Editorial

Es geht um öffentlichen Raum. Es geht um unser Wohlbefinden. Bauten für den öffentlichen Fern- und Nahverkehr, vom designten Wartehäuschen, über enge U-Bahn-Stationen bis hin zum unscheinbaren Funktionsgebäude, prägen – oft unbemerkt – große Teile unseres Tagesablaufs. Unbemerkt, weil unsere Wahrnehmung unterwegs oft genug auf andere Aspekte fokussiert ist und sich das genaue Hinschauen ohnehin zumeist weder ästhetisch noch in Bezug auf Aufenthaltsqualität lohnt. Die Erkenntnis, dass viel Potenzial in den Bauaufgaben der Verkehrsinfrastruktur steckt, reichhaltige Funktionskonzepte realisierbar sind und Lebensqualität auch beim Warten auf den Bus eine große Rolle spielt, bricht sich aber mehr und mehr Bahn – viele Gemeinden gehen deshalb die funktionale und gestalterische Aufwertung ihrer Verkehrsflächen gezielt an. Der Wunsch, dabei robuste Orte mit einer ganz eigenen Identität zu schaffen, bringt nicht selten gewitzte Ideen und eine ganz eigene Ästhetik hervor. Je größer das Bauprojekt aber, umso mehr muss das Augenmerk der Politik auf pragmatischen Lösungen liegen, die sich entsprechend der jeweiligen technischen und finanziellen Möglichkeiten Schritt für Schritt realisieren lassen.

Großprojekte taugen nicht als Mittel zur kurzfristigen Profilierung Einzelner – wie der Flughafen Berlin-Brandenburg oder Stuttgart 21 überdeutlich zeigen. Als Beispiel dafür, wie es besser geht, darf man den runderneuerten Hauptbahnhof von Rotterdam anführen (das Bild links zeigt einen Zwischenstand, zu dem die Gleishalle noch nicht erstellt war; Weiteres: s. S. 42): Auch er mag im Detail nicht über alle Kritikpunkte erhaben sein, die Planer gingen aber hauptsächlich von den Notwendigkeiten aus, die sich aus den Verkehrsströmen ergeben, und schufen auf der Basis der tatsächlichen technischen und funktionalen Anforderungen, quasi en passant, ein Leuchtturmprojekt. | Achim Geissinger

Kulturleistung

(SUBTITLE) Die vier Haltestellen des City-Tunnels in Leipzig

Auch die Planungs- und Bauzeit dieses Leipziger Großprojekts war von mehr oder minder berechtigten Einwänden begleitet. Lohnt sich die Aufwendung von 1 Mrd. Euro für eine hauptsächlich von Regionalbahnen genutzte Durchmesserlinie? Liegen die vier innerstädtischen Stationen nicht zu nah beieinander? In Sachen Gestaltung darf man jedoch zufrieden sein. Der architektonische Anspruch hat die 15 Jahre bis zur Einweihung überstanden und legt die Messlatte hoch für alle anstehenden Bauprojekte der Bahn.

Für die Leipziger ist die Architektur ihres Hauptbahnhofs das urbane Maß der Dinge. Mit 300 m Länge deutlich zu groß für den vis-a-vis gelegenen Stadtkern dient er der Halbmillionenstadt als unzweifelhafter Beleg großstädtischer Bedeutung. Mit gespannter Skepsis wurde deshalb die zehnjährige Bauzeit des neuen Tiefbahnhofs samt City-Tunnel begleitet, der eine direkte Verbindung zum südlich gelegenen ehemaligen Bayerischen Bahnhof bietet. Nach seiner Inbetriebnahme im vergangenen Dezember zeigt sich nun, dass mit dem City-Tunnel nicht nur eine funktional wie räumlich überzeugende Optimierung des Hauptbahnhofs, sondern mit den Stationen Markt, Wilhelm-Leuschner-Platz und Bayerischer Bahnhof beeindruckende neue Entrees zur Leipziger Innenstadt gelungen sind.

Rückblickend wirkt alles ganz reibungslos: Ein Planfeststellungsverfahren ohne Wutbürger und gerichtliche Auseinandersetzungen – heute undenkbar – war in den frühen Nachwendejahren Ostdeutschlands durchaus üblich. Zudem blieb das zu D-Mark-Zeiten schon als »Milliardenprojekt« bezeichnete Vorhaben noch knapp im dreistelligen Millionenbereich – nun allerdings in Euro. Dass die Stadt an der veritablen Kostensteigerung von ca. 400 Mio. Euro gar nicht und an den Gesamtkosten nur im Promillebereich beteiligt war, kommt dabei dem Selbstverständnis der gewitzten Westsachsen durchaus entgegen.

In diesem positiven Gesamtbild treten die krisenhaften Momente inkompetenter Geschäftsführung und Kostenkontrolle in den Hintergrund und verblassen gar vor der Präsenz des realisierten Ingenieurbauwerks, das nicht nur in Zahlen und Fakten, sondern v. a. auch räumlich zu überzeugen weiß. Denn Schildvortrieb und offene Schachtung, Deckel- und Sohle-Wand-System, Aussteifung und Verankerung variierten nicht nur in der komplexen ingenieurtechnischen Umsetzung, sondern zeigen sich auch im fertigen Bauwerk als unmittelbar Raum und Form bildende Größen. Kreisprofil und eleganter Schwung der Tunnelröhren kontrastieren mit voluminösen Stationshallen, gedrungene Durchgänge mit einladenden Lichthöfen. Zudem bedingt die beträchtliche Tunneltieflage von 20 m lichte Raumhöhen von über 15 m und ermöglicht quasi sakrale Gebäudequerschnitte.

Schwer zu sagen, wo genau Einfluss und Gestaltungskompetenz der baubeteiligten vier Architekturbüros begannen, denen die als »Innenausbau« bezeichnete Gestaltung der Haltepunkte oblag. Eine angesichts ihrer öffentlichen Präsenz und Sichtbarkeit interessante Bauaufgabe, die bereits 1997 im Rahmen eines eingeladenen Ideenwettbewerbs ausgelobt wurde. Dabei sollte die Einzelvergabe der Haltestellengestaltung den technisch-anonymen Charakter einer reinen Verkehrsinfrastruktur verhindern und zur Ausbildung identifizierbarer Orte führen. Fast plakativ unterscheiden sich nun die realisierten Stationen in formaler Handschrift und Materialität, wobei die 16 Jahre zwischen Entwurf und Realisierung deutlich werden: Eine Fahrt durch den neuen Leipziger City-Tunnel ist – auch – eine Architekturreise durch die 90er Jahre.

Gravitätisch

Hentrich, Petschnigg & Partner HPP verpflichten sich der Aufgabe, den neuen »Hauptbahnhof tief« auszubauen und in das historische Bestandsgebäude einzubinden. Plausibel greifen sie hierzu das formale Repertoire des in früheren Jahren ebenfalls von HPP unter dem Querbahnsteig realisierten Einkaufszentrums »Promenaden« auf und arbeiten wieder mit einer großformatigen Öffnung der Bahnsteigebene. Dieser typologisch etwas unscharf »Atrium« genannte Bereich übernimmt mit Rolltreppen und Aufzug die Haupterschließung und lässt großzügig Tageslicht und Sichtbeziehungen zu. Während die leichte Böschung der Wände eine gelungene Geste zur Dramatisierung des tiefen Einschnitts ist, bleibt das Verhältnis zur historischen Bahnhofshalle ungeklärt. Besonders fraglich erscheint der gläserne Aufzugsturm, der den an sich reduzierten Eingriff in das Baudenkmal konterkariert und nun als unbedeutende Vertikale in das monumentale Hallenjoch ragt. Statt eines Auftakts stellt sich hier ein Gefühl unschöner Leere ein.

Auf der unteren Bahnhofsebene setzen dickleibige Säulen die schwere Tektonik des Atriums fort. Diesem postmodernen Ansatz entspricht die horizontal gestreifte Wandbekleidung aus Kalkstein, der polierte Kanneluren aufweist und mit hellbraunen Acrylfugen sowie hohen Edelstahlfußleisten verbaut ist. Der südliche Bereich des in seiner Länge für ICE-Züge tauglichen Bahnsteigs erstreckt sich unter dem Bahnhofsgebäude hindurch bis in die vorgelagerten Verkehrsflächen. Diesem statisch wie funktional schwierigen Bauraum sind die hier niedrigen und weitgehend unbelichteten Erschließungsbereiche geschuldet, deren komplexe Höhenentwicklung und Wegeführung sich dem Passanten zwar nicht leicht erschließen, aber immerhin kürzeste Verbindungswege zu Straßenbahn und Innenstadt leisten.

db, Mo., 2014.02.24

24. Februar 2014 Andreas Wolf

Fast alles unter einem Dach

(SUBTITLE) Überdachung am »Bahnhofplatz Süd« in Winterthur (CH)

Komplexe Sichtbezüge und eine komplizierte Leitungsführung im Untergrund erforderten eine außergewöhnliche Lösung. Das weit auskragende Dach über dem Bushof ruht auf einem einzigen Pylon, der als Ticketschalter fungiert. Städtebaulich überzeugt das Projekt, weil es die Platzfläche gliedert und wunschgemäß der Stadt einen zeichenhaften Auftritt verschafft – funktional wäre jedoch auch eine weniger aufwendige Lösung denkbar gewesen.

Seit geraumer Zeit ist Winterthur von der Konkurrenz zum stets reicheren, mächtigeren und nur 25 km entfernten Zürich geprägt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde dies v. a. im Bereich des Eisenbahnwesens sichtbar. Privatwirtschaftliche Kreise aus Zürich trieben den Bau einer Eisenbahnlinie in die Ostschweiz voran, und so erhielt Winterthur 1855 seinen ersten Bahnhof, der die historische Altstadt zum Missfallen der lokalen Entscheidungsträger von dem westlich anschließenden Industriequartier Neuwiesen abtrennte. Die Stadt favorisierte einen Standort im Südosten und investierte in die 1875 gegründete »Nationalbahn«, die als staatliche Bahn – und unter Umgehung von Zürich – eine Schlüsselstellung im internationalen Fernverkehr einnehmen sollte. Drei Jahre später war der Traum ausgeträumt: Die von Züricher Unternehmern finanzierte Nordostbahn erwarb das Streckennetz der Nationalbahn aus der Konkursmasse zu einem Spottpreis, die Stadt Winterthur befand sich am Rande des Bankrotts, der ungeliebte Bahnhof verblieb an Ort und Stelle.

Bis heute bereitet die seinerzeit von den Ingenieuren festgelegte Trassenführung der Stadt Probleme, welche durch den 2009 bewilligten Masterplan für die Neugestaltung des Bahnhofsbereichs zumindest teilweise abgemildert werden sollen. Neben einer besseren Verflechtung der Stadtteile diesseits und jenseits der Bahnstrecke umfasst dieser Plan auch die Neugestaltung des Bahnhofplatzes Süd. Dabei handelt es sich um die zentrale Zone des Bereichs zwischen Bahnhof und Altstadt, der sich in drei Teile gliedert und Richtung Süden trichterförmig weitet: den eigentlichen Bahnhofplatz zwischen Bahnhof und Post im Norden, den Bahnhofplatz Süd sowie den Archplatz entlang der Technikumstraße. Von einer konsistenten Abfolge von Plätzen lässt sich kaum sprechen, vielmehr handelt es sich um fast ungewollte Resultate von Planungen aus verschiedenen Zeiten, welche einen großen Freiraum im Zentrum von Winterthur haben entstehen lassen. Dieser dient als zentrale Verkehrsdrehscheibe für das Stadtbussystem und wird täglich von etwa 90 000 Personen frequentiert.


Bei dem Wettbewerb von 2008, an dem 30 Architekturbüros teilnahmen, ging es primär um Optimierung – nämlich der Aufenthaltsqualität, der Fußgängerströme, des Ein- und Umsteigens in die Busse. Daneben wünschte man sich an diesem Ort aber auch architektonische Markanz oder, um es mit den Worten des Auslobungstexts zu formulieren, eine »Visitenkarte der Stadt Winterthur«.

Starkes Signet

Als ginge es darum, ein möglichst breites Spektrum von Möglichkeiten aufzuzeigen, platzierte die Jury völlig heterogene Konzepte auf den vordersten Rängen. Während atelier ww den Freiraum nahezu vollständig überdeckte, beschränkte sich Jean-Pierre Dürig auf die Errichtung einiger abstrakt anmutender Einzelkörper; die Büros dform und urbaNplus entwickelten das Konzept an Bahnhofsperrons erinnernder, lang gezogener Dächer über den Wartebereichen. Den Zuschlag aber erhielt der Entwurf des ortsansässigen Büros Stutz Bolt Partner, der unter den Preisträgerprojekten dem Wunsch nach Zeichenhaftigkeit am meisten entgegenkam. Es handelt sich dabei um ein der Platzgeometrie folgendes trapezoides Dach, das aus einer exzentrisch positionierten raumhaltigen Stütze hervorwächst und seit der Publikation der Wettbewerbsergebnisse in Winterthur als »Pilz« bekannt ist. Der 7 m hohe Pfeiler steht auf einer Mittelinsel, welche die bahnhofsseitigen von den stadtseitigen Busspuren trennt. Er bietet – gut sichtbar – zu ebener Erde Raum für die Mobilitätszentrale (Ticketverkauf und Information) von »Stadtbus Winterthur«. Von hier aus führt eine Treppe hinab in das nicht öffentlich zugängliche UG mit kleinen Aufenthaltsbereichen für die Busfahrer. Das urbanistische Kalkül der Architekten ist überzeugend: Zur Stadt hin wahrt die Pilzkrempe Abstand, um der historischen Bebauung nicht die Schau zu stehlen, während sie auf der Westseite nahe an die nicht eben als architektonische Preziose erscheinende Fassade eines Warenhauses heranrückt und im Süden der Flucht der Bahnunterführung folgt. Die Disposition wird sich vollends erklären, wenn einst die Bushaltestellen vor der Stadtkante mit ihren temporären Überdachungen aufgehoben sein werden.

Die exzentrische Anordnung des Pfeilers liegt aber auch im Wunsch begründet, die historische Achse der Marktgasse, der Hauptfußgängerzone von Winterthur, nicht zu verstellen. Daraus resultierten Auskragungen der radial angeordneten, die Dachkonstruktion bildenden Stahlträger von bis zu 34 m. Dies führte nicht nur zu dem erheblichen Materialbedarf von 300 t Stahl, sondern erzwang auch eine unterirdische Stabilisierung mit weit ausgreifenden Fundamentfingern. Erst im Verlauf der Planung zeigte sich die Komplexität des Vorhabens, denn die Tiefbauarbeiten waren durch ein dichtes Gewirr aus Leitungsführungen für Kanalisation, Elektrizität, Gas und Wasser hindurchzuführen. Dennoch nahmen sämtliche Arbeiten nur ein Jahr in Anspruch, sodass der Pilz Ende Juni 2013 eingeweiht werden konnte.

Die Oberseite ist mit Glas eingedeckt, die Unterseite, die Dachkanten und der Pfeiler wurden mit einer homogenen Struktur aus gelochtem, silbrig-grau schimmerndem Aluminiumblech umkleidet. Die Löcher verschiedener Größe lassen eine filigrane Textur entstehen, die semantisch neutral ist und keinen Rapport erkennen lässt. Tagsüber fällt Sonnenlicht durch das Dach und nimmt ihm seine lastende Monumentalität; abends sorgen in die Dachuntersicht eingelassene Downlights für eine angenehme Beleuchtung, welche die Verkehrsdrehscheibe aber nicht über Gebühr in Szene setzt. Das Metall verstehen die Architekten als Reverenz an die Schwerindustrie, die Winterthur über lange Jahrzehnte bestimmt hat.

Mit dem Pilz haben sich Architekten und Stadt für einen sinnvollen Mittelweg entschieden: Er ist kräftig genug, um mögliche Verrümpelung durch weitere Stadtmöblierung zu ertragen, verwandelt den südlichen Bahnhofsvorplatz aber nicht in einen Innenraum, wie es mit einer großflächigeren Überdachung geschehen wäre. Gewisse funktionale Einschränkungen – bei ungünstigem Regeneinfall verspricht die Ostseite nur bedingt Schutz – waren zu tolerieren, wollte man die Dachfläche nicht noch weiter vergrößern. Eine geringere Höhe kam aufgrund der Oberleitungsbusse nicht infrage. Natürlich wäre es auch einfacher gegangen, und so muss man sich am Ende fragen, ob eine kleinteilige Lösung mit einzelnen Haltestellenüberdachungen nicht doch eine sinnvolle – und kostengünstigere – Alternative gewesen wäre. Dem Wunsch nach der »Visitenkarte« entspricht der markante Pilz indes mehr.

db, Mo., 2014.02.24

24. Februar 2014 Hubertus Adam

Netter warten

(SUBTITLE) Bahnstation »Barneveld Noord« (NL)

Das temporäre Wartehäuschen an dem kleinen niederländischen Provinzbahnhof punktet mit signifikanter, aber offener Gestaltung, bietet einen beheizbaren Warteraum und Platz für einen kleinen Laden. Die Architekten haben es aus Containern gebaut und mit einer gehörigen Portion niederländischen Humors ausgestattet.

»Prettig Wachten« (Angenehm Warten) ist ein Programm, mit dem das niederländische Bahninfrastruktur-Unternehmen Prorail die Wartezeit an kleinen Bahnhöfen für Fahrgäste erträglicher gestalten will. Betreut wird es vom »Bureau Spoorbouwmeester« (Bahnbaumeister-Büro), einem Team von Architekten und Designern, das seit 2001 innerhalb von Prorail als unabhängiges Beratungsorgan in Sachen Bahnhofsarchitektur und -design tätig ist. Bureau Spoorbouwmeester entwickelt Gestaltungsrichtlinien, führt Auswahlverfahren durch, betreut Entwurfsprozesse und gibt Denkmalschutzstudien in Auftrag. Der Spoorbouwmeester ist – ähnlich dem bekannteren Rijksbouwmeester – ein Architekt mit eigenem Büro, der einige Jahre lang zwei Tage pro Woche für Prorail arbeitet. Bis 2009 hatte Nathalie de Vries von MVRDV den Posten inne; dann übernahm Koen van Velsen.

Insgesamt 25 Bahnhöfe sollen in den Niederlanden im Rahmen von Prettig Wachten aufgewertet werden. Dahinter steckt ein Aktionsplan des Ministeriums für Infrastruktur und Umwelt, das eine jährliche Fahrgastzunahme von 5 % anpeilt und ein positives »Warteerlebnis« als wichtigen Faktor für das Wachstum benennt. V. a. die kleinen Bahnhöfe haben den Wartenden meist wenig zu bieten: Manch ein niederländischer Provinzbahnhof besteht nur aus zwei Bahnsteigen, einer Fahrplantafel und einer Sitzbank. Dabei bedürfte es oft nur eines kleinen Eingriffs, um den Aufenthalt angenehmer zu machen und das Sicherheitsgefühl zu erhöhen. Deshalb beschlossen Koen van Velsen und Prorail, mit Prettig Wachten genau diese Bahnhöfe ins Visier zu nehmen. In Zusammenarbeit mit Fahrgästen und Ladenbetreibern wird für jeden Bahnhof ein individueller Ansatz entwickelt und dann ein Architekturbüro, Künstler oder Designer mit dem Entwurf beauftragt.

So wurde im friesischen Wolvega durch das Entfernen einer Wand der vorhandene Blumenladen zu einem Teil des Warteraums. Der Blumenhändler schenkt jetzt auch Kaffee aus und hält die Toiletten sauber. Auf dem Bahnhof von Roermond läuft eigens für diesen Ort komponierte Musik; und am Bahnhof des Den Haager Vororts Moerwijk, der zuvor nur aus Bahnsteigen bestand, gibt es nun zwei leuchtend orangefarbene, archetypische Wartehäuschen in Treibhausoptik. Es geht bei Prettig Wachten hauptsächlich darum, die Identität des jeweiligen Orts zu stärken; erstaunlicherweise darf dabei die Corporate Identity des Bahnbetreibers völlig in den Hintergrund treten.

Kecke Bezüge

Kein anderes der neun bisher realisierten Projekte macht das so deutlich wie das temporäre Bahnhofsgebäude von NL Architects in Barneveld. Die Gemeinde in der Mitte des Landes ist v. a. für ihre zahlreichen Hühnerfarmen bekannt: Auf knapp 30 000 Einwohner kommen 2,9 Mio. Stück Federvieh. Die einspurige Bahnlinie, die durch Barneveld führt, ist deshalb in den Niederlanden als »Hühnerstrecke« bekannt. Der Bahnhof Barneveld-Noord liegt außerhalb des Ortskerns und bezieht seine Daseinsberechtigung aus einem benachbarten Gewerbegebiet, hauptsächlich aber aus einer Park+Ride-Garage mit 320 bewachten Stellplätzen. In der Hauptverkehrszeit fährt alle Viertelstunde ein Zug in die nächste Großstadt Amersfoort.

Eine etwas aufdringlich gestaltete Überführung verbindet die Park+Ride-Garage über eine Grünzone und ein paar Gleisstränge hinweg mit dem Bahnhofsgelände. Dort steht das auf den ersten Blick viel unauffälligere neue Wartehäuschen. In Wirklichkeit wirkt es keinesfalls so monumental wie auf manchen Fotos, sondern eher putzig und humorvoll. Es besteht aus drei schwarz gestrichenen Containern auf einem Glassockel, unterbrochen durch einen ebenfalls schwarzen, hochkant gestellten Container, der einen Turm bildet. Der nördliche Teil nimmt ein kleines Café mit minimalistischer weißer Bar auf, das von einer örtlichen Arbeitsagentur für Behinderte betrieben wird. Der Container darüber dient als Stauraum für Möbel- und Geräte des Shops. Den südlichen Teil nimmt der nur mit einer Granitbank ausgestattete Warteraum ein. Einer der beiden Container darüber beinhaltet die nötige Lüftungstechnik und Elektroinstallation, der andere hat keinen Boden und sorgt für zusätzliche Deckenhöhe. Er ist mit perforierten weißen Akustikpaneelen ausgekleidet, und in den Ecken hängen große vertikale Leuchtstoffröhren.

Insgesamt sind die wenigen Details des kleinen Gebäudes erstaunlich gut ausgeführt, auch wenn die industriellen Materialien verraten, dass es nicht teuer war. Im Turm ist die Bahnhofstoilette untergebracht, die trotz Rundum-Standardausstattung aus wenig anheimelndem Edelstahl ein überraschendes räumliches Erlebnis bietet: Durch eine Glasscheibe, die den hohlen, schlotförmigen Container oben abschließt, fällt Tageslicht herein und verleiht dem profanen Raum etwas unerwartet Sakrales. »Royal Flush« nennen die Architekten das – und man darf sich ihr hintergründiges Grinsen dazu vorstellen. Auch in der Außenansicht spielt Sakrales eine Rolle: Eine Uhr weckt die Assoziation an einen Kirchturm, unterstrichen durch goldenes Federvieh, welches oben auf dem Turm hockt – allerdings handelt es sich dabei um eine Henne, nicht um einen Hahn. Ebenso wie mit den goldenen Eieraufklebern, die als Sicherheitsmaßnahme für Sehbehinderte auf den Glasscheiben angebracht sind, spielen die Architekten damit natürlich auf die »Hühnerstrecke« an. Obwohl sie das in ihren Projekttexten nicht ausdrücklich erwähnen, ist die Kirchturm-Parallele aber auch als Anspielung auf das ausgesprochen christliche Gepräge der Gemeinde gedacht. Das Städtchen liegt im niederländischen Bibelgürtel, wo viele strenggläubige protestantisch-reformierte Christen wohnen; die radikal konservative »Staatkundig Gereformeerde Partij« ist die stärkste Kraft im Gemeinderat.

Wenn man dann auch noch bedenkt, dass die Container durchaus als Verweis auf das benachbarte Gewerbegebiet gelten können, hat der kleine Bahnhofsbau sogar auf drei Ebenen Bezug zur Identität des Orts – wenngleich teilweise auf eine subversive, etwas unehrerbietige Art, die für die Arbeit von NL Architects typisch ist. Vielleicht hat die Gemeinde Barneveld sich den kleinen Seitenhieb gefallen lassen, weil das Wartehäuschen ohnehin nur ein temporäres ist. In Zukunft soll im Sockel der Park+Ride-Garage eine echte Bahnhofshalle mit allem Drum und Dran untergebracht werden, in der das Warten sicherlich mindestens genauso angenehm sein, aber weniger Anlass zum Schmunzeln bieten wird.

db, Mo., 2014.02.24

24. Februar 2014 Anneke Bokern

4 | 3 | 2 | 1