Editorial

Nach zwei Jahren, in denen wir ausschließlich Schwerpunkthefte veröffentlicht haben, erwartet Sie in dieser Sampler-Ausgabe wieder einmal eine breite Palette an Themen. Doch wie immer bestehen auch zwischen den Artikeln der Sampler-Hefte zahlreiche Querverbindungen, die sich wie von selbst zu kleinen thematischen Hubs formen. Der größte dieser kleinen Schwerpunkte im vorliegenden Heft widmet sich der Kulturhauptstadt, eine Auszeichnung, die derzeit jährlich zwei bis drei europäische Städte verliehen bekommen. Reichte anfangs alleine der Titel Kulturhauptstadt aus, um – in erster Linie touristische – Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, bedarf es mittlerweile Riesenbudgets und großangelegten Museumsneubauten um medial zu punkten. Auch Marseille 2013 durfte sich bisher vor allem dank der kulturellen Neubauten über breite Berichterstattung in den Feuilletons der großen Tageszeitungen freuen, von Kosiče hört man hingegen wenig bis gar nichts. Wenn doch ein Informationshäppchen unsere Aufmerksamkeit findet, dann die Feststellung, dass Kosiče zwar schön sei, von einem Kulturhauptstadtprogramm aber weit und breit nichts zu sehen wäre. Pech gehabt (bzw. zu wenig Geld) – die nächste bitte! Neben der Berichterstattung über das eindrucksvolle neue MuCEM eignet sich Marseille jedoch tatsächlich hervorragend, um die Thematik Kulturhauptstadt in ihrer ganzen Fülle darzustellen, was Daniel Winkler für dérive gemacht hat. Die Fotos aus Marseille und somit auch das Coverfoto stammen von Frédéric Singer, der seit dieser Ausgabe als Fotoredakteur bei dérive werkt, worüber wir uns ganz besonders freuen. Als weiterer Beitrag der neuen dérive-Fotoredaktion findet sich eine Auswahl des Fotoessays Secrets & Crises der griechischen Fotografin Zoe Hatziyannakis in diesem Heft.

Hatziyannakis thematisiert damit den Wunsch der griechischen Bevölkerung nach transparenten Entscheidungsprozessen und Einblicken hinter die Kulissen der Macht.

Bei der Kombination Museumsneubau und Kulturhauptstadt fällt einem hierzulande unweigerlich der so genannte friendly alien ein, wie das Kulturhauptstadtprodukt Kunsthaus Graz liebevoll genannt wird. Zehn Jahre ist es her, dass Graz Kulturhauptstadt war, und wenn davon – außer einem Berg Schulden – etwas geblieben ist, was noch heute daran erinnert, dann ist es wohl das Kunsthaus und ein zweites Bauwerk, die Acconci-Insel. Unsereins als kritischer Stadtforscher war ja immer der Meinung, die Standortwahl für das Kunsthaus sei ein geschickter, strategischer Schachzug der Stadtverwaltung gewesen, um die Murvorstadt einem Aufwertungsprozess zu unterziehen. Sigrid Verhovsek, die in akribischer Forschung die Geschichte des Kunsthauses aufgearbeitet hat, klärt uns in ihrem Beitrag jedoch auf, dass wohl alles viel einfacher und gleichzeitig viel komplizierter gewesen ist.

Von Kunst und Stadt handelt gleich noch ein Beitrag dieser Ausgabe: Es geht um Streetart, im Speziellen um den Hamburger Sprayer OZ, der insgesamt acht Jahre wegen »fortgesetzter Sachbeschädigung« im Gefängnis verbrachte und nun in der medialen Öffentlichkeit vom »Schmierfinken« zum Künstler aufsteigt. Eine gute Gelegenheit für die AutorInnen Jorinde Reznikoff und KP Flügel auch der Frage nachzugehen, ob Streetart in Zeiten von Kommerzialisierung, Guerilla- und Stadt-Marketing noch als widerständige autonome Kunstform zu sehen ist oder längst als Teil des Spektakels dient.

Mit ganz anderen Problemen sind die BewohnerInnen von Lerchenfeld, einem Stadtteil der niederösterreichischen Kleinstadt Krems, konfrontiert: Seit einem Kriminalfall im Jahr 2009, bei dem ein Jugendlicher bei einem Einbruch von einem Polizisten erschossen wurde, taucht Lerchenfeld in den Medien nahezu ausschließlich als »Glasscherben-Viertel« bzw. »Ghetto« auf. Anne Erwand hat sich Image-Entwicklung und Leben im Viertel angesehen und erzählt eine Geschichte von innerösterreichischer wie grenzüberschreitender Arbeitsmigration, Stigmatisierung, Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Wer dérive zum Namen seiner Zeitschrift macht, geht eine gewisse Verpflichtung zur Auseinandersetzung mit der Situationistischen Internationalen ein, was diesmal Stephan Grigat für uns unternimmt. In einer kritischen Reaktion auf einen Beitrag von Thomas Ballhausen über die Aktualität von Guy Debords Denken in dérive 46 streicht Grigat »die radikale Gesellschaftskritik, die Debords Kunst-, Architektur- und Medienkritik zugrunde liegt«, dargelegt in Debords Die Gesellschaft des Spektaktels, hervor, die Grigat im nicht versiegenden Interesse an der SI und Guy Debord vernachlässigt sieht.

In der 40. Folge der Serie Geschichte der Urbanität von Manfred Russo steht Michel Foucaults Text Andere Räume im Mittelpunkt. Foucault, der sich in Überwachen und Strafen bemühte, den Begriff des Spektakels als obsolet und für die Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft ungeeignet darzustellen, hat in dem einflussreichen Text Andere Räume den Begriff der Heterotopie geprägt, der seither zum festen Bestandteil des Vokabulars für den Raumdiskurs geworden ist.

Das Kunstinsert Woanders und vor Ort hat die Künstlerin Marlene Hausegger für dérive gestaltet. Ihre Interventionen sind »räumliche Eingriffe, die auf einer präzisen Analyse der referenzierten Kunst- oder Architekturikonen beruhen« wie Paul Rajakovics und Barbara Holub in ihrem Text zu Hauseggers Arbeit schreiben.

Bevor ich Ihnen nun einen schöne Sommer wünsche, nehmen Sie bitte noch Ihren Kalender zur Hand und reservieren Sie sich die Tage vom 4. bis zum 13. Oktober: Da findet nämlich zum 4. Mal urbanize!, unser internationales Festival für urbane Erkundungen in Wien statt, das heurige Thema: Citopia NOW!

Christoph Laimer

Inhalt

Editorial

Sampler (Juli - September 2013):

Glanz und Elend des Status ‚Europäische Kulturhauptstadt’
Daniel Winkler

Guy Debords Spektakelkritik
Stephan Grigat

Zoe Hatziyannakis: Secrets & Crises
Frédéric Singer

„Wir wollen keine Hilfestellung fürs Leben im Kapitalismus anbieten.“
CIT Collective, Elke Rauth, Christoph Laimer

Ewige Außenseiter?
Anne Erwand

Break on Through (to the Other Side)
Sigrid Verhovsek

Street Art zwischen Revolte, Repression und Kommerzialität
Jorinde Reznikoff, KP Flügel

Kunstinserts:
„Woanders und vor Ort“
Marlene Hausegger, Barbara Holub, Paul Rajakovics

Serie | Geschichte der Urbanität: Teil 40
Postmoderne VI: Vorboten der Postmoderne
Manfred Russo

Besprechungen:
Das Verschwinden des Objekts und die neue Architektur
André Krammer

Sprung über die Elbe – Inselhopping oder nachhaltige Aktion?
Katharina Held

Das Wissen der Architektur explizit machen
Robert Temel

„Unter Hitler war nicht alles schlecht“
Nicole Theresa Raab

Sind wir schon abgesoffen oder noch zu retten? - Die Venedig Biennale 2013
Iver Ohm

Vom elitären Amusement zum urbanen Lebensstil
Elisabeth Haid

Filmisches Aufbegehren und städtischer Ausnahmezustand
Thomas Ballhausen

Nachkriegsarchitektur in der BRD
Frédéric Singer

Street Art zwischen Revolte, Repression und Kommerzialität

(SUBTITLE) Eine Untersuchung aus Anlass der Prozesse gegen den Hamburger Sprayer OZ

Was auf den New Yorker Straßen der 1960er Jahre von Jean Baudrillard als »Aufstand durch Zeichen« gegen die kapitalistische Vereinnahmung und Monopolisierung des öffentlichen Raums begann, ist im Jahr 2013 als Street Art oder, umfassender, als Urban Art längst in Galerien, Werbeagenturen und Universitäten angekommen. Wo und inwiefern wirkt ihre rebellische Dimension heute weiter? Oder ist sie als anerkannte, vereinnahmte und musealisierte Kunstform entmächtigt? Und wie verhalten sich ihre AkteurInnen zu diesem Prozess? Zum Fall des Hamburger Sprayers OZ sprachen Jorinde Reznikoff und KP Flügel im Rahmen ihrer Recherchen für das Buch Free OZ![1] mit Street-Art-KennerInnen.

OZ – vom weggesperrten »Schmierfink« zum Künstler

Insgesamt acht Jahre musste der heute 63-jährige Walter F. alias OZ wegen fortgesetzter Sachbeschädigung im Gefängnis verbringen. Bunte Smileys und Kringel, schwarze Tags wie USP oder DSF und immer wieder das Schriftzeichen OZ: Hamburgs berühmtester Sprayer ist im Stadtbild allgegenwärtig. Auf tristen Tunnelwänden, grauen Bunkerfassaden, Rückseiten von Verkehrsschildern hat er unübersehbar seine Spuren, seine Smileys, Kringel und Buchstabenkombinationen hinterlassen. Mit einzigartiger Hartnäckigkeit ist OZ seit 30 Jahren Nacht für Nacht unterwegs.

Dabei stellt er unmissverständlich das Vorrecht der Werbeindustrie in Frage, den öffentlichen Raum konkurrenzlos zu dominieren. Mainstream-Medien galt er bisher als »Schmierfink«. Zugleich hat Walter F. Generationen von Graffiti- und Street-Art-KünstlerInnen in Hamburg inspiriert.

Der engagiert-akribischen Verteidigung durch die Hamburger Anwaltskanzlei Andreas Beuth sowie der sich formierenden Solidaritätsbewegung aus GaleristInnen, Recht-auf-Stadt-AktivistInnen und Ultra-St. Pauli-Fans ist es zu verdanken, dass OZ seit 2007 zu keiner Haftstrafe mehr verurteilt worden ist. Im Februar 2012 ging das Hamburger Landgericht erstmals so weit, nicht auszuschließen, dass es sich bei einigen Werken von OZ um Kunst handeln könnte. Daher wurde er wegen Sachbeschädigung in zehn Fällen nur zu einer Geldstrafe von 1.500 Euro verurteilt. Als die Hamburger OneZeroMore-Galerie ein Jahr später neue Werke von Walter F. ausstellte, die dieser teilweise zusammen mit anderen KünstlerInnen wie Loomit und Daim auf Leinwänden anbrachte, titelte die Hamburger Morgenpost: »Vom Schmierfink zum Künstler«.

Von der Straße in die Galerie oder Werbeagentur und die unliebsame Frage nach dem Geld

Illegales Sprayen scheint noch immer das Wesensmerkmal von Street Art bzw. Graffiti zu sein. Für Rudolf D. Klöckner, der in Hamburg seit 2006 den Blog urbanshit.de betreibt, gilt das nach wie vor. »Auch wenn es keine einheitliche Definition des Kunstgenres Street Art gibt – und vermutlich auch nie geben wird.« Nicht autorisierte Aneignung von Stadt und öffentlichem Raum sieht er als einen zentralen und unabdingbaren Faktor von Street Art. Diese politische Dimension präge das Genre viel stärker als das künstlerische Erscheinungsbild, über das Street Art in der Regel definiert werde. »Selbst wenn die Werbung Technik und Ästhetik der Street-Art-Künstler adaptiert, ist das Resultat noch lange keine Street Art!« Da stellt sich natürlich sofort die Nachfrage, wie es denn zu beurteilen sei, wenn Street Artists aus der Illegalität heraus den Sprung in die Galerien schaffen: Sind deren Straßenwerke dann noch immer Street Art? »Ja, das sind sie nach wie vor«, antwortet Rudolf D. Klöckner, »Street Art zu machen heißt nicht, dass man als Künstler nicht auch in der Galerie ausstellen darf, auch nicht, dass man als Street-Art-Künstler kein Geld verdienen darf.« Natürlich könne ein Street-Art-Künstler den räumlichen Wechsel von der Straße in die Galerie vollziehen: »Wichtig ist dabei, dass der Künstler den Bezug zum öffentlichen Raum nicht gänzlich aufgibt und weiterhin mit und in ihm als hauptsächliches Medium arbeitet. Wenn er das nicht tut, dann macht er keine Street Art mehr.«

Schwierig werde es allerdings, wenn man Street Art und Werbung nicht mehr auseinander halten könne – »an diesem Punkt, wo selbst große, konservative Unternehmen mit Guerilla Marketing versuchen Aufmerksamkeit zu erzeugen, sind wir mittlerweile schon länger angelangt. Das wirft nicht die Frage auf, ob Künstler mit ihrer Arbeit prinzipiell auch im Bereich der Werbung ihr Geld verdienen dürfen, sondern vielmehr stellt sich die Frage, welche neuen Wege sich die Street Art sucht. Vielleicht sieht am Ende die Street Art aus wie Werbung und wir fallen als Betrachter darauf rein, wer weiß!?«

Jeder Künstler komme irgendwann an den Punkt, wo er entscheiden müsse, ob er mit dem, was er mache, professionell sein Geld verdienen wolle oder aber auch müsse. »Dabei führt der Weg klassischerweise über die Galerie.« Bei OZ, so Rudolf D. Klöckner weiter, sei das noch einmal etwas anderes. Ihm gehe es beim Ausstellen in der Galerie nicht um das Geldverdienen als Broterwerb und auch nicht um das Ausstellen in einer Galerie als Präsentationsform seiner Kunst. OZ in der Galerie auszustellen sei eigentlich Quatsch, denn »er stellt ja ohnehin Tag und Nacht in der Stadt aus«. Beim Präsentieren von OZ in der Galerie gehe es um den Versuch, OZ auf die Bühne des Kunstbetriebes zu heben.

»Einerseits wird so versucht, den Prozess zu Gunsten von OZ und der allgemeinen Kunstfreiheit zu beeinflussen und auf der anderen Seite durch das Verkaufen von Bildern die immensen Prozesskosten zu decken.«

Christoph Tornow hat in Hamburg fünfeinhalb Jahre die Vicious Gallery betrieben. Themenschwerpunkt waren Ausstellungen von Graffiti und Street Art. »Wir haben eine große Einzelausstellung mit OZ gehabt. Seine erste Ausstellung überhaupt.« Zeitgleich zur Ausstellung sei der Bildband »Es lebe der Sprühling« erschienen. Bis Anfang dieses Jahres sei die Positionierung von OZ außerhalb des Kunstbetriebes offensichtlich gewesen. Christoph Tornow sagt: »Er will definitiv da nicht hin. Nur hat er jetzt begriffen, dass seine Probleme, egal welcher Art, ab einem gewissen Grad nur mit Geld zu lösen sind, da unsere ganze Gesellschaft darauf aufbaut.« OZ habe begriffen, dass die Qualität des Rechtsbeistandes steige, wenn er ihn bezahlen könne.

OZ aus der Sicht »etablierter« KünstlerInnen und das Schweigen der Groß-KünstlerInnen

Stars des Kunstbetriebs wie Jonathan Meese und Daniel Richter halten sich mit Solidaritätsbekundungen für OZ deutlich zurück. Interviewwünsche wurden trotz wiederholter Nachfragen von der beide Künstler vertretenden Contemporary Fine Arts-Galerie in Berlin lapidar beantwortet: Die Herren seien zu beschäftigt. Zeit für ein Gespräch und eine Stellungnahme hatte aber Schorsch Kamerun, Sänger der Punk-Band »Die Goldenen Zitronen« und inzwischen Theater-Regisseur sowie Mitunterzeichner des Manifests »Not In Our Name, Marke Hamburg«, in dem sich vor allem KünstlerInnen gegen die ungefragte Vereinnahmung durch das Hamburger Stadtmarketing für Werbezwecke wenden.

»Ganz grundsätzlich« ist Schorsch Kamerun der Auffassung, dass es bei OZ erst mal um Selbstverwirklichung gehe, »um eine Art von Intervention, um sich bemerkbar Machen, sich einzumischen.« Das solle eine Gesellschaft tragen und aushalten können. Eine Debatte, die sich darum drehe, wo der Nächste »unzulässig berührt« werde, fände er »als fröhlicher Vorgabenverachter« zu kompliziert und mühselig. Trotzdem unterstütze er OZ weiterhin. »Wenn man dafür sorgt, dass sich jemand mit seiner Ausdrucksart zurückzuhalten hat, halte ich dies schon für einen autoritären Akt, der es wert ist, bekämpft zu werden.«

Schorsch Kamerun erlebe das, was OZ mache, als eine Art von Einmischung in den öffentlichen Raum, für die er prinzipiell sei. Bei dem überzogenen Umgang mit OZ habe er das Gefühl, dass hier ein Exempel statuiert und jemand gebrochen werden solle: »Wir nehmen diesen Fall deswegen so grundsätzlich wahr, weil sich jemand besonders zäh und unerschrocken gegen Autoritäten auflehnt.« Allerdings scheine ihm zweifelhaft, ob solche Zeichensetzungen noch ihre gewünschte radikale Wirkung haben, denn »die vordergründig radikalste Kunst landet heutzutage am schnellsten im Museum.« Doch Graffitis, selbst die von OZ, empfände er nicht mehr als Gegenkultur. »Das ist wie ein klischeehafter Punksong, an den ich nicht mehr glauben kann, wie ein Irokesenhaarschnitt, wie ein Che-Guevara-T-Shirt. Dennoch, grundsätzlich ist mir ein OZ-Schnörkel lieber als ein Paragraphen-Kringel ...«

Provoziert der »Aufstand durch Zeichen« die Sehnsucht nach der weißen Wand?

Ist das Genre Street Art an einem Punkt angelangt, der zum Overkill führen kann? Christoph Tornow bekennt, dass ihm die Faszination verloren gegangen sei. »Was daran liegt, dass ich mich exzessiv damit beschäftigt habe und es für mich schon wieder langweilig wird. Insgesamt ist das Interesse stark am Abebben.« Nach einiger Zeit werde es wieder eine Renaissance geben. »Momentan, wo es ökonomisch schlechter geht, wollen alle die weiße Wand und wenn wir wieder satt sind, werden wir uns auch den Luxus der Rebellion wieder leisten.«

Tornow ist nach wie vor fest der Meinung, wenn OZ für seine Anwälte nicht das Geld bräuchte, hätte er bis heute kein Bild verkauft. »100prozentig nicht. Ich hab es vorher schon versucht, ihn eine Leinwand malen zu lassen. Dafür war er nie zugänglich. Nur die Not hat ihn dazu getrieben, mit Teilen seiner Gesinnung zu brechen. Man sieht auch, dass er sich bei seinen kommerziellen Bildern extra keine große Mühe gibt. Er malt da keine schönen Bilder. Man merkt, dass er sich bei seinen illegalen Arbeiten häufig viel mehr Mühe gibt. Weil das für ihn Sinn macht. Und er will eigentlich gar nicht, dass die legalen Sachen existieren. Er will nicht jemanden wie mich als Galeristen belohnen, der etwas macht, was ihm eigentlich zuwider ist, der nämlich Handel treibt und damit den Kapitalismus fördert. Das ist seine letzte Freiheit, die er hat … Der Hass regiert den Strich.«

Die Galerie als Atelier der Straße

Seit vielen Jahren unterstützt Alex Heimkind von der Galerie OZM OZ während der Prozesse sowie in seiner künstlerischen Arbeit. Um ihm ein Forum als Künstler zu geben. hat Heimkind seit 2010 vier Ausstellungen organisiert, für die OZ eigens Tafelbilder und eine Raummalerei geschaffen hat. Die Galerie wird hier zum straffreien und gefahrenfreien Arbeitsraum. Dieses Jahr gelang es ihm, Walter F. davon zu überzeugen, neue Leinwandwerke für eine Ausstellung zu malen. Nach anfänglichem Zögern fand OZ auch Gefallen daran, gemeinsame Werke mit anderen Graffiti-KünstlerInnen wie u. a. Daim und Loomit zu kreieren.

Die Hamburger Morgenpost reflektierte diesen unerwarteten Perspektivenwechsel mit der drastischen Headline »Vom Schmierfink zum Künstler«.[2] Diese Headline ist für Alex Heimkind durchaus nachvollziehbar. Skeptisch ist er jedoch bei der Beantwortung der Frage, ob die Medien jetzt beginnen, das Werk und die Person von OZ zu schätzen. »Dieselben, die ihn vorher Scheiße fanden, finden ihn jetzt gut und morgen wieder Scheiße. Kann man das verstehen?«

Alex Heimkind möchte weiter Ausstellungen für OZ organisieren, damit dieser selbst eine Möglichkeit bekommt, mit seiner Kunst Geld für die hohen Anwaltskosten zu verdienen. Denn es ist keine Frage: OZ sprüht weiter. Zur paradoxen finanziellen Situation eines Bürgers, der sich selbst den öffentlichen Auftrag der kostenlosen Stadtverschönerung gegeben hat, äußert sich Alex Heimkind mit unwirscher Ironie. »Jeder Polizist, der OZ hinterher schnuppert, jeder Richter, der ihn verklagt, wird ja bezahlt vom Staat. Und OZ, was macht er? Der ist frei, der macht das einfach. Doch das Lustige daran ist: OZ wird auch bezahlt vom Staat. Also erschafft das System sich selbst und bleibt wunderbar erhalten. Denn was kosten 8 Jahre Gefängnis? Dafür hätten wir OZ auch eine Villa kaufen können.«

Natürlich hat es gegen die OZ-Ausstellungen heftigen Protest aus der Sprayerszene gegeben. Zu deren Selbstverständnis gehören sowohl die Illegalität als auch die radikale Ablehnung der Kommerzialisierung von Kunst im öffentlichen Raum. Alex Heimkind wurde vorgeworfen, er würde OZ genau dazu zwingen. Gegen diese Anschuldigung verwahrt sich Heimkind ganz entschieden. Die letzte Ausstellung habe er bewusst »Untitled« genannt und den Eröffnungstermin erst sehr kurzfristig angekündigt, um OZ in seinen künstlerischen Entscheidungen völlig frei zu halten. »OZ hat es geschafft, eine komplette Ausstellung zu machen. Das Beste, was er je in einer Räumlichkeit gemacht hat. Und das innerhalb von drei Wochen.« Dabei galt als Rechtfertigung vor seinem Sprayer-Gewissen bisher, die Bilder »für seine Anwälte zu machen, denn die ermöglichen es ihm, nicht womöglich im Gefängnis oder gar in einer Psychiatrie, sondern in Freiheit zu sein. Ohne sie wäre er nicht an diesem Ort, um diese Werke zu schaffen.«

Das Gegenkonzept von Miss.Tic: Von der Street Art leben und sich einen Platz in der Kunstgeschichte erobern

Es gibt wohl keinen größeren Gegensatz als zwischen OZ und der als Grande Dame der französischen Street Art bezeichneten Pariserin Miss.Tic. Auch sie musste sich mit der Frage »Straße oder Galerie?« auseinandersetzen und sich der Justiz in einem Strafprozess wegen Vandalismus stellen. Ganz anders als OZ hat sie ihre – etwa gleich lange – Laufbahn als Graffitikünstlerin von Beginn an selbstbewusst und erfolgsorientiert durchgeplant. Von Anfang an wollte sie von ihrer Kunst leben können und sich einen Platz in der bürgerlichen Kunstgeschichte erkämpfen.

Dem Vorwurf, ihrer Notorietät halber heute für Galerien zu arbeiten und damit ihre Arbeit auf der Straße zu verraten, stellt sie energisch entgegen, sie habe ihre erste Ausstellung im gleichen Moment gemacht, als sie ihr erstes Schablonenbild auf der Straße angebracht habe. Also mache sie seit fast 30 Jahren Ausstellungen in Galerien, nur sei vorher nicht darüber gesprochen worden, weil das weniger spektakulär gewesen sei.

Doch das Entscheidende bei dieser Gretchenfrage der Street Art ist und bleibt für Miss.Tic ihr radikales Freiheitsbedürfnis. Ihre Kunst passe in keine Schublade, auch nicht in die der Street Art. »Das Draußen braucht das Drinnen, das Außen das Innen. Das Atelier ist das Laboratorium der Straße. Ich lasse mich nicht draußen einsperren.«[3] Das gilt auch für die im ersten vermeintliche bzw. im zweiten Fall definitive Schublade, gute Kunst und ganz besonders die ursprünglich aus dem Underground gegen das Establishment gerichtete Street Art habe frei von Geld zu sein. Dagegen wendet Miss.Tic ein, sie »stehe nicht außerhalb dieser Welt. Ich habe Kosten, muss Atelier und Steuern bezahlen – und bekomme von niemandem etwas geschenkt.« Um Ausstellungen realisieren zu können, brauche sie Geld. »Ich verkaufe mich, wie ich mich mein ganzes Leben lang verkauft habe.« Sie sei weder Erbin noch Rentenempfängerin. Wir lebten nicht mehr im 19. Jahrhundert. Der Kunstmarkt habe sich weiter entwickelt. Man werde nicht mehr durch die Kirche oder wen auch immer unterstützt. »Wie jedermann muss auch ich eben schuften.« Also nehme sie Aufträge an, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dazu gehöre heutzutage die Werbung. »Wenn man jetzt auf mich zukommt, weil ich Miss.Tic bin und einen eigenen Stil habe, bin ich zufrieden und akzeptiere.«
Natürlich produziere sie lieber intelligente als dumme Botschaften.
Und sie denke nicht, dass sie sich verrate, wenn sie für die Autovermietung UCAR schreibe: »Mieten heißt frei bleiben«. Es gebe Werbung, die sie akzeptiere, und Werbung, die sie ablehne. Die Leute bekämen also nur die Werbung von ihr zu sehen, die sie akzeptiert habe. »Wenn jetzt jemand Bulle spielen will, kann er ja mal versuchen herauszubekommen, welche Angebote ich abgelehnt habe.« Danach habe sie bisher nie jemand gefragt. Kritisiert werde sie immer nur für das, was sie akzeptiert habe. Seit sie es schaffe, ihren Lebensunterhalt mit ihrer Kunst zu verdienen, und man das sehen könne, würde sie hart angegriffen – als eine Künstlerin, die sich verkaufe. In manchen Kreisen werde sie sogar »Miss Fric« [Miss Kohle] genannt. Es gebe enorm viel Kritik von Eifersüchtigen, NeiderInnen, Talentlosen, Gescheiterten, IntrigantInnen und von Künstlern und Künstlerinnen, die talentiert seien, es aber nicht schafften, ihre Werke zu verkaufen. »Niemand würde mich in Frage stellen, wenn ich heute im Bois de Boulogne auf den Strich ginge.«

Auch Miss.Tic hat vor Gericht gestanden. Ein Pariser Hauseigentümer hatte das Graffiti »Egérie et j’ai pleuré« an seiner Hauswand als Eingriff in sein persönliches Eigentum empfunden und gegen sie einen Prozess angestrengt. Miss.Tic wurde zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Daraufhin traf sie die Entscheidung, nur noch mit Genehmigung im öffentlichen Raum zu sprühen, da »so ein Adrenalinkick« nur von kurzer Dauer sei und sie nicht »maso« wäre.

Von der Subversion zur Denkmalpflege – Blek le Rat in Leipzig
Ein weiterer Graffitikünstler hat auch längst Karriere gemacht: Der ebenfalls aus der situationistisch geprägten französischen Szene stammende Blek le Rat, der seit etwa 30 Jahren seine Bilder durch Straßen und Galerien schickt. Zuerst waren es Ratten, dann mannshohe Silhouetten von Dichtern und Clochards, darunter aber auch eine Madonna mit Kind. Letztere sprühte er 1991 in Leipzig.

Die Leipziger Universität hatte eine Gruppe von deutschen und französischen Graffiti-KünstlerInnen 1991 auf ihren Campus eingeladen und damit Street Art offiziell nach Leipzig geholt. Blek le Rats jedoch illegal angebrachtes Madonna-Pochoir (Stencil) wurde von Maxi Kretzschmar wieder entdeckt und am 12. April 2013 am Ursprungsort, restauriert und mit einer Glasscheibe versehen, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dieses Werk sei, so die Wiederentdeckerin, als eine Liebeserklärung an seine Frau Sybille entstanden: »Heute steht es unter Denkmalschutz und wird dauerhaft im Leipziger Stadtbild als archäologisches Fenster mit hohem Kunstwert erhalten.« Allerdings scheint sich ein Leipziger Hardcore-Sprayer gegen diese Musealisierung mit Sprayattacken auf das restaurierte Werk zu wenden.

Maxi Kretzschmar ist freiberufliche Kunst- und Kulturmanagerin im Urban-Culture-Bereich u. a. bei IBUg (Industrie­brachenumgestaltung), einem Urban Culture Festival. Aus ihrer Sicht habe die Leipziger Stadtverwaltung »das Thema Urban Art als Marketingtool noch nicht wirklich auf dem Schirm, obwohl Leipzig durchaus eine Rolle in der deutschlandweiten Urban-Art-Szene, vor allem im Bombing, spielt. Die Verwaltung macht es aber auch der lokalen Szene nicht unbedingt leicht, wenn ein gutes Hall-of-Fame-Netz mal eben aufgesprengt wird.«[4] In London dagegen »wird streng zwischen Graffiti als Sachbeschädigung und Street Art als Kunst unterschieden«. Nur Graffiti würden entfernt. Für das Stadtmarketing in den Metropolen wie London oder Berlin ist Street Art noch immer ein Anziehungsthema für TouristInnen, auf das ausdrücklich auf Prospekten oder im Internet hingewiesen wird.[5]

Street Art ohne Ende oder es gibt keine Konklusion …

Die fragmentarischen Spots zeigen eine Vielfalt und Widersprüchlichkeit im Verhalten der Street-Art-AktivistInnen und ihres Umfelds. Während die heute als renommierte KünstlerInnen gefeierten Banksy, Blek le Rat und Miss.Tic den KunstsammlerInnen mitunter als Kapitalanlage dienen, muss sich ein OZ nach wie vor regelmäßig vor Gericht verantworten. Bisher hat sich OZ der bewussten Nutznießung seiner steigenden Anerkennung als Künstler mit Don-Quijote-artiger Hartnäckigkeit verweigert, sie ist ihm nicht geheuer. Absurd wäre es, wenn OZ erneut zu Haftstrafen verurteilt würde, um dann später von denselben staatlichen Kulturbeauftragten oder MuseumsdirektorInnen, die ihm jetzt ihre Solidarität verweigern, in museale Kontexte eingesperrt zu werden.

Nachtrag: Am 2. Mai endete ein weiterer Prozess gegen OZ vor dem Amtsgericht Hamburg-St. Georg. Von Andreas Blechschmidt erhalten wir die Information: »Im aktuellen Verfahren gegen OZ hat die Anklage mehr oder weniger Schiffbruch erlitten. Von insgesamt 19 Anklagepunkten, darunter ein angebliches Scratchen von Fenstern eines Lidl-Marktes mit einer Schadenshöhe von € 10.000, wurde OZ in diesem wie weiteren 17 Vorwürfen auch auf Antrag der Staatsanwaltschaft freigesprochen. Als erwiesen sahen Staatsanwaltschaft und Gericht lediglich zwei Tags auf einer Hauswand an, für die OZ nach fast sechs Monaten Verhandlungsdauer zu einer Geldstrafe von € 240,- verurteilt wurde.

Gerügt wurde die schlampige und nachlässige Ermittlungsarbeit der Polizei. Hingegen gab es sogar von der Staatsanwaltschaft ein seltenes Lob für die Verteidigung: Durch deren akribische Nachermittlungen seien Widersprüche der Ermittlungen und entlastende Beweise überhaupt nur aufgedeckt worden.«


Anmerkungen:
[01] Blechschmidt, Andreas; Flügel, KP & Reznikoff, Jorinde (2013) (Hg.): Free OZ! Streetart zwischen Revolte, Repression und Kommerz. Berlin, Hamburg: Assoziation A.
[02] Siehe www.mopo.de/ausstellungen/ausstellung-in-der-schanze--oz---erst-schmierfink--jetzt kuenstler,21680328,21972624.html (Stand 13. 5. 2013).
[03] Flügel, KP & Reznikoff, Jorinde (Hg.) (2011): Bomb it, Miss.Tic! Hamburg: Edition Nautilus, S. 5 ff.
[04] Bombing: »Schnelles, auf Quantität ausgelegtes, illegales Sprühen«; Hall of Fame: »Flächen, die meistens legal zu besprühen sind.« (Quelle: Wikipedia).
[05] Siehe www.visitberlin.de/de/category/1150?tid=1150&parent=558 (Stand 13. 5. 2013).

dérive, Mo., 2013.08.26

26. August 2013 Jorinde Reznikoff, KP Flügel

Das Verschwinden des Objekts und die neue Architektur

Die am 5. Juni im Wiener MAK eröffnete Ausstellung Eastern Promises. Zeitgenössische Architektur und Raumproduktion in Ostasien wirft den Scheinwerfer auf einen weiten geografischen Raum, der China, Südkorea, Taiwan und Japan umfasst. Die Kuratoren Andreas Fogarasi und Christian Teckert zeigen aber glücklicherweise Mut zur Lücke, der auch strategisch begründet ist.

Vorgestellt wird kein großes Narrativ, sondern es sind Parallelerzählungen, die nebeneinander gestellt werden und der Rezeption Raum zum Atmen lassen. Und dennoch handelt es sich um eine umfangreiche Ausstellung, die auf eine angenehme Weise überfordert: Rund 70 Projekte aus den Bereichen Architektur und Urbanismus werden gezeigt. Die Gestaltung der einzel­nen Projekten gewidmeten Paravents nimmt Bezüge zum Dargestellten auf, zitiert eine Materialität, ein räumliches Detail oder eine Idee. Der Umgang der Ausstellung mit Ästhetik und gesellschaftlichem Gehalt ist betont leichtfüßig in Analogie mit der Leichtigkeit der präsentierten Raumkonstruktionen. Der Flaneur zwischen den Paravents wird eingeladen sich von den eleganten Oberflächen der Ausstellung zerstreuen zu lassen, um dann unweigerlich hängen zu bleiben und sich thematisch zu vertiefen. An den Wänden werden begleitend Karten, Fotografien, Texte und Axonometrien von Stadtlandschaften versammelt, die so etwas wie ein ergänzendes Informationstableau anbieten. Modelle, Fotos, Pläne, Texte und Filme – eine Kurzfilmreihe, kuratiert von Andréa Picard, wird in einer Blackbox gezeigt – stehen gleichberechtigt nebeneinander. Die ästhetisch wirksame Präsentation so mancher farbenfroher Statistik erinnert an die fröhliche Wissenschaft des Office for Metropolitan Architecture.

Die räumliche Organisation der Ausstellung nimmt Anleihe bei der japanischen Axonometrie, die im Gegensatz zur Zentralperspektive eine anti-hierarchische Raumorganisation betont.

Sie erlaubt Streifzüge, die an die Bewegung in einer (urbanen) Landschaft erinnert. Die gezeigten Projekte sind ästhetisch und räumlich avanciert und im intensiven Austausch mit der sie umgebenden Alltagskultur entstanden, die sie wie gezielte Akupunkturen zu beeinflussen suchen oder von der sie geprägt wurden. Im Zentrum stehen Projekte, die interessante Bezüge zum räumlichen und gesellschaftlichen Umfeld aufweisen. Die Schau verzichtet weitgehend auf die Präsentation von Architektur-Ikonen, ohne aber die Strahlkraft einzelner Projekte zu verleugnen. Betont werden die relationalen Qualitäten eines Gebäudes und dessen Potenziale neue Nutzungsmuster und Situationen zu erlauben. Es wird kein neuer Ismus vorgestellt, keine konzertierte Avantgardebewegung, die mit der Konsistenz der historischen Bewegung des Metabolismus vergleichbar wäre, sondern eine hybride Baukultur, die in der Synthese aus Rezeption internationaler Tendenzen und lokaler Spezifika generiert wird. Gezeigt wird eine regionale Architekturelite unter der sich auch der eine oder die andere PrizkerpreisträgerIn befindet, aber auch diese werden in den räumlich-sozialen Kontext der Raumproduktion eingebettet.

Die Zusammenhänge zwischen Projekten, Brüchen und Widersprüchen erschließen sich auf den zweiten Blick. Gemeinsam ist vielen Projekten die Überschreitung von Dualismen, wie die Auflösung einer Dichotomie von innen und außen, Licht und Schatten und der Ablöse festgeschriebener funktionaler Festschreibungen zugunsten eines programmatischen Minimalismus, der Raum für Unvorhergesehenes zu generieren verspricht. Viele Gebäude wirken durchlässig, nehmen eine offene und flexible Beziehung zu ihrer Umgebung ein. Zwischenräume und Leerräume spielen im asiatischen Raum traditionell eine große Rolle. In den besten Projekten vermittelt sich eine radikale Zurücknahme des entwerferischen Egos zu Gunsten einer offeneren Struktur, die erst im Gebrauch komplettiert wird, wie ein Kunstwerk, das erst in der Rezeption seinen (immer vorläufigen) Abschluss findet. Aber auch großmaßstäblichere Entwicklungen werden gezeigt, wie die Ausformungen des japanischen »train based urbanism« (siehe dazu auch den Beitrag »Total Living Industry« von Christian Teckert in dérive 28) oder Cluster- und Inselbildungen. In der Paju Book City in Seoul bilden Verlagshäuser eine kleine Stadt in der Stadt, die noch an ihrer Monofunktionalität zu leiden scheint. Im Heyriu Art Valley in Korea haben sich KünstlerInnen, LiteratInnen und MusikerInnen zusammengefunden, um ihre eigene Stadt zu entwickeln. Auch die nach wie vor existierenden staatlichen Planungsbüros in China werden vorgestellt, wie auch die Protestbewegungen, die sich gegen soziale Verdrängungsmechanismen in Südkorea formiert haben oder der Massenwohnbau, der den Alltag der Raumproduktion nach wie vor oft bestimmt. Im Querlesen werden kritische Aspekte sichtbar, die den affirmativen Zugang auf angenehme Weise konterkarieren. Die Parklandschaft des Miyashita Parks in Tokyo, entworfen vom japanischen Büro Bow Wow wurde  – worauf der Ausstellungstext hinweist – von der Firma Nike mitfinanziert. Der Zugang ist kostenpflichtig. Die Komplexität der Entwicklungen wird insbesondere da deutlich, wo allzu voreilige kritische Reflexe im Rückbezug auf den spezifischen Kontext relativiert werden.

Die Zonen der Creative industries, die insbesondere in China wie Pilze aus dem Boden wachsen, verweisen auf den Versuch Chinas seine von fordistischer Produktions­weise dominierte Vergangenheit hinter sich zu lassen und das »Made in China« um ein »Created in China« zu erweitern, um im internationalen Wettbewerb auch als Produzent intellektuellen Kapitals ernst genommen zu werden. Trotz aller Brüche, die zwischen avancierten Projekten und dem politischen Kontext auch sichtbar werden, ist in der Ausstellung eine kollektive Aufbruchstimmung spürbar. Es wird deutlich, dass die Architektur im Grunde einer performativen Kultur angehört, Situationen und Praktiken erlaubt oder erschwert. Die schillernden Objekte der StararchitektInnen, die sich in einer visuell geprägten globalen Kultur zu behaupten suchen, können ja auch als Versuch gelesen werden, diesem scheinbaren Mangel entgegenzutreten. Der konzentrierte Blick auf das Objekt lässt dieses aber nur kurz aufleuchten, auf lange Sicht aber verschwinden. Die Schau im MAK verspricht eine andere Zukunft: Die Gegenwart des Abwesenden.

dérive, Mo., 2013.08.26

26. August 2013 André Krammer

Das Wissen der Architektur explizit machen

Auf welches Wissen baut Architektur eigentlich auf – ob nun in ihrer Praxis oder in Forschung und Lehre? Lange Zeit herrschten zwei explizite Wissensstränge vor: einerseits ein geisteswissenschaftliches Wissen in einem Spektrum vom spekulativ-philosophischen bis zum kunsthistorischen und andererseits ein technologisches Wissen. Vieles andere gehörte dazu, blieb jedoch weitgehend implizit und (somit) nur durch Meisterklassen, Studios, Projektarbeiten vermittelbar. Das wird vermutlich immer so bleiben, weil große Teile dieses Wissens gar nicht explizierbar sind. Trotzdem gibt es mit dem zweiten Band der Anthologie von Grundlagentexten zum Architekturwissen, den Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer nun vorgelegt haben, einen wichtigen Versuch, die Wissensbasis der Architektur besser nachvollziehbar zu machen und sie auf eine andere Basis zu stellen: nämlich auf kulturwissenschaftliche (und, ist man angesichts der Vielzahl von SozialwissenschaftlerInnen in der Sammlung versucht zu sagen, auf soziologische) Fundamente. Dieser Schwenk bringt viele in der Architekturtheorie bekannte Texte mit sich, jedoch durchaus auch jedenfalls für diesen Kontext neue. Er versucht gewissermaßen, mithilfe eines bekannten »Kanons« von Texten die impliziten Grundlagen der Architektur sichtbar zu machen, indem diese neue verknüpft und positioniert werden und so das Bekannte neue, überraschende Effekte zeitigt. Und vor allem: Dieser Schwenk verschiebt die Perspektive. Es geht nun nicht mehr um materielle Objekte, sondern um Praktiken, die diese Objekte ebenso wie menschliche AkteurInnen umfassen; es geht nicht mehr vorrangig um den materiellen Raum, betrachtet entweder als Spiegel der Gesellschaft oder, beliebter bei ArchitektInnen, als Innovator, Veränderer der Gesellschaft, sondern um die Wechselwirkungen zwischen dem sozialen und dem materiellen Raum, oder anders formuliert: um den materiellen Raum als Teil des sozialen Raums.

Kurz gesagt: Es geht darum, was der gebaute Raum mit den Menschen und ihren Körpern, den Dingen, den Zeichen tut – und was diese mit dem gebauten Raum tun.

Auf dem Umschlag der beiden Bände wird dezidiert klargestellt, dass sich das Architekturwissen um den sozialen Raum und seine Ästhetik und Logistik dreht – und mit sozialem Raum ist definitiv nicht Architektur (allein) gemeint. Architektur im breiten Sinne, wie der Begriff hier gebraucht wird, ist somit das, was die räumliche Verteilung von Materiellem und Immateriellem reali­siert (Logistik, Band 2), sowie das, was die Wahrnehmbarkeit, das Erscheinen und Verbergen des Materiellen und Immateriellen im Raum erzeugt (Ästhetik, Band 1). Das bedeutet, dass Architektur sich nicht nur mit Gebäuden, sondern ebenso sehr mit sozialen Praktiken befassen muss – und das ja auch bereits jetzt tut, wenn auch häufig implizit.

Das Explizitmachen dieses Wissens ermöglicht es, die übliche Praxis seiner Anwendung besser kritisieren und verändern zu können. Die HerausgeberInnen nehmen in der Einleitung zum ersten Band Bezug auf Henri Lefebvres Theorie der Raumproduktion: Sozialer Raum (bei Lefebvre immer in der Vielzahl zu denken) sei demnach durch materielle wie symbolische Praktiken hervorgebracht, insgesamt also Produkt, das heißt Resultat sozialer Praxis – und gleichzeitig Rahmenbedingung sozialer Praxis. Architektur ist nun in dieser Konstellation sowohl materielle als auch symbolische Produzentin, wobei Lefebvre die ArchitektInnen mit ihren Symbolen im Bereich des Herrschaftswissens ansiedelt und die »Räume der Repräsentation«, die vorrangig aus den verorteten Bedeutungen des Alltagsgebrauchs der Menschen bestehen, als Potenzial sieht, diesem Herrschaftswissen zu entkommen. Im Unterschied dazu versteht Pierre Bourdieu den physischen Raum als materialisierte Projektion des sozialen Raums, der somit die sozialen Strukturen sichtbar macht und legitimiert. Michel Foucaults »Dispositiv« bietet eine komplexere Sicht auf dieses Verhältnis, näher an Lefebvre: Sein Dispositiv besteht aus Diskursen, Aussagen und Gesetzen ebenso wie aus Architekturen und Institutionen. Diese Elemente können einander ebenso stützen wie behindern, produzieren aber jedenfalls Effekte nur im Zusammenspiel. Noch autonomer werden die Dinge bei Bruno Latour, der ihnen grundsätzlich die gleiche Handlungsmacht wie den Menschen einräumt, sie somit als »nicht-menschliche Akteure« im Akteurs-Netzwerk versteht. Die HerausgeberInnen sehen die Unterscheidung zwischen Gebautem und Ungebautem, zwischen dauerhaft und flüchtig Materialisiertem als wenig bedeutsam an und verweisen dabei auf Judith Butler, die Materialisierung als Prozess versteht. Ebenso wie Butlers Körper und deren Geschlechtsidentitäten sich durch die dauernde Wiederholung spezifischer Praktiken materialisieren, könne man gebaute Räume so verstehen, dass sie erst durch bestimmte soziale Prozesse und Vernetzungen, durch eine spezifische Organisation des Alltagslebens ihre Materialisierung erfahren. Oder, wie das Karl Marx formulierte: »ein Haus, das nicht bewohnt wird, ist in fact kein wirkliches Haus; also als Produkt im Unterschied von bloßem Naturgegenstand, bewährt sich, wird das Produkt erst in der Konsumtion.«

Im ersten Band, der Ästhetik, ging es ums Versammeln, jetzt ums Verknüpfen. Der nunmehr vorliegende zweite Band widmet sich der Logistik des sozialen Raumes, also der Eingebundenheit der Architektur in technische Netze sowie soziale und ökonomische Austauschprozesse und den Distributionseffekten der Architektur selbst. Der ureigenste Bereich der Architektur ist dabei die Mikrologistik der alltäglichen sozialen Praktiken, während die großmaßstäbliche Logistik auf ihrer Eingebundenheit ebenso wie auf der der Architektur basiert. Die 38 Texte des zweiten Bandes befassen sich mit allen Aspekten dieses räumlichen Vernetzens: mit Orten und Identitäten, mit Schwellen und Grenzen, mit Anordnungen und Verteilungen, mit Wegen und Kanälen, mit Märkten, Eigentum und Verwertung sowie mit Handeln und Entwerfen. Im letzten Abschnitt, Handeln und Entwerfen, wird auch gleich eine kleine Theorie des architektonischen Entwerfens entworfen: Hannah Arendts Unterscheidung zwischen dem interaktiven, kommunikativen »Handeln« und dem rein zweckorientierten, nicht interaktiven »Herstellen« fordert die Selbstsicht der Disziplin heraus. Lefebvres Praxistheorie sieht gerade in der Alltagspraxis die Möglichkeit für Freiheit – sicherlich nicht jedoch in den oktroyierten »Repräsentationen des Raumes«, die die Menschen von oben durch Architektur verbessern sollen. Claude Lévi-Strauss’ Ingenieur entwirft auf den Trümmern der alten eine neue Welt, sein Bastler arbeitet das Vorhandene um – und damit wird eine Grundidee der Architektur spätestens seit der Moderne sichtbar. Giancarlo De Carlo begründet eine Architektur der Partizipation mit der traditionellen Nähe der Architektur zur Macht. Luc Boltanski und Ève Chiapello beschreiben das postfordistische Arbeitsmodell der Projektarbeit, durch das die »Künstlerkritik« an der entfremdeten Arbeitswelt in das kapitalistische System integriert wurde. Und Bruno Latour versteht das Handeln von menschlichen AkteurInnen nur als einen besonderen Fall unter vielen, neben dem Handeln von Texten, Dingen, Techniken, die alle eng vernetzt sind mit anderen Orten und anderen Zeiten: Er fordert ein politisches Forum nicht für die Architektur und auch nicht für die zukünftigen BewohnerInnen dieser Architektur, sondern für die Dinge – und mit dieser radikal anti-idealistischen Konzeption sind wir wieder dort, wo die moderne Architektur begonnen hat, nämlich bei der erstrebten Macht des Materiellen über das Soziale.

dérive, Mo., 2013.08.26

26. August 2013 Robert Temel

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