versucht jeder in der Regel nur einmal und dann nie wieder. Denn, ich sagte es schon einmal, Trends zu formulieren, geschieht in vielen Fällen unter ökonomischen Aspekten und wenn man sich zu oft irrt, dann ist man genauso schnell nicht mehr gefragt wie der falsch prognostizierte Trend.

Haben Sie sich schon einmal geirrt?
Das werde ich ungerne zugeben. Wenn ja, dann habe ich es längst vergessen.

Nicht nur im Möbeldesign, auch bei den Autofarben hat man den Eindruck, das Weiß wieder im Kommen ist. – Ist Weiß die neue / alte Trendfarbe?
Ja, das ist sicher eine zutreffende Beobachtung. Aber es ist ein anderes Weiß als jener Milchton der frühen Siebziger. Weiß bekommt heute Glitter- und Glanzzusätze, dadurch wird es viel intensiver, bekommt Tiefe und Differenzierung, Glamour und eine Art opalisierender Dreidimensionalität. Es kommen auch Metalltonwerte wieder, die farbig getönt sind. Zum Beispiel Bronze, Goldtöne, Platin, Edelstahlnuancen – häufig mit Weiß oder hellen Grauwerten vermischt – egal ob mattiert oder glänzend.

Woher kommt diese Tendenz?
Aus latenten Überdrusshaltungen. Ich denke, man kann das Schwarz als Autofarbe nicht mehr gut ertragen. Es diente jahrelang der Statusorientierung eines Autos; doch das Auto taugt als Statussymbol immer weniger, daher gibt es, Gott sei Dank, mehr dezente und rezente Spielräume bei der Farbwahl.

Lassen Sie uns vom Produktdesign auf die Verwendung von Farbe in der Architektur kommen. Bestehen grundsätzliche Unterschiede zwischen der Farbwahl für mobile beziehungsweise immobile Dinge?
Ja, die gibt es. Das liegt daran, dass jedes Produkt andere Trendwerte hat und eine andere Trenddauer. – Bei Fassaden kommen zum Beispiel die eher traditionellen Töne zurück. Wobei man sagen muss, dass Fassadenfarbigkeit insgesamt wenig trendbeeinflusst ist. Architekten mögen keine Trends. Farbe ist noch immer ein eher negiertes Merkmal von Architektur; das ist einerseits vielleicht gut, andererseits auch wieder schade. Aber die Farbe umweht der Ruf des Unberechenbaren, und sie entzieht sich zumeist auch tatsächlich einer kognitiven Ordnung – Farbe ist Illusion. Architekten mögen vor allem Materialien und setzen diese dann ein, um Farbe zu transportieren. Materialien sind in gewisser Weise konkreter und zumeist weniger emotional. Dabei haben Farben, Putze und Steine durchaus etwas gemeinsam: Die richtige Verarbeitung bei Putzen und Farben vorausgesetzt, altern auch sie in Würde; sie können mit der Zeit, wenn sie Patina ansetzen, interessanter und würdevoller werden. Bei Renovierungen werden die alten Gebäude dann jedoch oft zu kräftig herausgeputzt. Nehmen wir zum Beispiel die Fachwerkhäuser in den Altstadtkernen vieler kleiner Städte. Sie sind heute alle viel zu bleich, zu schön, zu edel und werden auf diese Weise ihrer Lebendigkeit und Authentizität beraubt. Sie werden durch Farbe »aufgehübscht«, und das sollte man mit Farbe nicht machen.

Lassen sich geschlechterspezifische Präferenzen für Farben ausmachen?
Ja, natürlich. Schon, weil acht bis neun Prozent der Männer farbenblind sind. Bei den Frauen sind es nur 0,2 bis 0,4 Prozent. Wenn also jemand geeignet für das Sehen und den Umgang mit Farbe ist, dann sind es Frauen. Frauen sind im Umgang mit Farben trainingserfahrener, da sie meist schon in jungen Jahren einen persönlicheren und aufgeschlosseneren Zugang zu Farben erlernten.

Gibt es nicht durchsetzbare Farben? »Unfarben«, die nie Trend werden könnten?
Die gibt es. Es sind allerdings vor allem Farb-Kombinationen: Blau mit kaltem Rosé beispielsweise. Aber auch einige Einzelfarben. So haben wir berechtigte Vorbehalte gegen Magenta, zumal, wenn es großflächig und häufig eingesetzt wird. Da kann man schon von einer Unfarbe sprechen. Zudem eignet sie sich nicht für die Bilderwelt des Mediums Fernsehen, Magenta blutet an den Rändern optisch aus. Ich würde – zumindest für die nächsten Jahre – auch die Finger von Braun lassen, zumal für Stadtbilder und Gebäude. Und natürlich verbieten sich viele zu dunkle Töne aus physikalischen Gründen. Schwarz und auch kräftige Töne, wie Rot und Lila und Reinblau sind aus assoziativen und kulturbedingten Signalwerten häufig riskant.

Und als Gegenstück zu »Unfarben«, gibt es ausgesprochene »Sympathieträger« unter den Farben?
Grün ist es jedenfalls nicht! Die synästhetisch-assoziative Bewertung von Grün ist nicht sympathisch. Als sympathisch empfinden wir freundliche Töne, die eine sanfte Pastelligkeit besitzen: von Lichtorange bis Gelb und Rosé, ein wenig Himmelblau und Viola und vielleicht mal ein zartes Meergrün, das sind die wahren Nuancen der Sympathie: rein, ungetrübt, lichtvoll und kindlich-lieblich.

Das Interview führte Ulrike Kunkel am 14. Oktober 2008 in Stuttgart.

[ Axel Venn, Professor für Farbgestaltung und Trendscouting an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim, veröffentlicht auf www.Colortrend.de Hintergründe über aktuelle Trends, Farbgestaltung und Farbwahrnehmung. Er beschäftigt sich mit Farbmarketing und Farbstrategien; einer seiner Forschungsschwerpunkte sind semantisch-semiotische Farb-Aspekte. ]

db, Do., 2009.01.22



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01. Dezember 2008Ulrike Kunkel
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In der Marsch

In der Nähe des nordfriesischen Ortes Neukirchen, zehn Kilometer von der Küste entfernt, schuf Emil Nolde in den Jahren 1927–37 einen Ort, an dem Kunst, Natur und Architektur eine außergewöhnliche Verbindung eingehen und der noch heute eng mit seinem Leben und Werk verbunden ist. 2007 ließ die 1957 gegründete Nolde-Stiftung drei Neubauten errichten, die einerseits sensibel auf den Bestand eingehen und andererseits große Eigenständigkeit beweisen, wodurch die besondere Atmosphäre des Ortes weiter gestärkt wird.

In der Nähe des nordfriesischen Ortes Neukirchen, zehn Kilometer von der Küste entfernt, schuf Emil Nolde in den Jahren 1927–37 einen Ort, an dem Kunst, Natur und Architektur eine außergewöhnliche Verbindung eingehen und der noch heute eng mit seinem Leben und Werk verbunden ist. 2007 ließ die 1957 gegründete Nolde-Stiftung drei Neubauten errichten, die einerseits sensibel auf den Bestand eingehen und andererseits große Eigenständigkeit beweisen, wodurch die besondere Atmosphäre des Ortes weiter gestärkt wird.

Nachdem man das niedrige, weiße Gartentor passiert hat, führt der schnurgerade Kiesweg entlang eines schilfgesäumten Sielgrabens auf das Ensemble der Nolde-Stiftung zu: das Museum – untergebracht in Noldes Wohn- und Atelierhaus – der Bauerngarten mit Teich, das Mausoleum – in dem Emil Nolde und seine Frau Ada beigesetzt sind – sowie die drei Neubauten »Forum«, »Kontor« und »Botanikum«. Von Bäumen gesäumt, sind die Gebäude im Näherkommen kaum zu sehen bis auf der rechten Seite unvermittelt ein großer Glasbau auftaucht – das Forum, der neue Eingangsbau für die Gesamtanlage, die sich seitlich und dahinter erstreckt. Der Weg, der auf Höhe des Forums von einer langen Bank begleitet wird, führt am südlichen Rand des Geländes weiter und geht schließlich in einen Wiesenweg über.

Der besondere Ort

Als Emil Nolde 1926 die unbebaute Warft in der Landschaft des »Gotteskoog« einschließlich des nahe gelegenen Hofs Seebüll und der dazugehörigen Ländereien erwarb, waren weite Teile des Koogs noch Wasserflächen. In den folgenden Jahrzehnten entstand die heutige, von Gräben und niedrigen Deichen durchzogene, vorwiegend als Weiden genutzte Landschaft mit weit auseinander liegenden Höfen. Unter Mitwirkung des befreundeten Architekten Georg Rieve plante Nolde nach seinen eigenen Vorstellungen zwischen 1927 und 1928 ein Atelier- und Wohnhaus, das er 1934–37 durch einen Bildersaal erweitern ließ. Der aus klaren, geometrischen Formen zusammengesetzte Bau aus Bockhorner Klinkern erhält sein eigenwilliges Aussehen vor allem durch die Anordnung der Fenster sowie durch zwei dreieckige Erkerbauten, deren Dächer sich an der Form damaliger Heuhaufen orientieren. Am Fuße der Warft legte Nolde einen Bauerngarten an, in dem Dahlien und Astern noch bis lange in den Herbst hinein in zahlreichen Farben blühen. Seit den fünfziger Jahren waren auf dem Gelände fünf im Vergleich zum Nolde-Haus eher grob anmutende Bauten errichtet worden, die den zunehmenden Platzbedarf der nach Noldes Tod eingerichteten Stiftung deckten. Diese, gestalterisch unbefriedigenden und technisch unzulänglichen Gebäude wurden im Zuge der 2004 begonnenen Neuordnung des Gesamtareals abgerissen und durch drei architektonisch anspruchsvolle Neubauten ersetzt. Wesentlicher Leitgedanke des von der Stiftung beauftragten Architekten Walter Rolfes war es, das Nolde-Haus mit seinem Garten und dem hinterlassenen malerischen Werk des Künstlers als Einheit wiederherzustellen und diesen authentischen Ort mit seiner großen kulturellen Ausstrahlung zusätzlich zu stärken. Durch die Komposition der Gebäude, ihre klare Formensprache sowie die Materialwahl wird dieses Anliegen absolut überzeugend umgesetzt. Die großen Neubauten – Forum und Kontor – wahren respektvoll Abstand zum erhöht stehenden Altbau. Mit ihm sind sie über Sicht- und Wegebeziehungen verbunden und bilden räumlich ein Dreieck aus. Um die jeweils erheblichen Volumen der Neubauten möglichst dezent in der Landschaft zu platzieren, wurde der mittlere Gebäudeteil aus der Dachfläche »herausgeschoben«, so dass die Baukörper wesentlich kleiner erscheinen als sie sind.

Kontor und Forum

Das Erscheinungsbild des Forums und des Kontors spiegelt ihre jeweiligen Funktionen klar wider: Das Kontor, als Sitz der Stiftung, mit Depot der Nolde-Werke, Bibliothek, Büros und Direktorenwohnung, ist nicht öffentlich zugänglich und hat bedingt durch den großen Wert der Sammlung einen extrem hohen Sicherheitsanspruch, aus dem seine kompakte, eher geschlossene Architektur resultiert. Ein Gebäude wie ein Tresor oder ein Schatzkästchen, dessen Längsseite zum Forum hin nur durch wenige Fenster im Bereich der Büros und der Wohnung gegliedert wird, während sie im Sammlungsbereich fensterlos ist. Im Gegensatz zum übrigen Gebäude sind die Wände in diesem Teil auch nicht aus massivem Mauerwerk, sondern aus Beton. Das Kontor ist an den nordwestlichen Rand des Areals gesetzt und somit von den öffentlich zugänglichen Gebäuden und dem Garten leicht abgerückt. Seine besondere Wirkung entsteht durch den außergewöhnlichen, sehr hart gebrannten, dunklen, fast schwarzen, metallisch glänzenden Backstein, der sich am Bockhorner Klinker des Altbaus orientiert, diesen aber nicht imitiert. Durch ihn wird nicht nur der monolithische Charakter des Gebäudes verstärkt, er verleiht ihm auch sein edles Aussehen, ganz seinem Inhalt entsprechend. Das Ungewöhnliche an diesem, eigens für das Bauvorhaben erdachten und gefertigten Mauerstein ist seine gekippte, leicht spiegelnde Oberfläche, in der das Spiel der Wolken und das in Küstennähe ständig wechselnde Licht sowie die zahlreichen Farben der Natur reflektiert werden. Je nach Wetter, Perspektive des Betrachters, Tages- und Jahreszeit befindet sich die Fassade so in ständiger Veränderung. Unterbrochen und strukturiert wird das wechselhafte Fassadenbild durch einzelne, glatte Läuferschichten, die die oberen und unteren Abschlüsse der Fenster aufnehmen.

Das Forum – als Empfangsgebäude Ort der Kommunikation und Information – mit Kassenbereich, Shop, Restaurant, biografischer Ausstellung, Malschule und Vortragssaal gibt sich dagegen offen und transparent. Die Stahl-Glas-Konstruktion der Außenhaut umschließt eine eingestellte »Skulptur«, die im ersten Geschoss unter anderem die Ausstellung zu Noldes Leben aufnimmt, während im Erdgeschoss Serviceeinrichtungen wie Sanitäranlagen, Schließfächer und die Restaurantküche integriert sind. Die gläserne Gebäudehülle bezieht die Landschaft in die Räume ein; Innen- und Außenraum durchdringen einander, die Übergänge sind fließend. Das Innere ist so gestaltet, dass sich neben den Ausblicken in die Landschaft auch zwischen den Raumeinheiten und den Geschossen vielfältige Blickbeziehungen ergeben.

Die Verschmelzung von Innen und Außen, aber auch die enge, wechselseitige Beziehung der Gebäude zueinander, wird über den Einsatz der Materialien noch unterstützt. So findet sich beispielsweise der Stein des Kontors auch an der dem Kontor zugewandten Seite des Forums und wird außerdem bei beiden Gebäuden in den Innenraum hineingezogen.

Ein Projekt mit Sonderwünschen

Nicht nur der Mauerstein wurde speziell für das Projekt gefertigt, auch die meisten Einbauten – unter anderem flache, lehnenlose Sitzbänke sowie Tresen- und Thekeneinbauten im Shop und Restaurant – wurden von den Architekten mit entworfen und von Handwerksfirmen der Umgebung umgesetzt. Ein Anspruch, der die Projektkosten nicht gerade niedrig hielt, der sich aber allemal gelohnt hat und wesentlich zum stimmigen Gesamteindruck beiträgt. Doch die relativ hohen Gesamtkosten sind nicht ausschließlich gestalterisch, sondern auch konstruktiv begründet. Da die Gebäude in der Marsch stehen, war eine vergleichsweise aufwendige Pfahlgründung erforderlich. Vorteil dabei: 75 der insgesamt 220, 18 Meter langen Pfähle liefern als sogenannte Energiepfähle die Erdwärme für den Betrieb der Fußbodenheizung. Nach Neuordnung des Geländes der Nolde-Stiftung, die neben den Abriss- und Baumaßnahmen auch die Wiederherstellung der authentischen Bepflanzung des Gartens beeinhaltete, ist in Seebüll ein kraftvoll-poetischer Ort entstanden, dessen Sinneszusammenklang sich nur schwer fassen lässt, wenn man ihn nicht selber erlebt hat. Die klare Sprache der beiden so unterschiedlichen und doch verwandten Neubauten verbindet sie über zahlreiche, subtile Verweise mit der Formidee des Nolde-Hauses und zeugt von einem tiefen Verständnis für die Landschaft und das künstlerische Werk Emil Noldes.

db, Mo., 2008.12.01



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01. Oktober 2008Ulrike Kunkel
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Schularchitektur und Lernkultur

»Der dritte Pädagoge ist der Raum«, heißt es in Schweden. Ein Gedanke, der der Schulbau-Architektur über Jahrhunderte fremd war, dem inzwischen aber erfreulicherweise immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein Rückblick und Ausblick auf den Schulbau und die begleitenden Diskussionen in Deutschland.

»Der dritte Pädagoge ist der Raum«, heißt es in Schweden. Ein Gedanke, der der Schulbau-Architektur über Jahrhunderte fremd war, dem inzwischen aber erfreulicherweise immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ein Rückblick und Ausblick auf den Schulbau und die begleitenden Diskussionen in Deutschland.

Vom Schulhaus als eigenständigem Bautyp lässt sich eigentlich erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen, zuvor erschöpfte sich der »Schulbau« im Wesentlichen im zur Verfügung stellen von Raum. Der architektonische Ausdruck der frühen Schulen (vor allem der Gemeindeschulen) ist einfach und streng, der Vergleich mit Kasernenbauten liegt nahe. Zum erzieherischen Auftrag durchaus passend, schließlich sollten Disziplin, Ordnung, Gehorsam und Sauberkeit vermittelt werden. Klassengrößen von bis zu siebzig Schülern ließen allerdings auch kaum Spielraum bei der Wahl der Unterrichtsmethoden. Der architektonischen Gestaltung von Mittelschulen, Realschulen und Gymnasien widmete man damals hingegen schon etwas mehr Aufmerksamkeit; wenngleich vor allem auf das äußere Erscheinungsbild bezogen, so wird das höhere gesellschaftliche Ansehen dieser Schulen auch im Raumprogramm deutlich: zu den Klassenzimmern kommen Fachräume und eine Bibliothek hinzu.

Der Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Revolution von 1918 ermöglichten, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Deutschen ein Schulsystem in der Verfassung festgeschrieben wurde, das weder auf der Grundlage gesellschaftlicher Klassen noch den finanziellen Möglichkeiten der Eltern basierte. Die wohl größten Neuerungen waren die Einführung der Grundschule für alle und die achtjährige Schulpflicht. Die allgemeine Aufbruchsstimmung der Zwanzigerjahre wirkte sich auch auf das Schulwesen aus: eine verstärkte Diskussion über Lehr- und Lernmethoden sowie Überlegungen zum Schulbau setzten ein und Schulexperimente wurden ins Leben gerufen. Unmittelbare Einflüsse auf die Schulbau-Architektur gab es allerdings selten, nur wenige Beispiele – wie die Schule am Bornheimer Hang (1927–30) in Frankfurt am Main von Ernst May – zeigen Merkmale des neuen Bauens. Das Gebäude ist nicht Respekt einflößend in die Höhe gestapelt, sondern offen und flächig mit Bezug zum umgebenden Freiraum angelegt.

Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft kamen die Reformen im Schulwesen wieder zum Erliegen; oberstes Ziel war schließlich die Unterordnung unter die Staatsdoktrin und nicht die individuelle Förderung des Einzelnen. Einer Schul- und Schulbaureform bedurfte es also nicht.

Im Zuge des Wiederaufbaus nach 1945 war der Bedarf an neuen, wohnortnahen Schulen groß und wie in kaum einer anderen Bauaufgabe spiegelte sich im Schulbau die Hoffnung auf einen Neubeginn wider. Bereits Anfang der fünfziger Jahre entstanden unterschiedliche Gebäudetypen: Die Pavillonschule, meist aus industriell vorfabrizierten Materialien, folgte dem Gedanken des kleinmaßstäblichen demokratischen Schulhauses, die großmaßstäblicheren Rasterbauten aus Stahlbeton, inspiriert durch Mies van der Rohe, dem Gedanken der Ökonomie.

Vorreiter der gebauten Pädagogik

Als Pionier einer pädagogisch durchdachten Schulbau-Architektur kann Hans Scharoun bezeichnet werden. Bei seinem Entwurf für eine Volksschule in Darmstadt (1951) und dem realisierten Gymnasium in Lünen (1956–62) nimmt die Grundrissgestaltung erstmals auf die verschiedenen Entwicklungsstufen der Schüler Rücksicht. So haben die Räume der Jüngeren einen beschützenden Charakter, während die der Älteren ihrer zunehmenden Selbstständigkeit entgegenkommen.

Mitte der sechziger Jahre wandelten sich die Ziele im Schulbau abermals; Begriffe wie Chancengleichheit und Bildungskatastrophe mischten sich in die Diskussion. Von der Leistungsschule wollte man endgültig weg, die neuen Schulen sollten Offenheit demonstrieren und soziale Unterschiede aufheben. Ende des Jahrzehnts entsteht ein neuer Schultyp: die Gesamtschule. Sie war nicht nur im Hinblick auf ihre absolute Größe neuartig, sondern vor allem aufgrund der hohen räumlichen Nutzungsvarianz. Um diese zu erreichen, bestimmte, wie schon in den Fünfzigern, das Denken in Systemen und Rastern die Architektur. Doch die Umsetzung der wohlmeinenden Konzepte misslang allzu oft. Vollklimatisierte, fensterlose Betonburgen gaben den Schülern keinerlei Möglichkeit der Identifikation mit ihrer Schule, und Untersuchungen zeigten, dass sie »Freundlichkeit« und »Geborgenheit« vermissten und die Gebäude daher ablehnten.

Mitte der Achtziger ließ der Rückgang der Schülerzahlen den Schulbau drastisch zurückgehen, und das Gros der wenigen Neubauten vermochte nicht wirklich zu überzeugen: Monotone Fassaden und vermeintlich kindgerechte, in Wirklichkeit eher willkürlich bunte Farbgebungen bestimmten das Bild.

Lernlandschaften

Gut zwanzig Jahre später und unter dem Eindruck der PISA-Studien hat die Diskussion um erfolgreiche Lehr- und Lernmethoden neue Relevanz bekommen. Um den passenden architektonischen Rahmen, den längst erwiesenen Zusammenhang zwischen dem zur Verfügung gestellten Raum und dem Lernerfolg der Schüler, geht es leider immer noch zu wenig. Architekten werden zwar nicht den guten Unterricht in die Schulen bringen, aber sie können ihn erleichtern und unterstützen oder wesentlich erschweren. Doch wie muss die neue Schule im Sinne eines neuen Lernens aussehen? Eine Forderung ist die nach möglichst viel Fläche. Im Weiteren muss diese Fläche flexibel zu gliedern und zu bespielen sein, damit konzentrierte Einzelarbeit ebenso wie Arbeiten in Klein- und Großgruppen oder das Feiern von Festen möglich sind.

In »Lernlandschaften« können Aktivitätsbereiche verändert werden, so dass es je nach Bedarf zu Verschiebungen und Überlagerungen von Funktionsbereichen kommt. – In diesen Punkten waren die Gesamtschulen in den siebziger Jahren bereits auf dem richtigen Weg. »Der dritte Pädagoge ist der Raum.« Das gilt nicht nur bezogen auf rein ästhetische Qualitäten. Die Schüler müssen sich mit ihrem Schulhaus identifizieren können; je nach Alter sollen sie Geborgenheit, Anregung oder Abwechslung erfahren. Letztendlich muss die Gestaltung der Räume und des gesamten Gebäudes die Schüler in ihrem Lern- und Entwicklungsprozess unterstützen, ihnen Orientierung geben sowie Freiheiten lassen und ihnen helfen, ihr Leben zu strukturieren. Gelingen kann das in erster Linie natürlich über die städtebauliche Lage des Gebäudes oder der Gebäude zueinander sowie die Grundrissgestaltung, unterstützt durch den Einsatz von Materialien, Farbe und Licht. Auf den nächsten Seiten stellen wir Schulen vor, in denen nicht nur gelernt wird, sondern die bereits Orte sind, von denen Kinder lernen können.

db, Mi., 2008.10.01



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db 2008|10 Lernen

01. Juni 2008Ulrike Kunkel
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Erweiterung Weingut Gantenbein in Fläsch (CH)

Jurybegründung: Bedeutend ist die Fassade, die die Vorzüge der industriellen Produktion nutzt und in die Zukunft weist: Mit einem »alten« Baustoff beziehungsweise einem traditionellen, genormten Ziegelbaustein wurde innovativ umgegangen, so dass etwas Neuartiges entstand.

Jurybegründung: Bedeutend ist die Fassade, die die Vorzüge der industriellen Produktion nutzt und in die Zukunft weist: Mit einem »alten« Baustoff beziehungsweise einem traditionellen, genormten Ziegelbaustein wurde innovativ umgegangen, so dass etwas Neuartiges entstand.

Etwas außerhalb des kleinen Graubündner Ortes Fläsch liegt, umgeben von leicht geneigten Rebhängen, das Weingut Gantenbein. Zwei unauffällige Bestandsbauten und ein bemerkenswerter Neubau mit ornamentaler Klinkersteinfassade, die, je nach Entfernung, Blickwinkel und Lichteinfall ihre plastische Wirkung mehr oder weniger stark entfaltet. Der Erweiterungsbau war erforderlich geworden, weil das Winzerehepaar Martha und Daniel Gantenbein zusätzlich zur bestehenden Kellerei eine Gärhalle für zwölf Kelterbehälter einrichten wollte. Die Architekten Valentin Bearth, Andrea Deplazes und Daniel Ladner entwarfen einen zweigeschossigen Bau, der im Erdgeschoss Platz für die neuen Kelterbehälter bietet. Im Obergeschoss entstand ein heller, zu zwei Seiten verglaster Raum für Degustationen, dessen Mobiliar im Wesentlichen aus einem langen Massivholztisch und einer Küchenzeile aus Ortbeton, in die setzkastenartig Geräte und Schränke platziert wurden, besteht. Durch die lichten Vorhänge mit Rebendessin und die stoffbespannte Decke entsteht eher der Eindruck, man säße in einem Zelt als in einem Gebäude. Auf den umlaufenden Balkon kann man zu allen Seiten hinaustreten. Von hieraus führt eine im Oval geschwungene Treppe, die von einem stählernen Geländer gefasst wird, hinab in den von acht Pilzstützen getragenen Keller, der vorwiegend der Flaschenausstattung dient. Das intensive Blau des Treppengeländers nimmt die Farbe der Etiketten und Kapseln der Blauburgunderflaschen des Weinguts auf.

Ein Roboter mauert

Die Entscheidung, die Erweiterung als Betonskelettbau mit Klinkersteinausfachung zu realisieren, fiel schon bald nach Entwurfsbeginn. Für die Art der Ausfachung hatten die Architekten allerdings noch eine besondere Idee: Sie entwarfen am Computer ein Bild, das aussieht, als hätten riesige Trauben ihre Abdrücke auf der Außenhaut des Gebäudes hinterlassen. Doch der Versuch, die Mauern nach diesem Bild per Hand zu errichten, misslang, so dass eine andere Möglichkeit der Umsetzung gefunden werden musste. Genau zu der Zeit entdeckte Andrea Deplazes, der auch eine Professur an der ETH Zürich hat, am benachbarten Lehrstuhl für Digitale Fabrikation, erste Wandelemente, die ein gerade in der Erprobung befindlicher Roboter nach einem Computerbild gemauert hatte. Nach Vorgesprächen mit den jungen Assistenzprofessoren des Lehrstuhls Fabio Gramazio und Matthias Kohler konnten auch die Bauherren für das Experiment gewonnen werden: Der erste Praxiseinsatz des Mauerroboters sollte beginnen. Das Fassadenbild – 300 Quadratmeter Fassade aufgeteilt auf 72 Wandelemente – aus dem Gramazio und Kohler das Steuerungsprogramm für den Roboter entwickelten, entwarfen die Architekten gemeinsam. Das »Prinzip programmierte Mauer«, wie sie es nennen, ist einfacher als man zuerst annimmt, das Programm beträgt pro Wandelement lediglich eine halbe A4-Seite. Doch so flexibel, belastbar und präzise der Roboter auch arbeitet, er kann nicht mit Kelle und Mörtel umgehen. Die Steine sollten also mit einem Spezialklebstoff aufeinandergeleimt werden. Auch das ein Experiment – doch bereits bei den ersten Versuchen stellte sich heraus, dass die geleimten Wände sogar einen entscheidenden Vorteil haben: Sie sind im Gegensatz zu gemörtelten auch auf Biegung belastbar. Und so setzte der Roboter 28000 Steine aufeinander, vor- und zurückspringend, genau so, wie das Programm es ihm vorgab, zwei Monate lang, zehn Stunden am Tag, bis alle Elemente fertig waren und mit dem Lastwagen zur Baustelle gebracht werden konnten. Dort wurden sie in das Betonskelett eingesetzt; im Anschluss wurden die Innenwände für die im Erdgeschoss liegende Gärhalle aus Polycarbonatstegplatten in Metallprofilen errichtet. Durch die unterschiedlich großen, lichtdurchlässigen Fugen der Außenhaut und die ebenfalls lichtdurchlässige Innenhaut entsteht auch in der Gärhalle ein abwechslungsreiches Spiel aus Licht und Schatten. Der Erweiterungsbau des Weinguts Gantenbein ist ein moderner Zweckbau, in dem funktionale Aspekte und Aspekte der Gestaltung überzeugend miteinander verschmelzen.

db, So., 2008.06.01



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05. Dezember 2006Ulrike Kunkel
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Bahnhöfe, Baukästen, Buchstaben

Nach 14 Jahren Dornröschenschlaf verkehrt die 1906
in Betrieb genommene »Vinschgerbahn« seit einem Jahr wieder zwischen der Kurstadt Meran (300 m) und dem Bergort Mals (1050 m). Im Zuge der Revitalisierung dieser wichtigen Verkehrsader wurden nicht nur die alten Bahnhöfe denkmalgerecht saniert, sondern es sind auch einige bemerkenswerte neue Stationen sowie ein einheitliches Haltestellensystem von hohem gestalterischen und funktionalen Wert hinzugekommen.

Nach 14 Jahren Dornröschenschlaf verkehrt die 1906
in Betrieb genommene »Vinschgerbahn« seit einem Jahr wieder zwischen der Kurstadt Meran (300 m) und dem Bergort Mals (1050 m). Im Zuge der Revitalisierung dieser wichtigen Verkehrsader wurden nicht nur die alten Bahnhöfe denkmalgerecht saniert, sondern es sind auch einige bemerkenswerte neue Stationen sowie ein einheitliches Haltestellensystem von hohem gestalterischen und funktionalen Wert hinzugekommen.

Während vieler Jahrhunderte war Tirol zwar Durchgangsland für die Verbindungen von Norden in den Süden. Die systematische, wenn auch immer noch lückenhafte, Erschließung abgelegenerer Täler begann aber erst mit Eröffnung der Brennerbahn 1867 und der Bahn durch das Pustertal 1871. Für den schwer zugänglichen Alpenraum mit seiner schwachen Agrarstruktur und seinen ungünstigen Bedingungen für die Ansiedelung von Industrie, bot der Fremdenverkehr schon früh eine wichtige Entwicklungschance. Zwingende Voraussetzung hierfür war allerdings ein gutes Schienennetz mit einer zuverlässigen Anbindung an die Nachbarländer. Erste Bemühungen von Deutsch- und Welsch-Südtirol, die Regierung in Wien für ein Bahnprojekt durch den Vinschgau über den Reschenpass oder nach Chur zu gewinnen, scheiterten 1894. Daher ergriffen um 1900 die Städte Bozen und Meran mit kommunalen Mitteln die Initiative; nun beteiligte sich auch der Tiroler Landtag und die 59,8 Kilometer lange Strecke mit 14 Bahnhöfen von Meran nach Mals konnte nach nur zwei jähriger Bauzeit am 1. Juli 1906 feierlich eingeweiht werden. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gerieten die Planungen für eine Verlängerung der Strecke über den Reschenpass ins Stocken – bis heute sind sie nur Fragment geblieben. Für die Landwirtschaft und den Transport des Laaser Marmors leistete die Bahn, die auf ihrer Fahrt immerhin 689,30 Höhenmeter überwindet, gute Dienste. Und so verbesserten sich die Lebensbedingungen der Be¬völkerung und veränderte sich das Landschaftsbild ganz erheblich: Auf den ehemaligen Auenlandschaften wurde der Apfelanbau intensiviert – heute prägen über 13 Mio Apfel- und Birnbäume das Bild des Vinschgaus. Doch auch der Tourismus gewann an Bedeutung; es entstanden Bahnhöfe im Landhausstil, die durch historisierende Fassaden mit Eckrisaliten und Fachwerkgliederung der Giebelfelder die Reisenden in Urlaubsstimmung ver¬setzen sollten. Um eine kurze Bauzeit zu gewährleisten, kamen, je nach Größe der Ortschaft, nur zwei verschiedene Gebäudetypen zum Einsatz, die zum Teil aus vorgefertigten Elementen bestanden. Auch die Farbfassung folgte einem klaren Konzept: hellgraue Fassadenflächen mit gelber Glie¬derung, von denen die Holzbauteile durch einen roten und grünen Ölanstrich abgesetzt wurden. In den Zwanziger Jahren wurden die Bahnhöfe der Vischgaubahn vom italienischen Staat übernommen und farblich an die der Staatsbahn angepasst. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Verkehrsaufkommen deutlich geringer, und schnell verlagerten sich die verkehrspolitischen Interessen von der Schiene auf die Straße bis schließlich, nach Jahrzehnten der systematischen Schwächung, die italienische Staatsbahn FS am 2. Juni 1991 den Betrieb einstellte. Der nachfolgende Verkehrskollaps im Vinschgautal verdeutlichte jedoch sehr schnell, dass es sich um eine Fehlentscheidung gehandelt hatte und bald schon wurden von der Provinz Bozen Pläne für die Revitalisierung der Strecke betrieben. Am 5. Mai 2005 konnte die Vinschgaubahn wieder in Betrieb genommen werden.

Individueller Baukasten

Mit der Neugestaltung fast aller Haltestellen, der denkmalgerechten Sanierung einiger historischer Bahnhofsgebäude sowie der Erweiterung des Endbahnhofs Mals wurde der Architekt Walter Dietl aus Schlanders beauftragt. In einer extrem kurzen Planungs- und Realisierungszeit zwischen August 2004 und Mai 2005 konzipierte er ein modulares Fertigbausystem, bestehend aus einer Tragkonstruktion aus verzinktem Stahl, in die eine Wandausfachung aus unbehandelten Lärchenbrettern eingelegt wird; wahlweise können Sitzbänke, Anschlagtafeln und Papierkörbe eingehängt werden. Die Dachentwässerung erfolgt über in die Tragkonstruktion integrierte Rohre. Dieses Modulsystem verleiht den Haltestellen einerseits eine einheitliche Gestalt, andererseits ermöglicht es, auf die unterschiedlichen Gegebenheiten der einzelnen Stationen flexibel zu reagieren: Letztendlich sieht also keine Haltestelle wie die andere aus.

Zwischenstopp in Plaus

Nach dem ersten Drittel der Fahrt fällt ein besonders gestalteter Bahnhof ins Auge – Plaus. Ein altes Bahnhofsgebäude oder die soeben beschriebene Modul-Haltestelle sucht man hier vergebens, stattdessen wird in zwei Meter hohen Lettern aus Stahl der Ortsname PLAUS gebildet. Da der Bahnhof dieser Gemeinde nicht erhaltenswert war, wurde er bis auf die Grundmauern abgebrochen; auf diesen errichteten die Architekten Katrin Gruber und Richard Veneri (Architekturbüro D3) einen Neubau, der sowohl Haltestelle für die Vinschgaubahn ist, als auch weiteren Nutzungen dient: Im zweigeschossigen, in den Bahndamm gesetzten Gebäude, befinden sich unten Vereinsräume für die örtlichen Jäger und Fischer und oben ein Jugendzentrum, das aus Sicherheitsüberlegungen einen separaten Zugang erhielt, also nicht vom Bahnsteig aus erschlossen wird. Die Fassaden des Zentrums sind mit weißen und roten kunststoffbeschichteten Platten beplankt, um es von dem mit Stahl und Holz verkleideten Haltestellenbereich deutlich abzusetzen und so die unterschiedlichen Funktionsbereiche auch nach außen sichtbar zu machen. Wie zwei große »C«s stehen beide Gebäudeteile aneinander, so dass die unterschiedlichen Funktionen und Materialien gegeneinander gestellt werden. Die großen, skulptural wirkenden Buchstaben des Bahnhofsteils haben keinerlei statische Funktion, sie werden als separate Elemente behandelt und lediglich unter das Dach der Haltestelle gestellt. Eigentlich sind sie hohl, damit sie allerdings nicht so klingen, wurden sie mit Splitt verfüllt. Mit dem Ortsnamen derart spielerisch umzugehen war nur möglich, weil er sowohl im Italienischen als auch im Deutschen gleich lautet, eine Übersetzung also nicht erforderlich war. Geht man von der Station weiter in den Ort, trifft man auf einen kleinen Infostand, der in Form und Material an den Bahnhof erinnert: der Referenzbau für die Station, geplant vom selben Architekturbüro.

Endstation Mals

Die Fahrt mit der Vinschgaubahn endet in Mals. Ein zweigeschossiges Bahnhofsgebäude, eine Lagerhalle, ein Wasserturm und eine Remise bilden hier ein historisches Ensemble. Die Remise – ein verputzter Bau, rhythmisiert durch flache, farblich abgesetzte Risalite und sieben Fensterachsen – wurde wiederum von Walter Dietl durch einen silbrig glänzenden Ziehharmonika-ähnlichen Bau um weitere sieben Achsen verlängert und beherbergt nun die Serviceeinrichtungen für die dieselbetriebenen Züge. Die außenliegende Tragkonstruktion aus verzinkten Stahlprofilen nimmt den Rhythmus der alten Remise auf, zwei schmale horizontale Fensterbänder gliedern die Fassade des Anbaus. Die Einfahrt für die Züge wird von zwei rot-orangefarbenen Toren markiert. Über den Baukörper hinaus ragt eine Metallschiene an der Beleuchtungskörper hängen. Auf dem von ihnen beleuchten Platz steht, in Verlängerung der Remise, ein auskragender Betonwinkel, der die Farbe der Tore aufnimmt; unter ihm befinden sich Öllager und Zapfsäule. Bis nach Mals sind 75 Minuten vergangen, in denen man zwischen Apfelbaumplantagen entlang der Etsch den Ausblick auf das Bergpanorama und reizvolle, zeitgemäße Bahnarchitekturen genießen konnte.

db, Di., 2006.12.05



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06. Juli 2006Ulrike Kunkel
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Satellit in der Landschaft

Im wachsenden Konkurrenzkampf ist der TÜV Süddeutschland dabei, sein Markenpotenzial zu erkennen und gezielt auszubauen. In Mering bei Augsburg entstand ein „Prüfstellensatellit“ mit hohem funktionalem und gestalterischem Anspruch: ein Prototyp mit Aussicht auf Serienreife.

Im wachsenden Konkurrenzkampf ist der TÜV Süddeutschland dabei, sein Markenpotenzial zu erkennen und gezielt auszubauen. In Mering bei Augsburg entstand ein „Prüfstellensatellit“ mit hohem funktionalem und gestalterischem Anspruch: ein Prototyp mit Aussicht auf Serienreife.

„Ich muss zum TÜV“, so der gängige Ausspruch vor der regelmäßig wiederkehrenden, mindestens lästigen, zuweilen auch recht kostspieligen Pflicht, sein Auto zur gesetzlich geforderten Hauptuntersuchung zu bringen. Ob man dann letztendlich tatsächlich beim TÜV oder doch bei einem Konkurrenzunternehmen landet, sei einmal dahingestellt. Jedenfalls ist der TÜV in unseren Köpfen als Marke fest verankert und besitzt daher gegenüber der Konkurrenz einen deutlichen, bislang allerdings kaum genutzten Marktvorteil. Zumindest der TÜV Süddeutschland scheint dies jetzt erkannt zu haben und ist dabei, sich mit kleinen, flexiblen, markant gestalteten Prüfeinheiten als Marke klarer zu präsentieren und zu positionieren. Bislang ist ein Prototyp eines „eingassigen Prüfstellensatelliten“ in Mering bei Augsburg am Rande eines kleinen Gewerbegebiets im Einsatz: Ein großes „T“, das bei einsetzender Dämmerung zu leuchten beginnt und ein auffälliges Zeichen am Straßenrand setzt, so dass man es sogleich ansteuern möchte.

In dieser kleinen aber feinen Bauaufgabe sahen die jungen Architekten und Landschaftsarchitekten Klaus Loenhart und Christoph Mayr aus München durchaus eine Herausforderung: „Das extrem kleine Bauvolumen befriedigend zu lösen und nicht einfach eine Kiste hinzustellen, reizte uns“; schnell stand für sie fest: "Statt einer kleinen Kiste bauen wir ein großes „T“." Und da steht sie nun, die gerade einmal 95 Quadratmeter große, in knapp fünf Monaten geplante und realisierte derzeit kleinste Prüfeinheit des TÜVs. Sie setzt sich aus einer Prüfspur und einer parallelen als „Raum im Raum“ konzipierten Verwaltungseinheit zusammen. Über dieser Verwaltungseinheit ergibt sich ein Restraum, der als Aktenlager und Technikraum genutzt wird. Der einfachen und klaren Raumaufteilung entsprechen die für den Innenausbau gewählten Industriematerialien: „Spaghettidecke“ und Eternitplatten, die den Eindruck von Sichtbeton erwecken. Und noch etwas fällt beim Betreten des Prüfbereichs auf: Wie „aufgeräumt“ es hier ist, fast keine Kabel oder Schläuche finden sich in der Werkstatt - die akribische Planung der Kabelführungen hat sich durchaus gelohnt.

Die Fassadenhülle aus eloxiertem Aluminium und Polycarbonetwellplatten lässt soviel Licht in das Gebäude, dass im Prüfbereich an den meisten Tagen auf künstliche Beleuchtung verzichtet werden kann. Zudem wirkt die zweischalige hinterlüftete Fassade, die nach innen mit transluzenten Kammerstegplatten abschließt, als Wärme- bzw. Kältepuffer. Im Innern der Hülle zeichnen sich blaue Linien ab, diese folgen der gewellten Polycarbonatplatte und bilden den fassadenhohen Schriftzug „TÜV“ aus. Da sich der Anfangsbuchstabe T aus der auskragenden Dachform des Gebäudes entwickelt, verschmelzen Gebäude und Schrift zu einer Einheit.

Neben ihrer Schutzfunktion vermitteln die auskragenden Dächer auch zwischen Gebäude und Außenraum; hier soll eine Annäherung stattfinden, „uns interessieren die Übergangsbereiche bei unseren Entwürfen ganz besonders“, so Klaus Loenhart. Das spiegelt sich auch in der wohl durchdachten, minimalistischen Außenraumgestaltung wider: Um die Versiegelung so gering wie möglich zu halten, ist die Ein- und Ausfahrt in einer einzigen Wendeschleife organisiert.

Außerdem wurden der Aushub des Gebäudes als niedriger Wall wegbegleitend aufgeschüttet und auf allen unversiegelten Flächen verschiedene, für den dortigen Boden besonders geeignete Wiesen-Saatgutmischungen gesät.

Wünschenswert ist - und immerhin, die Immobiliengesellschaft des TÜVs Süddeutschland signalisierte bereits Interesse - den Prüfstellensatelliten auch an anderen Orten zu platzieren und gegebenenfalls zu adaptieren. Verschiedene Varianten sind denkbar, so zum Beispiel ein zweigassiger Typ, eine verlängerte Variante mit zwei oder mehr Prüfstellen hintereinander oder eine höhere Version für Lkws. Die Chancen stehen nicht schlecht, denn das Konzept scheint aufzugehen: Der tägliche Durchsatz an Fahrzeugen hat sich - laut Aussage des TÜVs - deutlich erhöht.

db, Do., 2006.07.06



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db 2006|07 Branding

09. April 2006Ulrike Kunkel
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Fassadenverkleidung der Autobahnraststätte Pratteln

Kurz nach der Fertigstellung erhielt die Autobahnraststätte Pratteln im Kanton Basel-Landschaft bereits wieder ein neues Gesicht. Die Basler Architekten Casoni & Casoni gestalteten mit Elementen aus glasfaserverstärktem Polyesterharz eine eigenwillige Fassade in der Soft-Edge-Ästhetik der siebziger Jahre.

Kurz nach der Fertigstellung erhielt die Autobahnraststätte Pratteln im Kanton Basel-Landschaft bereits wieder ein neues Gesicht. Die Basler Architekten Casoni & Casoni gestalteten mit Elementen aus glasfaserverstärktem Polyesterharz eine eigenwillige Fassade in der Soft-Edge-Ästhetik der siebziger Jahre.

Autobahnraststätte Pratteln an der A2 Richtung Innerschweiz, einige Kilometer außerhalb Basels gelegen und nur wenige von der deutsch-schweizerischen Grenze entfernt: Eigentlich fällt es schwer, sich vorzustellen, warum man hier Halt machen sollte. Doch die Raststätte mit verschiedenen Gastronomie- und Serviceeinrichtungen sowie einer Ladenzeile ist gut besucht: Touristen auf der Suche nach letzten Schweiz-Souvenirs aber auch Geschäftsleute, die sich mit ihrem Laptop niedergelassen haben. Das Fassaden-Gestaltungskonzept des Architekturbüros Casoni & Casoni von 1978, das mit ungewöhnlichen Formen und Farben Aufmerksamkeit und Neugierde wecken wollte, scheint nach wie vor zu funktionieren.

Fassade aus Kunststoff

Als die Architekten damals den Auftrag für die Fassadenneugestaltung der Raststätte erhielten, war die Anlage, die im Wesentlichen aus einer 100 Meter langen Brückenkonstruktion quer über die Autobahn sowie zwei Sockelbauten beiderseits der Straße besteht, erst kurz zuvor fertig gestellt worden. Die dabei ausgeführte Glasfassade erschien den Bauherren jedoch zu wenig markant, so dass ihre Umgestaltung beschlossen wurde. Ein außergewöhnliches Erscheinungsbild sollte her. Dem Wunsch der Bauherren entsprachen Casoni & Casoni, indem sie das gesamte Gebäude mit einer Vorsatzfassade aus plastisch stark geformten orange-braunen Elementen aus glasfaserverstärktem Polyesterharz verkleideten. Konstruktion und Material boten entscheidende Vorteile: die weitgehende Unabhängigkeit von der darunter liegenden baulichen Struktur, große Gestaltungsfreiheit bei vertretbaren Kosten und wenig zusätzliche Last. Realisiert werden konnte die nicht ganz alltägliche Idee allerdings nur durch die gute Zusammenarbeit zwischen Architekten, Ingenieuren und Herstellern. Für die Entwicklung und Fertigung der Elemente zeichnet Max Horlacher, Gründer und Leiter der Horlacher AG, einer Firma für die Herstellung und Entwicklung von Produkten aus faserverstärktem Kunststoff, gemeinsam mit dem Ingenieurbüro von Heinz Isler verantwortlich. In der Werkstatt von Horlacher in Möhlin bei Basel wurden 98 Wand- und 8 Eckelemente (davon insgesamt 56 Fensterelemente) im Handauflegeverfahren gefertigt und per Lkw zur Raststätte transportiert. „Eine Wanddicke von 6 bis 8 mm reicht aus, um die ebenen Flächen zu stabilisieren, die gerundeten Kantenpartien ergeben eine zusätzliche Eigenversteifung. Vor allem die Größe der Elemente und der Umstand, dass sie von der äußeren ovalen Form auf die innere rechteckige Fensterform gebracht werden mussten, machte die Herstellung kompliziert“, erinnert sich Horlacher. Mittels direkt in den Kunststoff eingearbeiteter Halterungen aus Metall sind die Elemente dem Baukörper vorgehängt worden. „Wo die beiden Materialien in Berührung kommen, hätte man eine Schwachstelle vermuten können, doch nichts ist passiert“ so Horlacher weiter. Auch ansonsten hat sich das Material bewährt, nicht einmal die erheblichen Druckwellen der unter dem Gebäude durchfahrenden Lastwagen konnnten den Elementen auf Dauer etwas anhaben.

Ursprüngliches Erscheinungsbild

Wie große „Bullaugen“ stellen sich die Fensteröffnungen der beiden Sockelbauten dar. Die Glasfassade des vorhandenen Gebäudes wurde hier erhalten, die Bullaugen belichten die dahinterliegenden Restaurants. Im Brückenteil, in dem sich die Ladenzeile befindet, wurde die Glasfassade bis auf je ein Fenster zu den Toiletten zugemauert. Mit diesen „Einzel-Bullaugen“ setzten die Architekten einen starken Akzent in der Mitte des Gebäudes. Die Fassade ist in diesem Bereich zusätzlich durch eine geschwungene Linie in zwei Flächen unterteilt, die um etwa 16 cm gegeneinander versetzt sind. Ursprünglich hoben sich beide Teile auch farblich voneinander ab: oben orange, unten braun. Wäre 1978 allerdings das eigentliche Farbkonzept der Architekten umgesetzt worden, dann wäre der überwiegende Teil gelb und der „Brückenkragen“ über der Fahrbahn orange gewesen. Dies erschien den Bauherren jedoch zu riskant, sie fürchteten, dass die kräftigen Farben die Autofahrer ablenken könnten. Und auf den Rat eines hinzugezogenen Farbpsychologen entschied man sich schließlich für ein gedeckteres orange-braun. In den Zwischenraum des Brückenkragens wurden Leuchtröhren integriert, welche die Fassadenzeichnung auch bei Dunkelheit erkennen ließen. „In der Nacht wird der Mittelteil aus dem deutlich sichtbaren Versatz zwischen Braun und Orange angestrahlt, was dem Autofahrer den Eindruck einer frei schwebenden Brücke vermittelt“, schrieb Angelo S. Casoni in einer Beilage zum Schweizerischen Baublatt 1980.

Die ungewöhnliche Form- und Farbgebung entstammt nicht nur der spielerischen Gestaltungslust der Architekten, sondern sollte vor allem den Wiedererkennungswert des Gebäudes steigern. Denn die Raststätte Pratteln ist von Ferne nicht sichtbar; sobald das Gebäude hinter einer Kurve auftaucht, ist die Zufahrt schon fast verpasst. Ein nachhaltiger Erinnerungseffekt war also gefragt, damit der potenzielle Besucher bei seiner nächsten Fahrt den Halt bereits frühzeitig einplanen könnte.

Heutige Gestaltung

Ihre jetzige Farbgebung erhielt die Raststätte im Jahr 2000 nach Ausschreibung eines Wettbewerbs durch die Raststättenbetreibergesellschaft. Primär ging es in diesem jedoch nicht um die Sanierung der Fassade, sondern darum, die Autobahnraststätte „in den Status eines Kunstwerks zu erheben“. Das Anliegen der Initiatoren erstaunt, schließlich war sie dies, aufgrund ihres ungewöhnlichen Erscheinungsbildes, immer gewesen. Die prominent besetzte Jury prämierte den Entwurf des Exilkubaners Jorge Pardo und, werbewirksam zur Art 2000, konnte seine Idee umgesetzt werden: Die Fassade wurde einfach gelb überstrichen! Warum Gelb? Auf diese Frage antwortete der Künstler damals in einem Gespräch mit der Basler Zeitung: „Weil es die einfachste Lösung ist und das Vorhandene respektiert, dahinter steht kein tiefsinniger Gedanke.“ Von Respekt mag man eigentlich nicht sprechen, der Entwurf erscheint einfach nur banal und so hat sicher nicht nur Angelo Casoni - der im Übrigen in den Wettbewerb nicht einbezogen wurde - einiges zu bemängeln: Das Gelb sei beliebig und hätte nichts mit dem damals von ihm vorgeschlagenen Ton zu tun und vor allem sei die gestalterisch relevante Zweifarbigkeit des Brückenteils leichtfertig aufgehoben worden.

Lediglich eine Wettbewerbsteilnehmerin hatte damals Sensibilität im Umgang mit dem Vorhandenen bewiesen. Die Schweizer Künstlerin Sylvie Fleury vertrat die Ansicht, dass „jeglicher künstlerische Eingriff den Bau als ästhetische Einheit nicht genug respektieren würde“ und schlug daher nur eine behutsame Fassadenrenovierung sowie das Angleichen der umgebenden Bauten an die Ästhetik des Hauptbaus vor. Bedauerlich, dass sie sich nicht durchsetzen konnte. Doch wer weiß, was die nächsten Jahre bringen? Die Betreibergesellschaft hat wieder gewechselt, so dass eine neuerliche Wandlung der Raststätte nicht unwahrscheinlich ist. Vielleicht werden dann sogar die Architekten hinzugezogen und es kommt womöglich doch noch zu einer späten Realisierung ihres Farbkonzepts von 1978.

db, So., 2006.04.09



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02. Januar 2006Ulrike Kunkel
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... in die Jahre gekommen

Obwohl zu ihrer Entstehungszeit mehrfach ausgezeichnet, sind die 1930 entwickelten Kupferhäuser der Hirsch Kupfer- und Messingwerke aus Eberswalde-Finow in Brandenburg heute weitgehend unbekannt. Wie kam es zu der Idee, Wohnhäuser in All-Kupfer-Bauweise aus vorgefertigten Elementen zu produzieren? Weshalb konnten sich die Häuser langfristig gesehen nicht durchsetzen? Und wie stellen sie sich heute dar?

Obwohl zu ihrer Entstehungszeit mehrfach ausgezeichnet, sind die 1930 entwickelten Kupferhäuser der Hirsch Kupfer- und Messingwerke aus Eberswalde-Finow in Brandenburg heute weitgehend unbekannt. Wie kam es zu der Idee, Wohnhäuser in All-Kupfer-Bauweise aus vorgefertigten Elementen zu produzieren? Weshalb konnten sich die Häuser langfristig gesehen nicht durchsetzen? Und wie stellen sie sich heute dar?

Die jüdische Industriellenfamilie Hirsch aus Halberstadt hatte das am Finowkanal gelegene Messingwerk 1863 gekauft. Das Familienunternehmen war an verschiedenen Orten vertreten, die Planung und der Bau der Kupferhäuser erfolgte aber ausschließlich am Standort Eberswalde und war für die Hirsch Kupfer- und Messingwerke ein ganz neues Geschäftsfeld.

Die Experimente, vorfabrizierte Kupferhaus-Bauelemente zu entwickeln, begannen 1930, nachdem die Familie die Rechte an dem von Friedrich Förster und Robert Krafft erfundenen »Box-Frame-System« erworben hatte. Auf dessen Grundlage gingen Wandelemente - bestehend aus einem Holzrahmen mit Dämmung, einer Verkleidung aus geprägtem Stahlblech für die Innenseite und einer Kupferhaut für die Fassade - in Produktion; ergänzt durch Kupferbleche mit Rautenmuster für die Dachdeckung: leichte, einfach zu transportierende Bauelemente, für eine schnelle Montage und Demontage.

Die Musterhaussiedlung

Um die Häuser und verwendeten Materialien auf Wetterbeständigkeit und Wohnkomfort zu testen, wurden 1930/31 in Ergänzung der Werkssiedlung sieben Musterhäuser neben dem Messingwerk errichtet. Angestellte des Werks sollten dort »testwohnen«. Die Typenhäuser aus Kupfer erregten schnell Aufsehen, so dass bereits nach einer nur kurzen Erprobungsphase mit ihrer Vermarktung begonnen wurde: In einem Katalog von 1931 werden die sechs unterschiedlich großen Haustypen unter wohlklingenden Namen wie »Kupfercastell«, »Juwel« oder »Frühlingstraum« angeboten. Ein Haus sollte etwa 10 900 Reichsmark kosten und von sechs Arbeitern innerhalb von 24 Stunden aufgebaut werden können. Die Käufer genossen den Komfort einer komplett eingerichteten Küche sowie eingepasster Einbauschränke, fertig verlegter Elektroinstallationen, Sanitäranlagen und Zentralheizung. Anstelle von Tapeten standen für Wände und Decken sechs verschiedene Reliefmuster, geprägt auf Stahlblech, in Farben wie Nilgrün, Pastellblau oder Korallenrot zur Auswahl. Sehr bald wurden die Häuser in Berlin und anderen Teilen Deutschlands erfolgreich verkauft, am häufigsten waren die größeren Typen wie zum Beispiel das »Kupfercastell« gefragt.

Alle Kupferhäuser der Musterhaussiedlung, jedes liegt auf einer Einzelparzelle, sind noch erhalten; zwei allerdings durch neue Giebeldächer, Fenster und Fassadenverkleidungen derart überbaut, dass sich ihr ursprüngliches Erscheinungsbild nur noch erahnen lässt.

Die übrigen sind vor allem wegen ihrer prägnanten zwischen gold-braun und schwarz variierenden Kupferplatten-Fassaden gut zu erkennen. Das Kupferdach ist allerdings nur bei einem der Gebäude erhalten, von den Wandverkleidungen im Innern existiert so gut wie nichts mehr.

Obwohl die Kupferhäuser auf der »Internationalen Kolonialausstellung« 1931 in Paris mit dem »Gand Prix« geehrt wurden und spätestens seither auch international viel Beachtung fanden, wurde durchaus Kritik geäußert: So befürchtete man wegen der Metallwände einen Hitzestau und bemängelte die architektonische Qualität, die in den Augen einiger Architekten die moderne Architektur um dreißig Jahre zurückversetze. Zum prognostizierten Hitzestau kam es wohl nicht und insgesamt gesehen besitzt Kupfer natürlich einige Eigenschaften, die es für die Verwendung im vorfabrizierten Hausbau durchaus geeignet erscheinen lässt: zum Beispiel ein niedriges Eigengewicht sowie eine hohe Feuer- und gute Korrosionsbeständigkeit.

Zusammenarbeit mit Walter Gropius

Vielleicht nahmen sich die Verantwortlichen bei den Hirsch Kupfer- und Messingwerken die Kritik der »Bildhaftigkeit« ihrer Kupferhäuser durchaus zu Herzen; noch im Mai 1931 kam es jedenfalls zu einer Zusammenarbeit mit Walter Gropius, der mit der Überarbeitung und Weiterentwicklung der Häuser beauftragt wurde. Die wichtigsten Veränderungen, die Gropius an den Häusern vornahm, waren Aluminiumtafeln anstelle des Stahlblechs im Innenbereich, einfachere Eckverbindungen und ein verändertes optisches Erscheinungsbild. Ende 1931 wurde der erste »Gropius-Typ«, eine Abwandlung des bereits produzierten 3-Zimmer-K-Typen, in Eberswalde errichtet: Ein eingeschossiges Haus mit Zeltdach, an dem, im Gegensatz zu vielen anderen Häusern der Siedlung, über die Zeit relativ wenig verändert wurde und das als einziges noch das kupfergedeckte Dach besitzt. Inzwischen ist es, nachdem es einige Jahre leer stand, erfreulicherweise wieder bewohnt.

Auf der vom Berliner Stadtbaurat Martin Wagner ins Leben gerufenen Sommerausstellung »Sonne, Luft und Haus für alle« im Herbst 1931 in Berlin, präsentierte Gropius zwar noch zwei von ihm überarbeitete Kupferhäuser, doch beendeten die Hirsch Kupferwerke bald darauf die Zusammenarbeit. In den politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten musste die eigens für die Entwicklung und Herstellung der Kupferhäuser gegründete Abteilung schließen, bevor das Geschäft richtig angelaufen war. Einer der Direktoren übernahm alle Rechte an den Kupferhäusern und gründete bald darauf die »Deutsche Kupferhausgesellschaft«. Die Pläne Gropius' fanden hier allerdings keine Aufnahme in den Angebotskatalog, man besann sich ganz auf die am Werk entwickelten Typen und verkaufte sie fortan unter dem Namen »Original-Hirsch-Haus«.

Der Verkauf um 1933

Durch die Auswanderungswelle deutscher Juden nach Palästina während der Herrschaft der Nationalsozialisten stieg der Bedarf an Wohnraum dort immens an und ebenso das Interesse an vorfabrizierten Häusern, die sich für den Export nach Palästina eigneten. Die Deutsche Kupferhausgesellschaft reagierte sofort und in ihren Prospekten tauchten fortan Kupferhaustypen mit den Namen »Haifa«, »Jerusalem« oder »Sharon« auf. Die Häuser basierten zwar auf den Typenhäusern von Eberswalde, wurden aber dem »traditionellen, romantischen Charakter von Palästina« angepasst. Den Unterlagen kann man entnehmen, dass es möglich war, den zweigeschossigen Typ »Haifa« in 34 Pakete zu verpacken, die ein Gesamtgewicht von 15 313 kg hatten. Ende 1933 waren die ersten von 14 Häusern in der Nähe von Tel Aviv und Haifa bezugsfertig. Aber auch innerhalb Deutschlands entstanden in dieser Zeit noch einige Kupferhäuser, 1933 zum Beispiel ein »Kupfercastell« in Berlin-Frohnau. Im Vergleich zu den Häusern in Eberswalde-Finow ist es in sehr gutem und vor allem recht unverfälschtem Zustand erhalten. Hier findet sich sogar in den meisten Zimmern, im Bad und in der Küche noch die ursprüngliche Wandverkleidung aus geprägten Stahlblechen - inzwischen natürlich mehrfach in verschiedenen Farben überstrichen. Auch sind sowohl die Kupferfassade als auch das Dach noch original erhalten. Die positiven Eigenschaften des Kupfers als Baumaterial haben sich durchaus gezeigt und die Versprechungen im Verkaufsprospekt bewahrheitet: »Bei fachgerechter Montage entstehen keine weiteren Kosten für Reinigung oder Anstriche der Kupferbauelemente«. Die Angabe einer nur 24-stündigen Aufbauzeit scheint hingegen etwas geschönt gewesen zu sein. Nachfahren des Bauherrn berichten jedenfalls, dass die Familie damals für drei Wochen in Urlaub gefahren sei.

db, Mo., 2006.01.02



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