Editorial

«Reporting from the Front» lautet der Titel der Architekturbiennale Venedig 2016. Der chilenische Architekt und Pritzker-Preisträger Alejandro Aravena, der die Hauptausstellung kuratierte, hat die Teilnehmenden rund um den Globus ausgesucht und wartet mit unterschiedlichsten, zum Teil verblüffenden Beiträgen auf. Darunter sind zum einen Projekte, die eine problematische Situation positiv verändern; zum anderen Werke bekannter und weniger bekannter Architekturschaffender, deren Arbeit das Kuratorenteam kennt und schätzt; und schliesslich Beiträge, die während der Ausstellungsvorbereitung als spontante Bewerbungen eingetroffen sind.

Denn «Reporting from the Front» will all jenen eine Plattform bieten, die mit ihren Bauten Grenzen überschreiten und neue Perspektiven eröffnen. Im Fokus stehen Partizipation, einfache Techniken und Materialien wie Lehm, Bambus oder Holz. Die Ausstellung ist getragen von der Überzeugung, dass Architektur ein wirkungsvolles Werkzeug ist und – über die traditionellen Grenzen der Disziplin hinaus eingesetzt – dazu beitragen kann, soziale und ökologische Krisen zu entschärfen.

Derlei Krisen, insbesondere die aktuelle Flüchtlingstragödie, Kriegsherde und die ökonomische Stagnation, werden auch in auffällig vielen Länderpavillons
thematisiert. Daneben gibt es Unerwartetes, Berührendes, Verblüffendes und Rätselhaftes zu entdecken. Dieses Heft präsentiert eine Auswahl von Themen und Eindrücken, die wir in drei Tagen an der Lagune gesammelt haben: als Anregung für jene, die die diesjährige Biennale vielleicht noch besuchen möchten – und für die anderen als bescheidener Ersatz.

Danielle Fischer, Viola John, Judit Solt

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ohne Scheuklappen

11 PANORAMA
Perspektivenwechsel | Genäht und geschnürt

16 VITRINE
Aktuelles aus der Baubranche | Die geeignete Verpackung für das Haus

21 SIA
Charta Nachwuchsförderung Raumplanung veröffentlicht | «Kommt runter vom Elfenbeinturm der Baukunst» | Transparent durch alle Phasen

27 VERANSTALTUNGEN

THEMA
28 15. ARCHITEKTURBIENNALE VENEDIG

28 BLICKE ÜBER GRENZEN
Danielle Fischer, Judit Solt
Die Hauptausstellung zeigt auf, was Architektur über den Rahmen ihrer Disziplin hinaus bewirken kann.

32 DIE RÜCKKEHR DES EINFACHEN
Danielle Fischer, Viola John, Judit Solt
Viele Beiträge der Länderpavillons sind existenziellen Fragen gewidmet.

37 SCHÖPFUNG UND ZUFALL
Cedric van der Poel
Der Architekt Christian Kerez konfrontiert die Besucher des Schweizer Pavillons mit einem verstörenden Raum.

AUSKLANG
39 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Blicke über Grenzen

Die Hauptausstellung unter dem Titel «Reporting from the Front» belegt, was Baukunst jenseits der formalen Disziplin in einem mitunter chaotischen Umfeld bewirken kann. Manche Projekte sind ein Lehrstück in Engagement und Erfindungskraft.

Das Plakat der 15. Architekturbiennale in Venedig zeigt eine Frau, die auf einer Aluminiumleiter steht und in die Wüste hinausblickt. Es handelt sich um die deutsche Archäologin Maria Reiche in Südamerika: Von dieser erhöhten ­Warte aus studierte sie Zeichnungen auf dem Boden, die eine präkolumbianische Kultur dort hinterlassen ­hatte und die aus dem normalen Stand betrachtet lediglich als wirre Linien gewirkt hätten. Das Bild ist Programm: Um etwas zu erkennen, muss man zuweilen einen unbequemen Standpunkt einnehmen und sich etwas einfallen lassen, um die Grenzen der Wahr­nehmung zu erweitern – auch in der Architektur. Der chilenische Architekt Alejandro Aravena, der die Hauptausstellung kuratiert, hat diese unter das Motto «Repor­ting from the Front» gestellt.

Hehre Versprechen …

Aravenas Ziel ist es nach eigener Aussage, neue Per­spektiven auf das Bauen und vor allem auch neue Tätig­keitsfelder zu eröffnen; er möchte die Architektur nicht als rein gestalterische Disziplin verstanden ­wissen, sondern sie mit gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen erweitern. ­«Reporting from the Front» soll vermitteln, was unterschiedliche Akteure am Horizont dieser Möglichkeiten erspähen – neue Aktionsfelder und aussergewöhnliche Projekte, in denen sich Pragmatisches mit Existenziellem vermischt, Angemessenes mit Verwegenem, Kreatives mit Rationalem. Die ausgestellten Architektur­beispiele sollen aufzeigen, wo der Unterschied zu konventionellen Projekten liegt.

Auch Biennale-Präsident Paolo Baratta betont, dass positive Nachrichten im Zentrum der Ausstellung stünden. Damit seien nicht nur Ergebnisse gemeint, sondern die Prozesse, die aus den jeweiligen Bedürf­nissen und Begebenheiten heraus zu einer Lösung geführt hätten. Architektur als soziales und politisches Instrument interessiert: Denn wenn Architektur öffentliche Güter schafft, ist sie selbst ein öffentliches Gut. Sie wird als Werkzeug präsentiert, mit dem sich die menschliche Zivilisation selbst verwaltet und mit dessen Hilfe sie ihre Zukunft eigenständig meistert – auch wenn es zurzeit eine wachsende Divergenz zwischen Architektur und Zivilgesellschaft gebe.

… überraschend eingelöst

Bereits anlässlich der 7. Architekturbiennale im Jahr 2000 hatte der damalige Kurator Massimiliano Fuksas im Titel der Hauptausstellung «Less Aesthetics, More Ethics» gefordert. Ähnliche Aufrufe hört man seit eini­gen Jahren immer häufiger, sowohl an der Bienna­le als auch anderswo; doch glaubwürdig umgesetzt werden sie selten. Ebenso inflationär, wie dereinst der Begriff Nachhaltigkeit verwendet wurde, scheinen sich heute Projekte zu vermehren, die mit akademischem Ehrgeiz und unübersehbarer Koketterie den ärmsten Gegenden der Welt gewidmet sind – und letztlich mehr dem Image der Verfasser dienen als den Menschen vor Ort.

Daher stand zu befürchten, dass das Motto der Ausstellung auch dieses Jahr verwässert würde. Doch Aravena, dessen Werk unter anderem mit dem Global Award for Sustainable Architecture 2008 und dem ­Pritzker-Preis 2016 ausgezeichnet wurde, vertritt seine Forderung konsequent und hat die Ausstellung streng kuratiert. Die Beiträge seiner Gäste sind vielfältig und bis auf einige halbherzige Exponate meist etablierter Büros wirklich erhellend.

Verblüffend einfach

Und was sieht Maria Reiche von ihrer Leiter aus? Wohl das Chaos, das die menschliche Zivilisation angerichtet hat, und die vielen Enttäuschungen; dazwischen aber auch zusammenhängende Linien, die ein Bild ergeben, ein Zeichen von Kreativität darstellen. Das Entrée des Hauptpavillons ist als Maria Reiches Raum deklariert: Er ist ebenso wie der Eingangsraum des Arsenale mit verbogenen Stahlrahmen und kaputten Gipswänden gestaltet, Trümmer der letztjährigen Kunstbiennale. Erst nach diesem Auftakt beginnt die Ausstellung, eine dichte Folge von realisierten und geplanten Eingriffen, die belegen, wie vielfältig die Fronten sind und wie unterschiedlich sich Akteure den jeweiligen Themen annähern. Im Unterschied zu den Länderpavillons gibt es hier viele Projekte von Verfassern, die nicht aus Hochschulen kommen und keinen akademischen Zugang zum Bauen haben: Menschen, die vor ein Problem gestellt waren und erstaunliche Lösungen dafür gefunden haben, wie sie wahrscheinlich nie aus einer Akademie hervorgegangen wären. Manche der Arbeiten sind nicht nur äussert pragmatisch, sondern auch poetisch und schön.

Zu erwähnen ist etwa der Beitrag der paraguayanischen Gruppe «Gabinete de Arquitectura» um Solano Benitez (Abb. S. 31 links). Diese gewann den Goldenen Löwen für den besten Teilnehmer der internationalen Sammelausstellung. Benitez baut Gewölbeskelette mit einfachen Mitteln: Zement, Backsteine und eine wiederverwendbare Holzschalung genügen als Konstruktionsmaterial. Ungelernte Arbeiter fertigten daraus schlichte, unerwartet elegante Gewölbe. Diese Strukturen bilden die Grundlage für Bauten, die den Landflüchtigen in Paraguay und zukünftig vielleicht auch in anderen Ländern als Unterkünfte dienen sollen.

Der südafrikanische Beitrag «From Police to Policy» ist einer neuen Fussgängerbrücke gewidmet. Sie führte soziale Verbesserungen an der Warwick Junc­tion, einem der gefährlichsten Orte in Durban, herbei. In der Ausstellung sind auf Tischen faszinierende Gegenstände präsentiert, die im Markt unter der Brücke verkauft werden: weisse und rote Tonbälle, Stachelschweinborsten, Kräuter, Flaschen und vieles mehr. An einer gegenüberliegenden Wandstelle erfährt man, was es mit den Gegenständen im Kontext auf sich hat. Überhaupt zeugt die dichte und bunte Präsentation von dem umfassend und vielschichtig aufgearbeiteten Inhalt – der zur Brücke führte.

Krieg und Architektur

Dass es mehr braucht als ein unterzeichnetes Friedensabkommen, um eine Konfliktzone zu entmilitarisieren, zeigt Milinda Pathiraja aus Sri Lanka. Nach dem Ende des Bürgerkriegs vertauschten die Soldaten seiner Truppe ihre Waffen mit Baugeräten und begannen Schulen zu errichten. Dabei betrachteten sie die Aufgabe über die eigentliche Funktionalität hinaus auch als einen eigenen Lernprozess und haben an Hochschulen das nötige Bauwissen erworben. Auf diese Weise sind nicht nur praktische, sondern auch schöne, dem Klima und der Topografie entsprechende Bauten entstanden.

Besonders eindrücklich ist auch die forensische Architektur von Eyal Weizmann in Kriegsgebieten (Abb. S. 28). Mittels akribischer Recherche sucht er Beweise dafür, wann, womit und von wem ein Haus oder eine Stadt zerstört wurde. Mittels zahlreicher Fotos und Filme, die Laien aus den bombardierten Städten ins Internet hochluden, erstellt er eine Art Gesamtplan des kriegerischen Hergangs. Eine andere Methode dient dazu, anhand von Gebäudetrümmern herauszufinden, wie Menschen in einem zerstörten Bau ums Leben gekommen sind. So kann zum Beispiel eine offizielle Darstellung widerlegt werden, wonach Menschen durch einen Bombenanschlag von Rebellen getötet wurden: Form und Grösse der Gebäudesplitter und die Art des Einschlags in ein Dach können zeigen, dass eine Drohne die Ursache war, zu der Rebellen keinen Zugang haben.

Noch Fragen?

Es gibt viele weitere sehenswerte Beiträge – etwa der Bericht von Manuel Herz über die Urbanisierung von Flüchtlingslagern in der Westsahara (vgl. «Von Rabouni nach Zürich-West», TEC21 7–8/2016), der Bambus-Baukünstler Simón Vélez (Abb. S. 30 oben links und «Simón Veléz ins Bild gesetzt», TEC21 36/2013), die Tonpioniere Anna Heringer und Martin Rauch (vgl. «Ein Teil des menschlichen Habitats», TEC21 29–30/2013) oder das ETH-Team um Phi­lippe Block, das mit finiten Elementen Druckgewölbe von betörender Fili­granität schafft (Abb. S. 30 Mitte rechts). Auffällig ist: Die meisten der gezeigten Bauten befinden sich ausserhalb Europas, viele davon sind durch Partizipation entstanden und wurden mit lokal gewonnenen oder rezyklierten Materialien realisiert. Der Umgang mit den knappen Ressourcen und den überbordenden Problemen in den ärmeren Teilen der Welt steht im Vordergrund. Dem Chilenen Alejandro Aravena ist es gelungen, eine nicht allzu eurozentrische Ausstellung zusammenzustellen. Das ist ungewöhnlich und allemal spannender als die Hochglanz-Selbstdarstellungen, die es in den letzten Jahren häufig zu sehen gab. Einiges bleibt dennoch offen.

Zum einen fragt man sich, ob es in der west­lichen Welt keine gesellschaftlichen und politischen Themen gäbe, zu denen die Architektur jenseits ausgetretener Gedankenpfade etwas beitragen könnte – in den Länderpavillons (vgl. «Die Rückkehr des Einfachen, S. 32) findet diese Recherche immerhin vermehrt statt. Zum anderen ist unklar, ob Aravenas Blick auf die Fronten ganz so frei und unbefangen ist wie derjenige von Maria Reiche in der flachen Wüste. Neben den Arabischen Emiraten, Jemen und Kuwait, deren politische Position weitgehend von der westlichen Welt geprägt ist, sind zwar auch die Grossmächte Russland und China vertreten. Wirklich umfassend aber wäre das Bild, wenn auch Länder wie Libyen, Syrien oder Nordkorea von der anderen Seite der Front berichtet hätten – gewiss ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Vergleichsweise unkompliziert wäre es dagegen gewesen, das Board mit einigen dunkelhäutigen oder weiblichen Mitgliedern zu besetzen. Die Ausstellung selbst zeichnet sich durch eine sehr erfreuliche Vielfalt der Themen und Teilnehmenden aus; eine repräsentativere Zusammensetzung des Steuerungsorgans hätte indes zu einem noch breiteren Verständnis der Ausstellung beitragen können – und wäre beim Thema «Reporting from the Front» eigentlich eine Selbstverständlichkeit gewesen.

TEC21, Fr., 2016.07.15

15. Juli 2016 Danielle Fischer, Judit Solt

Schöpfung und Zufall

Der Architekt Christian Kerez und die Kuratorin Sandra Oehy konfrontieren die Besucher mit einem rätselhaften Raum. Er verweigert jede Referenz und fordert die Wahrnehmung heraus; die Architektur ist Thema und Mittel der Ausstellung zugleich. Das wirft Fragen auf.

Der Zürcher Architekt Christian Kerez sitzt gelassen in seinem «Incidental Space», als er zwei Tage vor Eröffnung der Biennale die Journalisten empfängt. Sein Ton ist ruhig, fast sakral. Die Stimme ist sanft, die Worte präzise: «Dieses Werk transportiert keine Botschaft, ihm ist keinerlei Funktion zugewiesen. Es ist kein Demonstrationsobjekt. Es bietet den Besuchern ein Raumerlebnis.»

Raum als solcher

Dennoch geht es auch um Demonstration. Zum einen dreht sich in «Incidental Space» alles um den architektonischen Raum, ein Thema, dem sich Kerez mit einer an Besessenheit grenzenden Intensität widmet. Der architektonische Raum ist für ihn der Ausgangs- und Zielpunkt des Entwurfs; der Begriff figuriert als erster Eintrag im Glossar, den er in «El Croquis» zusammengestellt hat, und wird als «Element des Widerstands» definiert, das die «Unversehrtheit» der Disziplin gegenüber äusseren Einflüssen und Ideologien bekräftigt.[1] Wie die Museumsprojekte, die Kerez für Guangzhou in China entwickelt, zeugt auch «Incidental Space» von seiner Suche nach einem schwach definierten Raum, der das Bezugssystem des Betrachters ins Wanken bringt.

Die Installation wirkt wie ein grosser weisser Meteorit, der unvermittelt im Schweizer Pavillon gelandet ist. Von aussen ist sie ein geheimnisvolles Objekt aus weissem Beton, das die Sinne anspricht. Die mal glatten, mal rauen Wände der behutsam auf ihrem Holzsockel deponierten Wolke ziehen die Hand an. Das Auge sucht Grenzen und Eingänge. Wie bei einem Guckkasten ermöglicht eine seitliche Öffnung jenen, die sich nicht ins Objekt hineinwagen, einen staunenden Blick ins Innere.

Dort erwartet einen eine Explosion aus Unebenheiten, Falzen und Falten, aus «wirbelartigen Formen, die sich aus neuen Wirbeln speisen».[2] Was auch immer der Besucher im labyrinthischen Innenraum zu erkennen glaubt – einen «Playground» für Kinder, ein Symbol des Mutterleibs, eine heilige Stätte oder einen organisch gewachsenen Ort –, immer ist er frei, eine eigene Interpretation zu wählen. Die Architektur selbst ist das Mittel, mit dem Kerez seine Architekturausstellung zu einem verstörenden Raumerlebnis macht.

Hightech an der ETH Zürich

Die zweite Demonstration betrifft den Entwurfs- und Herstellungsprozess. Kein Raumprogramm, keine Skizze und keine Referenz liegen «Incidental Space» zugrunde. Doch auch wenn er vorerst «durch Zufall» zustande kam, ist er zugleich das Ergebnis eines komplexen Entwurfs- und Fertigungsprozesses; das interdisziplinäre Team versammelte Fachleute aus Architektur, Bauingenieurwesen, für computergestütztes Entwerfen und Konstruieren (CAAD), aus Mathematik, Kunstgeschichte und Kunst.

Der Entwurfsprozess erfolgte mit Abgüssen von Materialien und der Herstellung von Hohlformen. Aus über 300 Modellen wurde eines ausgewählt, digital und analog erfasst und stetig weiterentwickelt. Entwurf und Ausführung benötigten eine Kombination von Mitteln, die vom traditionellen Modell bis hin zu den modernsten digitalen Technologien reichten (vgl. TEC21 23/2016). Dieses technische Arsenal ermöglicht es Kerez, als Schöpfer die vollständige Kontrolle über den Zufall und die freie Form zu beanspruchen. Die Biennale bietet ihm den Rahmen für einen rein experimentellen Raum.

Eigenständig, rätselhaft oder frei?

Drittens demonstriert «Incidental Space» einiges über die Schweiz. Während die meisten Länderpavillons Ausstellungen zeigen, die sich mehr oder weniger stringent mit dem vom chilenischen Kurator Alejandro Aravena gewählten Thema beschäftigen, geht der Schweizer Pavillon andere Wege.

Für Kerez entspricht sein Werk der Leiter, auf der Maria Reiche auf dem Veranstaltungsplakat steht: Da der deutschen Archäologin die finanziellen Mittel fehlten, um ein Flugzeug zu mieten und die Tierdarstellungen der Nazca aus der Luft zu untersuchen, behalf sie sich mit einer Leiter. Analog dazu soll «Incidental Space» die räumliche und architektonische Wahrnehmung der Besucher verändern. Doch Christian Kerez scheint die Hauptbotschaft Aravenas zu ignorieren: Erfindungsgeist und schöpferische Kraft können Zwänge – seien sie wirtschaftlich, rechtlich oder materiell – umgehen, anstatt sie zu bezwingen.

Die Antwort findet sich möglicherweise in der Doppeldeutigkeit des Titels. Die gängigste Definition von «incidental» vermittelt auch die Bedeutung «zweitrangig», «nebensächlich».[3] «Incidental Space» wäre demnach ein «nebensächlicher» Raum.

Indem er als Aussenseiter der Biennale agiert, rückt Kerez in die Nähe des antiken griechischen Philosophen Diogenes von Sinope, des bekanntesten Vertreters der Zyniker, der in einem Fass gelebt haben soll. Mit seinem Werk postuliert Kerez Antikonformismus, individuelle Freiheit und den Willen, zum eigentlichen Wesen der Architektur zurückzukehren: zum Raum.

Diese Geste ist im Rahmen dieser schönen, aber wenig überraschenden Biennale tatsächlich subversiv und durchaus begrüssenswert. Doch sie könnte auch als Zynismus interpretiert werden: als Statement einer Schweiz, die sich gegenüber den Erwartungen eines «Reporting from the Front» taub stellt und ihren Reichtum, ihr technologisches Know-how und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den existenziellen Problemen der Welt zur Schau stellt.


Anmerkungen:
[01] «The term ‹architectural space› seems at first to be purely tautological, since architecture is itself defined by physically built space. But architecture is, for the most part, built without any specific intentions regarding the space beyond an awareness of the three-dimensional quality of space. In this sense, the term ‹architecture space› becomes an element of resistance. It insists on the integrity of the discipline of architecture, which can be influenced from outside but will never be deduced from there.
It defends the idea of architectural space on behalf of those who might wish to use it and experience it against any fast reception of a picturesque or idelogical projection. It insists on the media of architecture against all other perceptions. Certain aspects in architecture such as the client’s brief or the plot, sustainability or poverty are only arbitrary points of departure, merely parameters to reveal the experience of architectural space, an experience that is not possible in any other media. This experience is no longer the result of many other influences but becomes the point of departure and focal point for all thoughts during each design process.» In: El Croquis 182, 2016.
[02] Einige dieser Eigenschaften hat Heinrich Wölfflin als materielle Züge des Barock identifiziert. Vgl. Gilles Deleuze, Le pli. Leibniz et le baroque. Paris, Les Editions de Minuit, S. 7.
[03] www.merriam-webster.com/dictionary
www.biennials.ch
www.kerez.ch
www.espazium.ch/tec21/thema/15-architekturbiennale
www.espazium.ch/enigmatic-space

TEC21, Fr., 2016.07.15

15. Juli 2016 Cedric van der Poel

Die Rückkehr des Einfachen

Rund fünf Dutzend Länderpavillons gibt es an der Biennale zu sehen – die meisten lohnen den Besuch. Auffällig ist, wie viele Beiträge sich existenziellen Problemen widmen: ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber mit treffenden Ideen und unkonventionellen Lösungsvorschlägen. Eine kleine Auswahl.

Weil das Motto der Hauptausstellung – und somit der ganzen Biennale – in der Regel erst zu einem Zeitpunkt bekannt gegeben wird, wenn die Themen der Länderpavillons bereits feststehen, gehen nicht alle nationalen Ausstellungen darauf ein. Dennoch fällt auf, dass dieses Jahr viele Pavillons jenen Fragen gewidmet sind, um die auch die Hauptausstellung kreist: die Aktionsmöglichkeiten von Architektinnen und Architekten jenseits ästhetischer Themen. Armut, prekäre Lebensverhältnisse, Krieg, Ausbeutung, Leben auf der Flucht, Migration, Krankheit und Entfremdung scheinen die Architekturschaffenden zunehmend zu beschäftigen, und das kommt in vielen Pavillons zur Sprache.

Die Vielfalt der Ansätze und die zum Teil brillanten Inszenierungen sind erfreulich und lassen – trotz der thematisierten Missstände – ein hoffnungsvolles Gefühl zurück. Daneben gibt es wie jedes Jahr eine Reihe von Pavillons, die mit einer unerwarteten, zuweilen eher zufällig ­anmutenden Schau überraschen. Und schliesslich sind – weniger überraschend – die Selbstdarstellungen diverser Diktaturen zu sehen, die in ihrer Selbstverherrlichung amüsant wirken würden, wären sie nicht so todernst gemeint.

Finnland: soziale Integration

Ein Absperrband in den finnischen Nationalfarben begrüsst die Besucher im Türrahmen, um darauf hinzuweisen, dass man eine Grenze überschreitet und finnisches Hoheitsgebiet betritt. Die Ausstellung ist der Flüchtlingskrise und den Antworten seitens der Architektur gewidmet. Dokumentiert werden die Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs, bei dem Immigrantenunterkünfte konzipiert werden sollten. Es ging um die Schaffung eines neuen Zuhauses, das die Integration der Neuankömmlinge erleichtert. Die Strategien reichen von Umnutzungen über Infrastrukturen zur Verteilung bestehenden Wohnraums ­ bis hin zur Schaffung temporärer Wohn­einheiten. Immer im Fokus: die soziale Dimension der Integration, die über durchmischte Wohnformen erreicht werden soll. Die Ausstellung will einen Anstoss zu Diskussionen bieten: Mitreden kann jeder, direkt vor Ort oder online unter www.frombordertohome.fi

Irland: der Raum als Feind

Um die Installation «Losing Myself» zu verstehen, muss man sich ein wenig Zeit nehmen. Dann aber erfährt man mehr über die räumliche Wahrnehmung von Alzheimerkranken als nach der Lektüre von manchem Wälzer: am eigenen Leib nämlich. Während man sich auf die Pläne für ein Heim konzentriert, die auf den Boden projiziert werden, verändern sich das Licht und die Geräusche schleichend. Auf einmal wirkt Kindergelächter bedrohlich, Kirchenglocken lassen einen taumeln, und die Sicht scheint sich zu trüben. Man erahnt, wie unerträglich es für die vielen dementen Menschen in unserer alternden Gesellschaft sein muss, sich im Raum zu orientieren – und wie anspruchsvoll die architektonische Aufgabe ist, ihnen dennoch adäquate Lebensräume zur Verfügung zu stellen. Eine Lektion in Demut und eine sinnliche Bereicherung zugleich.

Grossbritannien: suffizient bis ins Letzte

Die Ausstellung thematisiert die hohen Wohnpreise in London und reflektiert neue Wohnkonzepte. Unter dem Titel «Home Economics» sind fünf Wohnmodelle zu sehen, die für unterschiedliche Nutzungsdauern optimiert und dem ökonomischen Existenzminimum der Bewohner angepasst wurden. Alle Projekte lassen britischen Humor erkennen und sind so klein, dass sie als 1 : 1-Modell im Pavillon Platz finden. Die erste Einheit ist eine aufblasbare Kugel, die für die Nutzung während weniger Tage gedacht ist: Alles, was man benötigt, um sich zu Hause zu fühlen, ist ein Wi-Fi-Anschluss.

Für mehrere Monate genügt eine Holzbox mit Hochbett, Wasch­becken und Toilette. Auch das etwas grössere Eigenheim für Jahre erinnert an die Grundausstattung einer Gefängniszelle. Zur Nutzung über Dekaden wird eine Reihe funktionsloser Räumen für maximale Flexibilität vorgeschlagen. Für einige Stunden sind Orte zur Nutzung für mehrere Personen angedacht, ganz nach dem Motto «Own nothing, share everything». Die Ausstellung bietet auf kleiner Fläche jede Menge Raum für Diskussionen und zeigt in überspitzter Form, was passiert, wenn das Thema Suffizienz zu Ende gedacht wird.

Rumänien: selbst- und ferngesteuert

Aus unterschiedlichen Positionen – als distanzierte Beobachter oder mitten in den Installationen – können die Besucher sechs mechanische Automaten mit stereotyp anmutenden Holzpuppen steuern. Die Frage des Kurators, ob unsere aktive, willentliche  Partizipation am Weltgeschehen nur eine Illusion sei, bleibt offen. Als Alternative zum Selfie, wie von den Ausstellungsmachern vorgeschlagen, eignet sich die rumänische Ausstellung ausgezeichnet – an kaum einem anderen Ort werden so viele Fotos von Besuchern mit den Installationen gemacht.

Niederlande: Blau steht für Frieden

An hunderten von Orten weltweit sind UNO-Friedenstruppen stationiert. Die Blauhelme sollen die Lebensbedingungen der dortigen Menschen verbessern, doch die Architektur ihrer Camps lässt wenig davon erahnen und trägt kaum dazu bei. Die Architektin und Kuratorin Malkit Shoshan präsentiert ein Gegenmodell: Camp Castor in Mali – hier ist die UNO im Einsatz, und die Niederlande versuchen dabei, die Basis nicht als Festung, sondern als Katalysator für die lokale Entwicklung zu gestalten. In geisterhaft blaues Licht getaucht, zeigt die Ausstellung Chancen und Herausforderungen im Land der Tuareg, die wegen ihrer indigofarbenen Kleider auch «blue men» genannt werden.

Japan: zwischen Ding und Mensch

Die japanische Gesellschaft befindet sich an einem Wendepunkt: Arbeitslose Jugendliche und wachsende Armut gehören nach dem wirtschaftlichen Wohlstand heute zum Alltag. Die Kuratoren fragen danach, wie sich die Archi­tektur den neuen Verhältnissen anpassen wird. Die ausgestellten Arbeiten sind aber nicht der Architektur selber gewidmet, sondern den Verbindungen der Dinge zu den Menschen und umgekehrt. In der buddhistischen Kultur prägt der Begriff «En» diesen Sachverhalt. Es werden verschiedene Aspekte von «En» untersucht – das, so die Kuratoren, das Potenzial in sich birgt, die Schwierigkeiten der kommenden Zeiten zu überbrücken.

Polen: von Fairness keine Spur

Sind faire Arbeitsbedingungen auf einer Grossbaustelle eine Ausnahme? Während die Besucher im polnischen Pavillon auf Baugerüsten sitzen, erzählen Bauarbeiter im Film über ihren Arbeitsalltag. Im zweiten Teil der Ausstellung führen Grafiken an den Wänden vor Augen, wie viele Schwarzarbeiter es gibt, wie viele unbezahlte Überstunden geleistet werden und welche anderen Missbräuche Planende und Arbeiter erdulden müssen. Widersprüche offenbaren sich zwischen dem Bild einer sich entwickelnden Gesellschaft und dem individuellen Schicksal. Im Gegensatz zu «Fair Trade» bei Konsumprodukten ist «Fair Work» auf Baustellen kein Thema – und das nicht nur in Polen.

Spanien: Qualität des Unvollendeten

In Spanien ist vieles, das während der Hochkonjunktur gebaut wurde, nie fertig geworden. Überall gibt es moderne Bau­ruinen. Im Gegensatz dazu steht das von den Architektur­medien vermittelte Bild eines baulichen Endzustands, der sich scheinbar nicht mehr wandelt. Die Ausstellung führt vor Augen, wie wichtig das Konzept des Unfertigen für die Architektur ist. Es lässt einen kontinuierlichen Prozess der Entwicklung zu und eine Tür offen zu Überraschendem, Unerwartetem und Ideen für zukünftige Erfindungen. Die Kuratoren Inaqui Carnicero und Carlos Quintans meinen, die Ökonomiekrise habe die Architektur in Spanien radikaler gemacht. Für ihren Beitrag wurden sie mit dem Goldenen Löwen 2016 ausgezeichnet.

Skandinavien: auf der Couch

Was ist die Essenz zeitgenössischer skandinavischer Architektur? Finnland, Norwegen und Schweden versuchen sich in ihrer Ausstellung «In Therapy» an einer Psychoanalyse. Aus 500 Projekten wurden neun ausgesucht und drei Kategorien zugeordnet: Projekte, die menschliche Grundbedürfnisse an Obdach, Gesundheit und Bildung erfüllen, die eine Zugehörigkeit ihrer Bewohner über öffentliche Räume und Begegnungsorte fördern und die die Werte der skandinavischen Gesellschaft ausdrücken. Im Pavillon darf man auf der sprichwörtlichen Couch Platz nehmen, und via Fernseher informieren Architekturtherapeuten über die Erkennt­nisse.

Das prägnanteste Ausstellungsstück ist eine Holzpyramide, die bis unter das Dach des Pavillons reicht. Sie lädt zum Klettern oder Sitzen ein, ihr tieferer Sinn erschliesst sich jedoch nicht auf den ersten Blick: Sie soll die Maslow’sche Bedürfnispyramide darstellen, ein Entwicklungsmodell der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse. So versteht sich die Ausstellung als Ausdruck einer Gesellschaft, die bereits die Spitze erreicht hat und es sich leisten kann, eine Architektur­diskussion in höheren Sphären zu führen.

Deutschland: Willkommen. Aber wie?

«Making Heimat» thematisiert die Frage, wie die Integration von Flüchtlingen und Migranten gelingen kann. Die Ausstellung zeigt Fotos von Bauprojekten, die aus Problemvierteln Orte der Toleranz machen. So wird die hessische Stadt Offenbach mit einem Anteil von über 50 % an Personen mit Migrationshintergrund als Vorbild für Integration präsentiert. Eine Fotoserie über Bewohner der Stadt dokumentiert die vielfältigen individuellen Lebenswege. Der Grundtenor der Ausstellung bleibt trotz Flüchtlingskrise optimistisch, das Fazit ist nicht neu: Heimat ist da, wo man sich zu Hause fühlt; wichtig für die Integration sind Bildung, Sprachkenntnisse, berufliche und familiäre Perspektiven, Offenheit sowie der Wille, sich mit der neuen Heimat zu identifizieren. Auch der Pavillon zeigt sich passend zum Thema ungewohnt zugänglich: Vier Durchbrüche durch die Aussenwände laden dazu ein, über Deutschland als offenes Einwanderungsland nachzudenken.

Uruguay: Krisenarchitektur

Die mit einfachen Mitteln realisierte Ausstellung «Reboot» thematisiert Architektur in Extremsituationen. Denn nur in einer solchen werde Kreativität von voreingenommenen baulichen Erfahrungen frei, sagt Kurator Marcello Danza. Ein Loch im Pavillonboden, aus dem die Erde ausgehoben wurde, erinnert an eine Gruppe des Liberacion Nacional Tupamaros, die Ende der 1960er-Jahre mitten in Montevideo im Untergrund ein Raum­system baute, das versteckt neben dem offiziellen existierte. Eine andere Installation erinnert an das «Wunder der Anden» von 1972, als einige Passagiere nach einem Flugzeugabsturz monatelang im ewigen Eis des Hochgebirges überleben.

Ungarn: Planungsprozess umgekehrt

Junge Architekten in der Stadt Eger, im Norden Ungarns, setzten  ein Projekt fast ohne Geld um. Sie baten die Behörden um einen Bau, den niemand haben wollte, und erhielten das 15-jährige Nutzungsrecht eines Hauses in einem Park. Bedingung war, dass der Umbau eine Wertsteigerung zur Folge hatte. Die Architekten kehrten den üblichen Planungsprozess um: Zuerst klärten sie ab, welche Materialien sie von Sponsoren erhalten konnten und was es aus der Umgebung zu rezyklieren gab. Erst dann entwarfen sie den Umbau. Studierende aus einem Polytechnikum halfen bei der Ausführung, die als kollektive Aktivität ins Zentrum rückte. Das Netzwerk, das dabei entstand, ist neben den Wohnräumen für die Architekten die wichtigste Komponente des Projekts. 

TEC21, Fr., 2016.07.15

15. Juli 2016 Danielle Fischer, Judit Solt, Viola John

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