Editorial

Vielfältig starten wir ins neue Jahr mit einem dérive-Sampler, also einer weitreichend global herumschweifenden Sammlung von Beiträgen der Stadtforschung – á la dérive eben. Wie immer sind die versammelten Themen nicht voneinander isoliert, sondern zeichnen sich durch viele Querverbindungen aus, in dieser Ausgabe verstärkt durch jeweils zwei Artikel zu Shenzhen und Kairo. Denn obwohl die gesellschaftspolitischen Entwicklungen von Ägypten und China in der Vergangenheit durchaus unterschiedlich verlaufen sind, gibt es beim Thema Wohnraumversorgung aktuell ähnliche Problemlagen.

Auf den zweiten Blick tun sich schnell weitere Parallelen auf: Sowohl in China als auch in Ägypten gab es in
den letzten Jahrzehnten eine starke Binnenmigration vom Land in die Städte und beide Länder haben den leistbaren sozialen Wohnbau – speziell für die MigrantInnen – vernachlässigt. In chinesischen Städten sind die WanderarbeiterInnen deshalb auf den teuren privaten Wohnungsmarkt oder auf Unterkünfte ihrer ArbeitgeberInnen angewiesen.

Linda Vlassenrood und Haotian Lin beschreiben diese Verhältnisse in ihren Beiträgen am Beispiel Shenzhens und verweisen auf aktuelle Bemühungen, die Wohn- und Lebenssituation der WanderarbeiterInnen zu verbessern, und auf historische Beispiele, welche Auswege aus der frappanten Wohnungskrise aufzeigen könnten.

Schwieriger als in China scheint die Lage in Ägypten, wo mittlerweile die Mehrzahl der Menschen in informellen Siedlungen lebt und alle politischen Maßnahmen der letzten Jahr- zehnte die Lage nur weiter verschlimmert haben. Rana Nessim liefert einen Überblick der Entwicklungen beginnend bei der Präsidentschaft von Abdel Nasser bis zu den Protesten im Jahre 2011. Einen Ausweg aus der Misere sieht sie nur in einer radikalen Änderung der Politik im Sinne eines Rechts auf Stadtfür die urbane Gesellschaft. Yahia Shawkat zeigt in seinem Text anhand zahlreicher Upgrade-Initiativen für die informellen Siedlungen detailliert auf, dass die ägyptische Politik und die Verwaltung höchstens an den Symptomen schrauben; an einer Beseitigung der wahren Ursache der Wohnungsmisere – dem völlig deregulierten Immobilien-Markt – haben sie kein Interesse.

Ein ganz konkretes Beispiel wie Wohnraumschaffung anders funktionieren kann, zeigt das Mietshäuser Syndikat seit vielen Jahren mit mittlerweile über 100 Projekten in Deutschland. Eines der jüngsten Projekte des Mietshäuser Syndikats ist Wohnen in Lichtenberg – Magdalenenstraße 19 – kurz WiLMa, das auch historisch interessant ist, weil es in jenem Quartier steht, das einst das Ministerium für Staatssicherheit der DDR beheimatet hat. Andre Krammer erzählt die Geschichte dieses speziellen, zu DDR-Zeiten abgeschotteten und überwachten Berliner Ortes und die Perspektiven, die Projekte wie WiLMa für den Stadtteil eröffnen können.

Seit kurzer Zeit gibt es übrigens auch in Österreich ein erstes Mietshäuser-Syndikat-Projekt, nachdem die Adaption der Rechtsgrundlagen auf österreichisches Recht durch das Kollektiv habiTAT geleistet wurde.

Über ihr erstes Projekt Willy*Fred in Linz, für das die InitiatorInnen 1 Mio. Euro zum Kauf einer Immobilie im Stadtzentrum via Crowd-Funding und Crowd-Lending mobilisiert haben, werden wir in der nächsten Ausgabe von dérive berichten.

Ein weiteres höchst aktuelles Thema eröffnet diesen Sampler: Prishtina – Departure City? übertitelt Jonas König seinen Artikel, der den Fokus in der Beschäftigung mit den Auswirkungen von Migration von den Arrival Cities auf die Herkunftsorte verschiebt.

König zeigt die vielfältigen Verflechtungen zwischen der kosovarischen Diaspora und der Bevölkerung der Hauptstadt des Kosovo. Seine Analyse zeichnet ein Bild der von Umwegen, Unterbrechungen, Rückkehr und neuerlichem Aufbruch gekennzeichneten Biografien der MigrantInnen und die Auswirkungen, die all das auf den Stadtraum von Prishtina hat.

Mindestens ebenso im thematischen Brennpunkt steht Mark Kammerbauers Artikel, der sich mit der philippinischen Stadt Tacloban nach dem Taifun Haiyan auseinander- setzt und Möglichkeiten der Stärkung von Resilienz und
der Förderung von Anpassungsmaßnahmen in Siedlungsräumen nach extremen Umweltereignissen untersucht. Gleich- zeitig verweist er auf die Gefahr, dass „Prozesse des Planens, Bauens und der Raumbildung [...] auch zur Perpetuierung von Verwundbarkeit und zu Ungleichheiten“ führen können.

Von extremen Ereignissen ist auch der Libanon seit vielen Jahren immer wieder betroffen. Der Bürgerkrieg (1975 – 1990) zerstörte große Teile des Landes und seiner Gesellschaft, heute ist der Libanon auf vielfältige Weise vom Krieg im Nachbarland Syrien betroffen. Besonders deutlich ablesen lassen sich viele dieser Einschnitte auf dem Platz der Märtyrer im Herzen Beiruts. Das einst beliebte und lebendige Zentrum der Stadt mit vielen Cafés und Kinos, in dem es keinerlei religiöse Gebäude gab, wird heute von der 2008 eingeweihten Mohammad Al-Amin Moschee dominiert und hat sowohl seine Popularität verloren als auch seine Gestaltung völlig verändert. Rania Sassine hegt in ihrem Text Beirut’s Heart – The life of a square trotzdem Hoffnung, dass eine neuerliche Aneignung des Ortes durch die Bevölkerung gelingen kann.

Manfred Russos Serie zur Geschichte der Urbanität ist ein fixer Bestandteil von dérive. Wie fix, zeigt sich gerade in dieser 62. Ausgabe, denn sie bringt die 50. Folge der Serie. Eine beeindruckende Gewaltleistung von Manfred Russo, die uns höchsten Respekt abringt: Manfred, vielen Dank! Die 50. Folge der Serie ist zugleich die 6. Folge zu Henri Lefebvre und die 1. zu einem seiner Hauptwerke: La production de l’espace.

Für die Auswahl des Kunstinserts ist diesmal Andreas Fogarasi verantwortlich, der langjährigen dérive-LeserInnen ebenfalls gut bekannt ist – er war viele Jahre für die Gestaltung von dérive verantwortlich und hat mehrere Schwerpunkthefte redaktionell betreut.

Das Insert stammt von Peter Bartoš und Ludmila Rampáková und kritisiert die geschichtsvergessene, unternehmerische Stadtpolitik in Bratislava, um gleichzeitig alternative Szenarien vorzuschlagen.

Eine aufschlussreiche Lektüre und ein gutes neues Jahr voller Um- und Abschweifungen wünschen

Christoph Laimer und Elke Rauth

Inhalt

Prishtina
Prishtina: Departure City?
Jonas König

Leben in der Stasi-Stadt
Andre Krammer

Cairo
A history of people’s right to the city
Rana Nessim

Government failure to upgrade informal settlements in Egypt
A brief history
Yahia Shawkat

Anpassung und Resilienz räumlicher Transformationsprozesse
Tacloban nach dem Taifun Haiyan auf den Philippinen
Mark Kammerbauer

Beirut’s heart
The life of a square
Rania Sassine

Chinese urbanization through the lens of Da Lang
Linda Vlassenrood

Making Housing Affordable in Fast-Growing Chinese Cities: A Shenzhen Perspective
Haotian Lin

Geschichte der Urbanität, Teil 50
Henri Lefebvre, Teil 6
Die Produktion des Raumes I: Das konkrete Allgemeine

Besprechungen:

Das Rahmenwerk der Architektur
André Krammer

Fremd, 60 Jahre später
Iris Meder

Kunst im Kontext urbaner Entwicklung
Elisabeth Haid

Mitteleuropa, dalmatinisch
Iris Meder

Doing Image. Zum erweiterten Feld des Filmisch-Dokumentarischen im urbanen Raum am Beispiel der Filme Coma von Sara Fattahi und Counting von Jem Cohens
Ursula Probst

Das Rahmenwerk der Architektur

The Dilution of architecture ist der erste große Überblick über das umfangreiche Lebenswerk des 1923 in Ungarn gebo-renen Architekten, Visionärs und Künstlers Yona Friedman, der später die französische Staatsbürgerschaft annahm. Friedman wurde in erster Linie auf Grund der utopischen Stadtentwürfe seiner Ville Spatiale bekannt. Sie wurden gemeinhin als Beitrag zur Konzeption der Mega-struktur wahrgenommen, welche die Architekturavantgarde der 1960er Jahren prägen sollte.

Im ersten Teil der umfangreichen Publikation werden Konzeptionen Friedmans von der Ville Spatiale bis hin zu aktuellen Projekten vorgestellt, während Friedmans Co-Autor Manuel Orazi im zweiten Teil eine Einordnung von Friedmans Werk in die Geschichte der Architektur-Avantgarde nach 1945 vornimmt und so einen weit über die Einzelfigur hinausgehenden Überblick über einen verwinkelten Diskurs und seine ProtagonistInnen gibt, der sich über weite Strecken spannend liest. Dabei wird auch der Kritik, die im Laufe der Jahrzehnte an Friedmans Konzeptionen geübt wurde, einiger Platz eingeräumt.

Der Buchtitel gibt einen ersten Aufschluss zur Ausrichtung von Friedmans Denken. Dilution, das soviel wie Verwäs-serung und Abschwächung bedeutet, verweist auf eine Eigentümlichkeit der Stadtentwürfe Friedmans, die über der existierenden Stadt, aufgeständert auf mächtigen Pilotis, eine zweite Raumschicht ausbilden. Sie sind einerseits Megastruktur, unterscheiden sich jedoch gleichzeitig vom grundlegenden totalen Design verwandter utopische Entwürfe. Bei Friedman kommt der Architektur eine dezidiert dienende Rolle zu. Sie wird zur sozialen Kunst erklärt, die lediglich ein Rahmenwerk ausbilden soll, innerhalb dessen sich selbst-ermächtigte NutzerInnen, ihrer Wunschproduktion folgend, einrichten können. Friedman gehört somit zu den Pionieren und Befürwortern einer partizipativen Raumproduktion. Folgerichtig weisen die Gebäude seiner oft etwas naiv wirkenden Collagen und Modelle keine Fassaden auf und verweigern ihrer Großmaßstäblichkeit zum Trotz jeden Objektcharakter. Es sind unfertige Bilder, die von Friedman als Denkanstöße verstanden werden möchten. So erstaunt es nicht, dass das Netzwerk, in dem sich Friedman bewegte und bewegt, ein interdisziplinärer Pool von ProtagonistInnen ist. Soziologie, Spieltheorie und Mathematik spielen eine ebenso große Rolle wie Fragen der Statik und der technischen Infrastruktur. Friedman hat sich mit dem Physiker Werner Heisenberg und dem Informatiker Nicholas Negroponte aus-getauscht. Er ist mit den SituationistInnen zusammengetroffen, hat mit Constant Nieuwenhuys einen Disput über die Stadt von morgen geführt, hat in jungen Jahren am CIAM-Kongress in Dubrovnik teilgenommen und dabei immer ein interdisziplinäres Denken propagiert, das über die engen Grenzen der jeweiligen Einzeldisziplin hinausgeht.

Aus heutiger Sicht erscheinen die Unterschiede seiner Entwürfe zu verwandten Konzeptionen interessanter als ihre augenfällige und vielleicht nur oberflächliche Übereinstimmung. Während Constant Nieuwenhuys’ utopisches Projekt seines New Babylon beispielsweise von einer zukünftig post-industriellen und im Wesent-lichen kollektiv organisierten Gesellschaft ausgeht, finden sich in Friedmans Texten keine Ansätze einer implizit kollektiven Utopie. Er scheint eher einer anarchistischen Denktradition näher zu stehen, die die Freiheit in den Mittelpunkt stellt. Folgerichtig ist bei Friedman von der »Koexistenz in Diversität« die Rede.

In den letzten Jahrzehnten wurde sein Werk vermehrt im Kunstkontext rezipiert. Seine Arbeit wurde wiederholt auf der Documenta und auf der Kunstbiennale in Venedig gezeigt. Die seiner Arbeit innewohnende Reserve gegenüber traditioneller Planung und die Thematisierung des Prozessdesigns scheinen oft mehr mit gegenwärtigen künstlerischen Praktiken gemein zu haben als mit einer Architekturszene, die nach wie vor von der radikalen Umdeutung des Architekten vom Gestalter hin zum Koordinator – wie sie Yona Friedman vorgenommen hatte – überfordert ist, da sie das Selbstverständnis der Disziplin in Frage stellt. Dennoch hat Friedman immer wieder Stichworte geliefert, die später auch im konventionellen Planungsdiskurs auftauchten. Er hat zum Beispiel Urban Farming und Fragen der Versorgungsautarkie thematisiert, bevor das Thema seinen Hipnessfaktor bekommen hat.

Seine Projekte verstanden sich von Anfang an als Szenarien der Verdichtung bestehender Städte und sind somit weit von den Projekten entfernt, die auf einer Tabula rasa eingerichtet wurden. Gleichzeitig spielen das kollektive Gedächtnis und die Geschichte der Stadt, die in der Postmoderne thematisiert wurden, im Denken Friedmans eine untergeordnete Rolle. Die schwebenden Strukturen Friedmans, die er in schier unendlichen Varianten und Inkarnationen bis heute weiterentwickelt hat, flottieren weiterhin hoch über der Stadt, verweigern die Landung und somit die direkte Konfrontation mit der Wirklichkeit – wie KritikerInnen angemerkt haben. Friedman geht es bei seinen Visualisierungen in erster Linie um die möglichst breitenwirksame Vermittlung seiner Visionen. Die im Laufe der Jahre zunehmend vereinfachten Diagramme, comichaften Erläuterungen, Modelle und Collagen entstammen auch einer anti-elitären Haltung, die auf leichte Verständlichkeit setzt und eine akademische Vermittlungspraxis meidet.

Friedman weiß natürlich, dass die Wahrscheinlichkeit einer Realisierung seiner Konzeptionen nur gelingen kann, wenn möglichst viele Menschen von ihr überzeugt sind. Außer dem Lycée David in Angers hat er bisher kein Gebäude verwirklichen können. So entsteht mitunter der beklemmende Eindruck, dass Friedmans Stadtvisionen Geisterstädte sind, aus denen die Bevölkerung ausgezogen der in die noch niemand eingezogen ist.

Und dennoch: Auch wenn die Umsetzung von Friedmans Ideen kaum direkt erfolgte, weisen sie unbestreitbar viele Bezüge zum gegenwärtigen Diskurs auf. Fragestellungen einer prozessualen Stadtentwicklung, die nicht auf fertige Leitbilder, sondern auf Qualitätsmanagement und avancierte Verfahrenskultur setzt, finden in Friedmans Konzeptionen ihren Widerhall. ErforscherInnen informeller Siedlungsformen des globalen Südens teilen mit Friedman eine gewisse Faszination an prozesshaften, auf Eigenermächtigung der NutzerInnen setzende Strategien.

Aus heutiger Sicht erscheint vielleicht ein Projekt besonders interessant. Basierend auf dem existierenden europäischen Eisenbahnnetz hat Yona Friedman eine Konzeption Europas als Kontinent-Stadt propagiert. Ein Netzwerk aus Städten, verbunden durch die Eisenbahn, ist zugleich ein einfaches wie ein radikales Modell. Nationale Grenzen sind darin aufgelöst. Die Landschaft, die sich zwischen den Städten aufspannt, ist frei von suburbanen Verwerfungen. Es handelt sich um ein Szenario der Verdichtung und der Vernetzung, von dem das heutige Europa soweit entfernt scheint wie nie zuvor.


Nader Seraj (Hg.)
Yona Friedman. The Dilution of Architecture
Paris: Park Books, 2014
581 Seiten, 48,00 Euro

dérive, So., 2016.01.31

31. Januar 2016 André Krammer

Mitteleuropa, dalmatinisch

Nikola Dobrovic´ zählt noch immer zu den großen Unterschätzten der Moderne. Selbst wem er kein Begriff ist, dem mögen Dobrovic´s dalmatinische Bauten vor Ort auffallen als irritierend innerhalb der Tourismus- und Villeggiaturenarchitektur der östlichen Adria, eigenwillig, sperrig, sichtbar unter dem Einfluss Le Corbusiers entstanden, dabei fast unsichtbar hinter üppiger Vegetation, die schmale Sichtfenster freigibt auf rauhe Betonmauern, Flachdächer, offene Loggien. Eigenwillige Symmetrien, seltsame Schrägen, Punktmuster aus in die Wand eingelassenen Glas-bausteinen, in späteren Jahren Wände aus bossierten Steinwürfeln, die Fugen mit Kieseln ausgekittet. Dick, schwer, massiv, trotz teils weißer Putzflächen dunkel, schrullig, ja verschroben ist das alles und hat nichts von der südlichen Leichtigkeit anderer Moderner.

Eines von Dobrovics Markenzeichen waren dabei aus den Attiken und Betonbrüstungen ausgeschnittene Jahreszahlen, Namen der Villen, Hotels und Garten-Follies, auch sein eigener: Das 1936 entstandene Grand Hotel auf der kleinen Insel Lopud vor Dubrovnik signierte der Architekt auf der Terrasse über dem Garteneingang mit seinem Namen samt Beruf in 30 cm hohen ausgesparten Buchstaben.

Dennoch war Dobrovic´ keineswegs ein Blender und Angeber, sondern ein reflektierter Homme à lettres, Mitteleuropäer par excellence: geboren im südungarischen Pécs, wo sein Bruder, der expressionistische Maler Petar Dobrovic´, 1921 Präsident der kurzlebigen ungarisch-serbischen Räterepublik Baranya-Baja wurde. Ausgebildet in Budapest und Prag, wo u. a. ein elegantes städtisches Wohn- und Geschäftshaus am Wenzelsplatz entstand. Seit den frühen 1930er Jahren ansässig in Dubrovnik, das sein Lebensthema in Theorie und Praxis wurde, auch wenn er zehn Jahre später nach Belgrad zog, wo er eine Professur bekleidete. Das von ihm entworfene Belgrader Generalstab-Gebäude steht dort nach den NATO-Bombardements bis heute als Ruine und Mahnmal im Zentrum der Stadt. In Montenegro schließlich entstanden in den frühen 1960er Jahren mit einem Kindersanato-rium in Igalo sowie Postamt, Rathaus und Wohnbauten in Herceg Novi wichtige Spätwerke Dobrovic´s.

Der Dubrovniker Zeit Dobrovic´s widmet sich nun eine neue Publikation mit Texten des Zagreber Architekten und Architekturhistorikers Krunoslav Ivanic´ in und der Belgrader Architekturprofessorin und Mo-derne-Fachfrau Ljiljana Blagojevic´ sowie Fotografien des Wieners Wolfgang Thaler. Sie werden ergänzt durch Pläne und historische Aufnahmen der Häuser in Bau und in Benutzung, inklusive Fotos aus den Privatarchiven der Auftraggeberfamilien.

Wolfgang Thalers Fotostrecken dokumentieren die Bauten in ihrem heutigen – teils, wie beim ikonischen Grand Hotel in Lopud, ruinösen – Zustand. Sie führen Betrachter und Betrachterinnen dabei auch auf die Terrassen und ins Innere der Bauten, die von öffentlichen Bereichen oft selbst äußerlich nur sehr schwer einsehbar und, mit Ausnahme des heute als Hostel geführten, innen komplett veränderten studentischen Ferienheims in Dubrovnik, schon gar nicht zugänglich sind. Eher dunkel und massiv geben sich die Häuser auch im Inneren, Glasbausteine, geschlossene Stiegenbrüstungen und die Holzoberflächen von Einbauschrankwänden prägen die Räume, die die Verschattung im warmen Klima Süddalmatiens wohl auch kühl hält.

Ivanic´ ins und Blagojevic´s ebenso kompetente wie spannende Texte beleuchten kompetent die Hintergründe von Dobrovic´s Schaffen, von biografischen und zeithistorischen Zusammenhängen über die Auftraggeberschaft des Architekten, die zu einem großen Teil aus Medi-zinern, oft aus Prag oder Wien, bestand, bis zum ikonologischen Zusammenhang der mythologischen Namen, die Dobrovic´ seinen Bauten gab. Den Abschluss des durchgehend englischsprachigen Bandes bilden übersetzte Texte Dobrovic´s, in denen er sich mit der baulichen und urbanistischen Tradition von Dubrovnik und seinen Raum- und Platzbildungen auseinandersetzt.

Schade ist lediglich, dass sich das Buch über einen Architekten, den heute sowohl Serbien als auch Kroatien als Teil ihrer jeweiligen nationalen Architekturgeschichte sehen, nur mit Dobrovic´s Zeit in Dubrovnik befasst – eine umfassende Dobrovic´-Monografie ist somit nach wie vor ein Desiderat. Eine Empfehlung als Weihnachts- oder sonstiges Geschenk für Freunde und Freundinnen des Mediterranen jenseits der touristischen Oberfläche sowie der Mo-derne jenseits ihrer gewohnten Hagiografie wird hiermit jedenfalls ausgesprochen.


Krunoslav Ivanicin, Wolfgang Thaler,
Ljiljana Blagojevic´
Dobrovicin Dubrovnik.
A Venture in Modern Architecture
Berlin: Jovis, 2015
176 S., englisch, 38 Euro

dérive, So., 2016.01.31

31. Januar 2016 Iris Meder

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