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03. März 2017Cedric van der Poel
TEC21

Baustoff ab Baustelle

Das Unternehmen terrabloc aus Gland produziert seit 2011 mit Zement stabilisierte Lehmsteine. Die Gründer verfolgen dabei einen ästhetischen und wissenschaftlichen Ansatz und wollen den Werkstoff in die regionale Architektur zurückbringen. Ein Besuch vor Ort.

Das Unternehmen terrabloc aus Gland produziert seit 2011 mit Zement stabilisierte Lehmsteine. Die Gründer verfolgen dabei einen ästhetischen und wissenschaftlichen Ansatz und wollen den Werkstoff in die regionale Architektur zurückbringen. Ein Besuch vor Ort.

An einer kleinen Strasse, nur wenige Minuten vom Bahnhof Gland entfernt, produzieren der Architekt Laurent de Wurstemberger und der Werkstoffingenieur Rodrigo Fernandez auf einem ehemaligen Industrieareal Lehmsteine. Die Genfer Unternehmer nutzen die Brache vorübergehend als Produktionsstätte. Das Unternehmen terrabloc und auch seine Produkte sind eine gekonnte Mischung aus wissenschaftlichem und überliefertem Wissen, einem ästhetischen Bezug zum Material Erde, ökologischem und sozialem Verantwortungsgefühl und unternehmerischem Ehrgeiz. Mit ihrem Ansatz liegen die Firmengründer im Trend zu einer schlichteren, sozial und ökologisch engagierten Architektur. Diese Strömung zeigte sich etwa an den Bauten und Projekten die der Pritzkerpreisträger 2016, Alejandro Aravena, anlässlich der Leitung der Architekturbiennale in Venedig auswählte (vgl. «Neues aus aller Welt»). Doch die beiden Genfer interessieren sich schon viel länger für den Lehmbau.

De Wurstemberger, der seine Ausbildung an der Accademia di Architettura in Mendrisio absolvierte, entdeckte die Lehmarchitektur im Jemen und vertiefte seine Kenntnisse auf Reisen nach Marokko, Syrien, ­Jordanien, Ägypten, Burkina Faso und Mali. Sein ­Architekturbüro ar-ter setzte mit Martin Rauch ein Projekt für eine Stampflehmwand in Confignon GE um.

Rodrigo Fernandez befasste sich 2003 in seiner Masterarbeit an der EPFL mit den in Südafrika verwendeten Lehmsteinen. Als er nach dem Studium beim Amt für Geologie des Kantons Genf arbeitete, stellte er fest, dass jährlich über eine Million Kubikmeter Genfer ­Erdaushub auf Deponien entsorgt wird. «Warum wird ein Rohstoff mit so interessanten konstruktiven Eigenschaften entsorgt?», fragten sich die zwei Baufachleute. Das war die Geburtsstunde von terrabloc. Nach der Firmengründung im Jahr 2011 entwickelten die Jung­unternehmer ihre Produkte mehrere Jahre im Labor, um sie den schweizerischen Normen anzupassen.
Geformt mit alter Technik

Der Produktionsablauf von terrabloc beginnt mit der Rohstoffbeschaffung: «Wir beziehen von unseren Lieferanten Unterbodenaushub samt Kies, Wurzeln und anderen darin enthaltenen Stoffen. Wenn sie den Aushub auf der Deponie entsorgen, bezahlen sie 20–30 Fr./m3, wir nehmen ihn für die Hälfte an», sagt Fernandez. Terrabloc kann auch auf der Baustelle produzieren und die dort anfallenden Rohstoffe verwenden. Anderenfalls bereitet eine Brech- und Siebanlage im Werk den Bodenaushub der Baustellen auf. Sie sortiert das Material nach Korngrössen in zwei Klassen und analysiert es mittels Lasergranulometrie.

Dabei wird nicht nur der Tonanteil festgestellt, sondern auch der Karbonatgehalt, denn zu viel Kalk könnte zu Ausblühungen führen. Zudem wird das Korngemisch für eine möglichst hohe Dichte festgelegt. «Das machen wir zur Feinjustierung. Grob gesagt bestehen die Mischungen zu einem Drittel aus fein- und der Rest aus grobkörnigem Material», erklärt de Wurstemberger. Labortests bestimmen zwar die optimale Kornmischung, doch geformt werden die Lehmsteine mit einer althergebrachten Technik, die auf tradiertem Erfahrungswissen beruht.

Die Erdmischung – rund 110 l für 20 Steine – wird in ein Rührwerk gegeben und je nach Ausgangsqualität und Verwendungszweck mit bis zu 5 % Zement stabilisiert. Danach befeuchten kleine Düsen die Mischung gleichmässig. «Die Wassermenge hängt von der Ausgangsfeuchte des Materials ab. Erfahrungsgemäss braucht es 6 l Wasser. Wir bestimmen die exakte Menge über Handtests», ergänzt Laurent de Wurstemberger. Die Steine formt eine herkömmliche Presse, wie man sie überall, wo Lehmsteine produziert werden, kennt. Anschliessend werden sie einen Monat lang in Zellophan verpackt auf Paletten gelagert, bis sie einsatzbereit sind.
Kleine Schritte zum edlen Material

Die Gründer von terrabloc sind keine puristischen ­Verfechter des Lehmbaus, wollen diesen aber keinesfalls abwerten. Sie haben sich aus pragmatischen ­Gründen für Zement entschieden, denn damit erfüllt ihr Produkt europäische Normen und kann in der heimischen Architektur eine breitere Verwendung finden als nur in privaten und aufsehenerregenden Projekten. Laurent de Wurstemberger und Rodrigo Fer­nandez geht es nicht um die Streitfrage «Beton oder Lehm?». Sie wollen in kleinen Schritten, Stein um Stein, den Lehm als modernen Baustoff bekannt machen. Dass dies möglich ist, zeigen die ersten realisierten Projekte wie das Sichtmauerwerk für einen ­Ausstellungspavillon bei einem alten Wasserkraftwerk in Vessy GE oder die Dämmschale für den Besucher­pavillon im Alpengarten Meyrin GE.

In ihrer Herangehensweise, ihrem Enthusiasmus und ihrer Liebe zum edlen Material stehen die zwei Genfer den Puristen in nichts nach. So planen sie denn auch keine Expansion oder Industrialisierung ihres Prozesses. Den Idealen und Zielen, mit denen sie das Unternehmen gegründet haben, sind sie treu geblieben, und ihr Produkt entspricht trotz Zement den Grundsätzen der Erklärung, die am Terra-Kongress 2016 in Lyon verfasst wurde. Dank der mobilen Pro­duktion kann terrabloc den Aushub auf der Baustelle verarbeiten. Das spart Transportwege und ermöglicht die Eigenproduktion durch die Bauherren oder die ­Bauunternehmen. Die Lehmsteine für die erste tra­gende Wand – eine Innenwand für eine Schulmensa in Genf – werden vor Ort aus Aushubmaterial gefertigt.

Zudem arbeitet terrabloc häufig mit der Sozialfirma Réalise zusammen. So leisten die Unternehmer einen sozialen Beitrag, indem sie Kontakte herstellen, und einen pädagogischen, indem sie ihr Know-how und ihre Vision von einer ästhetischen und nachhaltigen Architektur weitergeben.

[Übersetzung: Wulf Übersetzungen]

TEC21, Fr., 2017.03.03



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|09-10 Lehmarchitektur entwickeln

15. Juli 2016Cedric van der Poel
TEC21

Schöpfung und Zufall

Der Architekt Christian Kerez und die Kuratorin Sandra Oehy konfrontieren die Besucher mit einem rätselhaften Raum. Er verweigert jede Referenz und fordert die Wahrnehmung heraus; die Architektur ist Thema und Mittel der Ausstellung zugleich. Das wirft Fragen auf.

Der Architekt Christian Kerez und die Kuratorin Sandra Oehy konfrontieren die Besucher mit einem rätselhaften Raum. Er verweigert jede Referenz und fordert die Wahrnehmung heraus; die Architektur ist Thema und Mittel der Ausstellung zugleich. Das wirft Fragen auf.

Der Zürcher Architekt Christian Kerez sitzt gelassen in seinem «Incidental Space», als er zwei Tage vor Eröffnung der Biennale die Journalisten empfängt. Sein Ton ist ruhig, fast sakral. Die Stimme ist sanft, die Worte präzise: «Dieses Werk transportiert keine Botschaft, ihm ist keinerlei Funktion zugewiesen. Es ist kein Demonstrationsobjekt. Es bietet den Besuchern ein Raumerlebnis.»

Raum als solcher

Dennoch geht es auch um Demonstration. Zum einen dreht sich in «Incidental Space» alles um den architektonischen Raum, ein Thema, dem sich Kerez mit einer an Besessenheit grenzenden Intensität widmet. Der architektonische Raum ist für ihn der Ausgangs- und Zielpunkt des Entwurfs; der Begriff figuriert als erster Eintrag im Glossar, den er in «El Croquis» zusammengestellt hat, und wird als «Element des Widerstands» definiert, das die «Unversehrtheit» der Disziplin gegenüber äusseren Einflüssen und Ideologien bekräftigt.[1] Wie die Museumsprojekte, die Kerez für Guangzhou in China entwickelt, zeugt auch «Incidental Space» von seiner Suche nach einem schwach definierten Raum, der das Bezugssystem des Betrachters ins Wanken bringt.

Die Installation wirkt wie ein grosser weisser Meteorit, der unvermittelt im Schweizer Pavillon gelandet ist. Von aussen ist sie ein geheimnisvolles Objekt aus weissem Beton, das die Sinne anspricht. Die mal glatten, mal rauen Wände der behutsam auf ihrem Holzsockel deponierten Wolke ziehen die Hand an. Das Auge sucht Grenzen und Eingänge. Wie bei einem Guckkasten ermöglicht eine seitliche Öffnung jenen, die sich nicht ins Objekt hineinwagen, einen staunenden Blick ins Innere.

Dort erwartet einen eine Explosion aus Unebenheiten, Falzen und Falten, aus «wirbelartigen Formen, die sich aus neuen Wirbeln speisen».[2] Was auch immer der Besucher im labyrinthischen Innenraum zu erkennen glaubt – einen «Playground» für Kinder, ein Symbol des Mutterleibs, eine heilige Stätte oder einen organisch gewachsenen Ort –, immer ist er frei, eine eigene Interpretation zu wählen. Die Architektur selbst ist das Mittel, mit dem Kerez seine Architekturausstellung zu einem verstörenden Raumerlebnis macht.

Hightech an der ETH Zürich

Die zweite Demonstration betrifft den Entwurfs- und Herstellungsprozess. Kein Raumprogramm, keine Skizze und keine Referenz liegen «Incidental Space» zugrunde. Doch auch wenn er vorerst «durch Zufall» zustande kam, ist er zugleich das Ergebnis eines komplexen Entwurfs- und Fertigungsprozesses; das interdisziplinäre Team versammelte Fachleute aus Architektur, Bauingenieurwesen, für computergestütztes Entwerfen und Konstruieren (CAAD), aus Mathematik, Kunstgeschichte und Kunst.

Der Entwurfsprozess erfolgte mit Abgüssen von Materialien und der Herstellung von Hohlformen. Aus über 300 Modellen wurde eines ausgewählt, digital und analog erfasst und stetig weiterentwickelt. Entwurf und Ausführung benötigten eine Kombination von Mitteln, die vom traditionellen Modell bis hin zu den modernsten digitalen Technologien reichten (vgl. TEC21 23/2016). Dieses technische Arsenal ermöglicht es Kerez, als Schöpfer die vollständige Kontrolle über den Zufall und die freie Form zu beanspruchen. Die Biennale bietet ihm den Rahmen für einen rein experimentellen Raum.

Eigenständig, rätselhaft oder frei?

Drittens demonstriert «Incidental Space» einiges über die Schweiz. Während die meisten Länderpavillons Ausstellungen zeigen, die sich mehr oder weniger stringent mit dem vom chilenischen Kurator Alejandro Aravena gewählten Thema beschäftigen, geht der Schweizer Pavillon andere Wege.

Für Kerez entspricht sein Werk der Leiter, auf der Maria Reiche auf dem Veranstaltungsplakat steht: Da der deutschen Archäologin die finanziellen Mittel fehlten, um ein Flugzeug zu mieten und die Tierdarstellungen der Nazca aus der Luft zu untersuchen, behalf sie sich mit einer Leiter. Analog dazu soll «Incidental Space» die räumliche und architektonische Wahrnehmung der Besucher verändern. Doch Christian Kerez scheint die Hauptbotschaft Aravenas zu ignorieren: Erfindungsgeist und schöpferische Kraft können Zwänge – seien sie wirtschaftlich, rechtlich oder materiell – umgehen, anstatt sie zu bezwingen.

Die Antwort findet sich möglicherweise in der Doppeldeutigkeit des Titels. Die gängigste Definition von «incidental» vermittelt auch die Bedeutung «zweitrangig», «nebensächlich».[3] «Incidental Space» wäre demnach ein «nebensächlicher» Raum.

Indem er als Aussenseiter der Biennale agiert, rückt Kerez in die Nähe des antiken griechischen Philosophen Diogenes von Sinope, des bekanntesten Vertreters der Zyniker, der in einem Fass gelebt haben soll. Mit seinem Werk postuliert Kerez Antikonformismus, individuelle Freiheit und den Willen, zum eigentlichen Wesen der Architektur zurückzukehren: zum Raum.

Diese Geste ist im Rahmen dieser schönen, aber wenig überraschenden Biennale tatsächlich subversiv und durchaus begrüssenswert. Doch sie könnte auch als Zynismus interpretiert werden: als Statement einer Schweiz, die sich gegenüber den Erwartungen eines «Reporting from the Front» taub stellt und ihren Reichtum, ihr technologisches Know-how und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den existenziellen Problemen der Welt zur Schau stellt.


Anmerkungen:
[01] «The term ‹architectural space› seems at first to be purely tautological, since architecture is itself defined by physically built space. But architecture is, for the most part, built without any specific intentions regarding the space beyond an awareness of the three-dimensional quality of space. In this sense, the term ‹architecture space› becomes an element of resistance. It insists on the integrity of the discipline of architecture, which can be influenced from outside but will never be deduced from there.
It defends the idea of architectural space on behalf of those who might wish to use it and experience it against any fast reception of a picturesque or idelogical projection. It insists on the media of architecture against all other perceptions. Certain aspects in architecture such as the client’s brief or the plot, sustainability or poverty are only arbitrary points of departure, merely parameters to reveal the experience of architectural space, an experience that is not possible in any other media. This experience is no longer the result of many other influences but becomes the point of departure and focal point for all thoughts during each design process.» In: El Croquis 182, 2016.
[02] Einige dieser Eigenschaften hat Heinrich Wölfflin als materielle Züge des Barock identifiziert. Vgl. Gilles Deleuze, Le pli. Leibniz et le baroque. Paris, Les Editions de Minuit, S. 7.
[03] www.merriam-webster.com/dictionary
www.biennials.ch
www.kerez.ch
www.espazium.ch/tec21/thema/15-architekturbiennale
www.espazium.ch/enigmatic-space

TEC21, Fr., 2016.07.15



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TEC21 2016|29-30 15. Architekturbiennale Venedig

18. Oktober 2013Cedric van der Poel
TEC21

Genfs Lust auf ein neues Städtebau-Kapitel

Schonungslos rechnet die Genfer Regierung mit der Stadtentwicklung der vergangenen Jahrzehnte ab. Der neue kantonale Richtplan soll die Folgen von 40 Jahren planerischem Stillstand korrigieren. Dafür werden gesetz­liche Grundlagen und Planungsverfahren erneuert. Neue Bauformen sollen Genfs Rückkehr zu einem innovativen Städtebau beflügeln, das für die Stadt so charakteristische Scheibenhochhaus hat ausgedient.

Schonungslos rechnet die Genfer Regierung mit der Stadtentwicklung der vergangenen Jahrzehnte ab. Der neue kantonale Richtplan soll die Folgen von 40 Jahren planerischem Stillstand korrigieren. Dafür werden gesetz­liche Grundlagen und Planungsverfahren erneuert. Neue Bauformen sollen Genfs Rückkehr zu einem innovativen Städtebau beflügeln, das für die Stadt so charakteristische Scheibenhochhaus hat ausgedient.

Im Februar 2013 verabschiedete die Genfer Kantonsregierung den neuen kantonalen Richtplan 2030. Die vorangegangene Konsultation der Verwaltung und die öffentliche Vernehmlassung hatten die grundsätzlichen Ziele des Entwurfs nicht infrage gestellt. Da der technisch formulierte Richtplan nicht für alle verständlich ist, hat der Regierungsrat dazu eine Broschüre herausgegeben und sie mit dem ebenso reizvollen wie doppeldeutigen Wortspiel «Genève Envie» betitelt.[2] Die Publikation übersetzt die technischen Paragrafen in politische Willensbekundungen und macht die Absichten der Regierung im Bereich der Stadt- und Raumentwicklung deutlich, nicht zuletzt im Hinblick auf die Behandlung des neuen Richtplans im Kantonsrat, der ihn am 20. September ebenfalls gutgeheissen hat. Die Broschüre enthält erstaunliche Aussagen, auch wenn sie nicht viel Konkretes über den Inhalt des neuen Richtplans verrät und jenen, die sich zur Sache äussern wollen, dessen Lektüre nicht erspart. Die Illustration tendiert in Richtung Stadtmarketing, der Text jedoch überhaupt nicht. Bei aufmerksamem Lesen wird klar, dass er eher zur Kategorie der politischen Weissbücher gehört, die einen historischen Bruch markieren wollen.

Schonungslose Stadtkritik

Wer den Willen zu einem Bruch bekundet, hat eine Bestandsaufnahme gemacht. Der Befund der Kantonsregierung ist schonungslos. Er beschreibt den Kanton in der Broschüre als monozentrisches Gebiet, in dessen Kern «sich alle Begierden und alle Frustrationen kristallisieren»[3], mit einem Zentrum, das der Arbeit und dem Konsum vorbehalten sei, tagsüber belebt, doch «nachts und am Wochenende verlassen, abgesehen von einigen Touristen und unerlaubten Aktivitäten», und mit Randgebieten, «in denen man nichts tut ausser schlafen»[4]. Ein Kanton, in dem die Wohnungsknappheit und die Höhe der Mieten für einen «neuen Feudalismus» und «Schmugglerpraktiken»[5] gesorgt hätten, in dem Familien verarmten und die Nettoeinkommen der Haushalte zu den niedrigsten der Schweiz gehörten, wo «junge Familien mehr arbeiten müssen und mehr Zeit brauchen, um vom Wohn- zum Arbeitsort zu gelangen, dafür weniger Zeit für ihre Kinder finden und am Monatsende nach dem Begleichen von Miete und Kinderbetreuungskosten weniger Geld haben.»[6] Schliesslich beurteilt der Regierungsrat trocken und ohne Umschweife die Wohnbauarchitektur der vergangenen Jahre: «Seit mehreren Jahrzehnten scheinen Fantasie und Kreativität, was den Wohnungsbau angeht, unseren Kanton verlassen zu haben. Die behördliche Praxis und die kantonalen Normen sind dafür mitverantwortlich. Wir errichten nur noch standardisierte Bauten, rechteckige Quader mit ebenso normierten, traurigen Rasenstreifen. Diese sind zu klein für die Ballspiele der Kinder und zu nah an den Fassaden, als dass Geruch und Rauch einer Grillade erträglich wären, umgekehrt aber so gross, dass auf den Trottoirs kein Raum bleibt, wo sich eine urbane Betriebsamkeit entfalten könnte», kurz: «Quartiere, die niemanden zum Träumen bringen.»[7] Nach dieser Zustandsanalyse würde man Genf am liebsten verlassen – doch die Broschüre verkündet Lust auf Veränderungen. Sie betreffen die Gesetzgebung und die behördliche Praxis in den Bereichen Architektur, Städtebau und Stadtentwicklung und auch die Architektur selbst: Statt der «Barres», der in Genf allgegenwärtigen Scheibenhochhäuser, sollen endlich andere bauliche Formen gefunden werden. Die im Richtplan 2030 vorgesehenen Stadterweiterungen und Nachverdichtungen bieten reichlich Gelegenheit zur architektonischen Formsuche, allerdings müssen noch einige hemmende gesetzliche Grundlagen und behördliche Verfahren modernisiert werden, bevor die jahrzehntealte Blockade der Genfer Stadtentwicklungspolitik überwunden werden kann.

Gesetzesänderungen für die sozialräumliche Entwicklung

Im August 2013 wurde das Gesetz über die Zonen für industrielle oder gemischte Nutzung[8] angepasst; dabei wurden die strikten Nutzungsvorschriften für Industriezonen aufgeweicht. Diese dürfen künftig 40 % Dienstleistungen, Kultur und Veranstaltungen enthalten. Das führt zur Frage, wie solche Mischzonen gestaltet werden und wie Architekturen aussehen sollen, die gleichzeitig Produktionsbetriebe, Dienstleistungen und Freizeitaktivitäten aufnehmen. Dass die Industriezonen nicht mehr einer unkoordinierten, chaotischen Entwicklung geopfert werden, zeigt sich auch darin, dass für die Industriezonen von Meyrin, Satigny und Vernier – eines von zehn prioritären Grossprojekte im Richtplan 2030 – vor Kurzem ein übergreifender Planungsauftrag ausgeschrieben wurde.

Eine andere vom Regierungsrat angestrebte Änderung betrifft einen neuen Lastenausgleich. Heute zahlen Bewohner des Kantons Genf einen Grossteil der Gemeindesteuern am Arbeitsort und nicht, wie in anderen Kantonen, in der Wohngemeinde. Dies regt die Gemeinden nicht zur Förderung des Wohnungsbaus an und trägt zum finanziellen Gefälle zwischen ihnen bei. Eine Korrektur erscheint im Hinblick auf die Grossprojekte des Richtplans 2030 und auf die Investitionen, die etliche Gemeinden dafür erbringen müssen, zwingend.

Neue Planungsverfahren für bessere Architektur

Während diese Änderungen auf Gesetzesebene vor allem die funktionale Vielfalt der Quartiere und die soziale Durchmischung der Bevölkerung beeinflussen und für ein Gleichgewicht in der sozialräumlichen Entwicklung sorgen wollen, zielen Veränderungen bei den behördlichen Verfahren auf bauliche Verdichtung und architektonische Vielfalt. Seit November 2012 beraten Stadtplaner, Architekturschaffende, Projektentwickler und Vertreter verschiedener Verwaltungsebenen ausführlich über die Art und Weise, wie das Verfahren des «Plan localisé de Quartier» (PLQ, vgl. Kasten) künftig durchgeführt werden soll. Die Ziele sind einfachere und systematischere Abläufe, eine grössere Effizienz des Verfahrens und eine bessere Qualität. Die Diskussion ist noch im Gang, doch konnte Kantonsarchitekt Francesco della Casa schon einige Wege vorspuren.

Eine wichtige Änderung betrifft die Reichweite des PLQ: Die heute übliche Regulierungsdichte könnte durch einen «Mantelperimeter» ersetzt werden, auf dem Varianten getestet werden können. Dies zielt auf die bisherige behördliche Praxis, nicht nur die Lage der Bauten, sondern auch deren Form und Nutzung zu diktieren. Della Casa räumt ein: «Der Kanton hat seine Rolle manchmal überinterpretiert. Unser Ziel ist nicht, im Städtebau und in der Stadtgestaltung die Hauptrolle zu spielen, sondern Regeln aufzustellen – etwa über die Bezüge zwischen Baufront und Strasse –, zwischen Privatgrund und öffentlichem Raum oder zwischen Erdgeschoss und Strasse, auf deren Basis die Planer ihr Projekt entwickeln und realisieren können.»[9]

Künftig soll das PLQ-Verfahren in vier Etappen unterteilt werden: In einer ersten Phase werden die Interessen der verschiedenen Akteure, namentlich der Grundbesitzer, geklärt. Es folgt eine Phase mit Machbarkeitsstudien, in der bereits zum ersten Mal die Vertreter der bewilligenden Amtsstellen zusammenkommen sollen, um technische Rahmenbedingungen und Hauptziele des PLQ herauszuschälen. Diese Phase soll das Verfahren wesentlich vereinfachen, denn «die 42 behördlichen Instanzen, die zu einem PLQ Stellung nehmen müssen, sollen das nicht mehr einzeln, eine nach der andern tun, sondern mehrere von ihnen werden zusammengerufen – je nach thematischer Prioritätensetzung die einen früher, die anderen etwas später. Das sollte uns erlauben, den Planungsgebieten einen deutlicheren Charakter zu geben und dann rasch eine Übereinstimmung zu erzielen», erklärt della Casa. Die beiden letzten Phasen betreffen die Koordination und die technische Umsetzung des Plans. Diese Änderungen sollen das Planungsverfahren stärker im konkreten städtischen und landschaftlichen Kontext verankern, den Architekturschaffenden mehr Freiheit bei der Ausarbeitung der Bauprojekte lassen und die architektonische Vielfalt fördern.

Die politische wie die fachliche Debatte werden gegenwärtig von der baulichen Verdichtung beherrscht. Die politische, weil das Volk nach einem Referendum zum erneuerten Gesetz über die Entwicklungszonen Stellung nehmen muss und dieses Gesetz für jede Zone Mindestausnützungsziffern in den PLQ einführen will. Die fachliche Debatte, weil diese Mindestausnützungsziffer nicht alle Fachleute überzeugt. Denn sie kommt zu der bereits im Zonenplan festgelegten Ausnützungsziffer hinzu und droht damit die Planung noch komplizierter zu machen, als sie jetzt schon ist. Und Baudirektor François Longchamp liess verlauten, die Idee stamme nicht von der Regierung, diese könne auch ohne sie leben.[10]

Das Scheibenhochhaus ist tot

Betrachtet man alle diese Gesetzes- und Verfahrensänderungen, zeichnet sich der Umriss einer neuen städtebaulichen Vision ab. Sie verwirft Teile der architektonischen Produktion der Nachkriegszeit und gliedert sich in den aktuellen Diskurs ein, der sich um die soziale und funktionelle Durchmischung, den öffentlichen Raum, Dichte und urbane Intensität, die gemeinsame Nutzung von Räumen und um typologische und formale Vielfalt dreht. «Vergleicht man Luftaufnahmen von Basel und von Genf, springt ein Unterschied ins Auge», erläutert della Casa. «Zwei relativ flache, von einem Fluss durchströmte Gegenden im selben Land – doch zwei ganz verschiedene Traditionen: Blockrandbebauung in Basel, Scheibenhochhäuser in Genf. Das vom Architekten Denis Honegger in Genf in der Nachkriegszeit perfektionierte System der Vorfabrikation von Hochhausscheiben aus Beton war so effizient, dass es alle anderen Formen verdrängen konnte.»

Der historische Bruch, den die Regierung in «Genève Envie» verkündet, vollzieht mit einigen Jahren Verspätung eine Entwicklung nach, die der an der ETH Lausanne lehrende französische Architekt und Architekturhistoriker Jacques Lucan in seinem Buch «Où va la ville aujourd’hui? Formes urbaines et mixités» beschreibt. Ausgehend von einer gründlichen Untersuchung der Erfahrungen, die in Frankreich seit den 1990er-Jahren mit den «Zones d’aménagement concertés» (ZAC) gemacht werden, zeigt er, dass sich aus den wichtigsten inhaltlichen Anliegen der Stadtentwicklung eine neue Art von Planungsverfahren entwickelt hat.[11] Hier finden sich Vokabular und Leitmotive der aktuellen Genfer Debatte wieder: soziale Durchmischung und funktionale Vielfalt, gemeinsame und flexible Nutzungen, Partnerschaft und Verhandlung zwischen Behörden und privaten Akteuren. Und wie in den jüngsten Genfer Planungen kommt die differenziert gestaltete offene Blockrandbebauung als Bauform zum Zug. Lucan bezieht sich dabei auf Bauten und Theorie des französischen Architekten Christian de Portzamparc. Ihm zufolge tritt die moderne europäische Stadt – nach dem 19. Jahrhundert mit geschlossener Blockrandbebauung und der klassischen Moderne mit frei im Raum stehenden Bauten – heute mit dem differenziert und individuell überbauten Block als prägender Bauform in ihre dritte historische Phase ein.[12]

Steht Genf vor diesem städtebaulichen Übergang? Politik und Architekturszene haben genug vom Scheibenhochhaus. Zwar ist der Richtplan 2030 nicht auf eine bestimmte architektonische Form angewiesen, doch scheint es in erster Linie um einen psychologischen Faktor zu gehen: Man sehnt sich nach neuen Formen, die den Aufbruch signalisieren, um den längst umfassend diskutierten Richtplan endlich umsetzen zu können. Den Mumm, aus dessen Prinzipien eigene Formen zu entwickeln, scheint man allerdings noch nicht gefunden zu haben und sucht deshalb Referenzen in der französischen Postmoderne.

Doch Zeichen des Aufbruchs gibt es viele: die Rede vom historischen Bruch, die Dringlichkeit, die Grossprojekten wie der Entwicklung des Gebiets Praille-Acacias-Vernets eingeräumt wird (Tec21 36/2011, S. 22), die Fortschritte beim Bau der S-Bahn CEVA (Tec21 36/2011, S. 27), die Aufmerksamkeit, die dem öffentlichen Raum zukommt, und der Eifer, den Bauvorstand François Longchamp bei der Erneuerung der Gesetze an den Tag legt. Vorerst eher kleine Projekte privater Akteure, bei denen das Vorgehen an neuere französische Quartierplanungen erinnert, bestärken die Hoffnung (vgl. S. 28). Doch der Nachholbedarf aus den vergangenen Jahrzehnten ist enorm und die Skepsis der Fachleute nach wie vor gross. Der einzige Weg, die «Envie» der Genferinnen und Genfer wieder zu wecken, ist wohl, die bisherige Übervorsichtigkeit aufzugeben, den Mut zum Fehlermachen zu finden und von einer Planungspraxis der Berichte, Studien und Pläne endlich zum Bauen und Ausprobieren überzugehen.


Anmerkungen:
[01] Informationen und Dokumente zum Richtplan 2030: http://etat.geneve.ch/dt/amenagement/projet_pdcn_2030-686-4369.html
[02] République et Canton de Genève: Genève Envie, Februar 2013. (PDF: http://etat.geneve.ch/geo-data/SIAMEN/PDCn/PDCn_CE_Brochure.pdf)
[03] République et Canton de Genève: Genève Envie, Februar 2013, S. 11.
4 Ebd. S. 8.
5 Ebd. S. 16.
6 Ebd. S. 20.
7 Ebd. S. 24.
[08] Loi générale sur les zones de développement industriel ou d’activités mixtes (LGZDI).
[09] Alle Aussagen von Kantonsarchitekt Francesco
della Casa stammen aus einem Gespräch mit Koautor Cedric van der Poel im August 2013 in Genf.
[10] «Décroître, pour une ville, c’est la mort» in: Le Temps, 18.7.2013.
[11] Jacques Lucan: Ou va la ville aujourd’hui? Formes urbaines et mixités. Paris 2012, S. 9.
[12] Christian de Portzamparc: «La ville âge III», Vortrag an den Conferences Paris d’architectes im Pavillon de l’Arsenal 1994. Les mini-PA, Nr. 5, Paris 1995, zit. nach Lucan, a .a. O., S. 43–46; vgl. auch Lucan, a. a. O., S. 45.

TEC21, Fr., 2013.10.18



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Presseschau 12

03. März 2017Cedric van der Poel
TEC21

Baustoff ab Baustelle

Das Unternehmen terrabloc aus Gland produziert seit 2011 mit Zement stabilisierte Lehmsteine. Die Gründer verfolgen dabei einen ästhetischen und wissenschaftlichen Ansatz und wollen den Werkstoff in die regionale Architektur zurückbringen. Ein Besuch vor Ort.

Das Unternehmen terrabloc aus Gland produziert seit 2011 mit Zement stabilisierte Lehmsteine. Die Gründer verfolgen dabei einen ästhetischen und wissenschaftlichen Ansatz und wollen den Werkstoff in die regionale Architektur zurückbringen. Ein Besuch vor Ort.

An einer kleinen Strasse, nur wenige Minuten vom Bahnhof Gland entfernt, produzieren der Architekt Laurent de Wurstemberger und der Werkstoffingenieur Rodrigo Fernandez auf einem ehemaligen Industrieareal Lehmsteine. Die Genfer Unternehmer nutzen die Brache vorübergehend als Produktionsstätte. Das Unternehmen terrabloc und auch seine Produkte sind eine gekonnte Mischung aus wissenschaftlichem und überliefertem Wissen, einem ästhetischen Bezug zum Material Erde, ökologischem und sozialem Verantwortungsgefühl und unternehmerischem Ehrgeiz. Mit ihrem Ansatz liegen die Firmengründer im Trend zu einer schlichteren, sozial und ökologisch engagierten Architektur. Diese Strömung zeigte sich etwa an den Bauten und Projekten die der Pritzkerpreisträger 2016, Alejandro Aravena, anlässlich der Leitung der Architekturbiennale in Venedig auswählte (vgl. «Neues aus aller Welt»). Doch die beiden Genfer interessieren sich schon viel länger für den Lehmbau.

De Wurstemberger, der seine Ausbildung an der Accademia di Architettura in Mendrisio absolvierte, entdeckte die Lehmarchitektur im Jemen und vertiefte seine Kenntnisse auf Reisen nach Marokko, Syrien, ­Jordanien, Ägypten, Burkina Faso und Mali. Sein ­Architekturbüro ar-ter setzte mit Martin Rauch ein Projekt für eine Stampflehmwand in Confignon GE um.

Rodrigo Fernandez befasste sich 2003 in seiner Masterarbeit an der EPFL mit den in Südafrika verwendeten Lehmsteinen. Als er nach dem Studium beim Amt für Geologie des Kantons Genf arbeitete, stellte er fest, dass jährlich über eine Million Kubikmeter Genfer ­Erdaushub auf Deponien entsorgt wird. «Warum wird ein Rohstoff mit so interessanten konstruktiven Eigenschaften entsorgt?», fragten sich die zwei Baufachleute. Das war die Geburtsstunde von terrabloc. Nach der Firmengründung im Jahr 2011 entwickelten die Jung­unternehmer ihre Produkte mehrere Jahre im Labor, um sie den schweizerischen Normen anzupassen.
Geformt mit alter Technik

Der Produktionsablauf von terrabloc beginnt mit der Rohstoffbeschaffung: «Wir beziehen von unseren Lieferanten Unterbodenaushub samt Kies, Wurzeln und anderen darin enthaltenen Stoffen. Wenn sie den Aushub auf der Deponie entsorgen, bezahlen sie 20–30 Fr./m3, wir nehmen ihn für die Hälfte an», sagt Fernandez. Terrabloc kann auch auf der Baustelle produzieren und die dort anfallenden Rohstoffe verwenden. Anderenfalls bereitet eine Brech- und Siebanlage im Werk den Bodenaushub der Baustellen auf. Sie sortiert das Material nach Korngrössen in zwei Klassen und analysiert es mittels Lasergranulometrie.

Dabei wird nicht nur der Tonanteil festgestellt, sondern auch der Karbonatgehalt, denn zu viel Kalk könnte zu Ausblühungen führen. Zudem wird das Korngemisch für eine möglichst hohe Dichte festgelegt. «Das machen wir zur Feinjustierung. Grob gesagt bestehen die Mischungen zu einem Drittel aus fein- und der Rest aus grobkörnigem Material», erklärt de Wurstemberger. Labortests bestimmen zwar die optimale Kornmischung, doch geformt werden die Lehmsteine mit einer althergebrachten Technik, die auf tradiertem Erfahrungswissen beruht.

Die Erdmischung – rund 110 l für 20 Steine – wird in ein Rührwerk gegeben und je nach Ausgangsqualität und Verwendungszweck mit bis zu 5 % Zement stabilisiert. Danach befeuchten kleine Düsen die Mischung gleichmässig. «Die Wassermenge hängt von der Ausgangsfeuchte des Materials ab. Erfahrungsgemäss braucht es 6 l Wasser. Wir bestimmen die exakte Menge über Handtests», ergänzt Laurent de Wurstemberger. Die Steine formt eine herkömmliche Presse, wie man sie überall, wo Lehmsteine produziert werden, kennt. Anschliessend werden sie einen Monat lang in Zellophan verpackt auf Paletten gelagert, bis sie einsatzbereit sind.
Kleine Schritte zum edlen Material

Die Gründer von terrabloc sind keine puristischen ­Verfechter des Lehmbaus, wollen diesen aber keinesfalls abwerten. Sie haben sich aus pragmatischen ­Gründen für Zement entschieden, denn damit erfüllt ihr Produkt europäische Normen und kann in der heimischen Architektur eine breitere Verwendung finden als nur in privaten und aufsehenerregenden Projekten. Laurent de Wurstemberger und Rodrigo Fer­nandez geht es nicht um die Streitfrage «Beton oder Lehm?». Sie wollen in kleinen Schritten, Stein um Stein, den Lehm als modernen Baustoff bekannt machen. Dass dies möglich ist, zeigen die ersten realisierten Projekte wie das Sichtmauerwerk für einen ­Ausstellungspavillon bei einem alten Wasserkraftwerk in Vessy GE oder die Dämmschale für den Besucher­pavillon im Alpengarten Meyrin GE.

In ihrer Herangehensweise, ihrem Enthusiasmus und ihrer Liebe zum edlen Material stehen die zwei Genfer den Puristen in nichts nach. So planen sie denn auch keine Expansion oder Industrialisierung ihres Prozesses. Den Idealen und Zielen, mit denen sie das Unternehmen gegründet haben, sind sie treu geblieben, und ihr Produkt entspricht trotz Zement den Grundsätzen der Erklärung, die am Terra-Kongress 2016 in Lyon verfasst wurde. Dank der mobilen Pro­duktion kann terrabloc den Aushub auf der Baustelle verarbeiten. Das spart Transportwege und ermöglicht die Eigenproduktion durch die Bauherren oder die ­Bauunternehmen. Die Lehmsteine für die erste tra­gende Wand – eine Innenwand für eine Schulmensa in Genf – werden vor Ort aus Aushubmaterial gefertigt.

Zudem arbeitet terrabloc häufig mit der Sozialfirma Réalise zusammen. So leisten die Unternehmer einen sozialen Beitrag, indem sie Kontakte herstellen, und einen pädagogischen, indem sie ihr Know-how und ihre Vision von einer ästhetischen und nachhaltigen Architektur weitergeben.

[Übersetzung: Wulf Übersetzungen]

TEC21, Fr., 2017.03.03



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TEC21 2017|09-10 Lehmarchitektur entwickeln

15. Juli 2016Cedric van der Poel
TEC21

Schöpfung und Zufall

Der Architekt Christian Kerez und die Kuratorin Sandra Oehy konfrontieren die Besucher mit einem rätselhaften Raum. Er verweigert jede Referenz und fordert die Wahrnehmung heraus; die Architektur ist Thema und Mittel der Ausstellung zugleich. Das wirft Fragen auf.

Der Architekt Christian Kerez und die Kuratorin Sandra Oehy konfrontieren die Besucher mit einem rätselhaften Raum. Er verweigert jede Referenz und fordert die Wahrnehmung heraus; die Architektur ist Thema und Mittel der Ausstellung zugleich. Das wirft Fragen auf.

Der Zürcher Architekt Christian Kerez sitzt gelassen in seinem «Incidental Space», als er zwei Tage vor Eröffnung der Biennale die Journalisten empfängt. Sein Ton ist ruhig, fast sakral. Die Stimme ist sanft, die Worte präzise: «Dieses Werk transportiert keine Botschaft, ihm ist keinerlei Funktion zugewiesen. Es ist kein Demonstrationsobjekt. Es bietet den Besuchern ein Raumerlebnis.»

Raum als solcher

Dennoch geht es auch um Demonstration. Zum einen dreht sich in «Incidental Space» alles um den architektonischen Raum, ein Thema, dem sich Kerez mit einer an Besessenheit grenzenden Intensität widmet. Der architektonische Raum ist für ihn der Ausgangs- und Zielpunkt des Entwurfs; der Begriff figuriert als erster Eintrag im Glossar, den er in «El Croquis» zusammengestellt hat, und wird als «Element des Widerstands» definiert, das die «Unversehrtheit» der Disziplin gegenüber äusseren Einflüssen und Ideologien bekräftigt.[1] Wie die Museumsprojekte, die Kerez für Guangzhou in China entwickelt, zeugt auch «Incidental Space» von seiner Suche nach einem schwach definierten Raum, der das Bezugssystem des Betrachters ins Wanken bringt.

Die Installation wirkt wie ein grosser weisser Meteorit, der unvermittelt im Schweizer Pavillon gelandet ist. Von aussen ist sie ein geheimnisvolles Objekt aus weissem Beton, das die Sinne anspricht. Die mal glatten, mal rauen Wände der behutsam auf ihrem Holzsockel deponierten Wolke ziehen die Hand an. Das Auge sucht Grenzen und Eingänge. Wie bei einem Guckkasten ermöglicht eine seitliche Öffnung jenen, die sich nicht ins Objekt hineinwagen, einen staunenden Blick ins Innere.

Dort erwartet einen eine Explosion aus Unebenheiten, Falzen und Falten, aus «wirbelartigen Formen, die sich aus neuen Wirbeln speisen».[2] Was auch immer der Besucher im labyrinthischen Innenraum zu erkennen glaubt – einen «Playground» für Kinder, ein Symbol des Mutterleibs, eine heilige Stätte oder einen organisch gewachsenen Ort –, immer ist er frei, eine eigene Interpretation zu wählen. Die Architektur selbst ist das Mittel, mit dem Kerez seine Architekturausstellung zu einem verstörenden Raumerlebnis macht.

Hightech an der ETH Zürich

Die zweite Demonstration betrifft den Entwurfs- und Herstellungsprozess. Kein Raumprogramm, keine Skizze und keine Referenz liegen «Incidental Space» zugrunde. Doch auch wenn er vorerst «durch Zufall» zustande kam, ist er zugleich das Ergebnis eines komplexen Entwurfs- und Fertigungsprozesses; das interdisziplinäre Team versammelte Fachleute aus Architektur, Bauingenieurwesen, für computergestütztes Entwerfen und Konstruieren (CAAD), aus Mathematik, Kunstgeschichte und Kunst.

Der Entwurfsprozess erfolgte mit Abgüssen von Materialien und der Herstellung von Hohlformen. Aus über 300 Modellen wurde eines ausgewählt, digital und analog erfasst und stetig weiterentwickelt. Entwurf und Ausführung benötigten eine Kombination von Mitteln, die vom traditionellen Modell bis hin zu den modernsten digitalen Technologien reichten (vgl. TEC21 23/2016). Dieses technische Arsenal ermöglicht es Kerez, als Schöpfer die vollständige Kontrolle über den Zufall und die freie Form zu beanspruchen. Die Biennale bietet ihm den Rahmen für einen rein experimentellen Raum.

Eigenständig, rätselhaft oder frei?

Drittens demonstriert «Incidental Space» einiges über die Schweiz. Während die meisten Länderpavillons Ausstellungen zeigen, die sich mehr oder weniger stringent mit dem vom chilenischen Kurator Alejandro Aravena gewählten Thema beschäftigen, geht der Schweizer Pavillon andere Wege.

Für Kerez entspricht sein Werk der Leiter, auf der Maria Reiche auf dem Veranstaltungsplakat steht: Da der deutschen Archäologin die finanziellen Mittel fehlten, um ein Flugzeug zu mieten und die Tierdarstellungen der Nazca aus der Luft zu untersuchen, behalf sie sich mit einer Leiter. Analog dazu soll «Incidental Space» die räumliche und architektonische Wahrnehmung der Besucher verändern. Doch Christian Kerez scheint die Hauptbotschaft Aravenas zu ignorieren: Erfindungsgeist und schöpferische Kraft können Zwänge – seien sie wirtschaftlich, rechtlich oder materiell – umgehen, anstatt sie zu bezwingen.

Die Antwort findet sich möglicherweise in der Doppeldeutigkeit des Titels. Die gängigste Definition von «incidental» vermittelt auch die Bedeutung «zweitrangig», «nebensächlich».[3] «Incidental Space» wäre demnach ein «nebensächlicher» Raum.

Indem er als Aussenseiter der Biennale agiert, rückt Kerez in die Nähe des antiken griechischen Philosophen Diogenes von Sinope, des bekanntesten Vertreters der Zyniker, der in einem Fass gelebt haben soll. Mit seinem Werk postuliert Kerez Antikonformismus, individuelle Freiheit und den Willen, zum eigentlichen Wesen der Architektur zurückzukehren: zum Raum.

Diese Geste ist im Rahmen dieser schönen, aber wenig überraschenden Biennale tatsächlich subversiv und durchaus begrüssenswert. Doch sie könnte auch als Zynismus interpretiert werden: als Statement einer Schweiz, die sich gegenüber den Erwartungen eines «Reporting from the Front» taub stellt und ihren Reichtum, ihr technologisches Know-how und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den existenziellen Problemen der Welt zur Schau stellt.


Anmerkungen:
[01] «The term ‹architectural space› seems at first to be purely tautological, since architecture is itself defined by physically built space. But architecture is, for the most part, built without any specific intentions regarding the space beyond an awareness of the three-dimensional quality of space. In this sense, the term ‹architecture space› becomes an element of resistance. It insists on the integrity of the discipline of architecture, which can be influenced from outside but will never be deduced from there.
It defends the idea of architectural space on behalf of those who might wish to use it and experience it against any fast reception of a picturesque or idelogical projection. It insists on the media of architecture against all other perceptions. Certain aspects in architecture such as the client’s brief or the plot, sustainability or poverty are only arbitrary points of departure, merely parameters to reveal the experience of architectural space, an experience that is not possible in any other media. This experience is no longer the result of many other influences but becomes the point of departure and focal point for all thoughts during each design process.» In: El Croquis 182, 2016.
[02] Einige dieser Eigenschaften hat Heinrich Wölfflin als materielle Züge des Barock identifiziert. Vgl. Gilles Deleuze, Le pli. Leibniz et le baroque. Paris, Les Editions de Minuit, S. 7.
[03] www.merriam-webster.com/dictionary
www.biennials.ch
www.kerez.ch
www.espazium.ch/tec21/thema/15-architekturbiennale
www.espazium.ch/enigmatic-space

TEC21, Fr., 2016.07.15



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TEC21 2016|29-30 15. Architekturbiennale Venedig

18. Oktober 2013Cedric van der Poel
TEC21

Genfs Lust auf ein neues Städtebau-Kapitel

Schonungslos rechnet die Genfer Regierung mit der Stadtentwicklung der vergangenen Jahrzehnte ab. Der neue kantonale Richtplan soll die Folgen von 40 Jahren planerischem Stillstand korrigieren. Dafür werden gesetz­liche Grundlagen und Planungsverfahren erneuert. Neue Bauformen sollen Genfs Rückkehr zu einem innovativen Städtebau beflügeln, das für die Stadt so charakteristische Scheibenhochhaus hat ausgedient.

Schonungslos rechnet die Genfer Regierung mit der Stadtentwicklung der vergangenen Jahrzehnte ab. Der neue kantonale Richtplan soll die Folgen von 40 Jahren planerischem Stillstand korrigieren. Dafür werden gesetz­liche Grundlagen und Planungsverfahren erneuert. Neue Bauformen sollen Genfs Rückkehr zu einem innovativen Städtebau beflügeln, das für die Stadt so charakteristische Scheibenhochhaus hat ausgedient.

Im Februar 2013 verabschiedete die Genfer Kantonsregierung den neuen kantonalen Richtplan 2030. Die vorangegangene Konsultation der Verwaltung und die öffentliche Vernehmlassung hatten die grundsätzlichen Ziele des Entwurfs nicht infrage gestellt. Da der technisch formulierte Richtplan nicht für alle verständlich ist, hat der Regierungsrat dazu eine Broschüre herausgegeben und sie mit dem ebenso reizvollen wie doppeldeutigen Wortspiel «Genève Envie» betitelt.[2] Die Publikation übersetzt die technischen Paragrafen in politische Willensbekundungen und macht die Absichten der Regierung im Bereich der Stadt- und Raumentwicklung deutlich, nicht zuletzt im Hinblick auf die Behandlung des neuen Richtplans im Kantonsrat, der ihn am 20. September ebenfalls gutgeheissen hat. Die Broschüre enthält erstaunliche Aussagen, auch wenn sie nicht viel Konkretes über den Inhalt des neuen Richtplans verrät und jenen, die sich zur Sache äussern wollen, dessen Lektüre nicht erspart. Die Illustration tendiert in Richtung Stadtmarketing, der Text jedoch überhaupt nicht. Bei aufmerksamem Lesen wird klar, dass er eher zur Kategorie der politischen Weissbücher gehört, die einen historischen Bruch markieren wollen.

Schonungslose Stadtkritik

Wer den Willen zu einem Bruch bekundet, hat eine Bestandsaufnahme gemacht. Der Befund der Kantonsregierung ist schonungslos. Er beschreibt den Kanton in der Broschüre als monozentrisches Gebiet, in dessen Kern «sich alle Begierden und alle Frustrationen kristallisieren»[3], mit einem Zentrum, das der Arbeit und dem Konsum vorbehalten sei, tagsüber belebt, doch «nachts und am Wochenende verlassen, abgesehen von einigen Touristen und unerlaubten Aktivitäten», und mit Randgebieten, «in denen man nichts tut ausser schlafen»[4]. Ein Kanton, in dem die Wohnungsknappheit und die Höhe der Mieten für einen «neuen Feudalismus» und «Schmugglerpraktiken»[5] gesorgt hätten, in dem Familien verarmten und die Nettoeinkommen der Haushalte zu den niedrigsten der Schweiz gehörten, wo «junge Familien mehr arbeiten müssen und mehr Zeit brauchen, um vom Wohn- zum Arbeitsort zu gelangen, dafür weniger Zeit für ihre Kinder finden und am Monatsende nach dem Begleichen von Miete und Kinderbetreuungskosten weniger Geld haben.»[6] Schliesslich beurteilt der Regierungsrat trocken und ohne Umschweife die Wohnbauarchitektur der vergangenen Jahre: «Seit mehreren Jahrzehnten scheinen Fantasie und Kreativität, was den Wohnungsbau angeht, unseren Kanton verlassen zu haben. Die behördliche Praxis und die kantonalen Normen sind dafür mitverantwortlich. Wir errichten nur noch standardisierte Bauten, rechteckige Quader mit ebenso normierten, traurigen Rasenstreifen. Diese sind zu klein für die Ballspiele der Kinder und zu nah an den Fassaden, als dass Geruch und Rauch einer Grillade erträglich wären, umgekehrt aber so gross, dass auf den Trottoirs kein Raum bleibt, wo sich eine urbane Betriebsamkeit entfalten könnte», kurz: «Quartiere, die niemanden zum Träumen bringen.»[7] Nach dieser Zustandsanalyse würde man Genf am liebsten verlassen – doch die Broschüre verkündet Lust auf Veränderungen. Sie betreffen die Gesetzgebung und die behördliche Praxis in den Bereichen Architektur, Städtebau und Stadtentwicklung und auch die Architektur selbst: Statt der «Barres», der in Genf allgegenwärtigen Scheibenhochhäuser, sollen endlich andere bauliche Formen gefunden werden. Die im Richtplan 2030 vorgesehenen Stadterweiterungen und Nachverdichtungen bieten reichlich Gelegenheit zur architektonischen Formsuche, allerdings müssen noch einige hemmende gesetzliche Grundlagen und behördliche Verfahren modernisiert werden, bevor die jahrzehntealte Blockade der Genfer Stadtentwicklungspolitik überwunden werden kann.

Gesetzesänderungen für die sozialräumliche Entwicklung

Im August 2013 wurde das Gesetz über die Zonen für industrielle oder gemischte Nutzung[8] angepasst; dabei wurden die strikten Nutzungsvorschriften für Industriezonen aufgeweicht. Diese dürfen künftig 40 % Dienstleistungen, Kultur und Veranstaltungen enthalten. Das führt zur Frage, wie solche Mischzonen gestaltet werden und wie Architekturen aussehen sollen, die gleichzeitig Produktionsbetriebe, Dienstleistungen und Freizeitaktivitäten aufnehmen. Dass die Industriezonen nicht mehr einer unkoordinierten, chaotischen Entwicklung geopfert werden, zeigt sich auch darin, dass für die Industriezonen von Meyrin, Satigny und Vernier – eines von zehn prioritären Grossprojekte im Richtplan 2030 – vor Kurzem ein übergreifender Planungsauftrag ausgeschrieben wurde.

Eine andere vom Regierungsrat angestrebte Änderung betrifft einen neuen Lastenausgleich. Heute zahlen Bewohner des Kantons Genf einen Grossteil der Gemeindesteuern am Arbeitsort und nicht, wie in anderen Kantonen, in der Wohngemeinde. Dies regt die Gemeinden nicht zur Förderung des Wohnungsbaus an und trägt zum finanziellen Gefälle zwischen ihnen bei. Eine Korrektur erscheint im Hinblick auf die Grossprojekte des Richtplans 2030 und auf die Investitionen, die etliche Gemeinden dafür erbringen müssen, zwingend.

Neue Planungsverfahren für bessere Architektur

Während diese Änderungen auf Gesetzesebene vor allem die funktionale Vielfalt der Quartiere und die soziale Durchmischung der Bevölkerung beeinflussen und für ein Gleichgewicht in der sozialräumlichen Entwicklung sorgen wollen, zielen Veränderungen bei den behördlichen Verfahren auf bauliche Verdichtung und architektonische Vielfalt. Seit November 2012 beraten Stadtplaner, Architekturschaffende, Projektentwickler und Vertreter verschiedener Verwaltungsebenen ausführlich über die Art und Weise, wie das Verfahren des «Plan localisé de Quartier» (PLQ, vgl. Kasten) künftig durchgeführt werden soll. Die Ziele sind einfachere und systematischere Abläufe, eine grössere Effizienz des Verfahrens und eine bessere Qualität. Die Diskussion ist noch im Gang, doch konnte Kantonsarchitekt Francesco della Casa schon einige Wege vorspuren.

Eine wichtige Änderung betrifft die Reichweite des PLQ: Die heute übliche Regulierungsdichte könnte durch einen «Mantelperimeter» ersetzt werden, auf dem Varianten getestet werden können. Dies zielt auf die bisherige behördliche Praxis, nicht nur die Lage der Bauten, sondern auch deren Form und Nutzung zu diktieren. Della Casa räumt ein: «Der Kanton hat seine Rolle manchmal überinterpretiert. Unser Ziel ist nicht, im Städtebau und in der Stadtgestaltung die Hauptrolle zu spielen, sondern Regeln aufzustellen – etwa über die Bezüge zwischen Baufront und Strasse –, zwischen Privatgrund und öffentlichem Raum oder zwischen Erdgeschoss und Strasse, auf deren Basis die Planer ihr Projekt entwickeln und realisieren können.»[9]

Künftig soll das PLQ-Verfahren in vier Etappen unterteilt werden: In einer ersten Phase werden die Interessen der verschiedenen Akteure, namentlich der Grundbesitzer, geklärt. Es folgt eine Phase mit Machbarkeitsstudien, in der bereits zum ersten Mal die Vertreter der bewilligenden Amtsstellen zusammenkommen sollen, um technische Rahmenbedingungen und Hauptziele des PLQ herauszuschälen. Diese Phase soll das Verfahren wesentlich vereinfachen, denn «die 42 behördlichen Instanzen, die zu einem PLQ Stellung nehmen müssen, sollen das nicht mehr einzeln, eine nach der andern tun, sondern mehrere von ihnen werden zusammengerufen – je nach thematischer Prioritätensetzung die einen früher, die anderen etwas später. Das sollte uns erlauben, den Planungsgebieten einen deutlicheren Charakter zu geben und dann rasch eine Übereinstimmung zu erzielen», erklärt della Casa. Die beiden letzten Phasen betreffen die Koordination und die technische Umsetzung des Plans. Diese Änderungen sollen das Planungsverfahren stärker im konkreten städtischen und landschaftlichen Kontext verankern, den Architekturschaffenden mehr Freiheit bei der Ausarbeitung der Bauprojekte lassen und die architektonische Vielfalt fördern.

Die politische wie die fachliche Debatte werden gegenwärtig von der baulichen Verdichtung beherrscht. Die politische, weil das Volk nach einem Referendum zum erneuerten Gesetz über die Entwicklungszonen Stellung nehmen muss und dieses Gesetz für jede Zone Mindestausnützungsziffern in den PLQ einführen will. Die fachliche Debatte, weil diese Mindestausnützungsziffer nicht alle Fachleute überzeugt. Denn sie kommt zu der bereits im Zonenplan festgelegten Ausnützungsziffer hinzu und droht damit die Planung noch komplizierter zu machen, als sie jetzt schon ist. Und Baudirektor François Longchamp liess verlauten, die Idee stamme nicht von der Regierung, diese könne auch ohne sie leben.[10]

Das Scheibenhochhaus ist tot

Betrachtet man alle diese Gesetzes- und Verfahrensänderungen, zeichnet sich der Umriss einer neuen städtebaulichen Vision ab. Sie verwirft Teile der architektonischen Produktion der Nachkriegszeit und gliedert sich in den aktuellen Diskurs ein, der sich um die soziale und funktionelle Durchmischung, den öffentlichen Raum, Dichte und urbane Intensität, die gemeinsame Nutzung von Räumen und um typologische und formale Vielfalt dreht. «Vergleicht man Luftaufnahmen von Basel und von Genf, springt ein Unterschied ins Auge», erläutert della Casa. «Zwei relativ flache, von einem Fluss durchströmte Gegenden im selben Land – doch zwei ganz verschiedene Traditionen: Blockrandbebauung in Basel, Scheibenhochhäuser in Genf. Das vom Architekten Denis Honegger in Genf in der Nachkriegszeit perfektionierte System der Vorfabrikation von Hochhausscheiben aus Beton war so effizient, dass es alle anderen Formen verdrängen konnte.»

Der historische Bruch, den die Regierung in «Genève Envie» verkündet, vollzieht mit einigen Jahren Verspätung eine Entwicklung nach, die der an der ETH Lausanne lehrende französische Architekt und Architekturhistoriker Jacques Lucan in seinem Buch «Où va la ville aujourd’hui? Formes urbaines et mixités» beschreibt. Ausgehend von einer gründlichen Untersuchung der Erfahrungen, die in Frankreich seit den 1990er-Jahren mit den «Zones d’aménagement concertés» (ZAC) gemacht werden, zeigt er, dass sich aus den wichtigsten inhaltlichen Anliegen der Stadtentwicklung eine neue Art von Planungsverfahren entwickelt hat.[11] Hier finden sich Vokabular und Leitmotive der aktuellen Genfer Debatte wieder: soziale Durchmischung und funktionale Vielfalt, gemeinsame und flexible Nutzungen, Partnerschaft und Verhandlung zwischen Behörden und privaten Akteuren. Und wie in den jüngsten Genfer Planungen kommt die differenziert gestaltete offene Blockrandbebauung als Bauform zum Zug. Lucan bezieht sich dabei auf Bauten und Theorie des französischen Architekten Christian de Portzamparc. Ihm zufolge tritt die moderne europäische Stadt – nach dem 19. Jahrhundert mit geschlossener Blockrandbebauung und der klassischen Moderne mit frei im Raum stehenden Bauten – heute mit dem differenziert und individuell überbauten Block als prägender Bauform in ihre dritte historische Phase ein.[12]

Steht Genf vor diesem städtebaulichen Übergang? Politik und Architekturszene haben genug vom Scheibenhochhaus. Zwar ist der Richtplan 2030 nicht auf eine bestimmte architektonische Form angewiesen, doch scheint es in erster Linie um einen psychologischen Faktor zu gehen: Man sehnt sich nach neuen Formen, die den Aufbruch signalisieren, um den längst umfassend diskutierten Richtplan endlich umsetzen zu können. Den Mumm, aus dessen Prinzipien eigene Formen zu entwickeln, scheint man allerdings noch nicht gefunden zu haben und sucht deshalb Referenzen in der französischen Postmoderne.

Doch Zeichen des Aufbruchs gibt es viele: die Rede vom historischen Bruch, die Dringlichkeit, die Grossprojekten wie der Entwicklung des Gebiets Praille-Acacias-Vernets eingeräumt wird (Tec21 36/2011, S. 22), die Fortschritte beim Bau der S-Bahn CEVA (Tec21 36/2011, S. 27), die Aufmerksamkeit, die dem öffentlichen Raum zukommt, und der Eifer, den Bauvorstand François Longchamp bei der Erneuerung der Gesetze an den Tag legt. Vorerst eher kleine Projekte privater Akteure, bei denen das Vorgehen an neuere französische Quartierplanungen erinnert, bestärken die Hoffnung (vgl. S. 28). Doch der Nachholbedarf aus den vergangenen Jahrzehnten ist enorm und die Skepsis der Fachleute nach wie vor gross. Der einzige Weg, die «Envie» der Genferinnen und Genfer wieder zu wecken, ist wohl, die bisherige Übervorsichtigkeit aufzugeben, den Mut zum Fehlermachen zu finden und von einer Planungspraxis der Berichte, Studien und Pläne endlich zum Bauen und Ausprobieren überzugehen.


Anmerkungen:
[01] Informationen und Dokumente zum Richtplan 2030: http://etat.geneve.ch/dt/amenagement/projet_pdcn_2030-686-4369.html
[02] République et Canton de Genève: Genève Envie, Februar 2013. (PDF: http://etat.geneve.ch/geo-data/SIAMEN/PDCn/PDCn_CE_Brochure.pdf)
[03] République et Canton de Genève: Genève Envie, Februar 2013, S. 11.
4 Ebd. S. 8.
5 Ebd. S. 16.
6 Ebd. S. 20.
7 Ebd. S. 24.
[08] Loi générale sur les zones de développement industriel ou d’activités mixtes (LGZDI).
[09] Alle Aussagen von Kantonsarchitekt Francesco
della Casa stammen aus einem Gespräch mit Koautor Cedric van der Poel im August 2013 in Genf.
[10] «Décroître, pour une ville, c’est la mort» in: Le Temps, 18.7.2013.
[11] Jacques Lucan: Ou va la ville aujourd’hui? Formes urbaines et mixités. Paris 2012, S. 9.
[12] Christian de Portzamparc: «La ville âge III», Vortrag an den Conferences Paris d’architectes im Pavillon de l’Arsenal 1994. Les mini-PA, Nr. 5, Paris 1995, zit. nach Lucan, a .a. O., S. 43–46; vgl. auch Lucan, a. a. O., S. 45.

TEC21, Fr., 2013.10.18



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