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09. März 2024Robert Temel
Der Standard

Unser Freund, der Boden

Ein heftig umstrittener 100.000-Euro-Eigenheim-Bonus, eine Bodenstrategie der Länder und ein Petitionspapier der Architekten. Der Umgang mit Österreichs Boden ist derzeit ein Politikum und Schauplatz von Debatten Eine Übersicht.

Ein heftig umstrittener 100.000-Euro-Eigenheim-Bonus, eine Bodenstrategie der Länder und ein Petitionspapier der Architekten. Der Umgang mit Österreichs Boden ist derzeit ein Politikum und Schauplatz von Debatten Eine Übersicht.

Der Boden ist unser Freund. Er ist enorm wichtig für den Klimaschutz und die Klimawandelanpassung, weil er in naturbelassener Form Kohlenstoff und Wasser speichert und neues Wasser, das bei Extremwetterereignissen sehr schnell in großer Menge anfällt, aufnehmen kann.

Naturbelassene Flächen sind außerdem wichtig für den Erhalt der Biodiversität. Unverbaute Böden sind die Existenzgrundlage der Landwirtschaft und somit für unsere Ernährung – und zukünftig zunehmend für die Energieversorgung, wenn größere Mengen Biogases produziert werden müssen und man Äcker mit Photovoltaik und Windkraft kombiniert. Ebenso wichtig ist der unverbaute Boden für Tourismus und Erholung. Niemand fährt nach Österreich, um Einfamilienhausteppiche und Gewerbegebiete zu besuchen. Und auch wer hier lebt, ist gern im Grünen unterwegs statt nur auf der Autobahn.

Der Bodenverbrauch ist somit unser Feind. Aber diesen Feind füttern wir jeden Tag mit weiteren zwölf Hektar (etwa 17 Fußballfelder) sogenannter Flächeninanspruchnahme. Dieser Boden steht nicht mehr als naturbelassenes Grünland, Ödland, Gewässer, Wald oder landwirtschaftliche Fläche, sondern für Siedlungs- und Verkehrsflächen zur Verfügung. Weil der Boden nicht nur für Biodiversität, Landwirtschaft und Erholung gebraucht wird, sondern auch, um darauf zu wohnen, zu arbeiten, sich vorwärts zu bewegen. In Österreich benötigen wir dafür vergleichsweise viel Platz, obwohl wir nur wenig davon haben. Und jeder Neubau auf der grünen Wiese löst einen flächenfressenden Dominoeffekt aus: neue Verkehrsflächen, neue Gewerbeflächen, neue Wohnflächen.

Dichte Stadt, weites Land

Hierzulande gibt es den Begriff des „Dauersiedlungsraums“. Das ist die Fläche, die für Bebauung oder Landwirtschaft genützt werden kann. In Österreich sind das nur 39 Prozent der Landesfläche. In anderen Ländern gibt es diesen Begriff gar nicht, weil fast die gesamte Fläche nutzbar ist. In Deutschland beispielsweise beträgt die tägliche neue Flächeninanspruchnahme 55 Hektar, also nur 4,5-mal so viel wie in Österreich, obwohl es neunmal so viel Einwohner und siebenmal so viel Dauersiedlungsraum gibt.

Wir müssen also weniger Boden verbrauchen. Städte können das besonders gut, so ist Wien Meister darin, große Bevölkerungszuwächse auf wenig Fläche bei hoher Lebensqualität zu bewältigen – und das gilt für andere große österreichische Städte ähnlich. Mehr als ein Drittel des Bevölkerungswachstums hierzulande nahm in den letzten Jahren Wien auf, das in dieser Zeit aber nur 0,1 Hektar neue Fläche pro Tag gebraucht hat. Der Rest des Landes brauchte für die weiteren zwei Drittel ein Vielfaches. Aber natürlich können nicht alle in Wien wohnen, die Stadt platzt ohnehin schon aus allen Nähten. Was nötig ist: sorgfältig entwickelte, relativ dicht weitergebaute Dörfer, Klein- und Mittelstädte. Sanierung und Umbau bei Bestandsbauten, Aktivierung von Leerstand, um wenig neue Fläche zu verwenden.

Heute sind wir in der bizarren Situation, dass in Wien jeder Quadratmeter Boden in zentraler Lage von Bürgerinitiativen umkämpft ist. Gleichzeitig stört niemanden der stetig wachsende Wiener Speckgürtel auf genauso wertvollem Boden, wo aber pro Person die zehnfache Fläche verbraucht wird.

Faust auf den Tisch

Die Politik kennt das Problem. Bereits in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung von 2002 wurde als Ziel festgelegt, dass bis 2010 maximal 2,5 Hektar pro Tag zu verbrauchen seien. Die aktuelle Regierung erneuerte dieses Ziel für 2030. Vor zwei Jahren startete die Entwicklung einer Bodenstrategie: Alle Bundesländer, die Bundesministerien, Städtebund und Gemeindebund erarbeiteten Ziele und Maßnahmen, wie der Boden zu schützen sei. Im Juni 2023 war man fertig, doch der zuständige Minister Werner Kogler knallte die Faust auf den Tisch, weil etwas Zentrales fehlte: das genaue Ziel, wie viel (oder wie wenig) Boden man 2030 noch verbrauchen wollte. Denn die 2,5 Hektar standen nicht drin.

Die Bundesländer fanden dieses Ziel nicht „plausibel“ (zu ambitioniert, könnte man auch sagen). Seither lag das Papier in den Schubladen, bis sich letzte Woche die Bundesländer sowie der Städte- und Gemeindebund in Linz zu einer „Raumordnungstagung“ trafen, um den Bund vor vollendete Tatsachen zu stellen: Die Bodenstrategie von 2023 wurde nun beschlossen, natürlich ohne das fixierte 2,5-Hektar-Ziel. Das ist einerseits gut, weil die Maßnahmen richtig und wichtig sind. Es ist andererseits aber auch höchst problematisch: Bis 2030 sind es noch sechs Jahre. Wenn man jetzt erst beginnt, Zielwerte zu erarbeiten, wird man sie nicht mehr erreichen.

Die österreichische Politik ist beim Thema Bodenschutz janusköpfig: Einerseits will man schon, man muss ja auch, es gibt Übereinkommen wie die UN-Agenda 2030 oder die EU-Bodenstrategie für 2030. Aber andererseits ist es viel schöner, Flächen großzügig zu verteilen, damit alle Österreicherinnen mit ihrem eigenen, neugebauten Einfamilienhaus glücklich werden können (dabei gibt es schon 1,5 Millionen davon).

So präsentierten im Februar die Sozialpartner in trauter Einigkeit einen 100.000-Euro-Eigenheimbonus für jene, die es sich leisten können, viel Fläche zu verbrauchen. Zum Glück wurde die Idee breit abgelehnt. Das finale Konjunkturprogramm der Bundesregierung ist zwiespältig zu sehen: Auf der Habenseite stehen der vermiedene Bonus, 20 Prozent der Mittel für Sanierung und die sehr wichtige Ermächtigung der Länder für Leerstandsabgaben. Auf der Sollseite: Warum gibt es, soweit derzeit bekannt, keine Qualitätskriterien? Klimaschutz, Ortskernentwicklung, Architekturqualität? Warum wird nicht verhindert, dass man damit auf der grünen Wiese statt in den Orts- und Stadtkernen baut? Warum werden nicht vorrangig Holzbau, verdichtetes Bauen, Leerstandsaktivierung gefördert?

Verantwortungsbewusstsein

Da kommt das aktuelle Positionspapier „Klima, Boden & Gesellschaft“ der Bundeskammer der Ziviltechniker:innen gerade recht. Die Vertretung der planenden Berufe sagt nicht etwa: Bauen, bauen, bauen! Im Gegenteil. Sie meint, Österreich sei fertiggebaut. Sie fordert Bodenschutz, nachhaltige Energieversorgung und ressourcenschonendes Bauen, das heißt Priorität für Bestandserhaltung. Und sie verlangt eine gerechte Verteilung der knappen Ressourcen, Fokus aufs Gemeinwohl im Bauen. So viel Verantwortungsbewusstsein würde man sich von anderen Repräsentanten auch wünschen.

Robert Temel ist einer der drei Sprecher der Plattform Baukulturpolitik.

Der Standard, Sa., 2024.03.09

04. Dezember 2021Robert Temel
Der Standard

Rot, Gelb oder Grün für den Planeten

Deutschland hat erstmals eine Ampelkoalition. Was bedeutet deren Regierungsabkommen für Architektur, Wohnbau und vor allem den Klimaschutz? Und wo dient Österreich als Vorbild? Eine erste Analyse.

Deutschland hat erstmals eine Ampelkoalition. Was bedeutet deren Regierungsabkommen für Architektur, Wohnbau und vor allem den Klimaschutz? Und wo dient Österreich als Vorbild? Eine erste Analyse.

Am Planen und Bauen, an Architektur, Städtebau und Freiraumplanung entscheidet sich die Zukunft des Planeten. Geht’s ein bisschen kleiner? Nö.“ So schrieb vor wenigen Wochen der Architekturredakteur der Süddeutschen Zeitung , Gerhard Matzig, anlässlich der deutschen Koalitionsverhandlungen zur Debatte über ein eigenes Bautenministerium.

In Deutschland gab es immerhin stets Bundesverantwortung fürs Bauen, auch wenn die immer nur irgendwo mitgemeint war: einmal bei der Umwelt, dann beim Verkehr, zuletzt beim Innenministerium unter dem Titel „Heimat“. In Österreich gibt es seit Ende der 1980er-Jahre keine solche Bundesverantwortung mehr, vom Bautenministerium blieb die Bundesimmobiliengesellschaft übrig, eine qualitätsorientierte Immobilienentwicklerin und -verwalterin, die tolle Schulen, Universitäten und Amtsgebäude baut, aber kein Ersatz für politisches Handeln ist.

Auch wenn in Österreich viele Kompetenzen fürs Bauen bei den Bundesländern und Gemeinden liegen, sind die auf Bundesebene brachliegenden Aufgaben ungezählt: Rahmen für Raumordnung, Flächenverbrauch, Städtebauförderung, Sanierung und Lebenszykluskosten, Mietrecht, Wohnungsgemeinnützigkeit, Qualitätsorientierung im Vergaberecht, you name it.

Dabei ist das Bauen der weltweit größte Treibhausgasemittent (40 Prozent am Gesamtausstoß), acht Prozent verursacht allein die Zementindustrie. Und es erzeugt enorme Müllmengen, 55 Prozent des Abfalls in Deutschland. Aber das ist nicht alles: Der Bodenverbrauch will nicht abnehmen, es wird viel zu wenig saniert, Innenstädte und Dorfkerne verwaisen, während Einfamilienhäuser und Gewerbegebiete auf der grünen Wiese nur so sprießen und immer mehr Verkehr erzeugen.

Umso wichtiger war deshalb die Frage, was sich die neue Ampelkoalition in Deutschland vornehmen würde. Fix ist: Es gibt nun wieder ein eigenes Bundesministerium für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und ländliche Räume. Aber was sieht der neue Koalitionsvertrag als Arbeitsprogramm vor?

Quantität und Qualität

Ein großer Schritt ist die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit. In Deutschland wurde sie 1988 nach dem Skandal um den Bauträger Neue Heimat abgeschafft. Während in Österreich bis heute Jahr für Jahr tausende Wohnungen von Gemeinnützigen gebaut werden, die über unbegrenzte Zeit niedrige, gebundene Mieten bieten, fallen in Deutschland alle geförderten Wohnungen nach einiger Zeit, oft schon nach 15 Jahren, aus der Preisbindung. In Österreich gibt es also jedes Jahr mehr preisgebundene Wohnungen, in Deutschland jedes Jahr weniger, obwohl der Bedarf enorm ist.

Seit langem wird darüber diskutiert, dieses Modell zwischen Markt und Staat wiedereinzuführen. Nun scheint es so weit zu sein, inklusive einer Erhöhung der Wohnbaufördermittel – zukünftig sollen 100.000 geförderte Wohnungen pro Jahr gebaut werden, etwa viermal so viele wie zuletzt. Aber es geht natürlich nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität: Diese Wohnungen sollen „bezahlbar, klimaneutral, nachhaltig, barrierearm, innovativ und mit lebendigen öffentlichen Räumen“ gestaltet werden.

Ein Wermutstropfen ist es, dass nach wie vor auf die Eigenheimförderung gesetzt wird. Der Vorteil der hohen Mietquote in Deutschland (wie auch Österreich) wird als Nachteil gesehen und zur Behebung auch noch öffentliches Geld ausgegeben, was in großen Städten mit hohem Nachfragedruck kontraproduktiv ist, weil die Preise dadurch weiter angeheizt werden. Genauso setzt übrigens die aktuelle österreichische Koalition auf mehr Eigentumsbildung.

Ein zentrales Thema ist der Flächenverbrauch, in Deutschland zuletzt 52 Hektar pro Tag (in Österreich zwölf Hektar). Die brandneue EU-Bodenstrategie sieht null Verbrauch bis 2050 vor. Das Ziel in Deutschland sind 30 Hektar bis 2030 (Österreich: 2,5 Hektar), nachdem das gleiche Ziel 2020 verpasst wurde. Natürlich kann man sich fragen, warum es jetzt klappen sollte. Allerdings stehen im Koalitionsvertrag schon ein paar gute Ansätze, auch wenn „konkrete Maßnahmen“ erst in Aussicht gestellt werden: In Deutschland gibt es, im Unterschied zu Österreich, ein bundesweites Baugesetzbuch (BauGB). Für dieses soll das neue Instrument der „Innenentwicklungsmaßnahme“ geprüft werden, mit dem man unwillige Eigentümer von Grundstücken aktivieren oder, wenn das nichts nützt, auch enteignen kann.

Bauforschung und Betongold

Generell soll das BauGB unkomplizierter, klimafreundlicher und gemeinwohlorientierter werden. Flächen, die die Bahn nicht mehr braucht, sollen an die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben übergeben und nach wohnungspolitischen und ökologischen Zielen entwickelt werden – ein enormer Fortschritt, stand bei Bahnimmobilien doch bisher der Profit im Vordergrund. Ähnliches ist in Österreich geplant, aber nicht umgesetzt. Die Städtebauförderung (auch die gibt es in Österreich nicht) wird erhöht. Günstige Mieten und Klimaschutz werden heute von gestiegenen Baukosten beeinträchtigt. Die Koalition will durch serielles Bauen, Digitalisierung, Standardisierung, Typengenehmigungen fürs Sanieren und Verbesserungen in der Normung die Baukosten senken und in die Bauforschung investieren. All das wird aber wenig helfen, solange das Betongold Anleger lockt.

Doch wie steht es mit dem Klima? Dieses soll Querschnittsaufgabe für alle Ressorts werden, somit auch fürs Wohnen und Bauen. Die Wohnbauförderung wird auf Treibhausgasemissionen fokussieren. Zukünftig soll es stärker um graue Energie, also jene Energie, die für das Bauen eingesetzt wird, und um Lebenszykluskosten gehen, also um den Aufwand für die gesamte Betriebsdauer eines Gebäudes. Beides soll durch einen digitalen Gebäuderessourcenpass sichtbar werden. Holzbau und Leichtbau sollen gestärkt werden. Ein wichtiger Punkt ist das sogenannte Mieter-Vermieter-Dilemma: Investitionen in energetische Maßnahmen kommen vorrangig den Mietern zugute, müssen aber von Vermietern finanziert werden. Deshalb prüft die Koalition die „Teilwarmmiete“: Heizenergie würde Teil des Mietpreises werden, ein Anreiz für Vermieter, ins Energiesparen zu investieren.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Ein großer Wurf sieht anders aus, wenn man vom Thema Gemeinnützigkeit absieht. Aber letztlich geht es weniger um große Ankündigungen, sondern darum, das Pariser Übereinkommen zu erfüllen. Wenn man aus der Vergangenheit auf die Zukunft schließt, muss man da pessimistisch sein. Aber vielleicht schaffen SPD, Grüne und FDP nun etwas, das in Deutschland (und Österreich) bisher nicht möglich schien.

[ Robert Temel ist Architektur- und Stadt-forscher, Publizist und Sprecher der Plattform Baukulturpolitik in Wien. ]

Der Standard, Sa., 2021.12.04

29. Februar 2016Robert Temel
Renate Hammer
Pa­trick Ja­ritz
Der Standard

Wohn­bau: Bil­lig und schnell wird spä­ter teu­er

Die Wie­ner In­ter­na­tio­na­le Bau­aus­stel­lung star­tet bald. Aus die­sem An­lass hin­ter­fra­gen Ro­bert Te­mel, Re­na­te Ham­mer und Pa­trick Ja­ritz von der Platt­form Bau­kul­tur­po­li­tik die aus­ge­ru­fe­ne Wohn­bau­of­fen­si­ve.

Die Wie­ner In­ter­na­tio­na­le Bau­aus­stel­lung star­tet bald. Aus die­sem An­lass hin­ter­fra­gen Ro­bert Te­mel, Re­na­te Ham­mer und Pa­trick Ja­ritz von der Platt­form Bau­kul­tur­po­li­tik die aus­ge­ru­fe­ne Wohn­bau­of­fen­si­ve.

Wiens Wohn­bau­stadt­rat Mi­cha­el Lud­wig prä­sen­tier­te jüngst sei­ne Plä­ne für ei­nen Um­bau des Wie­ner Wohn­bau­sys­tems, der durch ak­tu­el­le Ent­wi­cklun­gen her­aus­ge­for­dert wird: Die Be­völ­ke­rungs­zahl Wiens steigt mas­siv (2015 um plus 43.000 Men­schen), gleich­zei­tig stag­nie­ren die vom Bund über­wie­se­nen Wohn­bau­för­der­mit­tel.

Wohn­raum für Flücht­lin­ge ist ein ak­tu­el­les The­ma, al­ler­dings nur ein Spe­zi­al­fall des all­ge­mei­nen Be­darfs an „leist­ba­rem Woh­nen“. Gleich­zei­tig wird die In­ves­ti­ti­on in so­zia­le In­fras­truk­tur, die ei­ne Vor­aus­set­zung für Wohn­bau ist, durch die Sta­bi­li­täts­kri­te­rien er­schwert. Es bleibt ei­ne Her­aus­for­de­rung, wie man das nö­ti­ge Tem­po im Wohn­bau mit Qua­li­täts­si­che­rung ver­eint.

Lud­wig rea­giert da­rauf mit ei­nem „Dre­hen an Schrau­ben“ – si­cher­lich die stärk­ste Ver­än­de­rung seit der Ein­füh­rung der „so­zia­len Nach­hal­tig­keit“ als Be­ur­tei­lungs­kri­te­ri­um für Wohn­bau­pro­jek­te zwei Jah­re nach sei­nem Amt­san­tritt 2007: Er will mehr, schnel­ler, preis­wer­ter und nach­hal­ti­ger bau­en.

Dass ei­ne Of­fen­si­ve nö­tig ist, kann kaum be­strit­ten wer­den: Ei­ne Stei­ge­rung der Be­völ­ke­rung Wiens auf et­wa zwei Mil­lio­nen bis 2029 wird prog­nos­ti­ziert, da­bei geht man von ei­nem jähr­li­chen Zu­wachs um et­wa 20.000 Per­so­nen aus, der seit 2012 im­mer über­schrit­ten wur­de.

Das rot-grü­ne Re­gie­rungs­über­ein­kom­men für Wien sieht den Bau von 10.000 Woh­nun­gen pro Jahr vor. Für das ver­gan­ge­ne Jahr (mit hof­fent­lich au­ßer­ge­wöhn­lich ho­hem Zu­wachs) wä­ren dop­pelt so vie­le be­nö­tigt wor­den. In­so­fern ist es not­wen­dig und un­ter­stüt­zens­wert, dass Lud­wig ei­ne Stei­ge­rung der jähr­li­chen Neu­bau­leis­tung, mehr Ge­mein­de­woh­nun­gen und ein Pro­gramm für Woh­nun­gen in Holz­bau­wei­se vor­schlägt.

So­fort­pro­gramm mit Holz­bau

Aber der Teu­fel steckt im De­tail, des­halb ist es sinn­voll, ei­ni­ge Aspek­te noch ein­mal auf ih­re Sinn­haf­tig­keit zu prü­fen. Stich­wort So­fort­pro­gramm in Holz­bau­wei­se: Lud­wig stellt fest, dass es „kei­ne ge­son­der­te Wohn­form spe­ziell für Asyl­be­rech­tig­te“ ge­ben soll, und dem kann nur zu­ge­stimmt wer­den. Leist­ba­res Woh­nen ist ei­ne zen­tra­le Auf­ga­be der Stadt, al­ler­dings soll­te die­ses leist­ba­re Woh­nen mit an­de­ren Wohn­for­men ge­mischt wer­den, um Seg­re­ga­ti­on zu ver­mei­den. Es wä­re des­halb sinn­voll, der­ar­ti­ge Bau­ten als „Sied­lungs­ker­ne“ für grö­ße­re Wohn­bau­ge­bie­te zu ver­wen­den. Wenn die Schnell­bau­ten ei­nes Ta­ges nicht mehr be­nö­tigt wer­den, bö­te sich an ih­rer Stel­le der in vie­len Sied­lun­gen be­nö­tig­te, fle­xi­ble Raum, um er­gän­zen­de Nut­zun­gen un­ter­zu­brin­gen.

Es gibt al­ler­dings auch Punk­te, die kri­tik­wür­dig sind. Ein Spe­zi­fi­kum des Wie­ner Wohn­baus ist die Qua­li­täts­orien­tie­rung. Je­des ge­för­der­te Wohn­haus muss ent­we­der vom Grund­stü­cksbei­rat qua­li­ta­tiv be­gut­ach­tet wer­den oder sich ei­nem „Bau­trä­ger­wett­be­werb“ stel­len. Der her­aus­ra­gen­de in­ter­na­tio­na­le Ruf des Wie­ner Wohn­baus grün­det zu ei­nem gro­ßen Teil ge­nau da­rauf.

Qua­li­täts­si­che­rung ge­fähr­det

Die Of­fen­si­ve er­laubt es nun erst­mals, dass Bau­trä­ger För­de­rung er­hal­ten kön­nen, oh­ne sich die­ser Qua­li­täts­si­che­rung zu stel­len. Vor­erst nur, wenn ei­ne po­si­ti­ve Be­wer­tung durch die bun­des­ei­ge­ne Wohn­bau-In­ves­ti­ti­ons­bank (WBIB) vor­liegt. Die WBIB wird aber ga­ran­tiert nicht so stren­ge Qua­li­täts­kri­te­rien wie in Wien an­wen­den; und da­mit ist ei­ne Tür ge­öff­net, die zum ra­schen Ver­fall der Wie­ner Wohn­bau­qua­li­tät füh­ren kann. Viel Zeit wird da­durch nicht ge­won­nen, der Grund­stü­cksbei­rat war in den letz­ten Jah­ren kaum aus­ge­la­stet.

Eben­so ab­lehn­ens­wert: Die „Kos­ten der Frei­raum­ge­stal­tung“ sol­len zu­künf­tig ge­de­ckelt wer­den. Der Frei­raum im Wie­ner Wohn­bau hat bis vor kur­zem ein trau­ri­ges Da­sein ge­führt, das erst in den letz­ten Jah­ren durch brei­te An­stren­gun­gen zu ei­nem lang­sam er­blü­hen­den, zar­ten Pflänz­chen ge­wor­den ist. Ge­ra­de heu­te, in Zei­ten mas­si­ven Be­völ­ke­rungs­wachs­tums, ist die Qua­li­tät der städ­ti­schen Frei­räu­me für al­le Wie­ne­rin­nen und Wie­ner von höch­ster Be­deu­tung. Da­zu kommt, dass der An­teil der Frei­raum­ge­stal­tung an den Ge­samt­kos­ten des Wohn­baus ge­ra­de­zu un­sicht­bar ge­ring ist.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Punkt: Die In­fras­truk­tur­kom­mis­si­on soll zum „Len­kungs- und Steue­rungs­gre­mi­um“ wer­den – das sagt an sich noch nicht viel, der ge­lern­te Wie­ner merkt bei sol­chen For­mu­lie­run­gen aber auf: Wird da­durch et­was bes­ser? Die­se Kom­mis­si­on er­laubt grö­ße­re Wohn­bau­vor­ha­ben nur dann, wenn die da­für nö­ti­ge so­zia­le und tech­ni­sche In­fras­truk­tur ge­si­chert ist. Das kann man na­tür­lich ent­kop­peln, um den Wohn­bau zu be­schleu­ni­gen – aber das be­deu­tet, dass dann die ge­nau­so not­wen­di­ge Ver­kehrs- und Schul­in­fras­truk­tur fehlt.

Zur die Stell­platz­ver­pflich­tung: Bis vor kur­zem muss­te man in Wien für je­de neue Woh­nung ei­nen Park­platz bau­en, der­zeit 0,7 Park­plät­ze pro Woh­nung, Lud­wig will das wei­ter re­du­zie­ren. Das ist po­si­tiv – al­ler­dings nur, wenn das durch ei­ne ent­spre­chen­de Mo­bi­li­täts­po­li­tik für die Neu­bau­ge­bie­te, für de­ren Um­feld und die Stadt ins­ge­samt flan­kiert wird. Wenn statt­des­sen Pkws ein­fach im öf­fent­li­chen Raum ge­parkt wer­den, ist das kon­tra­pro­duk­tiv.

Of­fen­si­ve zur Bau­aus­stel­lung

Wien star­tet die­ser Ta­ge mit ei­ner In­ter­na­tio­na­len Bau­aus­stel­lung (IBA) zum The­ma Wohn­bau. Das ist ein klu­ges Kon­zept, al­ler­dings hat­te man bis­her den Ein­druck, dass die Wie­ner IBA vor al­lem der Prä­sen­ta­ti­on des be­reits Er­reich­ten dient, statt Neu­es zu ent­wi­ckeln. Die not­wen­di­gen Än­de­run­gen im Wie­ner Wohn­bau könn­ten An­lass sein, die­ses Neu­ent­wi­ckeln in die IBA zu in­te­grie­ren und da­durch den ak­tu­el­len Be­darf zu be­die­nen. Es darf kei­nes­falls da­zu kom­men, dass der Wie­ner Wohn­bau sei­ne Er­run­gen­schaf­ten ver­liert. Ge­ra­de jetzt, wo zeit­li­cher und fi­nanz­iel­ler Druck be­steht, muss um­so mehr auf hoch­wer­ti­ge Pla­nung und Qua­li­täts­si­che­rung ge­setzt wer­den, statt zu be­haup­ten, dass ge­spar­te Pla­nungs­kos­ten ir­gend­et­was bil­li­ger ma­chen. Bil­lig und schnell al­lein wird spä­ter teu­er.

Der Standard, Mo., 2016.02.29

26. August 2013Robert Temel
dérive

Das Wissen der Architektur explizit machen

Auf welches Wissen baut Architektur eigentlich auf – ob nun in ihrer Praxis oder in Forschung und Lehre? Lange Zeit herrschten zwei explizite Wissensstränge...

Auf welches Wissen baut Architektur eigentlich auf – ob nun in ihrer Praxis oder in Forschung und Lehre? Lange Zeit herrschten zwei explizite Wissensstränge...

Auf welches Wissen baut Architektur eigentlich auf – ob nun in ihrer Praxis oder in Forschung und Lehre? Lange Zeit herrschten zwei explizite Wissensstränge vor: einerseits ein geisteswissenschaftliches Wissen in einem Spektrum vom spekulativ-philosophischen bis zum kunsthistorischen und andererseits ein technologisches Wissen. Vieles andere gehörte dazu, blieb jedoch weitgehend implizit und (somit) nur durch Meisterklassen, Studios, Projektarbeiten vermittelbar. Das wird vermutlich immer so bleiben, weil große Teile dieses Wissens gar nicht explizierbar sind. Trotzdem gibt es mit dem zweiten Band der Anthologie von Grundlagentexten zum Architekturwissen, den Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer nun vorgelegt haben, einen wichtigen Versuch, die Wissensbasis der Architektur besser nachvollziehbar zu machen und sie auf eine andere Basis zu stellen: nämlich auf kulturwissenschaftliche (und, ist man angesichts der Vielzahl von SozialwissenschaftlerInnen in der Sammlung versucht zu sagen, auf soziologische) Fundamente. Dieser Schwenk bringt viele in der Architekturtheorie bekannte Texte mit sich, jedoch durchaus auch jedenfalls für diesen Kontext neue. Er versucht gewissermaßen, mithilfe eines bekannten »Kanons« von Texten die impliziten Grundlagen der Architektur sichtbar zu machen, indem diese neue verknüpft und positioniert werden und so das Bekannte neue, überraschende Effekte zeitigt. Und vor allem: Dieser Schwenk verschiebt die Perspektive. Es geht nun nicht mehr um materielle Objekte, sondern um Praktiken, die diese Objekte ebenso wie menschliche AkteurInnen umfassen; es geht nicht mehr vorrangig um den materiellen Raum, betrachtet entweder als Spiegel der Gesellschaft oder, beliebter bei ArchitektInnen, als Innovator, Veränderer der Gesellschaft, sondern um die Wechselwirkungen zwischen dem sozialen und dem materiellen Raum, oder anders formuliert: um den materiellen Raum als Teil des sozialen Raums.

Kurz gesagt: Es geht darum, was der gebaute Raum mit den Menschen und ihren Körpern, den Dingen, den Zeichen tut – und was diese mit dem gebauten Raum tun.

Auf dem Umschlag der beiden Bände wird dezidiert klargestellt, dass sich das Architekturwissen um den sozialen Raum und seine Ästhetik und Logistik dreht – und mit sozialem Raum ist definitiv nicht Architektur (allein) gemeint. Architektur im breiten Sinne, wie der Begriff hier gebraucht wird, ist somit das, was die räumliche Verteilung von Materiellem und Immateriellem reali­siert (Logistik, Band 2), sowie das, was die Wahrnehmbarkeit, das Erscheinen und Verbergen des Materiellen und Immateriellen im Raum erzeugt (Ästhetik, Band 1). Das bedeutet, dass Architektur sich nicht nur mit Gebäuden, sondern ebenso sehr mit sozialen Praktiken befassen muss – und das ja auch bereits jetzt tut, wenn auch häufig implizit.

Das Explizitmachen dieses Wissens ermöglicht es, die übliche Praxis seiner Anwendung besser kritisieren und verändern zu können. Die HerausgeberInnen nehmen in der Einleitung zum ersten Band Bezug auf Henri Lefebvres Theorie der Raumproduktion: Sozialer Raum (bei Lefebvre immer in der Vielzahl zu denken) sei demnach durch materielle wie symbolische Praktiken hervorgebracht, insgesamt also Produkt, das heißt Resultat sozialer Praxis – und gleichzeitig Rahmenbedingung sozialer Praxis. Architektur ist nun in dieser Konstellation sowohl materielle als auch symbolische Produzentin, wobei Lefebvre die ArchitektInnen mit ihren Symbolen im Bereich des Herrschaftswissens ansiedelt und die »Räume der Repräsentation«, die vorrangig aus den verorteten Bedeutungen des Alltagsgebrauchs der Menschen bestehen, als Potenzial sieht, diesem Herrschaftswissen zu entkommen. Im Unterschied dazu versteht Pierre Bourdieu den physischen Raum als materialisierte Projektion des sozialen Raums, der somit die sozialen Strukturen sichtbar macht und legitimiert. Michel Foucaults »Dispositiv« bietet eine komplexere Sicht auf dieses Verhältnis, näher an Lefebvre: Sein Dispositiv besteht aus Diskursen, Aussagen und Gesetzen ebenso wie aus Architekturen und Institutionen. Diese Elemente können einander ebenso stützen wie behindern, produzieren aber jedenfalls Effekte nur im Zusammenspiel. Noch autonomer werden die Dinge bei Bruno Latour, der ihnen grundsätzlich die gleiche Handlungsmacht wie den Menschen einräumt, sie somit als »nicht-menschliche Akteure« im Akteurs-Netzwerk versteht. Die HerausgeberInnen sehen die Unterscheidung zwischen Gebautem und Ungebautem, zwischen dauerhaft und flüchtig Materialisiertem als wenig bedeutsam an und verweisen dabei auf Judith Butler, die Materialisierung als Prozess versteht. Ebenso wie Butlers Körper und deren Geschlechtsidentitäten sich durch die dauernde Wiederholung spezifischer Praktiken materialisieren, könne man gebaute Räume so verstehen, dass sie erst durch bestimmte soziale Prozesse und Vernetzungen, durch eine spezifische Organisation des Alltagslebens ihre Materialisierung erfahren. Oder, wie das Karl Marx formulierte: »ein Haus, das nicht bewohnt wird, ist in fact kein wirkliches Haus; also als Produkt im Unterschied von bloßem Naturgegenstand, bewährt sich, wird das Produkt erst in der Konsumtion.«

Im ersten Band, der Ästhetik, ging es ums Versammeln, jetzt ums Verknüpfen. Der nunmehr vorliegende zweite Band widmet sich der Logistik des sozialen Raumes, also der Eingebundenheit der Architektur in technische Netze sowie soziale und ökonomische Austauschprozesse und den Distributionseffekten der Architektur selbst. Der ureigenste Bereich der Architektur ist dabei die Mikrologistik der alltäglichen sozialen Praktiken, während die großmaßstäbliche Logistik auf ihrer Eingebundenheit ebenso wie auf der der Architektur basiert. Die 38 Texte des zweiten Bandes befassen sich mit allen Aspekten dieses räumlichen Vernetzens: mit Orten und Identitäten, mit Schwellen und Grenzen, mit Anordnungen und Verteilungen, mit Wegen und Kanälen, mit Märkten, Eigentum und Verwertung sowie mit Handeln und Entwerfen. Im letzten Abschnitt, Handeln und Entwerfen, wird auch gleich eine kleine Theorie des architektonischen Entwerfens entworfen: Hannah Arendts Unterscheidung zwischen dem interaktiven, kommunikativen »Handeln« und dem rein zweckorientierten, nicht interaktiven »Herstellen« fordert die Selbstsicht der Disziplin heraus. Lefebvres Praxistheorie sieht gerade in der Alltagspraxis die Möglichkeit für Freiheit – sicherlich nicht jedoch in den oktroyierten »Repräsentationen des Raumes«, die die Menschen von oben durch Architektur verbessern sollen. Claude Lévi-Strauss’ Ingenieur entwirft auf den Trümmern der alten eine neue Welt, sein Bastler arbeitet das Vorhandene um – und damit wird eine Grundidee der Architektur spätestens seit der Moderne sichtbar. Giancarlo De Carlo begründet eine Architektur der Partizipation mit der traditionellen Nähe der Architektur zur Macht. Luc Boltanski und Ève Chiapello beschreiben das postfordistische Arbeitsmodell der Projektarbeit, durch das die »Künstlerkritik« an der entfremdeten Arbeitswelt in das kapitalistische System integriert wurde. Und Bruno Latour versteht das Handeln von menschlichen AkteurInnen nur als einen besonderen Fall unter vielen, neben dem Handeln von Texten, Dingen, Techniken, die alle eng vernetzt sind mit anderen Orten und anderen Zeiten: Er fordert ein politisches Forum nicht für die Architektur und auch nicht für die zukünftigen BewohnerInnen dieser Architektur, sondern für die Dinge – und mit dieser radikal anti-idealistischen Konzeption sind wir wieder dort, wo die moderne Architektur begonnen hat, nämlich bei der erstrebten Macht des Materiellen über das Soziale.

dérive, Mo., 2013.08.26



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dérive 52 Sampler

16. August 2008Robert Temel
Der Standard

Grüne Daumen

Community Gardens sind Werkzeuge der Stadtreparatur von unten und der Integration - und damit zwar bei den Bewohnern gern gesehen, nicht aber bei vielen Stadtverwaltungen.

Community Gardens sind Werkzeuge der Stadtreparatur von unten und der Integration - und damit zwar bei den Bewohnern gern gesehen, nicht aber bei vielen Stadtverwaltungen.

Loisaida (der puertoricanische Name für Lower East Side) in Manhattan, Anfang der 1970er-Jahre. Wo früher mit „Kleindeutschland“ die erste nichtenglischsprachige ethnische Enklave der USA bestand und sich Ende des 19. Jahrhunderts die jüdisch-osteuropäische Lower East Side entwickelte, leben mittlerweile vor allem Immigranten aus Lateinamerika. Die Steuerkrise führt in New York zum Stadtverfall, der sich hier besonders deutlich bemerkbar macht. Die verlassenen Grundstücke in der Alphabet City, wie das Gebiet wegen der Avenues A, B, C und D auch genannt wird, fallen ins Eigentum der Stadt und werden Anziehungspunkte für Drogen, Prostitution und Verbrechen. Das Viertel liefert den Hintergrund für Martin Scorseses Film „Taxi Driver“. Oder, dieselbe Geschichte aus anderer Perspektive erzählt: Die Politik der „spatial deconcentration“ (Reduktion der Bewohnerdichte in innerstädtischen Armenvierteln) nach den „Rassenunruhen“ der 1960er-Jahre lässt in überbevölkerten Nachbarschaften verlassene Polizeistationen, aufgegebene Banken und zum Versicherungsbetrug abgebrannte Gebäude zurück. Zwischen den bewohnten Häusern gibt es mehr und mehr ungenützte Grundstücke, die zu Müllhalden werden.

Green Guerillas

1973 gründen die Künstlerin Liz Christy und einige ihrer Nachbarn die Gruppe „Green Guerillas“ und starten den ersten „Community Garden“ an der Ecke Bowery und Houston Street, indem sie ein leerstehendes städtisches Grundstück besetzen, reinigen und zu bepflanzen beginnen. Der Garten besteht trotz aller Kämpfe bis heute. Die Initiative fand mittlerweile Nachahmer in ganz Manhattan, in den anderen vier Stadtteilen von New York und in vielen Städten in den USA und in Europa. Die Gärten entstehen meist in Migrantenvierteln, wo der offizielle Gestaltungsdruck durch die Kommunen nicht sehr groß ist. Ziel der Initiatoren ist es einerseits, Treffpunkte in der Nachbarschaft zu bieten, wo man sich erholen und Gemüse anbauen kann - und andererseits geht es darum, die Viertel für ihre Bewohner aufzuwerten, Müllabladeplätze in grüne Oasen zu verwandeln. Die insgesamt mehr als sechzig Gärten der Lower East Side werden von Nachbarschaftsgruppen geführt. Wenn einer der Betreiber anwesend ist, ist der Garten zugänglich, zumeist abends und am Wochenende. Weil es sich hier jedenfalls in der Vergangenheit um ein sehr armes Viertel handelte, wurde viel mit Recycling gearbeitet. Pergolen, Lauben und Zäune entstanden aus vorgefundenem Material, Möbelteile und Plastikspielzeug wurden in die Gestaltungen integriert. Mit dem Zuzug besser verdienender Bewohner ändert sich das nun, die Gärten werden konventioneller und teurer.

Kampf ums Grün

Ende der 1970er-Jahre versucht die Stadt New York, die Bewegung in geordnete Bahnen zu lenken und gründet die „Operation Green Thumb“ zur Vermittlung. Die Gartengruppen erhalten Pachtverträge für jeweils ein Jahr um einen Dollar, müssen aber anerkennen, dass die Grundstücke im städtischen Besitz stehen und anders genutzt werden könnten. Das sollte sich rächen: Mitte der 1990er-Jahre kommt der Immobilienboom. Es wird wieder interessant, in heruntergekommenen, innenstadtnahen Vierteln wie Loisaida zu bauen. Der neue Bürgermeister Rudolph Giuliani steht aufseiten der Immobilienindustrie. Jahrzehntealte Community Gardens werden an Private verkauft und vernichtet, obwohl es viele tausend ungenützte Grundstücke im Eigentum der Stadt gibt - nur um die Gartenbewegung zu treffen. Wie Giuliani sagt: „Nur wenn man in einer unrealistischen Welt lebt, kann man sagen, überall sollen Community Gardens sein.“ In Loisaida werden es jedenfalls weniger. Das Viertel wird „gentrifiziert“, das heißt die Mieten steigen, die arme Bevölkerung zieht aus und wird durch reichere Schichten ersetzt, die vom Pittoresken der Alphabet City angezogen werden, das nun nach und nach verschwindet. Die neue Bevölkerung bildet den Anreiz, neue Wohnhäuser zu bauen. Doch Widerstand gegen die Gartenzerstörung formiert sich, unter anderem mithilfe der Schauspielerin Bette Midler, deren „New York Restoration Project“ hundert Grundstücke von der Stadt kauft, um sie als Community Gardens erhalten zu können. Unter Giulianis Nachfolger Michael Bloomberg kann schließlich 2002 eine von beiden Seiten akzeptierte Lösung gefunden werden: Mehr als 500 der New Yorker Gärten werden geschützt, während etwa 150 von ihnen sozialem Wohnbau Platz machen müssen.

Hartz-IV-Mallorca

Bereits lange zuvor beginnen ähnliche Initiativen, auch in Europa aktiv zu werden. Am Alten Kontinent gibt es bisher weder das Ausmaß von Stadtverfall wie in den USA noch die große Zahl verlassener Grundstücke. Doch auch hier entwickeln sich Garteninitiativen in Migrantenvierteln. Eines der ältesten Projekte ist „Park Fiction“ im Hamburger Viertel St. Pauli: Eine Gruppe von Bewohnern, darunter etliche Künstler, will 1995 die Bebauung eines Grünbereichs am Elbufer verhindern, stattdessen soll dort ein Park entstehen. Die Gruppe startet einen „parallelen Planungsprozess“ zusätzlich zum offiziellen Bebauungsplan, der Wohn- und Bürobauten vorsieht. Geschickt werden der Kunstbetrieb ebenso wie die Stadtpolitik genützt, um das Projekt eines öffentlichen Parks voranzutreiben, sogar eine Präsentation bei der Documenta in Kassel findet statt. 2005, nach zehn Jahren Kampf, ist es schließlich so weit: Park Fiction ist nicht mehr Fiktion, sondern als Antonipark Realität.

Auch in Europa gibt es Garteninitiativen, die von Bewohnern selbst umgesetzt werden, etwa in London, Paris und Berlin. Ein Modell, das in vielen Städten Nachahmer findet, sind die „interkulturellen Gärten“, gestartet in Göttingen Mitte der 1990er-Jahre, zur Zeit des Bosnienkriegs. Die Gärten bestehen eher aus Gemüsebeeten als aus Erholungsflächen, und sie befinden sich nicht unbedingt in innerstädtischen Lagen. Sie sollen Kriegsflüchtlingen ein gewisses Maß an Selbstversorgung erlauben, ihnen die Möglichkeit bieten, aktiv zu werden, und als Begegnungsstätte zwischen Einheimischen und Migranten dienen. Das Konzept breitet sich über ganz Deutschland und Österreich aus, heute gibt es viele Dutzend solcher Gärten. Mittlerweile sind auch Gruppen in Graz und in Wien tätig. In Wien besteht der sogenannte Yppengarten in Ottakring - kein besetzter Privatgrund, sondern in einem städtischen Park angelegt. Und mit den Gärten werden auch die Kämpfe nach Europa exportiert: In Friedrichshain, einem der dichtesten Berliner Bezirke, wandelten Bewohner vor vier Jahren einige langjährig ungenützte, vermüllte Grundstücke in den Nachbarschaftsgarten „Rosa Rose“ um, der im vergangenen März geräumt wurde, weil dort jetzt gebaut werden soll. Die Gärten helfen, Stadtviertel aufzuwerten, in denen dadurch der Bebauungsdruck steigt und die begrünten, halblegal der Öffentlichkeit zugänglichen Grundstücke somit wieder dem privaten Immobilienmarkt zugeführt werden.

Der Standard, Sa., 2008.08.16

29. März 2008Robert Temel
Der Standard

Flucht und Initiative

Am Rande der gründerzeitlichen Rasterstadt, auf dem Dach eines ehemaligen Bürohauses, erhebt sich eine weit in den Raum ausgreifende Konstruktion in die Lüfte. So könnte es jedenfalls bald sein.

Am Rande der gründerzeitlichen Rasterstadt, auf dem Dach eines ehemaligen Bürohauses, erhebt sich eine weit in den Raum ausgreifende Konstruktion in die Lüfte. So könnte es jedenfalls bald sein.

Es handelt sich hier nicht um ein weiteres bizarres Privatpenthouse, autonom vom Rest der Stadt, sondern um öffentlichen Raum über der Dachtraufe: Architekturstudierende der Universität für angewandte Kunst planten für das Wiener Integrationshaus, dessen Bewohner als Asylwerber einen eingeschränkten Handlungsradius haben, eine Dachgarten-Terrassenlandschaft, die bei kulturellen Veranstaltungen auch öffentlich genützt wird. Noch heuer soll Baubeginn sein.

Die Renaissance der Stadt, also die gegenläufige Bewegung zur nach wie vor stärkeren Stadtflucht, ist mittlerweile schon einige Jahrzehnte alt. Sie führte dazu, dass innerstädtische, vor allem gründerzeitliche Wohnlagen für Besserverdienende wieder attraktiver wurden, obwohl zuvor eine Entleerung der Stadtzentren analog zu den US-amerikanischen Städten drohte. Zwar zieht der „Speckgürtel“ rund um Städte wie Wien nach wie vor mehr Bewohner an als die Kernstadt selbst. Aber die Gründerzeitviertel sind heute zumindest kein Symbol der Rückständigkeit mehr wie in den 1950er-Jahren, als man die Putzornamente der Zinshäuser abschlug, um sie „moderner“ zu machen. Parallel dazu verläuft die Entwicklung zur Wissensgesellschaft, für die etwa der Begriff der Creative Industries steht, von den Großstädten heiß begehrt und dementsprechend gefördert. Trotz digitaler Vernetzung zählt für diese Branche räumliche Nähe, enger Kontakt mit Auftraggebern, Kooperationspartnern und Konkurrenten. Da vorrangig in der dichten, gründerzeitlichen Großstadt jene Milieus existieren, aus denen sich die nötigen Kompetenzen und Ressourcen zusammensetzen lassen, handelt es sich hierbei um eine neue urbane Ökonomie, wie der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann schreibt.

Die gründerzeitliche Stadt hat eine Reihe von außergewöhnlichen Qualitäten: Sie ist eine Stadt der kurzen Wege, besitzt meist große Nutzungsvielfalt und steht für Urbanität. Demgegenüber existieren auch gravierende Nachteile, die am Beginn der Moderne zur strikten Ablehnung der Stadt des 19. Jahrhunderts führten: Die oft sehr schlechte Wohnqualität wurde durch Sanierung vielfach bereits massiv verbessert, auch wenn es nach wie vor 6 Prozent Substandardwohnungen in Wien gibt. Da der gründerzeitliche Wohnungsbestand etwa ein Drittel des gesamten ausmacht und Substandard zu einem großen Teil dort existiert, müssen aber noch immer ziemlich viele Gründerzeitwohnungen dieser Kategorie zugerechnet werden.

Die steinerne Stadt

Andere Nachteile konnten bisher kaum wettgemacht werden: Die Viertel sind extrem dicht bebaut, sodass viele Wohnungen schlecht belichtet sind. Es gibt viel zu wenig Grünräume und andere für Fußgänger attraktive Flächen, manche Viertel ersticken im motorisierten Verkehr. Und die Erdgeschoße, einst Orte zahlreicher Gasthäuser und Geschäfte, verkommen zusehends zu Garageneinfahrten und Lagern. Die Lösung ist nicht die „aufgelockerte Stadt“ der Moderne, schließlich bedeutet eine dichte Siedlungsform, wie sie die Gründerzeit bietet, größere Nachhaltigkeit. Wenn es allerdings so dicht wird, dass man die Stadt verlassen muss, um einmal durchatmen zu können, ist der Nachhaltigkeitsvorteil dahin. Eine aktuelle Ausstellung im Ragnarhof in Wien-Ottakring will zeigen, wie Architektur im gründerzeitlichen Kontext, ob nun Neubau oder Umbau, nicht nur herausragende Einzelwerke produziert, sondern dazu beitragen kann, die umliegenden Stadtviertel insgesamt aufzuwerten.

Gründe fürs Gehen und Bleiben

Nach 1945 richtete man sich nach dem Ziel der „aufgelockerten“ Stadt, also dem völligen Gegenteil zur Gründerzeit. Doch in den 1970er-Jahren, durchaus auch in Wien wie beispielsweise am Spittelberg von Bewohnerprotesten getrieben, wenn auch nicht so heftig wie anderswo, begann das Modell der „sanften Stadterneuerung“ zu wirken. Wichtig war nun auch die Qualitätsverbesserung im historischen Bestand - sicherlich begünstigt durch die Tatsache, dass Wien damals schrumpfte. Das ist heute nicht mehr der Fall, doch eine Aufwertung der dicht bebauten Kernstadt ist nach wie vor wichtiges Ziel. Trotz aller Vorteile bietet die Gründerzeit zu wenig für die Protagonisten der Stadtflucht, das sind zu einem guten Teil junge Besserverdienende mit kleinen Kindern: Während die Zahl der unter 30-Jährigen und vor allem der über 60-Jährigen in der Stadt weiter zunimmt, gehen die dazwischenliegenden Altersstufen massiv zurück. Für diese Gruppe sind die Mängel im öffentlichen Raum und im privaten Freiraum ein Hauptgrund fürs Weggehen: zu wenig Grünraum, zu wenig für Fußgänger attraktive Flächen, die gefahrlos benützt werden können, zu viel Verkehr. Natürlich bedeutet die Übersiedlung in den „Speckgürtel“ noch mehr Verkehr, aber nicht für dort, sondern für hier. Abhilfe schaffen können Projekte wie die Sargfabrik in Wien-Penzing, indem sie nutzbaren Freiraum, soziale und kulturelle Infrastruktur und Identifikationskerne anbieten. Doch derartige Projekte gibt es leider viel zu selten. Hinter der Ausstellung steht die Frage, warum dem so ist, warum es so wenige Bewohnerinitiativen gibt, die die Gestaltung ihrer Stadt selbst in die Hand nehmen - analog zu den aktuell boomenden Baugruppen in Deutschland.

Implantate in der Gründerzeit

Eine Antwort auf das Problem der zu dichten Hofbebauungen suchte beispielsweise ein Projekt des Bauträgers Heimbau in Rudolfsheim-Fünfhaus: Die Architekten Sigs trugen vom hohen Hoftrakt alles bis auf zwei Geschoße ab, um dann eine terrassierte Aufstockung zu errichten, die wesentlich weniger Raum einnahm als zuvor. Dadurch verbesserte sich die Belichtung im Umfeld, und es wurden neue Wohnungen mit brauchbaren Freiräumen geschaffen.

Etliche Wohnbauprojekte von Querkraft Architekten thematisieren genau deren Fehlen. In Wiener Gründerzeitvierteln besteht nicht nur ein eklatanter Mangel an Terrassen und Balkons, den man nur nach und nach beheben müsste, wie das etwa in Berlin durchaus üblich ist: Ganz im Gegenteil sind Balkons zur Straße hin in Wien dezidiert verboten. In einem Querkraft-Bau in der Wiener Leebgasse war die Antwort ein „begehbares Gesims“.

Eigeninitiative kennzeichnet ein Grünraumprojekt im Rupert-Mayer-Haus der Caritas in Ottakring. Ein Heimbewohner engagierte sich zusammen mit einem Sozialarbeiter für die Umwandlung der planierten Hoffläche in eine Grünoase für alle Mieter der Nachbarschaft.

Nicht die geringfügige Anpassung, sondern die völlige Umgestaltung der Gründerzeitstadt ist das Ziel der Wohnanlage von Architekt Rüdiger Lainer in Wien-Favoriten. Als Projekt des grünen Gemeinderats Christoph Chorherr und des damaligen Wohnbaustadtrats Werner Faymann wurde 2004 ein Terrassenhaus-Wettbewerb ausgeschrieben: Ein Modellprojekt sollte zeigen, dass auch in der Kernstadt Wohnungen mit Einfamilienhaus-Qualitäten möglich sind. Lainer gewann, der Neubau nimmt nun den alten Blockumriss in den unteren Geschoßen auf, um sich darüber völlig vom gründerzeitlichen Raster zu lösen und die Baukörper nach Sonneneinstrahlung und Sichtachsen zu organisieren.

Ein Schlüsselbegriff bei der Weiterentwicklung der Gründerzeitstadt scheint der Anreiz für Initiative zu sein: erstens der Anreiz für Bauträger, mit Projekten über die reine Renditeerwartung hinauszugehen, wofür intelligente Fördersysteme nötig sind. Hier gibt es durchaus gute Ansätze etwa bei der Wohnbauförderung, die weiterentwickelt werden müssten. Und zweitens der Anreiz für zukünftige Bewohner und Anrainer für Eigeninitiative, also dafür, selbst an der Veränderung der Stadt mitzuwirken.

[ Ausstellung Reinsetzen. Bauliche Implantate in der Gründerzeit (Gründerzeithäuser, Baulücken, Architektur), veranstaltet von Gebietsbetreuung Stadterneuerung 16 und Magistratsabteilung 19, bis 7. April 2008 im Ragnarhof, Wien 16, Grundsteingasse 12. Montag bis Freitag 16 bis 20 Uhr, Samstag 10 bis 14 Uhr. ]

Der Standard, Sa., 2008.03.29

26. Januar 2008Robert Temel
Der Standard

Städte in der Stadt

m vergangenen Herbst lud der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds, verantwortlich für den neuen Stadtteil am Flugfeld Aspern, Vertreter wichtiger europäischer Stadtentwicklungs- projekte zum Erfahrungsaustausch nach Wien.

m vergangenen Herbst lud der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds, verantwortlich für den neuen Stadtteil am Flugfeld Aspern, Vertreter wichtiger europäischer Stadtentwicklungs- projekte zum Erfahrungsaustausch nach Wien.

Heuer wird mit dem Bau der Stadt am Flugfeld begonnen: Erst entstehen Straßenanbindungen, Gewerbeflächen, Forschungseinrichtungen und Grünräume, Wohnbauten folgen ab 2010. Das Asperner Projekt ist in seiner Dimension für Wien einmalig. Doch im europäischen Kontext gibt es durchaus Vergleichbares.

Die vier geladenen Projektgruppen kamen aus Deutschland, den Niederlanden und Schweden: Das Tübinger Südstadtprojekt begann in ehemaligen Kasernenarealen nach dem Abzug der französischen Truppen aus der schwäbischen Universitätsstadt. Hamburg HafenCity ist das größte und dichteste der teilnehmenden Projekte, es handelt sich dabei um eine Erweiterung der Hamburger Innenstadt auf ehemaliges Hafengelände mit Universität, Museen und Elbphilharmonie. Ganz ähnlich ist die Situation in Rotterdam mit Kop van Zuid, allerdings befindet sich dieses Hafengebiet nicht in direkter Nachbarschaft zum Zentrum, sondern liegt auf der anderen Seite des Flusses Maas. Und Hammarby Sjöstad umschließt im Süden Stockholms den Hammarby-See. Gemeinsam ist ihnen allen mit Aspern die Ausrichtung als „Stadt in der Stadt“ mit allen Nutzungen, die dazugehören. Das kleinste Projekt ist Tübingen mit 400.000 m² Gesamtfläche und 3000 Wohnungen, das größte Hamburg mit zwei Millionen m2 Fläche und 5500 Wohnungen. Aspern liegt dabei am oberen Ende der Skala mit genauso viel Fläche wie Hamburg und 8500 Wohnungen.

In Zeiten des Stadtmarketing braucht jedes Projekt dieser Größenordnung ein Image, eine Leitidee, um politisch und ökonomisch bestehen zu können. Das älteste Vorhaben unter den vier ist Rotterdam/Kop van Zuid. Nachdem heutige Containerschiffe immer tiefere Hafenbecken benötigen, wandert der Rotterdamer Hafen, der größte außerhalb Asiens, immer weiter ins offene Meer hinaus, sodass riesige Areale in Zentrumsnähe frei wurden. In Kop van Zuid wird seit Mitte der 1990er-Jahre gebaut, bis 2010 soll die Entwicklung abgeschlossen sein. Am Beginn stand die Errichtung der Erasmus-Brücke zwischen Altstadt und Stadterweiterung, die gleichzeitig infrastruktureller Anschluss und Projektsymbol war. Die Bebauung in Kop van Zuid besteht nicht aus Blocks, sondern aus Großstrukturen und ist somit die „modernste“ der vier.

Die Stadt Rotterdam setzt hier massiv auf architektonische und insbesondere Freiraumqualität: Zentrale Instanz des Projektes ist als Quality Supervisor die angesehene Städtebauerin Riek Bakker, die jedem Projekt zustimmen muss. Die städtische Entwicklungsgesellschaft verkauft die Grundstücke erst nach Abschluss der Planung jedes einzelnen Gebäudes und würde einen Planungsprozess eher abbrechen, als niedrigere Qualitätsstandards zu akzeptieren.

Leitidee der Tübinger Südstadt ist das Konzept Baugemeinschaft: Die Stadt ist Grundeigentümer - wie übrigens bei den anderen beschriebenen Projekten auch - und bevorzugt private Baugruppen gegenüber kommerziellen Bauträgern. Cord Söhlke, Leiter des Stadtsanierungsamts, meint: „Die Idee der Baugemeinschaft ist, dass die Privatleute, die das Gebäude später benützen, stark in den Planungsprozess involviert sind und selbst die Verantwortung dafür übernehmen.“ Die Baugruppen schaffen es in Tübingen, um bis zu 25 Prozent günstigere Wohnungen zu errichten als Kommerzielle, und sie erlauben es der Stadt, komplexere städtebauliche Vorgaben umzusetzen - durch viele kleine statt wenigen großen Bauträgern behält sie Entscheidungsfreiheit. Hier werden historischer Bestand und neue kleinteilige Blocks gemischt, um ein buntes Ganzes zu erreichen. Mittlerweile wurden die Tübinger von der englischen Commission for Architecture and the Built Environment (CABE) nach London eingeladen, um dort über kleinteilige Parzellierung und Baugruppen zu referieren. Das Stadtviertel lebt von Vielfalt und Kleinteiligkeit, von der Nutzungsmischung und der hohen Identifikation der Eigentümer mit ihrem Umfeld.

Doppelt so gut

Der neue Stockholmer Stadtteil Hammarby Sjöstad definiert sich als Stadt der Nachhaltigkeit. Es wird höchstes Augenmerk auf umweltgerechte Energieerzeugung und niedrigen Verbrauch, auf ressourcenschonendes Wasser- und Abfallmanagement gelegt. Hammarby Sjöstad möchte bei all dem „doppelt so gut wie die Norm“ sein. Das Nachhaltigkeitsprogramm findet internationale Anerkennung - so wurde kürzlich mit London eine Kooperation zum Informationsaustausch über nachhaltige Stadtentwicklung vereinbart, und chinesische Delegationen besichtigen das Gebiet, das 2015 fertig sein soll.

Die HafenCity in Hamburg ist das städtischste und dichteste der präsentierten Projekte, weil es direkt an die Innenstadt Hamburgs anschließt und sie erweitert. Das ist eine Lagegunst, die anderswo kaum erreicht werden kann. Dementsprechend groß ist das Interesse, und spektakulär sind die geplanten Projekte, von der Elbphilharmonie von Herzog/de Meuron über die Greenpeace-Zentrale bis zum Meeresmuseum. Wichtigstes Instrument zur Qualitätssicherung ist hier der Wettbewerb auf allen Ebenen: Zusätzlich zum Masterplanwettbewerb, den Kees Christiaanse und Hamburgplan 1998 gewannen, gibt es städtebauliche Wettbewerbe für Teilbereiche, Konzeptwettbewerbe zur Grundvergabe an Investoren und Architekturwettbewerbe. Die HafenCity soll 2025 fertiggestellt sein, hat also etwa denselben Zeithorizont wie Aspern. Auch in Hamburg ist der Block wichtige, wenn auch nicht einzige Bauform - hier stehen insbesondere spektakuläre Solitäre im Mittelpunkt des Konzeptes.

Was kann nun Aspern von den vier Städten lernen? Einerseits eine Vielfalt von Methoden, die Qualitätssicherung im Städtebau zu verbessern, wobei der Wettbewerb der architektonischen und Investitionskonzepte ein zentrales Element ist. Und vor allem die Konzentration auf eine Frage: Was ist die Leitidee der „Stadt in der Stadt“ am Flugfeld Aspern?

Der Standard, Sa., 2008.01.26

18. August 2007Robert Temel
Der Standard

Urbanisierung im Marchfeld

Ende Mai beschloss der Wiener Gemeinderat einstimmig den Masterplan für die Stadtentwicklung auf dem Flugfeld Aspern. Das lässt aufhorchen: Stadtplanungsthemen sind in Wien häufig Anlass für oppositionellen Widerstand, warum also hier die plötzliche Einigkeit?

Ende Mai beschloss der Wiener Gemeinderat einstimmig den Masterplan für die Stadtentwicklung auf dem Flugfeld Aspern. Das lässt aufhorchen: Stadtplanungsthemen sind in Wien häufig Anlass für oppositionellen Widerstand, warum also hier die plötzliche Einigkeit?

Jüngste Prognosen kündigen für Wien ein Wachstum um 20 Prozent auf mehr als zwei Millionen Einwohner bis 2035 an. Stadt- er weiterung ist somit ein wichtiges Thema, um ausreichend Raum für Neo-Wiener schaffen zu können. Zwar gibt es eine ganze Reihe von nutzbaren Flächen in Innenstadtnähe, meist auf nicht mehr benötigten Bahnarealen. Doch sind die ÖBB schwierige Grundeigentümer, sodass die Stadt versucht, eigene Flächen zu entwickeln. Das Flugfeld Aspern in Donaustadt, am Rand des Marchfelds, ist eine solche. Es liegt an der östlichen Besiedelungsgrenze Wiens, an einer Bahnlinie nach Bratislava und an geplanten Autobahn- und U-Bahn-Trassen. Eigentümer sind der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds (WWFF), der Wohnfonds Wien und die Bundesimmobiliengesellschaft, also die öffentliche Hand. Das erlaubt schnelle Entwicklung, und es bietet die Chance, durch steuernde Eingriffe jene Fehler zu vermeiden, die in anderen Wiener Stadterweiterungsgebieten gemacht wurden.

Der neue Stadtteil am Flugfeld ist für Wiener Verhältnisse ein gewaltiges Projekt. Hier sollen Wohnungen für 20.000 Menschen und 25.000 Arbeitsplätze entstehen. Das Flugfeld wird somit ungefähr so groß wie Mödling oder Amstetten - mit so vielen Arbeitsplätzen wie diese beiden Städte zusammen. Damit ist klar, dass es um eine Entwicklung über zumindest zwanzig Jahre geht. Mit der Planung wurde 2005 das schwedische Atelier von Johannes Tovatt beauftragt, dem langjährigen Partner des kurz zuvor verstorbenen britisch-schwedischen Architekten Ralph Erskine, der bereits in den 1950er-Jahren für Kritik an der Moderne stand. Das Tovatt-Projekt scheint eher dem New Urbanism als einem rigorosen Modernismus verpflichtet.

New Urbanism ist eine US-amerikanische Bewegung gegen die Zersiedlung des suburbanen Raums und stellt dieser Prinzipien wie Fußläufigkeit, Nutzungsmischung und brauchbare öffentliche Räume gegenüber, das Ideal ist die historische Kleinstadt. Der New Urbanism wird in Europa als konservative Bewegung rezipiert. Wenn man sich bekannte Realisierungen wie Disneys Celebration ansieht, kann man dem nur beipflichten: Hier ist Kommunalpolitik durch ein Unternehmen ersetzt, es sind allein vermögende Schichten angesprochen, und wichtige Ziele wie Nutzungsmischung und Autofreiheit werden nur bedingt erreicht. Allerdings ist die Situation in den USA eine andere als in Europa. Unter Wiener Bedingungen mit gefördertem Wohnbau, öffentlichem Verkehr und Grund im öffentlichen Eigentum wird keine zweite Disney-Stadt entstehen können.

Damit kommen wir zum Kern der Sache: Am Asperner Masterplan kann manches kritisiert werden. Er weist aber auch eine Reihe positiver Aspekte auf, die hoffen lassen, dass Besseres entsteht als in der Donau-City, der Wienerberg-City oder in Monte Laa, obwohl die dortigen Planungen fern jeden New-Urbanism-Verdachts sind. Das Flugfeld ist jedenfalls in einigen Jahren mit U-Bahn, S-Bahn, Straßenbahn und Bus wesentlich besser erschlossen als viele Entwicklungsgebiete im Wiener Süden. Und der Masterplan von Tovatt orientiert sich dezidiert auf Nutzungsmischung - eine Forderung, die von Erskine und vielen anderen seit den 1950er-Jahren gegen die städtische Funktionstrennung der Moderne erhoben wurde. In Aspern sollen die Erdgeschoßzonen der Gebäude durch hohe Räume auf attraktive Nutzungen ausgerichtet sein. Kultur, Bildung, Gewerbe, Büro und Wohnen werden innerhalb der Gebäude und in räumlicher Nähe so gut wie möglich gemischt.

Die Asperner Flugfeld Süd Entwicklungs- und Verwertungs-AG will sich ganz massiv dieses Themas annehmen. Hier sollen nicht Baugründe für gesichtslose Bürotürme verscherbelt werden, sondern laut WWFF-Geschäftsführer Bernd Rießland geht es um Fragen wie Erdgeschoßzonen-Management, innovative Bürohauskonzepte für Klein- und Mittelbetriebe und neue Wohnbauideen wie Bauherrenmodelle und Baugruppen. Statt nur Grund zu verkaufen, wollen die Eigentümer Leitprojekte selbst entwickeln und betreiben. Die Ausrichtung auf funktionale und typologische Innovation macht Hoffnung auf einen Stadtteil, der viele Fehler der jüngeren Vergangenheit vermeidet.

Weiteres zentrales Thema des Masterplans ist der öffentliche Raum. Während in der Wienerberg-City darauf komplett vergessen wurde und in Monte Laa immerhin ein zentraler Park realisiert ist, der aber leider an den Grundgrenzen zu den Wohnhäusern ebenso abrupt wie sinnlos abbricht, stellt Tovatt die Freiräume ins Zentrum seiner Planung. Der Masterplan enthält viele Ideen, wie eine hohe Qualität des öffentlichen Raumes erreicht werden kann - von Grünraumtypologien und differenzierten Straßenprofilen bis zu Bezügen zwischen öffentlichen und halb öffentlichen Flächen. Wenn auch nur ein Teil dieser Vorgaben von den Bauträgern eingehalten wird, ist einiges erreicht.

Schließlich gibt es einen Plan zur schrittweisen Realisierung des neuen Stadtteils. Am Anfang entstehen Gewerbe- und Wohnbereiche im Süden des Areals, die auch schon vor U-Bahn-Fertigstellung hochwertig erschlossen sind. Dann folgt die Entwicklung der urbanen Kernzonen bis zum neuen Bahnhof im Norden, wobei Teilbereiche freigehalten bleiben, um später, neuen Bedürfnissen entsprechend, nachverdichten zu können. All diese Ansätze zusammen mit der vom WWFF geplanten Orientierung auf Nachhaltigkeit erklären vielleicht, warum Regierungspartei und Opposition geschlossen für den Masterplan stimmten. Dazu kommt, dass in Aspern Anrainer-Stellvertreter in die Planung einbezogen waren und deren Wünsche teils berücksichtigt wurden.

Doch die Begeisterung war nicht einhellig, Architekturkritiker zeigten problematische Aspekte des Projektes auf. Zentraler Kritikpunkt ist die städtebauliche Figur der Ringstraße, die das Projekt zu einem introvertierten machen könnte. Während der in Gründerzeit und Moderne übliche rechtwinkelige Stadtraster Durchlässigkeit in alle Richtungen signalisiert und ermöglicht, bildet die kreisförmige Anlage in Aspern ein sich abschließendes Quartier, das tendenziell nur von einer Seite her zugänglich ist. Einerseits folgt das Projekt damit dem heutigen Standard außerhalb der Kernstädte, weil in diesen heterogenen Arealen, wo gegensätzliche Nutzungen hart aufeinander treffen, eine gleichberechtigte Vernetzung kaum möglich ist.

Andererseits ist klar: Genau hier liegt eines der größten Probleme dieser Zonen. Es bleibt die Frage, ob die stadträumliche Figur des Rings tatsächlich den befürchteten Effekt haben wird, wenn Aspern als neues transdanubisches Zentrum weiterwächst.

Ebenfalls negativ aufgenommen wurde die Blockstruktur. Während der moderne Städtebau Zeilen, Punkthäuser und Cluster präferierte, ist der wichtigste Typus bei Tovatt ein geöffneter Block, er ist auf etwa 40 Prozent der Bauflächen geplant. Damit greift er auf die Stadt des 19. Jahrhunderts oder die Wohnbauten des Roten Wien zurück, also auf traditionelle Städtebauformen. Wenn man den Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit einmal zur Seite lässt, obgleich er nicht unberechtigt ist, kann man sich fragen, was der Einsatz von Blocks hier bewirkt. Einerseits erlaubt er den Vorrang des Stadtraums vor dem Einzelgebäude, andererseits führt er dazu, dass es besser und schlechter orientierte Wohnungen gibt. Ein Problem des Rückgriffs auf den Block ist, dass man heute nicht mehr in der kleinteiligen Parzellenstruktur des 19. Jahrhunderts baut, wodurch Blocks zu Megastrukturen werden. In Aspern plant man zumindest, hier anders vorzugehen.

Schließlich bleibt die Frage des Umsetzungsprozesses. Ob die Phasenplanung robust genug für die Realität ist, bleibt abzuwarten. Es gibt zwar die Idee der freizuhaltenden Flächen für Nachverdichtung - vorerst unprogrammierte, flexible Flächen sind allerdings nur in geringem Ausmaß vorhanden, etwa in Form von Erdgeschoßzonen.

In Aspern kann man somit bei aller Kritik viel Positives erwarten, wenn die anspruchsvollen Pläne die Überformung durch Bauordnung, Förderrichtlinien, Bauträger und Investoren aushalten - Experimente auch mit diesen Einflussfaktoren und hinsichtlich nachhaltiger Bauweisen wären wichtig. Der Haupteigentümer WWFF nimmt das Projekt jedenfalls sehr ernst und möchte in den kommenden Jahren eine kritische Diskussion darüber führen. Das ist uneingeschränkt zu begrüßen.

Der Standard, Sa., 2007.08.18

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09. März 2024Robert Temel
Der Standard

Unser Freund, der Boden

Ein heftig umstrittener 100.000-Euro-Eigenheim-Bonus, eine Bodenstrategie der Länder und ein Petitionspapier der Architekten. Der Umgang mit Österreichs Boden ist derzeit ein Politikum und Schauplatz von Debatten Eine Übersicht.

Ein heftig umstrittener 100.000-Euro-Eigenheim-Bonus, eine Bodenstrategie der Länder und ein Petitionspapier der Architekten. Der Umgang mit Österreichs Boden ist derzeit ein Politikum und Schauplatz von Debatten Eine Übersicht.

Der Boden ist unser Freund. Er ist enorm wichtig für den Klimaschutz und die Klimawandelanpassung, weil er in naturbelassener Form Kohlenstoff und Wasser speichert und neues Wasser, das bei Extremwetterereignissen sehr schnell in großer Menge anfällt, aufnehmen kann.

Naturbelassene Flächen sind außerdem wichtig für den Erhalt der Biodiversität. Unverbaute Böden sind die Existenzgrundlage der Landwirtschaft und somit für unsere Ernährung – und zukünftig zunehmend für die Energieversorgung, wenn größere Mengen Biogases produziert werden müssen und man Äcker mit Photovoltaik und Windkraft kombiniert. Ebenso wichtig ist der unverbaute Boden für Tourismus und Erholung. Niemand fährt nach Österreich, um Einfamilienhausteppiche und Gewerbegebiete zu besuchen. Und auch wer hier lebt, ist gern im Grünen unterwegs statt nur auf der Autobahn.

Der Bodenverbrauch ist somit unser Feind. Aber diesen Feind füttern wir jeden Tag mit weiteren zwölf Hektar (etwa 17 Fußballfelder) sogenannter Flächeninanspruchnahme. Dieser Boden steht nicht mehr als naturbelassenes Grünland, Ödland, Gewässer, Wald oder landwirtschaftliche Fläche, sondern für Siedlungs- und Verkehrsflächen zur Verfügung. Weil der Boden nicht nur für Biodiversität, Landwirtschaft und Erholung gebraucht wird, sondern auch, um darauf zu wohnen, zu arbeiten, sich vorwärts zu bewegen. In Österreich benötigen wir dafür vergleichsweise viel Platz, obwohl wir nur wenig davon haben. Und jeder Neubau auf der grünen Wiese löst einen flächenfressenden Dominoeffekt aus: neue Verkehrsflächen, neue Gewerbeflächen, neue Wohnflächen.

Dichte Stadt, weites Land

Hierzulande gibt es den Begriff des „Dauersiedlungsraums“. Das ist die Fläche, die für Bebauung oder Landwirtschaft genützt werden kann. In Österreich sind das nur 39 Prozent der Landesfläche. In anderen Ländern gibt es diesen Begriff gar nicht, weil fast die gesamte Fläche nutzbar ist. In Deutschland beispielsweise beträgt die tägliche neue Flächeninanspruchnahme 55 Hektar, also nur 4,5-mal so viel wie in Österreich, obwohl es neunmal so viel Einwohner und siebenmal so viel Dauersiedlungsraum gibt.

Wir müssen also weniger Boden verbrauchen. Städte können das besonders gut, so ist Wien Meister darin, große Bevölkerungszuwächse auf wenig Fläche bei hoher Lebensqualität zu bewältigen – und das gilt für andere große österreichische Städte ähnlich. Mehr als ein Drittel des Bevölkerungswachstums hierzulande nahm in den letzten Jahren Wien auf, das in dieser Zeit aber nur 0,1 Hektar neue Fläche pro Tag gebraucht hat. Der Rest des Landes brauchte für die weiteren zwei Drittel ein Vielfaches. Aber natürlich können nicht alle in Wien wohnen, die Stadt platzt ohnehin schon aus allen Nähten. Was nötig ist: sorgfältig entwickelte, relativ dicht weitergebaute Dörfer, Klein- und Mittelstädte. Sanierung und Umbau bei Bestandsbauten, Aktivierung von Leerstand, um wenig neue Fläche zu verwenden.

Heute sind wir in der bizarren Situation, dass in Wien jeder Quadratmeter Boden in zentraler Lage von Bürgerinitiativen umkämpft ist. Gleichzeitig stört niemanden der stetig wachsende Wiener Speckgürtel auf genauso wertvollem Boden, wo aber pro Person die zehnfache Fläche verbraucht wird.

Faust auf den Tisch

Die Politik kennt das Problem. Bereits in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung von 2002 wurde als Ziel festgelegt, dass bis 2010 maximal 2,5 Hektar pro Tag zu verbrauchen seien. Die aktuelle Regierung erneuerte dieses Ziel für 2030. Vor zwei Jahren startete die Entwicklung einer Bodenstrategie: Alle Bundesländer, die Bundesministerien, Städtebund und Gemeindebund erarbeiteten Ziele und Maßnahmen, wie der Boden zu schützen sei. Im Juni 2023 war man fertig, doch der zuständige Minister Werner Kogler knallte die Faust auf den Tisch, weil etwas Zentrales fehlte: das genaue Ziel, wie viel (oder wie wenig) Boden man 2030 noch verbrauchen wollte. Denn die 2,5 Hektar standen nicht drin.

Die Bundesländer fanden dieses Ziel nicht „plausibel“ (zu ambitioniert, könnte man auch sagen). Seither lag das Papier in den Schubladen, bis sich letzte Woche die Bundesländer sowie der Städte- und Gemeindebund in Linz zu einer „Raumordnungstagung“ trafen, um den Bund vor vollendete Tatsachen zu stellen: Die Bodenstrategie von 2023 wurde nun beschlossen, natürlich ohne das fixierte 2,5-Hektar-Ziel. Das ist einerseits gut, weil die Maßnahmen richtig und wichtig sind. Es ist andererseits aber auch höchst problematisch: Bis 2030 sind es noch sechs Jahre. Wenn man jetzt erst beginnt, Zielwerte zu erarbeiten, wird man sie nicht mehr erreichen.

Die österreichische Politik ist beim Thema Bodenschutz janusköpfig: Einerseits will man schon, man muss ja auch, es gibt Übereinkommen wie die UN-Agenda 2030 oder die EU-Bodenstrategie für 2030. Aber andererseits ist es viel schöner, Flächen großzügig zu verteilen, damit alle Österreicherinnen mit ihrem eigenen, neugebauten Einfamilienhaus glücklich werden können (dabei gibt es schon 1,5 Millionen davon).

So präsentierten im Februar die Sozialpartner in trauter Einigkeit einen 100.000-Euro-Eigenheimbonus für jene, die es sich leisten können, viel Fläche zu verbrauchen. Zum Glück wurde die Idee breit abgelehnt. Das finale Konjunkturprogramm der Bundesregierung ist zwiespältig zu sehen: Auf der Habenseite stehen der vermiedene Bonus, 20 Prozent der Mittel für Sanierung und die sehr wichtige Ermächtigung der Länder für Leerstandsabgaben. Auf der Sollseite: Warum gibt es, soweit derzeit bekannt, keine Qualitätskriterien? Klimaschutz, Ortskernentwicklung, Architekturqualität? Warum wird nicht verhindert, dass man damit auf der grünen Wiese statt in den Orts- und Stadtkernen baut? Warum werden nicht vorrangig Holzbau, verdichtetes Bauen, Leerstandsaktivierung gefördert?

Verantwortungsbewusstsein

Da kommt das aktuelle Positionspapier „Klima, Boden & Gesellschaft“ der Bundeskammer der Ziviltechniker:innen gerade recht. Die Vertretung der planenden Berufe sagt nicht etwa: Bauen, bauen, bauen! Im Gegenteil. Sie meint, Österreich sei fertiggebaut. Sie fordert Bodenschutz, nachhaltige Energieversorgung und ressourcenschonendes Bauen, das heißt Priorität für Bestandserhaltung. Und sie verlangt eine gerechte Verteilung der knappen Ressourcen, Fokus aufs Gemeinwohl im Bauen. So viel Verantwortungsbewusstsein würde man sich von anderen Repräsentanten auch wünschen.

Robert Temel ist einer der drei Sprecher der Plattform Baukulturpolitik.

Der Standard, Sa., 2024.03.09

04. Dezember 2021Robert Temel
Der Standard

Rot, Gelb oder Grün für den Planeten

Deutschland hat erstmals eine Ampelkoalition. Was bedeutet deren Regierungsabkommen für Architektur, Wohnbau und vor allem den Klimaschutz? Und wo dient Österreich als Vorbild? Eine erste Analyse.

Deutschland hat erstmals eine Ampelkoalition. Was bedeutet deren Regierungsabkommen für Architektur, Wohnbau und vor allem den Klimaschutz? Und wo dient Österreich als Vorbild? Eine erste Analyse.

Am Planen und Bauen, an Architektur, Städtebau und Freiraumplanung entscheidet sich die Zukunft des Planeten. Geht’s ein bisschen kleiner? Nö.“ So schrieb vor wenigen Wochen der Architekturredakteur der Süddeutschen Zeitung , Gerhard Matzig, anlässlich der deutschen Koalitionsverhandlungen zur Debatte über ein eigenes Bautenministerium.

In Deutschland gab es immerhin stets Bundesverantwortung fürs Bauen, auch wenn die immer nur irgendwo mitgemeint war: einmal bei der Umwelt, dann beim Verkehr, zuletzt beim Innenministerium unter dem Titel „Heimat“. In Österreich gibt es seit Ende der 1980er-Jahre keine solche Bundesverantwortung mehr, vom Bautenministerium blieb die Bundesimmobiliengesellschaft übrig, eine qualitätsorientierte Immobilienentwicklerin und -verwalterin, die tolle Schulen, Universitäten und Amtsgebäude baut, aber kein Ersatz für politisches Handeln ist.

Auch wenn in Österreich viele Kompetenzen fürs Bauen bei den Bundesländern und Gemeinden liegen, sind die auf Bundesebene brachliegenden Aufgaben ungezählt: Rahmen für Raumordnung, Flächenverbrauch, Städtebauförderung, Sanierung und Lebenszykluskosten, Mietrecht, Wohnungsgemeinnützigkeit, Qualitätsorientierung im Vergaberecht, you name it.

Dabei ist das Bauen der weltweit größte Treibhausgasemittent (40 Prozent am Gesamtausstoß), acht Prozent verursacht allein die Zementindustrie. Und es erzeugt enorme Müllmengen, 55 Prozent des Abfalls in Deutschland. Aber das ist nicht alles: Der Bodenverbrauch will nicht abnehmen, es wird viel zu wenig saniert, Innenstädte und Dorfkerne verwaisen, während Einfamilienhäuser und Gewerbegebiete auf der grünen Wiese nur so sprießen und immer mehr Verkehr erzeugen.

Umso wichtiger war deshalb die Frage, was sich die neue Ampelkoalition in Deutschland vornehmen würde. Fix ist: Es gibt nun wieder ein eigenes Bundesministerium für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und ländliche Räume. Aber was sieht der neue Koalitionsvertrag als Arbeitsprogramm vor?

Quantität und Qualität

Ein großer Schritt ist die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit. In Deutschland wurde sie 1988 nach dem Skandal um den Bauträger Neue Heimat abgeschafft. Während in Österreich bis heute Jahr für Jahr tausende Wohnungen von Gemeinnützigen gebaut werden, die über unbegrenzte Zeit niedrige, gebundene Mieten bieten, fallen in Deutschland alle geförderten Wohnungen nach einiger Zeit, oft schon nach 15 Jahren, aus der Preisbindung. In Österreich gibt es also jedes Jahr mehr preisgebundene Wohnungen, in Deutschland jedes Jahr weniger, obwohl der Bedarf enorm ist.

Seit langem wird darüber diskutiert, dieses Modell zwischen Markt und Staat wiedereinzuführen. Nun scheint es so weit zu sein, inklusive einer Erhöhung der Wohnbaufördermittel – zukünftig sollen 100.000 geförderte Wohnungen pro Jahr gebaut werden, etwa viermal so viele wie zuletzt. Aber es geht natürlich nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität: Diese Wohnungen sollen „bezahlbar, klimaneutral, nachhaltig, barrierearm, innovativ und mit lebendigen öffentlichen Räumen“ gestaltet werden.

Ein Wermutstropfen ist es, dass nach wie vor auf die Eigenheimförderung gesetzt wird. Der Vorteil der hohen Mietquote in Deutschland (wie auch Österreich) wird als Nachteil gesehen und zur Behebung auch noch öffentliches Geld ausgegeben, was in großen Städten mit hohem Nachfragedruck kontraproduktiv ist, weil die Preise dadurch weiter angeheizt werden. Genauso setzt übrigens die aktuelle österreichische Koalition auf mehr Eigentumsbildung.

Ein zentrales Thema ist der Flächenverbrauch, in Deutschland zuletzt 52 Hektar pro Tag (in Österreich zwölf Hektar). Die brandneue EU-Bodenstrategie sieht null Verbrauch bis 2050 vor. Das Ziel in Deutschland sind 30 Hektar bis 2030 (Österreich: 2,5 Hektar), nachdem das gleiche Ziel 2020 verpasst wurde. Natürlich kann man sich fragen, warum es jetzt klappen sollte. Allerdings stehen im Koalitionsvertrag schon ein paar gute Ansätze, auch wenn „konkrete Maßnahmen“ erst in Aussicht gestellt werden: In Deutschland gibt es, im Unterschied zu Österreich, ein bundesweites Baugesetzbuch (BauGB). Für dieses soll das neue Instrument der „Innenentwicklungsmaßnahme“ geprüft werden, mit dem man unwillige Eigentümer von Grundstücken aktivieren oder, wenn das nichts nützt, auch enteignen kann.

Bauforschung und Betongold

Generell soll das BauGB unkomplizierter, klimafreundlicher und gemeinwohlorientierter werden. Flächen, die die Bahn nicht mehr braucht, sollen an die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben übergeben und nach wohnungspolitischen und ökologischen Zielen entwickelt werden – ein enormer Fortschritt, stand bei Bahnimmobilien doch bisher der Profit im Vordergrund. Ähnliches ist in Österreich geplant, aber nicht umgesetzt. Die Städtebauförderung (auch die gibt es in Österreich nicht) wird erhöht. Günstige Mieten und Klimaschutz werden heute von gestiegenen Baukosten beeinträchtigt. Die Koalition will durch serielles Bauen, Digitalisierung, Standardisierung, Typengenehmigungen fürs Sanieren und Verbesserungen in der Normung die Baukosten senken und in die Bauforschung investieren. All das wird aber wenig helfen, solange das Betongold Anleger lockt.

Doch wie steht es mit dem Klima? Dieses soll Querschnittsaufgabe für alle Ressorts werden, somit auch fürs Wohnen und Bauen. Die Wohnbauförderung wird auf Treibhausgasemissionen fokussieren. Zukünftig soll es stärker um graue Energie, also jene Energie, die für das Bauen eingesetzt wird, und um Lebenszykluskosten gehen, also um den Aufwand für die gesamte Betriebsdauer eines Gebäudes. Beides soll durch einen digitalen Gebäuderessourcenpass sichtbar werden. Holzbau und Leichtbau sollen gestärkt werden. Ein wichtiger Punkt ist das sogenannte Mieter-Vermieter-Dilemma: Investitionen in energetische Maßnahmen kommen vorrangig den Mietern zugute, müssen aber von Vermietern finanziert werden. Deshalb prüft die Koalition die „Teilwarmmiete“: Heizenergie würde Teil des Mietpreises werden, ein Anreiz für Vermieter, ins Energiesparen zu investieren.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Ein großer Wurf sieht anders aus, wenn man vom Thema Gemeinnützigkeit absieht. Aber letztlich geht es weniger um große Ankündigungen, sondern darum, das Pariser Übereinkommen zu erfüllen. Wenn man aus der Vergangenheit auf die Zukunft schließt, muss man da pessimistisch sein. Aber vielleicht schaffen SPD, Grüne und FDP nun etwas, das in Deutschland (und Österreich) bisher nicht möglich schien.

[ Robert Temel ist Architektur- und Stadt-forscher, Publizist und Sprecher der Plattform Baukulturpolitik in Wien. ]

Der Standard, Sa., 2021.12.04

29. Februar 2016Robert Temel
Renate Hammer
Pa­trick Ja­ritz
Der Standard

Wohn­bau: Bil­lig und schnell wird spä­ter teu­er

Die Wie­ner In­ter­na­tio­na­le Bau­aus­stel­lung star­tet bald. Aus die­sem An­lass hin­ter­fra­gen Ro­bert Te­mel, Re­na­te Ham­mer und Pa­trick Ja­ritz von der Platt­form Bau­kul­tur­po­li­tik die aus­ge­ru­fe­ne Wohn­bau­of­fen­si­ve.

Die Wie­ner In­ter­na­tio­na­le Bau­aus­stel­lung star­tet bald. Aus die­sem An­lass hin­ter­fra­gen Ro­bert Te­mel, Re­na­te Ham­mer und Pa­trick Ja­ritz von der Platt­form Bau­kul­tur­po­li­tik die aus­ge­ru­fe­ne Wohn­bau­of­fen­si­ve.

Wiens Wohn­bau­stadt­rat Mi­cha­el Lud­wig prä­sen­tier­te jüngst sei­ne Plä­ne für ei­nen Um­bau des Wie­ner Wohn­bau­sys­tems, der durch ak­tu­el­le Ent­wi­cklun­gen her­aus­ge­for­dert wird: Die Be­völ­ke­rungs­zahl Wiens steigt mas­siv (2015 um plus 43.000 Men­schen), gleich­zei­tig stag­nie­ren die vom Bund über­wie­se­nen Wohn­bau­för­der­mit­tel.

Wohn­raum für Flücht­lin­ge ist ein ak­tu­el­les The­ma, al­ler­dings nur ein Spe­zi­al­fall des all­ge­mei­nen Be­darfs an „leist­ba­rem Woh­nen“. Gleich­zei­tig wird die In­ves­ti­ti­on in so­zia­le In­fras­truk­tur, die ei­ne Vor­aus­set­zung für Wohn­bau ist, durch die Sta­bi­li­täts­kri­te­rien er­schwert. Es bleibt ei­ne Her­aus­for­de­rung, wie man das nö­ti­ge Tem­po im Wohn­bau mit Qua­li­täts­si­che­rung ver­eint.

Lud­wig rea­giert da­rauf mit ei­nem „Dre­hen an Schrau­ben“ – si­cher­lich die stärk­ste Ver­än­de­rung seit der Ein­füh­rung der „so­zia­len Nach­hal­tig­keit“ als Be­ur­tei­lungs­kri­te­ri­um für Wohn­bau­pro­jek­te zwei Jah­re nach sei­nem Amt­san­tritt 2007: Er will mehr, schnel­ler, preis­wer­ter und nach­hal­ti­ger bau­en.

Dass ei­ne Of­fen­si­ve nö­tig ist, kann kaum be­strit­ten wer­den: Ei­ne Stei­ge­rung der Be­völ­ke­rung Wiens auf et­wa zwei Mil­lio­nen bis 2029 wird prog­nos­ti­ziert, da­bei geht man von ei­nem jähr­li­chen Zu­wachs um et­wa 20.000 Per­so­nen aus, der seit 2012 im­mer über­schrit­ten wur­de.

Das rot-grü­ne Re­gie­rungs­über­ein­kom­men für Wien sieht den Bau von 10.000 Woh­nun­gen pro Jahr vor. Für das ver­gan­ge­ne Jahr (mit hof­fent­lich au­ßer­ge­wöhn­lich ho­hem Zu­wachs) wä­ren dop­pelt so vie­le be­nö­tigt wor­den. In­so­fern ist es not­wen­dig und un­ter­stüt­zens­wert, dass Lud­wig ei­ne Stei­ge­rung der jähr­li­chen Neu­bau­leis­tung, mehr Ge­mein­de­woh­nun­gen und ein Pro­gramm für Woh­nun­gen in Holz­bau­wei­se vor­schlägt.

So­fort­pro­gramm mit Holz­bau

Aber der Teu­fel steckt im De­tail, des­halb ist es sinn­voll, ei­ni­ge Aspek­te noch ein­mal auf ih­re Sinn­haf­tig­keit zu prü­fen. Stich­wort So­fort­pro­gramm in Holz­bau­wei­se: Lud­wig stellt fest, dass es „kei­ne ge­son­der­te Wohn­form spe­ziell für Asyl­be­rech­tig­te“ ge­ben soll, und dem kann nur zu­ge­stimmt wer­den. Leist­ba­res Woh­nen ist ei­ne zen­tra­le Auf­ga­be der Stadt, al­ler­dings soll­te die­ses leist­ba­re Woh­nen mit an­de­ren Wohn­for­men ge­mischt wer­den, um Seg­re­ga­ti­on zu ver­mei­den. Es wä­re des­halb sinn­voll, der­ar­ti­ge Bau­ten als „Sied­lungs­ker­ne“ für grö­ße­re Wohn­bau­ge­bie­te zu ver­wen­den. Wenn die Schnell­bau­ten ei­nes Ta­ges nicht mehr be­nö­tigt wer­den, bö­te sich an ih­rer Stel­le der in vie­len Sied­lun­gen be­nö­tig­te, fle­xi­ble Raum, um er­gän­zen­de Nut­zun­gen un­ter­zu­brin­gen.

Es gibt al­ler­dings auch Punk­te, die kri­tik­wür­dig sind. Ein Spe­zi­fi­kum des Wie­ner Wohn­baus ist die Qua­li­täts­orien­tie­rung. Je­des ge­för­der­te Wohn­haus muss ent­we­der vom Grund­stü­cksbei­rat qua­li­ta­tiv be­gut­ach­tet wer­den oder sich ei­nem „Bau­trä­ger­wett­be­werb“ stel­len. Der her­aus­ra­gen­de in­ter­na­tio­na­le Ruf des Wie­ner Wohn­baus grün­det zu ei­nem gro­ßen Teil ge­nau da­rauf.

Qua­li­täts­si­che­rung ge­fähr­det

Die Of­fen­si­ve er­laubt es nun erst­mals, dass Bau­trä­ger För­de­rung er­hal­ten kön­nen, oh­ne sich die­ser Qua­li­täts­si­che­rung zu stel­len. Vor­erst nur, wenn ei­ne po­si­ti­ve Be­wer­tung durch die bun­des­ei­ge­ne Wohn­bau-In­ves­ti­ti­ons­bank (WBIB) vor­liegt. Die WBIB wird aber ga­ran­tiert nicht so stren­ge Qua­li­täts­kri­te­rien wie in Wien an­wen­den; und da­mit ist ei­ne Tür ge­öff­net, die zum ra­schen Ver­fall der Wie­ner Wohn­bau­qua­li­tät füh­ren kann. Viel Zeit wird da­durch nicht ge­won­nen, der Grund­stü­cksbei­rat war in den letz­ten Jah­ren kaum aus­ge­la­stet.

Eben­so ab­lehn­ens­wert: Die „Kos­ten der Frei­raum­ge­stal­tung“ sol­len zu­künf­tig ge­de­ckelt wer­den. Der Frei­raum im Wie­ner Wohn­bau hat bis vor kur­zem ein trau­ri­ges Da­sein ge­führt, das erst in den letz­ten Jah­ren durch brei­te An­stren­gun­gen zu ei­nem lang­sam er­blü­hen­den, zar­ten Pflänz­chen ge­wor­den ist. Ge­ra­de heu­te, in Zei­ten mas­si­ven Be­völ­ke­rungs­wachs­tums, ist die Qua­li­tät der städ­ti­schen Frei­räu­me für al­le Wie­ne­rin­nen und Wie­ner von höch­ster Be­deu­tung. Da­zu kommt, dass der An­teil der Frei­raum­ge­stal­tung an den Ge­samt­kos­ten des Wohn­baus ge­ra­de­zu un­sicht­bar ge­ring ist.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Punkt: Die In­fras­truk­tur­kom­mis­si­on soll zum „Len­kungs- und Steue­rungs­gre­mi­um“ wer­den – das sagt an sich noch nicht viel, der ge­lern­te Wie­ner merkt bei sol­chen For­mu­lie­run­gen aber auf: Wird da­durch et­was bes­ser? Die­se Kom­mis­si­on er­laubt grö­ße­re Wohn­bau­vor­ha­ben nur dann, wenn die da­für nö­ti­ge so­zia­le und tech­ni­sche In­fras­truk­tur ge­si­chert ist. Das kann man na­tür­lich ent­kop­peln, um den Wohn­bau zu be­schleu­ni­gen – aber das be­deu­tet, dass dann die ge­nau­so not­wen­di­ge Ver­kehrs- und Schul­in­fras­truk­tur fehlt.

Zur die Stell­platz­ver­pflich­tung: Bis vor kur­zem muss­te man in Wien für je­de neue Woh­nung ei­nen Park­platz bau­en, der­zeit 0,7 Park­plät­ze pro Woh­nung, Lud­wig will das wei­ter re­du­zie­ren. Das ist po­si­tiv – al­ler­dings nur, wenn das durch ei­ne ent­spre­chen­de Mo­bi­li­täts­po­li­tik für die Neu­bau­ge­bie­te, für de­ren Um­feld und die Stadt ins­ge­samt flan­kiert wird. Wenn statt­des­sen Pkws ein­fach im öf­fent­li­chen Raum ge­parkt wer­den, ist das kon­tra­pro­duk­tiv.

Of­fen­si­ve zur Bau­aus­stel­lung

Wien star­tet die­ser Ta­ge mit ei­ner In­ter­na­tio­na­len Bau­aus­stel­lung (IBA) zum The­ma Wohn­bau. Das ist ein klu­ges Kon­zept, al­ler­dings hat­te man bis­her den Ein­druck, dass die Wie­ner IBA vor al­lem der Prä­sen­ta­ti­on des be­reits Er­reich­ten dient, statt Neu­es zu ent­wi­ckeln. Die not­wen­di­gen Än­de­run­gen im Wie­ner Wohn­bau könn­ten An­lass sein, die­ses Neu­ent­wi­ckeln in die IBA zu in­te­grie­ren und da­durch den ak­tu­el­len Be­darf zu be­die­nen. Es darf kei­nes­falls da­zu kom­men, dass der Wie­ner Wohn­bau sei­ne Er­run­gen­schaf­ten ver­liert. Ge­ra­de jetzt, wo zeit­li­cher und fi­nanz­iel­ler Druck be­steht, muss um­so mehr auf hoch­wer­ti­ge Pla­nung und Qua­li­täts­si­che­rung ge­setzt wer­den, statt zu be­haup­ten, dass ge­spar­te Pla­nungs­kos­ten ir­gend­et­was bil­li­ger ma­chen. Bil­lig und schnell al­lein wird spä­ter teu­er.

Der Standard, Mo., 2016.02.29

26. August 2013Robert Temel
dérive

Das Wissen der Architektur explizit machen

Auf welches Wissen baut Architektur eigentlich auf – ob nun in ihrer Praxis oder in Forschung und Lehre? Lange Zeit herrschten zwei explizite Wissensstränge...

Auf welches Wissen baut Architektur eigentlich auf – ob nun in ihrer Praxis oder in Forschung und Lehre? Lange Zeit herrschten zwei explizite Wissensstränge...

Auf welches Wissen baut Architektur eigentlich auf – ob nun in ihrer Praxis oder in Forschung und Lehre? Lange Zeit herrschten zwei explizite Wissensstränge vor: einerseits ein geisteswissenschaftliches Wissen in einem Spektrum vom spekulativ-philosophischen bis zum kunsthistorischen und andererseits ein technologisches Wissen. Vieles andere gehörte dazu, blieb jedoch weitgehend implizit und (somit) nur durch Meisterklassen, Studios, Projektarbeiten vermittelbar. Das wird vermutlich immer so bleiben, weil große Teile dieses Wissens gar nicht explizierbar sind. Trotzdem gibt es mit dem zweiten Band der Anthologie von Grundlagentexten zum Architekturwissen, den Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer nun vorgelegt haben, einen wichtigen Versuch, die Wissensbasis der Architektur besser nachvollziehbar zu machen und sie auf eine andere Basis zu stellen: nämlich auf kulturwissenschaftliche (und, ist man angesichts der Vielzahl von SozialwissenschaftlerInnen in der Sammlung versucht zu sagen, auf soziologische) Fundamente. Dieser Schwenk bringt viele in der Architekturtheorie bekannte Texte mit sich, jedoch durchaus auch jedenfalls für diesen Kontext neue. Er versucht gewissermaßen, mithilfe eines bekannten »Kanons« von Texten die impliziten Grundlagen der Architektur sichtbar zu machen, indem diese neue verknüpft und positioniert werden und so das Bekannte neue, überraschende Effekte zeitigt. Und vor allem: Dieser Schwenk verschiebt die Perspektive. Es geht nun nicht mehr um materielle Objekte, sondern um Praktiken, die diese Objekte ebenso wie menschliche AkteurInnen umfassen; es geht nicht mehr vorrangig um den materiellen Raum, betrachtet entweder als Spiegel der Gesellschaft oder, beliebter bei ArchitektInnen, als Innovator, Veränderer der Gesellschaft, sondern um die Wechselwirkungen zwischen dem sozialen und dem materiellen Raum, oder anders formuliert: um den materiellen Raum als Teil des sozialen Raums.

Kurz gesagt: Es geht darum, was der gebaute Raum mit den Menschen und ihren Körpern, den Dingen, den Zeichen tut – und was diese mit dem gebauten Raum tun.

Auf dem Umschlag der beiden Bände wird dezidiert klargestellt, dass sich das Architekturwissen um den sozialen Raum und seine Ästhetik und Logistik dreht – und mit sozialem Raum ist definitiv nicht Architektur (allein) gemeint. Architektur im breiten Sinne, wie der Begriff hier gebraucht wird, ist somit das, was die räumliche Verteilung von Materiellem und Immateriellem reali­siert (Logistik, Band 2), sowie das, was die Wahrnehmbarkeit, das Erscheinen und Verbergen des Materiellen und Immateriellen im Raum erzeugt (Ästhetik, Band 1). Das bedeutet, dass Architektur sich nicht nur mit Gebäuden, sondern ebenso sehr mit sozialen Praktiken befassen muss – und das ja auch bereits jetzt tut, wenn auch häufig implizit.

Das Explizitmachen dieses Wissens ermöglicht es, die übliche Praxis seiner Anwendung besser kritisieren und verändern zu können. Die HerausgeberInnen nehmen in der Einleitung zum ersten Band Bezug auf Henri Lefebvres Theorie der Raumproduktion: Sozialer Raum (bei Lefebvre immer in der Vielzahl zu denken) sei demnach durch materielle wie symbolische Praktiken hervorgebracht, insgesamt also Produkt, das heißt Resultat sozialer Praxis – und gleichzeitig Rahmenbedingung sozialer Praxis. Architektur ist nun in dieser Konstellation sowohl materielle als auch symbolische Produzentin, wobei Lefebvre die ArchitektInnen mit ihren Symbolen im Bereich des Herrschaftswissens ansiedelt und die »Räume der Repräsentation«, die vorrangig aus den verorteten Bedeutungen des Alltagsgebrauchs der Menschen bestehen, als Potenzial sieht, diesem Herrschaftswissen zu entkommen. Im Unterschied dazu versteht Pierre Bourdieu den physischen Raum als materialisierte Projektion des sozialen Raums, der somit die sozialen Strukturen sichtbar macht und legitimiert. Michel Foucaults »Dispositiv« bietet eine komplexere Sicht auf dieses Verhältnis, näher an Lefebvre: Sein Dispositiv besteht aus Diskursen, Aussagen und Gesetzen ebenso wie aus Architekturen und Institutionen. Diese Elemente können einander ebenso stützen wie behindern, produzieren aber jedenfalls Effekte nur im Zusammenspiel. Noch autonomer werden die Dinge bei Bruno Latour, der ihnen grundsätzlich die gleiche Handlungsmacht wie den Menschen einräumt, sie somit als »nicht-menschliche Akteure« im Akteurs-Netzwerk versteht. Die HerausgeberInnen sehen die Unterscheidung zwischen Gebautem und Ungebautem, zwischen dauerhaft und flüchtig Materialisiertem als wenig bedeutsam an und verweisen dabei auf Judith Butler, die Materialisierung als Prozess versteht. Ebenso wie Butlers Körper und deren Geschlechtsidentitäten sich durch die dauernde Wiederholung spezifischer Praktiken materialisieren, könne man gebaute Räume so verstehen, dass sie erst durch bestimmte soziale Prozesse und Vernetzungen, durch eine spezifische Organisation des Alltagslebens ihre Materialisierung erfahren. Oder, wie das Karl Marx formulierte: »ein Haus, das nicht bewohnt wird, ist in fact kein wirkliches Haus; also als Produkt im Unterschied von bloßem Naturgegenstand, bewährt sich, wird das Produkt erst in der Konsumtion.«

Im ersten Band, der Ästhetik, ging es ums Versammeln, jetzt ums Verknüpfen. Der nunmehr vorliegende zweite Band widmet sich der Logistik des sozialen Raumes, also der Eingebundenheit der Architektur in technische Netze sowie soziale und ökonomische Austauschprozesse und den Distributionseffekten der Architektur selbst. Der ureigenste Bereich der Architektur ist dabei die Mikrologistik der alltäglichen sozialen Praktiken, während die großmaßstäbliche Logistik auf ihrer Eingebundenheit ebenso wie auf der der Architektur basiert. Die 38 Texte des zweiten Bandes befassen sich mit allen Aspekten dieses räumlichen Vernetzens: mit Orten und Identitäten, mit Schwellen und Grenzen, mit Anordnungen und Verteilungen, mit Wegen und Kanälen, mit Märkten, Eigentum und Verwertung sowie mit Handeln und Entwerfen. Im letzten Abschnitt, Handeln und Entwerfen, wird auch gleich eine kleine Theorie des architektonischen Entwerfens entworfen: Hannah Arendts Unterscheidung zwischen dem interaktiven, kommunikativen »Handeln« und dem rein zweckorientierten, nicht interaktiven »Herstellen« fordert die Selbstsicht der Disziplin heraus. Lefebvres Praxistheorie sieht gerade in der Alltagspraxis die Möglichkeit für Freiheit – sicherlich nicht jedoch in den oktroyierten »Repräsentationen des Raumes«, die die Menschen von oben durch Architektur verbessern sollen. Claude Lévi-Strauss’ Ingenieur entwirft auf den Trümmern der alten eine neue Welt, sein Bastler arbeitet das Vorhandene um – und damit wird eine Grundidee der Architektur spätestens seit der Moderne sichtbar. Giancarlo De Carlo begründet eine Architektur der Partizipation mit der traditionellen Nähe der Architektur zur Macht. Luc Boltanski und Ève Chiapello beschreiben das postfordistische Arbeitsmodell der Projektarbeit, durch das die »Künstlerkritik« an der entfremdeten Arbeitswelt in das kapitalistische System integriert wurde. Und Bruno Latour versteht das Handeln von menschlichen AkteurInnen nur als einen besonderen Fall unter vielen, neben dem Handeln von Texten, Dingen, Techniken, die alle eng vernetzt sind mit anderen Orten und anderen Zeiten: Er fordert ein politisches Forum nicht für die Architektur und auch nicht für die zukünftigen BewohnerInnen dieser Architektur, sondern für die Dinge – und mit dieser radikal anti-idealistischen Konzeption sind wir wieder dort, wo die moderne Architektur begonnen hat, nämlich bei der erstrebten Macht des Materiellen über das Soziale.

dérive, Mo., 2013.08.26



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16. August 2008Robert Temel
Der Standard

Grüne Daumen

Community Gardens sind Werkzeuge der Stadtreparatur von unten und der Integration - und damit zwar bei den Bewohnern gern gesehen, nicht aber bei vielen Stadtverwaltungen.

Community Gardens sind Werkzeuge der Stadtreparatur von unten und der Integration - und damit zwar bei den Bewohnern gern gesehen, nicht aber bei vielen Stadtverwaltungen.

Loisaida (der puertoricanische Name für Lower East Side) in Manhattan, Anfang der 1970er-Jahre. Wo früher mit „Kleindeutschland“ die erste nichtenglischsprachige ethnische Enklave der USA bestand und sich Ende des 19. Jahrhunderts die jüdisch-osteuropäische Lower East Side entwickelte, leben mittlerweile vor allem Immigranten aus Lateinamerika. Die Steuerkrise führt in New York zum Stadtverfall, der sich hier besonders deutlich bemerkbar macht. Die verlassenen Grundstücke in der Alphabet City, wie das Gebiet wegen der Avenues A, B, C und D auch genannt wird, fallen ins Eigentum der Stadt und werden Anziehungspunkte für Drogen, Prostitution und Verbrechen. Das Viertel liefert den Hintergrund für Martin Scorseses Film „Taxi Driver“. Oder, dieselbe Geschichte aus anderer Perspektive erzählt: Die Politik der „spatial deconcentration“ (Reduktion der Bewohnerdichte in innerstädtischen Armenvierteln) nach den „Rassenunruhen“ der 1960er-Jahre lässt in überbevölkerten Nachbarschaften verlassene Polizeistationen, aufgegebene Banken und zum Versicherungsbetrug abgebrannte Gebäude zurück. Zwischen den bewohnten Häusern gibt es mehr und mehr ungenützte Grundstücke, die zu Müllhalden werden.

Green Guerillas

1973 gründen die Künstlerin Liz Christy und einige ihrer Nachbarn die Gruppe „Green Guerillas“ und starten den ersten „Community Garden“ an der Ecke Bowery und Houston Street, indem sie ein leerstehendes städtisches Grundstück besetzen, reinigen und zu bepflanzen beginnen. Der Garten besteht trotz aller Kämpfe bis heute. Die Initiative fand mittlerweile Nachahmer in ganz Manhattan, in den anderen vier Stadtteilen von New York und in vielen Städten in den USA und in Europa. Die Gärten entstehen meist in Migrantenvierteln, wo der offizielle Gestaltungsdruck durch die Kommunen nicht sehr groß ist. Ziel der Initiatoren ist es einerseits, Treffpunkte in der Nachbarschaft zu bieten, wo man sich erholen und Gemüse anbauen kann - und andererseits geht es darum, die Viertel für ihre Bewohner aufzuwerten, Müllabladeplätze in grüne Oasen zu verwandeln. Die insgesamt mehr als sechzig Gärten der Lower East Side werden von Nachbarschaftsgruppen geführt. Wenn einer der Betreiber anwesend ist, ist der Garten zugänglich, zumeist abends und am Wochenende. Weil es sich hier jedenfalls in der Vergangenheit um ein sehr armes Viertel handelte, wurde viel mit Recycling gearbeitet. Pergolen, Lauben und Zäune entstanden aus vorgefundenem Material, Möbelteile und Plastikspielzeug wurden in die Gestaltungen integriert. Mit dem Zuzug besser verdienender Bewohner ändert sich das nun, die Gärten werden konventioneller und teurer.

Kampf ums Grün

Ende der 1970er-Jahre versucht die Stadt New York, die Bewegung in geordnete Bahnen zu lenken und gründet die „Operation Green Thumb“ zur Vermittlung. Die Gartengruppen erhalten Pachtverträge für jeweils ein Jahr um einen Dollar, müssen aber anerkennen, dass die Grundstücke im städtischen Besitz stehen und anders genutzt werden könnten. Das sollte sich rächen: Mitte der 1990er-Jahre kommt der Immobilienboom. Es wird wieder interessant, in heruntergekommenen, innenstadtnahen Vierteln wie Loisaida zu bauen. Der neue Bürgermeister Rudolph Giuliani steht aufseiten der Immobilienindustrie. Jahrzehntealte Community Gardens werden an Private verkauft und vernichtet, obwohl es viele tausend ungenützte Grundstücke im Eigentum der Stadt gibt - nur um die Gartenbewegung zu treffen. Wie Giuliani sagt: „Nur wenn man in einer unrealistischen Welt lebt, kann man sagen, überall sollen Community Gardens sein.“ In Loisaida werden es jedenfalls weniger. Das Viertel wird „gentrifiziert“, das heißt die Mieten steigen, die arme Bevölkerung zieht aus und wird durch reichere Schichten ersetzt, die vom Pittoresken der Alphabet City angezogen werden, das nun nach und nach verschwindet. Die neue Bevölkerung bildet den Anreiz, neue Wohnhäuser zu bauen. Doch Widerstand gegen die Gartenzerstörung formiert sich, unter anderem mithilfe der Schauspielerin Bette Midler, deren „New York Restoration Project“ hundert Grundstücke von der Stadt kauft, um sie als Community Gardens erhalten zu können. Unter Giulianis Nachfolger Michael Bloomberg kann schließlich 2002 eine von beiden Seiten akzeptierte Lösung gefunden werden: Mehr als 500 der New Yorker Gärten werden geschützt, während etwa 150 von ihnen sozialem Wohnbau Platz machen müssen.

Hartz-IV-Mallorca

Bereits lange zuvor beginnen ähnliche Initiativen, auch in Europa aktiv zu werden. Am Alten Kontinent gibt es bisher weder das Ausmaß von Stadtverfall wie in den USA noch die große Zahl verlassener Grundstücke. Doch auch hier entwickeln sich Garteninitiativen in Migrantenvierteln. Eines der ältesten Projekte ist „Park Fiction“ im Hamburger Viertel St. Pauli: Eine Gruppe von Bewohnern, darunter etliche Künstler, will 1995 die Bebauung eines Grünbereichs am Elbufer verhindern, stattdessen soll dort ein Park entstehen. Die Gruppe startet einen „parallelen Planungsprozess“ zusätzlich zum offiziellen Bebauungsplan, der Wohn- und Bürobauten vorsieht. Geschickt werden der Kunstbetrieb ebenso wie die Stadtpolitik genützt, um das Projekt eines öffentlichen Parks voranzutreiben, sogar eine Präsentation bei der Documenta in Kassel findet statt. 2005, nach zehn Jahren Kampf, ist es schließlich so weit: Park Fiction ist nicht mehr Fiktion, sondern als Antonipark Realität.

Auch in Europa gibt es Garteninitiativen, die von Bewohnern selbst umgesetzt werden, etwa in London, Paris und Berlin. Ein Modell, das in vielen Städten Nachahmer findet, sind die „interkulturellen Gärten“, gestartet in Göttingen Mitte der 1990er-Jahre, zur Zeit des Bosnienkriegs. Die Gärten bestehen eher aus Gemüsebeeten als aus Erholungsflächen, und sie befinden sich nicht unbedingt in innerstädtischen Lagen. Sie sollen Kriegsflüchtlingen ein gewisses Maß an Selbstversorgung erlauben, ihnen die Möglichkeit bieten, aktiv zu werden, und als Begegnungsstätte zwischen Einheimischen und Migranten dienen. Das Konzept breitet sich über ganz Deutschland und Österreich aus, heute gibt es viele Dutzend solcher Gärten. Mittlerweile sind auch Gruppen in Graz und in Wien tätig. In Wien besteht der sogenannte Yppengarten in Ottakring - kein besetzter Privatgrund, sondern in einem städtischen Park angelegt. Und mit den Gärten werden auch die Kämpfe nach Europa exportiert: In Friedrichshain, einem der dichtesten Berliner Bezirke, wandelten Bewohner vor vier Jahren einige langjährig ungenützte, vermüllte Grundstücke in den Nachbarschaftsgarten „Rosa Rose“ um, der im vergangenen März geräumt wurde, weil dort jetzt gebaut werden soll. Die Gärten helfen, Stadtviertel aufzuwerten, in denen dadurch der Bebauungsdruck steigt und die begrünten, halblegal der Öffentlichkeit zugänglichen Grundstücke somit wieder dem privaten Immobilienmarkt zugeführt werden.

Der Standard, Sa., 2008.08.16

29. März 2008Robert Temel
Der Standard

Flucht und Initiative

Am Rande der gründerzeitlichen Rasterstadt, auf dem Dach eines ehemaligen Bürohauses, erhebt sich eine weit in den Raum ausgreifende Konstruktion in die Lüfte. So könnte es jedenfalls bald sein.

Am Rande der gründerzeitlichen Rasterstadt, auf dem Dach eines ehemaligen Bürohauses, erhebt sich eine weit in den Raum ausgreifende Konstruktion in die Lüfte. So könnte es jedenfalls bald sein.

Es handelt sich hier nicht um ein weiteres bizarres Privatpenthouse, autonom vom Rest der Stadt, sondern um öffentlichen Raum über der Dachtraufe: Architekturstudierende der Universität für angewandte Kunst planten für das Wiener Integrationshaus, dessen Bewohner als Asylwerber einen eingeschränkten Handlungsradius haben, eine Dachgarten-Terrassenlandschaft, die bei kulturellen Veranstaltungen auch öffentlich genützt wird. Noch heuer soll Baubeginn sein.

Die Renaissance der Stadt, also die gegenläufige Bewegung zur nach wie vor stärkeren Stadtflucht, ist mittlerweile schon einige Jahrzehnte alt. Sie führte dazu, dass innerstädtische, vor allem gründerzeitliche Wohnlagen für Besserverdienende wieder attraktiver wurden, obwohl zuvor eine Entleerung der Stadtzentren analog zu den US-amerikanischen Städten drohte. Zwar zieht der „Speckgürtel“ rund um Städte wie Wien nach wie vor mehr Bewohner an als die Kernstadt selbst. Aber die Gründerzeitviertel sind heute zumindest kein Symbol der Rückständigkeit mehr wie in den 1950er-Jahren, als man die Putzornamente der Zinshäuser abschlug, um sie „moderner“ zu machen. Parallel dazu verläuft die Entwicklung zur Wissensgesellschaft, für die etwa der Begriff der Creative Industries steht, von den Großstädten heiß begehrt und dementsprechend gefördert. Trotz digitaler Vernetzung zählt für diese Branche räumliche Nähe, enger Kontakt mit Auftraggebern, Kooperationspartnern und Konkurrenten. Da vorrangig in der dichten, gründerzeitlichen Großstadt jene Milieus existieren, aus denen sich die nötigen Kompetenzen und Ressourcen zusammensetzen lassen, handelt es sich hierbei um eine neue urbane Ökonomie, wie der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann schreibt.

Die gründerzeitliche Stadt hat eine Reihe von außergewöhnlichen Qualitäten: Sie ist eine Stadt der kurzen Wege, besitzt meist große Nutzungsvielfalt und steht für Urbanität. Demgegenüber existieren auch gravierende Nachteile, die am Beginn der Moderne zur strikten Ablehnung der Stadt des 19. Jahrhunderts führten: Die oft sehr schlechte Wohnqualität wurde durch Sanierung vielfach bereits massiv verbessert, auch wenn es nach wie vor 6 Prozent Substandardwohnungen in Wien gibt. Da der gründerzeitliche Wohnungsbestand etwa ein Drittel des gesamten ausmacht und Substandard zu einem großen Teil dort existiert, müssen aber noch immer ziemlich viele Gründerzeitwohnungen dieser Kategorie zugerechnet werden.

Die steinerne Stadt

Andere Nachteile konnten bisher kaum wettgemacht werden: Die Viertel sind extrem dicht bebaut, sodass viele Wohnungen schlecht belichtet sind. Es gibt viel zu wenig Grünräume und andere für Fußgänger attraktive Flächen, manche Viertel ersticken im motorisierten Verkehr. Und die Erdgeschoße, einst Orte zahlreicher Gasthäuser und Geschäfte, verkommen zusehends zu Garageneinfahrten und Lagern. Die Lösung ist nicht die „aufgelockerte Stadt“ der Moderne, schließlich bedeutet eine dichte Siedlungsform, wie sie die Gründerzeit bietet, größere Nachhaltigkeit. Wenn es allerdings so dicht wird, dass man die Stadt verlassen muss, um einmal durchatmen zu können, ist der Nachhaltigkeitsvorteil dahin. Eine aktuelle Ausstellung im Ragnarhof in Wien-Ottakring will zeigen, wie Architektur im gründerzeitlichen Kontext, ob nun Neubau oder Umbau, nicht nur herausragende Einzelwerke produziert, sondern dazu beitragen kann, die umliegenden Stadtviertel insgesamt aufzuwerten.

Gründe fürs Gehen und Bleiben

Nach 1945 richtete man sich nach dem Ziel der „aufgelockerten“ Stadt, also dem völligen Gegenteil zur Gründerzeit. Doch in den 1970er-Jahren, durchaus auch in Wien wie beispielsweise am Spittelberg von Bewohnerprotesten getrieben, wenn auch nicht so heftig wie anderswo, begann das Modell der „sanften Stadterneuerung“ zu wirken. Wichtig war nun auch die Qualitätsverbesserung im historischen Bestand - sicherlich begünstigt durch die Tatsache, dass Wien damals schrumpfte. Das ist heute nicht mehr der Fall, doch eine Aufwertung der dicht bebauten Kernstadt ist nach wie vor wichtiges Ziel. Trotz aller Vorteile bietet die Gründerzeit zu wenig für die Protagonisten der Stadtflucht, das sind zu einem guten Teil junge Besserverdienende mit kleinen Kindern: Während die Zahl der unter 30-Jährigen und vor allem der über 60-Jährigen in der Stadt weiter zunimmt, gehen die dazwischenliegenden Altersstufen massiv zurück. Für diese Gruppe sind die Mängel im öffentlichen Raum und im privaten Freiraum ein Hauptgrund fürs Weggehen: zu wenig Grünraum, zu wenig für Fußgänger attraktive Flächen, die gefahrlos benützt werden können, zu viel Verkehr. Natürlich bedeutet die Übersiedlung in den „Speckgürtel“ noch mehr Verkehr, aber nicht für dort, sondern für hier. Abhilfe schaffen können Projekte wie die Sargfabrik in Wien-Penzing, indem sie nutzbaren Freiraum, soziale und kulturelle Infrastruktur und Identifikationskerne anbieten. Doch derartige Projekte gibt es leider viel zu selten. Hinter der Ausstellung steht die Frage, warum dem so ist, warum es so wenige Bewohnerinitiativen gibt, die die Gestaltung ihrer Stadt selbst in die Hand nehmen - analog zu den aktuell boomenden Baugruppen in Deutschland.

Implantate in der Gründerzeit

Eine Antwort auf das Problem der zu dichten Hofbebauungen suchte beispielsweise ein Projekt des Bauträgers Heimbau in Rudolfsheim-Fünfhaus: Die Architekten Sigs trugen vom hohen Hoftrakt alles bis auf zwei Geschoße ab, um dann eine terrassierte Aufstockung zu errichten, die wesentlich weniger Raum einnahm als zuvor. Dadurch verbesserte sich die Belichtung im Umfeld, und es wurden neue Wohnungen mit brauchbaren Freiräumen geschaffen.

Etliche Wohnbauprojekte von Querkraft Architekten thematisieren genau deren Fehlen. In Wiener Gründerzeitvierteln besteht nicht nur ein eklatanter Mangel an Terrassen und Balkons, den man nur nach und nach beheben müsste, wie das etwa in Berlin durchaus üblich ist: Ganz im Gegenteil sind Balkons zur Straße hin in Wien dezidiert verboten. In einem Querkraft-Bau in der Wiener Leebgasse war die Antwort ein „begehbares Gesims“.

Eigeninitiative kennzeichnet ein Grünraumprojekt im Rupert-Mayer-Haus der Caritas in Ottakring. Ein Heimbewohner engagierte sich zusammen mit einem Sozialarbeiter für die Umwandlung der planierten Hoffläche in eine Grünoase für alle Mieter der Nachbarschaft.

Nicht die geringfügige Anpassung, sondern die völlige Umgestaltung der Gründerzeitstadt ist das Ziel der Wohnanlage von Architekt Rüdiger Lainer in Wien-Favoriten. Als Projekt des grünen Gemeinderats Christoph Chorherr und des damaligen Wohnbaustadtrats Werner Faymann wurde 2004 ein Terrassenhaus-Wettbewerb ausgeschrieben: Ein Modellprojekt sollte zeigen, dass auch in der Kernstadt Wohnungen mit Einfamilienhaus-Qualitäten möglich sind. Lainer gewann, der Neubau nimmt nun den alten Blockumriss in den unteren Geschoßen auf, um sich darüber völlig vom gründerzeitlichen Raster zu lösen und die Baukörper nach Sonneneinstrahlung und Sichtachsen zu organisieren.

Ein Schlüsselbegriff bei der Weiterentwicklung der Gründerzeitstadt scheint der Anreiz für Initiative zu sein: erstens der Anreiz für Bauträger, mit Projekten über die reine Renditeerwartung hinauszugehen, wofür intelligente Fördersysteme nötig sind. Hier gibt es durchaus gute Ansätze etwa bei der Wohnbauförderung, die weiterentwickelt werden müssten. Und zweitens der Anreiz für zukünftige Bewohner und Anrainer für Eigeninitiative, also dafür, selbst an der Veränderung der Stadt mitzuwirken.

[ Ausstellung Reinsetzen. Bauliche Implantate in der Gründerzeit (Gründerzeithäuser, Baulücken, Architektur), veranstaltet von Gebietsbetreuung Stadterneuerung 16 und Magistratsabteilung 19, bis 7. April 2008 im Ragnarhof, Wien 16, Grundsteingasse 12. Montag bis Freitag 16 bis 20 Uhr, Samstag 10 bis 14 Uhr. ]

Der Standard, Sa., 2008.03.29

26. Januar 2008Robert Temel
Der Standard

Städte in der Stadt

m vergangenen Herbst lud der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds, verantwortlich für den neuen Stadtteil am Flugfeld Aspern, Vertreter wichtiger europäischer Stadtentwicklungs- projekte zum Erfahrungsaustausch nach Wien.

m vergangenen Herbst lud der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds, verantwortlich für den neuen Stadtteil am Flugfeld Aspern, Vertreter wichtiger europäischer Stadtentwicklungs- projekte zum Erfahrungsaustausch nach Wien.

Heuer wird mit dem Bau der Stadt am Flugfeld begonnen: Erst entstehen Straßenanbindungen, Gewerbeflächen, Forschungseinrichtungen und Grünräume, Wohnbauten folgen ab 2010. Das Asperner Projekt ist in seiner Dimension für Wien einmalig. Doch im europäischen Kontext gibt es durchaus Vergleichbares.

Die vier geladenen Projektgruppen kamen aus Deutschland, den Niederlanden und Schweden: Das Tübinger Südstadtprojekt begann in ehemaligen Kasernenarealen nach dem Abzug der französischen Truppen aus der schwäbischen Universitätsstadt. Hamburg HafenCity ist das größte und dichteste der teilnehmenden Projekte, es handelt sich dabei um eine Erweiterung der Hamburger Innenstadt auf ehemaliges Hafengelände mit Universität, Museen und Elbphilharmonie. Ganz ähnlich ist die Situation in Rotterdam mit Kop van Zuid, allerdings befindet sich dieses Hafengebiet nicht in direkter Nachbarschaft zum Zentrum, sondern liegt auf der anderen Seite des Flusses Maas. Und Hammarby Sjöstad umschließt im Süden Stockholms den Hammarby-See. Gemeinsam ist ihnen allen mit Aspern die Ausrichtung als „Stadt in der Stadt“ mit allen Nutzungen, die dazugehören. Das kleinste Projekt ist Tübingen mit 400.000 m² Gesamtfläche und 3000 Wohnungen, das größte Hamburg mit zwei Millionen m2 Fläche und 5500 Wohnungen. Aspern liegt dabei am oberen Ende der Skala mit genauso viel Fläche wie Hamburg und 8500 Wohnungen.

In Zeiten des Stadtmarketing braucht jedes Projekt dieser Größenordnung ein Image, eine Leitidee, um politisch und ökonomisch bestehen zu können. Das älteste Vorhaben unter den vier ist Rotterdam/Kop van Zuid. Nachdem heutige Containerschiffe immer tiefere Hafenbecken benötigen, wandert der Rotterdamer Hafen, der größte außerhalb Asiens, immer weiter ins offene Meer hinaus, sodass riesige Areale in Zentrumsnähe frei wurden. In Kop van Zuid wird seit Mitte der 1990er-Jahre gebaut, bis 2010 soll die Entwicklung abgeschlossen sein. Am Beginn stand die Errichtung der Erasmus-Brücke zwischen Altstadt und Stadterweiterung, die gleichzeitig infrastruktureller Anschluss und Projektsymbol war. Die Bebauung in Kop van Zuid besteht nicht aus Blocks, sondern aus Großstrukturen und ist somit die „modernste“ der vier.

Die Stadt Rotterdam setzt hier massiv auf architektonische und insbesondere Freiraumqualität: Zentrale Instanz des Projektes ist als Quality Supervisor die angesehene Städtebauerin Riek Bakker, die jedem Projekt zustimmen muss. Die städtische Entwicklungsgesellschaft verkauft die Grundstücke erst nach Abschluss der Planung jedes einzelnen Gebäudes und würde einen Planungsprozess eher abbrechen, als niedrigere Qualitätsstandards zu akzeptieren.

Leitidee der Tübinger Südstadt ist das Konzept Baugemeinschaft: Die Stadt ist Grundeigentümer - wie übrigens bei den anderen beschriebenen Projekten auch - und bevorzugt private Baugruppen gegenüber kommerziellen Bauträgern. Cord Söhlke, Leiter des Stadtsanierungsamts, meint: „Die Idee der Baugemeinschaft ist, dass die Privatleute, die das Gebäude später benützen, stark in den Planungsprozess involviert sind und selbst die Verantwortung dafür übernehmen.“ Die Baugruppen schaffen es in Tübingen, um bis zu 25 Prozent günstigere Wohnungen zu errichten als Kommerzielle, und sie erlauben es der Stadt, komplexere städtebauliche Vorgaben umzusetzen - durch viele kleine statt wenigen großen Bauträgern behält sie Entscheidungsfreiheit. Hier werden historischer Bestand und neue kleinteilige Blocks gemischt, um ein buntes Ganzes zu erreichen. Mittlerweile wurden die Tübinger von der englischen Commission for Architecture and the Built Environment (CABE) nach London eingeladen, um dort über kleinteilige Parzellierung und Baugruppen zu referieren. Das Stadtviertel lebt von Vielfalt und Kleinteiligkeit, von der Nutzungsmischung und der hohen Identifikation der Eigentümer mit ihrem Umfeld.

Doppelt so gut

Der neue Stockholmer Stadtteil Hammarby Sjöstad definiert sich als Stadt der Nachhaltigkeit. Es wird höchstes Augenmerk auf umweltgerechte Energieerzeugung und niedrigen Verbrauch, auf ressourcenschonendes Wasser- und Abfallmanagement gelegt. Hammarby Sjöstad möchte bei all dem „doppelt so gut wie die Norm“ sein. Das Nachhaltigkeitsprogramm findet internationale Anerkennung - so wurde kürzlich mit London eine Kooperation zum Informationsaustausch über nachhaltige Stadtentwicklung vereinbart, und chinesische Delegationen besichtigen das Gebiet, das 2015 fertig sein soll.

Die HafenCity in Hamburg ist das städtischste und dichteste der präsentierten Projekte, weil es direkt an die Innenstadt Hamburgs anschließt und sie erweitert. Das ist eine Lagegunst, die anderswo kaum erreicht werden kann. Dementsprechend groß ist das Interesse, und spektakulär sind die geplanten Projekte, von der Elbphilharmonie von Herzog/de Meuron über die Greenpeace-Zentrale bis zum Meeresmuseum. Wichtigstes Instrument zur Qualitätssicherung ist hier der Wettbewerb auf allen Ebenen: Zusätzlich zum Masterplanwettbewerb, den Kees Christiaanse und Hamburgplan 1998 gewannen, gibt es städtebauliche Wettbewerbe für Teilbereiche, Konzeptwettbewerbe zur Grundvergabe an Investoren und Architekturwettbewerbe. Die HafenCity soll 2025 fertiggestellt sein, hat also etwa denselben Zeithorizont wie Aspern. Auch in Hamburg ist der Block wichtige, wenn auch nicht einzige Bauform - hier stehen insbesondere spektakuläre Solitäre im Mittelpunkt des Konzeptes.

Was kann nun Aspern von den vier Städten lernen? Einerseits eine Vielfalt von Methoden, die Qualitätssicherung im Städtebau zu verbessern, wobei der Wettbewerb der architektonischen und Investitionskonzepte ein zentrales Element ist. Und vor allem die Konzentration auf eine Frage: Was ist die Leitidee der „Stadt in der Stadt“ am Flugfeld Aspern?

Der Standard, Sa., 2008.01.26

18. August 2007Robert Temel
Der Standard

Urbanisierung im Marchfeld

Ende Mai beschloss der Wiener Gemeinderat einstimmig den Masterplan für die Stadtentwicklung auf dem Flugfeld Aspern. Das lässt aufhorchen: Stadtplanungsthemen sind in Wien häufig Anlass für oppositionellen Widerstand, warum also hier die plötzliche Einigkeit?

Ende Mai beschloss der Wiener Gemeinderat einstimmig den Masterplan für die Stadtentwicklung auf dem Flugfeld Aspern. Das lässt aufhorchen: Stadtplanungsthemen sind in Wien häufig Anlass für oppositionellen Widerstand, warum also hier die plötzliche Einigkeit?

Jüngste Prognosen kündigen für Wien ein Wachstum um 20 Prozent auf mehr als zwei Millionen Einwohner bis 2035 an. Stadt- er weiterung ist somit ein wichtiges Thema, um ausreichend Raum für Neo-Wiener schaffen zu können. Zwar gibt es eine ganze Reihe von nutzbaren Flächen in Innenstadtnähe, meist auf nicht mehr benötigten Bahnarealen. Doch sind die ÖBB schwierige Grundeigentümer, sodass die Stadt versucht, eigene Flächen zu entwickeln. Das Flugfeld Aspern in Donaustadt, am Rand des Marchfelds, ist eine solche. Es liegt an der östlichen Besiedelungsgrenze Wiens, an einer Bahnlinie nach Bratislava und an geplanten Autobahn- und U-Bahn-Trassen. Eigentümer sind der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds (WWFF), der Wohnfonds Wien und die Bundesimmobiliengesellschaft, also die öffentliche Hand. Das erlaubt schnelle Entwicklung, und es bietet die Chance, durch steuernde Eingriffe jene Fehler zu vermeiden, die in anderen Wiener Stadterweiterungsgebieten gemacht wurden.

Der neue Stadtteil am Flugfeld ist für Wiener Verhältnisse ein gewaltiges Projekt. Hier sollen Wohnungen für 20.000 Menschen und 25.000 Arbeitsplätze entstehen. Das Flugfeld wird somit ungefähr so groß wie Mödling oder Amstetten - mit so vielen Arbeitsplätzen wie diese beiden Städte zusammen. Damit ist klar, dass es um eine Entwicklung über zumindest zwanzig Jahre geht. Mit der Planung wurde 2005 das schwedische Atelier von Johannes Tovatt beauftragt, dem langjährigen Partner des kurz zuvor verstorbenen britisch-schwedischen Architekten Ralph Erskine, der bereits in den 1950er-Jahren für Kritik an der Moderne stand. Das Tovatt-Projekt scheint eher dem New Urbanism als einem rigorosen Modernismus verpflichtet.

New Urbanism ist eine US-amerikanische Bewegung gegen die Zersiedlung des suburbanen Raums und stellt dieser Prinzipien wie Fußläufigkeit, Nutzungsmischung und brauchbare öffentliche Räume gegenüber, das Ideal ist die historische Kleinstadt. Der New Urbanism wird in Europa als konservative Bewegung rezipiert. Wenn man sich bekannte Realisierungen wie Disneys Celebration ansieht, kann man dem nur beipflichten: Hier ist Kommunalpolitik durch ein Unternehmen ersetzt, es sind allein vermögende Schichten angesprochen, und wichtige Ziele wie Nutzungsmischung und Autofreiheit werden nur bedingt erreicht. Allerdings ist die Situation in den USA eine andere als in Europa. Unter Wiener Bedingungen mit gefördertem Wohnbau, öffentlichem Verkehr und Grund im öffentlichen Eigentum wird keine zweite Disney-Stadt entstehen können.

Damit kommen wir zum Kern der Sache: Am Asperner Masterplan kann manches kritisiert werden. Er weist aber auch eine Reihe positiver Aspekte auf, die hoffen lassen, dass Besseres entsteht als in der Donau-City, der Wienerberg-City oder in Monte Laa, obwohl die dortigen Planungen fern jeden New-Urbanism-Verdachts sind. Das Flugfeld ist jedenfalls in einigen Jahren mit U-Bahn, S-Bahn, Straßenbahn und Bus wesentlich besser erschlossen als viele Entwicklungsgebiete im Wiener Süden. Und der Masterplan von Tovatt orientiert sich dezidiert auf Nutzungsmischung - eine Forderung, die von Erskine und vielen anderen seit den 1950er-Jahren gegen die städtische Funktionstrennung der Moderne erhoben wurde. In Aspern sollen die Erdgeschoßzonen der Gebäude durch hohe Räume auf attraktive Nutzungen ausgerichtet sein. Kultur, Bildung, Gewerbe, Büro und Wohnen werden innerhalb der Gebäude und in räumlicher Nähe so gut wie möglich gemischt.

Die Asperner Flugfeld Süd Entwicklungs- und Verwertungs-AG will sich ganz massiv dieses Themas annehmen. Hier sollen nicht Baugründe für gesichtslose Bürotürme verscherbelt werden, sondern laut WWFF-Geschäftsführer Bernd Rießland geht es um Fragen wie Erdgeschoßzonen-Management, innovative Bürohauskonzepte für Klein- und Mittelbetriebe und neue Wohnbauideen wie Bauherrenmodelle und Baugruppen. Statt nur Grund zu verkaufen, wollen die Eigentümer Leitprojekte selbst entwickeln und betreiben. Die Ausrichtung auf funktionale und typologische Innovation macht Hoffnung auf einen Stadtteil, der viele Fehler der jüngeren Vergangenheit vermeidet.

Weiteres zentrales Thema des Masterplans ist der öffentliche Raum. Während in der Wienerberg-City darauf komplett vergessen wurde und in Monte Laa immerhin ein zentraler Park realisiert ist, der aber leider an den Grundgrenzen zu den Wohnhäusern ebenso abrupt wie sinnlos abbricht, stellt Tovatt die Freiräume ins Zentrum seiner Planung. Der Masterplan enthält viele Ideen, wie eine hohe Qualität des öffentlichen Raumes erreicht werden kann - von Grünraumtypologien und differenzierten Straßenprofilen bis zu Bezügen zwischen öffentlichen und halb öffentlichen Flächen. Wenn auch nur ein Teil dieser Vorgaben von den Bauträgern eingehalten wird, ist einiges erreicht.

Schließlich gibt es einen Plan zur schrittweisen Realisierung des neuen Stadtteils. Am Anfang entstehen Gewerbe- und Wohnbereiche im Süden des Areals, die auch schon vor U-Bahn-Fertigstellung hochwertig erschlossen sind. Dann folgt die Entwicklung der urbanen Kernzonen bis zum neuen Bahnhof im Norden, wobei Teilbereiche freigehalten bleiben, um später, neuen Bedürfnissen entsprechend, nachverdichten zu können. All diese Ansätze zusammen mit der vom WWFF geplanten Orientierung auf Nachhaltigkeit erklären vielleicht, warum Regierungspartei und Opposition geschlossen für den Masterplan stimmten. Dazu kommt, dass in Aspern Anrainer-Stellvertreter in die Planung einbezogen waren und deren Wünsche teils berücksichtigt wurden.

Doch die Begeisterung war nicht einhellig, Architekturkritiker zeigten problematische Aspekte des Projektes auf. Zentraler Kritikpunkt ist die städtebauliche Figur der Ringstraße, die das Projekt zu einem introvertierten machen könnte. Während der in Gründerzeit und Moderne übliche rechtwinkelige Stadtraster Durchlässigkeit in alle Richtungen signalisiert und ermöglicht, bildet die kreisförmige Anlage in Aspern ein sich abschließendes Quartier, das tendenziell nur von einer Seite her zugänglich ist. Einerseits folgt das Projekt damit dem heutigen Standard außerhalb der Kernstädte, weil in diesen heterogenen Arealen, wo gegensätzliche Nutzungen hart aufeinander treffen, eine gleichberechtigte Vernetzung kaum möglich ist.

Andererseits ist klar: Genau hier liegt eines der größten Probleme dieser Zonen. Es bleibt die Frage, ob die stadträumliche Figur des Rings tatsächlich den befürchteten Effekt haben wird, wenn Aspern als neues transdanubisches Zentrum weiterwächst.

Ebenfalls negativ aufgenommen wurde die Blockstruktur. Während der moderne Städtebau Zeilen, Punkthäuser und Cluster präferierte, ist der wichtigste Typus bei Tovatt ein geöffneter Block, er ist auf etwa 40 Prozent der Bauflächen geplant. Damit greift er auf die Stadt des 19. Jahrhunderts oder die Wohnbauten des Roten Wien zurück, also auf traditionelle Städtebauformen. Wenn man den Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit einmal zur Seite lässt, obgleich er nicht unberechtigt ist, kann man sich fragen, was der Einsatz von Blocks hier bewirkt. Einerseits erlaubt er den Vorrang des Stadtraums vor dem Einzelgebäude, andererseits führt er dazu, dass es besser und schlechter orientierte Wohnungen gibt. Ein Problem des Rückgriffs auf den Block ist, dass man heute nicht mehr in der kleinteiligen Parzellenstruktur des 19. Jahrhunderts baut, wodurch Blocks zu Megastrukturen werden. In Aspern plant man zumindest, hier anders vorzugehen.

Schließlich bleibt die Frage des Umsetzungsprozesses. Ob die Phasenplanung robust genug für die Realität ist, bleibt abzuwarten. Es gibt zwar die Idee der freizuhaltenden Flächen für Nachverdichtung - vorerst unprogrammierte, flexible Flächen sind allerdings nur in geringem Ausmaß vorhanden, etwa in Form von Erdgeschoßzonen.

In Aspern kann man somit bei aller Kritik viel Positives erwarten, wenn die anspruchsvollen Pläne die Überformung durch Bauordnung, Förderrichtlinien, Bauträger und Investoren aushalten - Experimente auch mit diesen Einflussfaktoren und hinsichtlich nachhaltiger Bauweisen wären wichtig. Der Haupteigentümer WWFF nimmt das Projekt jedenfalls sehr ernst und möchte in den kommenden Jahren eine kritische Diskussion darüber führen. Das ist uneingeschränkt zu begrüßen.

Der Standard, Sa., 2007.08.18

06. August 2007Robert Temel
dérive

Planung in der Stadtlandschaft. Die Frage der Nachhaltigkeit

Während sich Diskussionen über die europäische Stadt meist um den Erhalt des historischen Erscheinungsbildes, um Dachausbauten, leere Lokale und Denkmalschutz...

Während sich Diskussionen über die europäische Stadt meist um den Erhalt des historischen Erscheinungsbildes, um Dachausbauten, leere Lokale und Denkmalschutz...

Während sich Diskussionen über die europäische Stadt meist um den Erhalt des historischen Erscheinungsbildes, um Dachausbauten, leere Lokale und Denkmalschutz drehen, steht die Auseinandersetzung mit der Zwischenstadt, der Stadtlandschaft heute oft im Hintergrund. Die historische Stadt ist massiv „betreut“, von Gebietsmanagement bis zu Agenda-Büros, jedenfalls ist das in Wien der Fall –, doch an der Peripherie werden die Kommunikationsorte zwischen Politik, Verwaltung und Bevölkerung dünn. Auch wo in der Vergangenheit groß und diskursiv angelegte Planungsprozesse üblich waren, herrscht mittlerweile die Umsetzungsökonomie vor.

Das Problem beginnt jedoch bereits davor, beim weitgehenden Fehlen von großmaßstäblicher Raumordnung in Österreich, bei Zuständigkeitsgrenzen zwischen Staaten, Ländern und Gemeinden, bei verkehrspolitischen Festlegungen, bei Standortentscheidungen für Stadterweiterungsgebiete wie Wienerberg City, Monte Laa und Rothneusiedl in Wien und fehlender Diskussion über Entscheidungen, die die Entwicklung von Lebensräumen der nächsten Jahrzehnte gravierend beeinflussen. Wenn die Planungsabläufe in europäischen Städten genauer betrachtet werden, reichen die Reaktionen darauf von Unverständnis über die Realität bis zu resignativer Akzeptanz: Unter heutigen Bedingungen des Neoliberalismus sei das eben so. Daran könne auch der wohlmeinendste Politiker, die beste Raumplanerin nichts ändern.

Unabhängig davon ist klar, dass die Rahmenbedingungen heutiger Stadtproduktion sich grundlegend von denjenigen aus der Zeit der funktionalistischen Stadtplanung unterscheiden: Die meisten heutigen Gesellschaften sind zweifellos postfordistisch und neoliberal, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Weniger klar ist, welche „unhintergehbaren“ Rahmenbedingungen daraus für heute folgen. Unter dem Titel Instrumente der Stadtproduktion legte Johannes Fiedler kürzlich eine Auswahl dreier solcher Bedingungen vor: die Deterritorialisierung des Immobilienkapitals, die internationale Konvergenz der Verhaltensmuster unter den StadtbenützerInnen sowie die fehlende demokratische Legitimierung nicht-liberaler Politik.(1)

Dem ersten Argument der Deterritorialisierung des Immobilienkapitals ist zweifellos zuzustimmen: Immer seltener werden Gebäude von ihren zukünftigen BenützerInnen beauftragt, immer öfter dient ihre Errichtung als Kapitalanlage, die vorrangig entsprechende Rendite abwerfen soll – die Erfüllung eines Zwecks ist demnach erst in zweiter Linie von Bedeutung, quasi als Mittel, um die Rendite erreichen zu können. Und entsprechend den heutigen Möglichkeiten der internationalen Kapitalmärkte geschieht diese Anlage nicht an einem bestimmten Ort, sondern dort, wo die Bedingungen für die Rendite am besten sind, wo die Anlagesicherheit gegeben ist, die Steuern niedrig sind etc. Dieser Rahmenbedingung können heutige Städte nicht ausweichen – aber sie können versuchen, sie für ihre eigenen Zwecke zu nützen, das heißt für die Gewährleistung möglichst guter Lebensumstände für ihre BewohnerInnen.

Das zweite Argument ist das der Konvergenz der Verhaltensmuster unter den StadtbenützerInnen in aller Welt. Dies ist jedoch durchaus umstritten, jedenfalls im kulturwissenschaftlichen Diskurs: Dort geht man bezüglich der zweifellos vorhandenen kulturellen Globalisierungseffekte keineswegs nur davon aus, dass diese zu Vereinheitlichungen führen, sondern dass Kulturkontakte durchaus neue Hybridformen und damit weitere Differenzierung produzieren. Die Vereinheitlichung scheint eben nicht in den Verhaltensmustern der BenützerInnen der Städte und Gebäude zu liegen, sondern vielmehr in den Strategien des Immobilieninvestments und den rechtlichen Rahmenbedingungen. Und das macht durchaus einen Unterschied, weil man spätestens seit Stuart Halls Rezeptionstheorie(2) weiß, dass RezipientInnen bzw., in unserem Kontext gesprochen, BenützerInnen Nutzungsangebote durchaus auch in nicht-intendiertem Sinne verwenden können.

Das dritte Argument ist das der fehlenden demokratischen Legitimierung nicht-liberaler Politik. Zweifellos sind nationale Wirtschaftspolitiken der letzten Jahrzehnte in fast allen Ländern (mehr oder weniger) liberal. Und zweifellos werden die Regierungen, die diese Politiken verfolgen, in den Ländern mit repräsentativer Demokratie von Mehrheiten gewählt. Bei aller Achtung vor diesem demokratischen System scheint mir der Schluss daraus, dass diese Mehrheiten die vorgenommenen Deregulierungen anstreben, überzogen – vielmehr besteht diesbezüglich mittlerweile ein Wettkampf zwischen den Nationen, dem sich die einzelnen verpflichtet fühlen, und es existieren supranationale, gering oder gar nicht demokratisch legitimierte Körperschaften, die Deregulierungen befördern, wie die WTO, der IMF, die Weltbank oder Instanzen der EU. Die Deregulierung der vergangenen Jahrzehnte war keine Naturgewalt und wohl auch nicht so sehr durch politische Forderungen breiter Bevölkerungsschichten initiiert, sondern vielmehr Resultat staatlichen und in Folge auch supranationalen politischen Handelns aus einer neuen, den vorherigen politischen Konsens ablösenden Ideologie heraus.

Damit sind wir bei einem ganz grundsätzlichen Punkt, der zu diesen drei Bedingungen festzustellen ist: Es handelt sich dabei eben nicht nur um Bedingungen politischen Handelns, sondern auch um Effekte desselben. Deregulierung ist eine Selbstentmächtigung der Politik und nicht von irgendwo außerhalb der Welt auferlegt. Deshalb spielen auch öffentliche Verwaltungen in den betreffenden Prozessen nur deshalb keine Rolle mehr, weil sie sich zuvor selbst entmächtigt haben.

Die Bedingungen für die aktuelle Situation der Stadtplanung in Europa sind demnach nicht ganz so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint. Es lässt sich aber wohl sagen, dass es heute kein starkes Planungsparadigma für großflächige Stadtplanung gibt, das etwa dem ehemaligen funktionalistischen Paradigma entsprechen würde. Auch die liberale Stadtplanung der Gründerzeit, die in manchem der heutigen Situation durchaus ähnelt, besaß im Vergleich zur Gegenwart klarere stadtplanerische Vorstellungen. Eine Gemeinsamkeit der europäischen Städte ist die Suburbanisierung. Allgemein wird eine überwältigende Nachfrage nach Suburbanität konstatiert, die ungeregelte Suburbia ist gewissermaßen das „Planungs“-Leitbild der Gegenwart. Dieser Drang in die Suburbanität könnte aber durchaus ein Missverständnis sein: Viele der davon Betroffenen haben nicht das Bedürfnis nach Suburbanität, sondern vielmehr nach bestimmten Lebensqualitäten (Wohnraumgröße, wohnungsbezogener Freiraum etc.), die dort wesentlich kostengünstiger zu bekommen sind bzw. für die es im städtischen Kontext einfach kein Angebot gibt. Das heißt: Hier besteht einerseits ein mangelhaftes Angebot, also eine problematische Kopplung zwischen KonsumentInnen und ProduzentInnen am Wohnungsmarkt. Und andererseits fehlt Kostenwahrheit. Wenn die immensen Gemeinkosten, die vom Zug in die Suburbanität erzeugt werden, diesen Siedlungsräumen auferlegt würden, reduzierte sich dieser Zug wohl drastisch. Stattdessen wird – jedenfalls in Österreich – Pendeln und Einfamilienhausbau noch von der öffentlichen Hand gefördert. Es handelt sich also um einen Bereich, wo Stadt- und Raumplanung durchaus eingreifen könnten, wenn sie nur wollten. Das zeigt sich ja schon allein daran, dass es in Mitteleuropa Regionen gibt, in denen die Zersiedlung nicht österreichische Maßstäbe annimmt.

Es bleibt also die Frage, welche Möglichkeiten der Stadtplanung in der Stadtlandschaft es heute für die Städte gibt. Die Orientierung von Stadtplanung an Kriterien der Nachhaltigkeit wird oft als sinnvoll, aber unrealistisch dargestellt – jüngst in einer Studie zur Mobilität 2015/2030 in Europa:(3) dort scheint der Gedanke, Städtebau mobilitätsvermeidend anzulegen, das heißt Regionalentwicklungskonzepte einzusetzen, weniger Zersiedelung zuzulassen und eine hohe EinwohnerInnendichte zu fördern, als „geeignet, aber nicht realistisch“. Diese weit verbreitete Sicht der Dinge sollte nicht akzeptiert werden – Nachhaltigkeit hätte jedenfalls das Potenzial für ein zukünftiges Planungsparadigma. Wichtige, wenn auch bei weitem nicht die einzigen Domänen einer solchen Planung sind Verkehr und Grünraum. Es geht einerseits genau darum, was in der genannten Studie als geeignet, aber nicht realistisch bezeichnet wurde, also die Reduktion des Straßenbaus auf das nötige Minimum, der Ausbau von Infrastruktur für öffentlichen Verkehr und die Förderung von Rad- und Fußgängerverkehr sowie Maßnahmen zur Erhöhung der Bebauungsdichte und Verringerung des Flächenverbrauchs und der Zersiedelung. Dazu gehört es auch, Nutzungsbereiche so anzulegen, dass weniger Verkehr induziert wird. Und es geht andererseits darum, Grünraumzonen als Naherholungsgebiete und Regenerationsbasis für Luft, Wasser etc. von jeder Bebauung freizuhalten, egal ob extensiv oder intensiv. Bei der Frage des Verkehrs gibt es viele hehre Zielsetzungen im Hinblick auf eine Verbesserung des Modal Split, die leider in der alltäglichen planerischen Praxis kaum jemals eingehalten werden. Und bei der Frage des Grünraums existiert in Wien das große historische Vorbild des Wald- und Wiesengürtels, dessen Bestand 1905 gesetzlich festgeschrieben wurde und bis heute garantiert ist. Seither gibt es viele gute Vorsätze, diesen Gürtel auszuweiten – doch auch hier gilt, was für den Verkehr gesagt wurde. In der alltäglichen Stadtplanungsarbeit gibt es immer gewichtige Argumente dafür, ein Areal doch zur Nutzung freizugeben und nicht als Grünraum zu erhalten.

Wie können also diese Ziele erreicht werden? Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung wäre es, planerische Entscheidungen hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeitseffekte zu bewerten. Ein interessantes Modell für eine solche Vorgangsweise führte die Stadt Zürich 2004 ein.(4) Anhand von 21 Indikatoren für den „Erfolg“ der Stadtentwicklungsplanung wird die eigene Arbeit bewertet, um daraus wieder Leitlinien für die Zukunft zu ziehen. Dieses Indikatorenset haben unabhängige WissenschaftlerInnen entwickelt; es umfasst Wertschöpfung, Arbeitsplätze, Arbeitslosigkeit, Steuerkraft, Verschuldung des städtischen Haushalts, Einkommen der EinwohnerInnen, individuelle Wohnfläche, Treibhausgasemissionen, Anteil umweltfreundlicher Mobilität, Wasserverbrauch, Abfall, Luftqualität, Lärmbelastung, versiegelte Fläche, Zufriedenheit, Sozialleistungsquote, Kriminalität, Lohngleichstellung, Kinderbetreuung, Integration: Bildungschancen sowie Auslandshilfe. Zumindest kann am Verhältnis der Verbesserung oder Verschlechterung der Indikatoren in Zukunft abgelesen werden, welche Politik die Stadt Zürich verfolgt …

Robert Temel ist Architekturkritiker und Architekturtheoretiker in Wien sowie Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA).

1 Fiedler, Johannes (2007): Instrumente der Stadtproduktion. In: Architektur- und Bauforum, 07/April.
2 Hall, Stuart (1973): Encoding and Decoding in the Television Discourse. University of Birmingham, Centre for Contemporary Cultural Studies, Birmingham.
3 ÖAMTC-Akademie (Hg.) (2007): Mobilität 2015/2030. Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung, Wien.
4 Ich danke Reinhard Seiß für den Hinweis auf dieses Modell.

dérive, Mo., 2007.08.06



verknüpfte Zeitschriften
dérive 28 Sampler (Juli bis September 2007)

09. Juni 2007Robert Temel
Der Standard

Der Überdrüber-Bau

Bebaubare Flächen sind rar geworden. Als Alternative zur Verlegung von Flächen an den Stadtrand bieten sich Überbauungen von Straßen und Bahngleisen an. Damit schafft man neue Stadt quasi aus dem Nichts. Zu den genauen Kostenpunkten will leider niemand etwas sagen.

Bebaubare Flächen sind rar geworden. Als Alternative zur Verlegung von Flächen an den Stadtrand bieten sich Überbauungen von Straßen und Bahngleisen an. Damit schafft man neue Stadt quasi aus dem Nichts. Zu den genauen Kostenpunkten will leider niemand etwas sagen.

Was tun, wenn die Stadt schlicht und einfach keine Flächen mehr hergibt? Die Antwort ist so simpel wie bewährt: Bereits in den Sechzigerjahren wurde der Pariser Bahnhof Gare Montparnasse mit Büro- und Wohnbauten überbaut. Zur gleichen Zeit entstand in New York die unterirdische Pennsylvania Station, über der sich der riesige Veranstaltungskomplex Madison Square Garden befindet. Die ersten Wiener Projekte, die derartige Überbauungskonzepte in die Realität umsetzten, waren der Franz-Josephs-Bahnhof und - viel später - die Donau-City, deren vorderste Bebauungsreihe sich über der Donauufer-Autobahn befindet. Ähnlich das Konzept für den neuen Stadtteil Monte Laa in Favoriten: Durch die Überplattung der Südosttangente entstand quasi aus dem Nichts neuer Grund und Boden für einen Wohn- und Bürokomplex über der Autobahn. Dass die Verkehrserschließung reichlich zu wünschen übrig lässt, ist ein anderes Kapitel.

In jüngster Zeit nimmt die Zahl der Projekte, die durch Überbauung neue Baugründe in der Stadt lukrieren sollen, weiter zu. In Wiens Wachstumsareal im Südosten, mitten im Stadtentwicklungsgebiet Erdberger Mais, entsteht seit Ende 2005 der Business-Stadtteil TownTown. Bis heute ist nicht geklärt, wie englische „native speakers“ zu dieser Namensgebung stehen.

Das „Fundament“ dieser neuen TownTown bildet der U-Bahn-Betriebsbahnhof Erdberg. Zur Entwicklung des ungenutzten Stadtraums darüber bildeten die Eigentümer mit der Soravia-Gruppe eine Public-Private-Partnership. Die so entstandene Gesellschaft Immobiliendevelopment Wiener Stadtwerke BMG & Soravia AG erhielt das Grundstück des Bahnhofs von den Wiener Linien und sicherte ihnen im Gegenzug die Nutzung der U-Bahn-Infrastruktur durch grundbücherlich festgelegte Servitutsrechte zu. „Durch die Überplattung entsteht de facto ein neues Baugrundstück“, sagt Vorstand Erwin Soravia, „bei entsprechender Top-Lage, wie sie im Projekt TownTown jedenfalls gegeben ist, wird der Nachteil der relativ hohen Plattenkosten kompensiert.“

Was kostet eine Platte?

TownTown liegt verkehrsgünstig an der Kreuzung von Flughafenautobahn und Südosttangente. Die fußläufige Frequenz wird - das ist absehbar - nicht außerordentlich hoch sein. Die aufwändige Bauweise macht das Projekt komplex: „Die Umsetzung erfordert in der Planungs- und Ausführungsphase entsprechendes Know-how.“ Auf die Rendite habe die teure Überplattung jedenfalls keine Auswirkungen, so Soravia. Das ist schwer zu glauben. Doch über konkrete Zahlen und Fakten, die die Milchmädchenrechnung etwas transparenter machen könnten, wolle man sich zurzeit nicht äußern.

In rechtlicher Hinsicht ist die Situation vergleichbar mit dem lange umstrittenen Immobilienprojekt über dem Bahnhof Wien Mitte. Der Bau soll heuer beginnen. Eigentümerin ist die Wien Mitte Immobilien GmbH, die für die Bahnhofsnutzerin ÖBB im Grundbuch ebenfalls Servitutsrechte fixiert hat. Diese beinhalten hauptsächlich Wege- und Leitungsrechte, wobei unzählige Eventualitäten vorab zu klären sind.

Doch was passiert im Falle eines Verkaufs oder einer Nutzungsänderung? Thomas Jakoubek, Vorstand des Projektentwicklers BAI Bauträger Austria Immobilien GmbH, sieht bei einem derartigen Projekt viele Nachteile: „Die Vorbereitung des Projekts, bis alle Eventualitäten abgeklärt sind, ist rechtlich sehr schwierig. Die Überbauung selbst erfordert zusätzlichen konstruktiven Aufwand im Vergleich zu konventionellen Projekten.“ Kompliziert sei auch die Technik: Alle Fluchtwege müssten auf derselben Fläche untergebracht werden. Das könne nur durch einen großen Vorteil kompensiert werden: „Erst die große Passantenfrequenz führt zusammen mit der richtigen Nutzung dazu, dass sich das Projekt überhaupt rechnet.“

Michael Satkes „Trialto“ über dem Donaukanal ist ebenfalls eine zweifache Nutzung derselben städtischen Grundfläche, wenngleich man lieber von einer „Brückengruppe“ denn von einer einer simplen Überplattung spricht. Trialto soll sowohl öffentlichen Raum schaffen, als auch Gastronomie- und Verkaufsflächen anbieten. Die hohen Konstruktionskosten werden dadurch kompensiert, dass keine Grundkosten anfallen. Billig wird die Miete jedenfalls auch dort nicht sein.

Der Standard, Sa., 2007.06.09

17. März 2007Robert Temel
Der Standard

Schiefer Gartensegen

Lange Zeit war der Wiener Augarten kaiserliches Jagdareal. Heute steht die barocke Natur unter Denkmal-schutz. Mit der Beschaulichkeit ist es nun vorbei, denn der Gartensegen hängt schief.

Lange Zeit war der Wiener Augarten kaiserliches Jagdareal. Heute steht die barocke Natur unter Denkmal-schutz. Mit der Beschaulichkeit ist es nun vorbei, denn der Gartensegen hängt schief.

Die an den Augarten anschließende Leopoldstadt war nach der Revolution 1848 Ziel einer massiven, zu einem guten Teil jüdischen Zuwanderung aus den nordöstlichen Gebieten der Monarchie. Der Bezirk war von Armut geplagt, diente aber gleichzeitig als Vergnügungsviertel, in dem sich eine Szene von Theatern, Kabaretts, Cafés und Kinos entwickelte - befruchtet von der herrschenden Migrantenkultur.

Wohl aufgrund der Widmung des Kaisers an „alle Menschen als Erlustigungs-Ort“ und der damit verbundenen positiven Bilder vom Imperium war der Park nach der Republikgründung Rekonstruktionsort nicht mehr bestehender „Botschafter“ der Monarchie. Namentlich handelte es sich dabei um Augarten-Porzellan und Sängerknaben. Beide fanden nach ihrer Wiedereinrichtung als Reminiszenz an vergangene gloriose Zeiten hier ihren Standort.

Wie bereits zuvor wurde die Leopoldstadt in der Zweiten Republik wieder Migrantenviertel und blieb peripher und verrufen. Diesmal fehlte allerdings das frühere Pendant, das Vergnügungsviertel. In dieser Situation kam es zu einer Neuausrichtung der Stadtplanung. Die Qualität der gründerzeitlichen Stadt war plötzlich öffentliches Thema - und Stadterneuerung trat an die Stelle der bisher vorherrschenden Stadterweiterung. In Wien wurden Gebietsbetreuungen eingerichtet, die zur Verbesserung der heruntergekommenen Viertel beitragen sollten. Eine solche entstand auch unweit des Augartens.

Durch Investitionen in den öffentlichen Raum kam es zur Aufwertung. Aus den „enteren Gründ“ wurde ein aufstrebendes Stadtviertel. Die Entwicklung äußerte sich auch im Entstehen einer Gastronomieszene und reichlichen Kulturangeboten im Augarten. Für viele der hier wohnenden Migranten blieb der Park eine der wenigen Möglichkeiten, öffentlichen Raum in Anspruch zu nehmen.

Es ist klar, dass unter diesen Bedingungen und inmitten eines der dichtest besiedelten Gebiete Wiens enormer Nutzungsdruck auf dem freien Stück Land in der Mitte, dem Augarten, lastet. Am Areal eines „arisierten“ Kinderambulatoriums der Kultusgemeinde wurde in den Siebzigerjahren von Karl Schwanzer ein Pensionistenheim errichtet, daneben 1999 die neue Lauder-Chabad-Schule von Adolf Krischanitz. Später sollte der Hakoah-Sportplatz einen Teil des Parks einnehmen, wurde dann aber in den Prater verlegt. Neue „parkfremde“ Nutzungswünsche sind ein Datenzentrum in einem der Flaktürme sowie ein Filmkulturzentrum und eine Konzerthalle der Sängerknaben.

Solche Projekte werden von vielen Anrainern grundsätzlich abgelehnt. Doch gibt es dazu auch differenziertere Standpunkte. Der Aktionsradius, seit 15 Jahren im Viertel als Kulturverein aktiv, nennt zwei Kriterien: die Parkverträglichkeit und den öffentlichen Nutzen. Von dem einen halben Quadratkilometer großen Areal innerhalb der historischen Augartenmauer sind etwa 60 Prozent öffentlich zugänglich, der Rest wird von Institutionen, den Bundesgärten und vier Sportplätzen belegt. Aus diesem Grund ist ein lange gehegter Wunsch vieler Parkinteressierter die Öffnung weiterer Parkteile. Alle Initiativen dazu scheiterten bisher am Widerstand wichtiger Akteure. Nun gibt es zwei konkurrierende Projekte für denselben Ort, nämlich für die der Innenstadt zugewandte Südspitze des Augartens: das Filmkulturzentrum, geplant von Filmarchiv Austria und Filmfestival Viennale; und eine Konzerthalle der Sängerknaben.

Die beiden Gegner unterscheiden sich in mancher Hinsicht, doch stadtgestalterisch gibt es eine grundsätzliche Differenz. Während der „Konzertkristall“ der Sängerknaben mit den Worten des Architekten Kraus eine „Bugsituation“ schafft und den Augarten als Hochkulturdampfer im Häusermeer der Vorstadt versteht, will das Filmkulturzentrum den Park für sein Umfeld öffnen. Dem entsprechend gingen dessen Protagonisten erst nach ausgiebigen Diskussionen mit Anrainern und Bürgerinitiativen an die Öffentlichkeit. Während das Sängerknabenprojekt auf touristisches Buspublikum zielt, versucht das Filmprojekt ein Angebot an die ganze Stadt und ans lokale Umfeld zu richten.

Letzteres ist Vorschlag für ein kulturpolitisches Signal entsprechend dem aktuellen Regierungsprogramm, das den „Stellenwert der audiovisuellen Medien“ ausbauen will. Es wäre Verortung des Festivals Viennale und des Filmarchivs, weiters Filmausstellung und audiovisuelles Archiv - beides zurzeit eine Lücke in der österreichischen Kulturlandschaft.

Dafür müsste man jetzt unzugängliche Bereiche um das Palais Augarten öffnen und so eine Wegverbindung zwischen den Kulturinstitutionen herstellen. Wenn die Sängerknaben einen Teil des Areals der Porzellanmanufaktur nützten, wie das Bezirksvorsteher Gerhard Kubik und die Bezirksvertretung vorschlagen, wäre das Palais als Konzertgebäude verwendbar und beide Planungen würden kompatibel. Weiters könnte man beide Nutzungen in einem Gebäude integrieren.

Öffnung der „Kulturachse“, Konzerthalle im historischen Bestand und Filmkulturzentrum böten eine große Chance für die Entwicklung des Areals: Der öffentlich nutzbare Raum würde vergrößert und das Angebot verbessert werden. Der Ball liegt bei der neuen Ministerin, in deren Ressort Film und Sängerknaben ebenso wie Denkmalschutz fallen. Nicht zuletzt sind es das Wirtschaftsministerium als Grundeigentümer und die Stadt Wien, die den Segen wieder gerade rücken können.

Der Standard, Sa., 2007.03.17

10. März 2007Robert Temel
Der Standard

Meister-Bilderstürmer der Moderne

So nannte die Architekturkritikerin Ada Louise Huxtable den 1938 in die Neue Welt geflüchteten Architekten Bernard Rudofsky. Diese Bezeichnung ist einiger- maßen paradox, sind doch seine überaus sinnlichen Bauten und Gärten, Zeichnungen und Fotos, Ausstellungen und Bücher alles andere als puritanischer Ikonoklasmus

So nannte die Architekturkritikerin Ada Louise Huxtable den 1938 in die Neue Welt geflüchteten Architekten Bernard Rudofsky. Diese Bezeichnung ist einiger- maßen paradox, sind doch seine überaus sinnlichen Bauten und Gärten, Zeichnungen und Fotos, Ausstellungen und Bücher alles andere als puritanischer Ikonoklasmus

Ganz im Gegenteil können viele Werke des „International Style“, der Architektur der klassischen Moderne, die Huxtable als Rudofskys Feindbilder identifizierte, das Attribut bildfeindlich für sich in Anspruch nehmen. In den polemischen Gefechten zu Beginn des 20. Jahrhunderts positionierten sich die Architekten der neuen Zeit als ornament- und bildlos, jenseits jeden Stils und nichts als der Funktion verpflichtet. Sie wollten eine universelle, für überall gleich gültige Formensprache entwickeln. Einer solchen Sicht stand der im Mähren der Donaumonarchie geborene Bernard Rudofsky diametral entgegen, obwohl er selbst ein dezidiert Moderner war. Sein Hang zu Purismus, moderner Technologie und der den Dingen eigenen Vernunft lagen ganz auf der Linie der modernen Architektur.

Rudofsky studierte an der Technischen Hochschule in Wien und promovierte dort über „eine primitive Betonbauweise“ in Griechenland. Sein Doktorvater war Siegfried Theiss, an dessen Hochhaus in der Herrengasse er im Büro Theiss & Jaksch mitentwarf. Wie viele seiner Studienkollegen unternahm er regelmäßige Reisen. Doch seine führten nicht ins Italien der Antike und der Renaissance, sondern vor allem in die östliche Mittelmeerregion. Die Skizzenbücher zeigen die Auseinandersetzung mit alltäglichen, regionalspezifischen Bauten und nicht so sehr mit dem Kanon der Architekturgeschichte.

Der Abstand zum architektonischen Mainstream sollte während Rudofskys ganzen Lebens bestimmend bleiben. Er war immer neugierig auf kulturelle Differenzen und ständig auf Reisen, mit Ausnahme von ein paar Jahren in den 1940ern, als er keinen österreichischen Pass mehr besaß und noch keinen amerikanischen. Bei seinen Erkundungen interessierten ihn nicht nur Architektur- und Wohnfragen, sondern alle Formen der Alltagskultur: Kleidung, Essen und Trinken, Hygiene und Baden. Rudofsky verstand mit dem Zivilisationstheoretiker Norbert Elias Kultur als einen Prozess, der über Jahrhunderte Fremdzwänge in Selbstzwänge wie zum Beispiel Schamgefühl transformiert. „Was ist Kultur? Oft nur unkritisch akzeptiertes Erbe“, schrieb er einmal. So benützte er die Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Kulturen und ihren Differenzen als Folie einer Kritik an der westlichen, modernen Kultur und an den „fremden“ USA, wo er lebte. In diesem Sinne unterschied sich Rudofsky grundsätzlich von den anderen europäischen Architekten seiner Generation, die vor dem Nationalsozialismus in die USA flüchten mussten. Er wurde nicht Amerikaner, sondern Kosmopolit. Seine Inspirationsquellen waren der Mittelmeerraum und Japan. Diese Perspektive gründete sich wiederum auf ein Wiener Architekturklima der Beschäftigung mit dem „Orient“ und mit Asien während der Zeit seiner Ausbildung.

Dafür steht die damals zentrale Figur des Architekten Josef Frank. Frank war wie Oskar Strnad und, eine Generation früher, Adolf Loos Vertreter einer kritischen, undogmatischen Moderne - Strnad wird ab Ende März in einer von Iris Meder und Evi Fuks kuratierten Ausstellung im Jüdischen Museum Wien gewürdigt. Er schrieb, dass der Wohnraum nicht nur gesehen, sondern auch gefühlt werden müsse, „gerochen, gehört und getastet“. In dieser Tradition kann Rudofskys Haltung verortet werden. Doch da er seine „Leistungsfähigkeit nicht mit einer so genannten Karriere verplempern“, sondern seine „besten Jahre genießen“ wollte, wurde er nicht Architekt, sondern Kulturanalytiker. Seine Medien waren Fotografie, Buch und Ausstellung. Damit machte er seine von einer spezifisch Wiener reflexiven Moderne geprägte Haltung produktiv für neue Ideen. Das kulturelle Umfeld der 1920er-Jahre führte Rudofsky ins Klima der gesellschaftlichen Befreiung der 60er- bis 80er-Jahre über, insbesondere durch seine bahnbrechenden und kontroversiellen Ausstellungen im Museum of Modern Art in New York. Zu diesem Klima gehörten beispielsweise die Kritik an der modernen und die Wiederentdeckung der historischen Stadt der Stadtforscherin Jane Jacobs, die Schriften des Architekturtheoretikers Christopher Alexander sowie die vielfache Beschäftigung mit „anonymer Architektur“ und mit Ökologie.

Im deutschsprachigen Raum wurde Rudofsky bis kurz vor seinem Tod kaum wahrgenommen. 1987 richtete er die Antrittsausstellung des neuen Direktors Peter Noever am Museum für angewandte Kunst in Wien ein, die auf die österreichische Szene großen Eindruck machte: „Sparta/Sybaris“. Der Untertitel dieser breit angelegten kulturkritischen Schau lautete: „Keine neue Bauweise, eine neue Lebensweise tut not.“ Er starb 1988 in New York.

Sein spezifischer Architekturbegriff geht jedoch über die Diskussion der 1960er-Jahre hinaus. Deshalb ist es kein Zufall, dass seine Arbeit mit der Ausstellung „Lessons from Bernard Rudofsky“ des Architekturzentrums Wien und des Getty Research Institute, kuratiert von Monika Platzer und Wim de Wit, nun wieder öffentlich thematisiert wird. Die aktuelle Debatte um das Atmosphärische und Immaterielle in der Architektur stellt ganz ähnliche Fragen ins Zentrum, wie sie in Rudofskys Büchern und Ausstellungen behandelt werden. Der Philosoph Gernot Böhme schreibt etwa von einem neuen Humanismus in der Architektur. Der Mensch als Benutzer werde heute als zentraler Bezugspunkt des Bauens verstanden, „der sich in und in der Umgebung von Gebäuden in bestimmter Weise befindet.“ Das ist genau Rudofskys Auffassung: der Mensch in seiner Leiblichkeit und Sinnlichkeit und in deren veränderlichem kulturellen Ausdruck als Fokus der Architektur.

Der Standard, Sa., 2007.03.10

17. Februar 2007Robert Temel
Der Standard

Sie wünschen, wir planen

Am äußersten südlichen Rand von Wien, nahe der in Niederösterreich gelegenen Shopping City Süd, kann man nach Wienerberg City und Monte Laa einem neuen Beispiel von Investorenstädtebau beim Entstehen zusehen. Noch dazu handelt es sich um einen, den die Stadt Wien und ihr Bürgermeister selbst mitbetreiben.

Am äußersten südlichen Rand von Wien, nahe der in Niederösterreich gelegenen Shopping City Süd, kann man nach Wienerberg City und Monte Laa einem neuen Beispiel von Investorenstädtebau beim Entstehen zusehen. Noch dazu handelt es sich um einen, den die Stadt Wien und ihr Bürgermeister selbst mitbetreiben.

Rothneusiedl ist Teil des letzten großen, zusammenhängenden Grüngebietes im Süden Wiens und bisher ausschließlich landwirtschaftlich genutzt. Das Areal liegt abgeschottet zwischen Großmarkt Inzersdorf, Liesingbach und den Dörfern Oberlaa und Unterlaa. Die nahe Regionalbahnstation wird stündlich angefahren, die nächste Straßenbahn ist mehr als einen Kilometer entfernt, und per Auto muss man einen Bahnübergang queren, um dorthin zu gelangen. Eine recht beschauliche Gegend, die allerdings ein Problem hat: Sie liegt an der neuen Südumfahrung Wiens, der S1, und in Reichweite der geplanten Verlängerung der U-Bahnlinie U1. Die beschaulichen Zeiten werden also bald vorbei sein.

Bürgermeister Häupl einigte sich nun mit Austria-Wien-Sponsor Stronach darauf, dass Wien das Gelände an Magna verkauft, um dort einen neuen Stadtteil zu errichten. Es geht um ein Stadion für 31.000 Besucher mit 9000 Parkplätzen (das Praterstadion hat 3000); zusätzlich um ein Shopping Center mit 120.000 Quadratmetern - das wäre Österreichs zweitgrößtes, nach der drei Kilometer entfernten Shopping City Süd, und wesentlich größer als die bisherige Nummer zwei, das Donauzentrum, zu dem es ein paar Stationen mit der U1 sind; und um ein bisschen Garnitur wie Wohnungen, einen Golfplatz und ein Rehazentrum, was nach Wiens erster Gated Community nach dem Vorbild Fontana in Ebreichsdorf klingt. Stronach erhält eine Kaufoption für die Flächen, die im Stadtbesitz stehen. Was soll daran falsch sein?

Die Grundfrage ist, wie ein Acker am Stadtrand zu lukrativem Grund werden kann und welchen Anteil die öffentliche Hand an dem Gewinn hat, der aus der Nutzungsänderung folgt. Planungsentscheidungen mit solch drastischen Auswirkungen können nicht zwischen Tür und Angel getroffen werden. Basis dafür wären fundierte Prognosen. Darauf aufbauend könnten die Planungsabteilungen Szenarien ausarbeiten, die dann wiederum dazu führten, notwendige Entwicklungsgebiete im so genannten Flächenwidmungsplan auszuweisen, etwa für Wohnbau und Betriebsansiedlung. Nach der öffentlichen Auflage zur Stellungnahme durch die Stadtbürger würde der Wiener Gemeinderat diesen Flächenwidmungsplan beschließen. Bei so großmaßstäblichen Nutzungen, wie Magna sie anstrebt, müssten zusätzlich Verfahren wie Umweltverträglichkeitsprüfung, Raumverträglichkeitsprüfung oder sogar Strategische Umweltprüfung durchgeführt werden. All das existiert im Falle Rothneusiedls bisher nicht. Aber in der Zeit von „speed kills“ sind diese Instrumente zur Wahrung der Interessen der Allgemeinheit viel zu langwierig.

Stronach bekommt eine Kaufoption für Grundstücke, die derzeit als landwirtschaftliche Fläche gewidmet sind. Die Option sagt natürlich, dass eine Umwidmung Voraussetzung für den Kauf ist: Aber da beißt sich die Katze in den Schwanz, weil eine andere Widmung als nun - ohne jede legitimierte Planung - festgelegt, wird am Schluss nicht herauskommen.

Dass Stadtentwicklung nicht immer nach dem Idealschema abläuft, ist kein Wunder. Raumplanung funktioniert heute leider zusehends seltener so, wie es die beschriebene Prozedur vorgibt. Grund dafür sind die quer durch das Parteienspektrum zunehmend neoliberale Politik und die immer beschränkteren öffentlichen Ressourcen. Heutige Stadtplanung kann Entwicklungen nicht allein finanzieren, sondern muss darauf hoffen, Investoren zu aktivieren. Und die lassen sich nur dann einspannen, wenn die Planung ihren eigenen Interessen dient. Doch auch in solchen Fällen, den so genannten Public-Private-Partnerships, muss doch klar ein Vorteil für die Allgemeinheit erkennbar sein - wozu sonst sollte sich die Stadt beteiligen?

Was spricht nun gegen das Projekt in Rothneusiedl? Ein erster Grund ist, selbst wenn man die fehlende Planungsmacht der Stadtverwaltung akzeptierte, die demokratiepolitisch fragwürdige Vorgangsweise. Auch wenn Flächenwidmung heute eher Anlassplanung ist, könnte deutlich mehr auf die Interessen der Bevölkerung Rücksicht genommen werden, als das hier der Fall ist.

Dazu kommt das Grünraum-Argument: Der 1905 beschlossene Wald- und Wiesengürtel ist eine politische Leistung, von der Wien bis heute zehrt. Mit dem Stadtentwicklungsplan 1984 wurde festgelegt, dass dieser Gürtel rund um die Stadt weitergeführt werden sollte, insbesondere im Süden wäre er zu verstärken. Deshalb wurde Rothneusiedl damals zum Grüngebiet erklärt. Mittlerweile ist es damit wieder vorbei, das Areal wurde Entwicklungsgebiet. Der aktuelle Stadtentwicklungsplan 2005 weist Rothneusiedl zwar als Zielgebiet aus, stellt aber lapidar fest: „Durch den Ausbau der Straßen- und Schieneninfrastruktur ist eine Entwicklungsdynamik zu erwarten, die nicht kompatibel mit den prioritären räumlichen Zielen der Stadtentwicklung ist.“ Diese Gefahr wird umso einsichtiger, wenn man bedenkt, dass die geplante Entwicklung durch stadtnähere Areale übernommen werden könnte, etwa am Nord- oder Südbahnhof, in Erdberg oder entlang der neuen U2. Nicht zuletzt scheint es derzeit darauf hinauszulaufen, eine Entscheidung zwischen dem U-Bahnbau zum Flugfeld Aspern oder nach Rothneusiedl zu fällen. Dies wäre angesichts des großen Grundbesitzes der Stadt in Aspern eine leichte Wahl - nur hat das offensichtlich noch niemand dem Bürgermeister gesagt.

Dann das Verkehrsargument: Für die geplante Verbindung S1-A23 bei Rothneusiedl gibt es bisher keine Finanzierung (350 Mio. Euro für etwa drei Kilometer), und die U1 wird nach aktuellen Schätzungen nicht vor 2015 hierher reichen. Und selbst wenn diese Anschlüsse realisiert sind, ist nicht alles paletti. Die Wiener Wirtschaftskammer-Präsidentin Jank rechnet mit 54.000 zusätzlichen Kfz-Fahrten täglich, allein durch das Einkaufszentrum. Selbst mit S1 und geplanter Verbindungsspange ist das nicht zu bewältigen, und für die Südost-Tangente wird es dadurch auch nicht lockerer - auf ihr fahren täglich bis zu 200.000 Fahrzeuge.

Und schließlich das Kaufkraft-Argument: Bereits jetzt besitzt Österreich eine der höchsten Verkaufsflächendichten in Europa. Nun soll fast in Sichtweite der Shopping City Süd, übrigens das größte Einkaufszentrum am Kontinent, ein weiteres Flächenmonster errichtet werden. Die Auswirkungen auf die Favoritenstraße und andere Einkaufsstraßen kann man sich vorstellen. Aber dieses Argument ist für die Stadtregierung sekundär, solange das Monster nur innerhalb der Stadtgrenze steht und Steuern bezahlt statt knapp draußen, wie das bei der SCS der Fall ist.

Im Fall Rothneusiedl kommt demnach eine ganze Reihe von Verstößen gegen zentrale Planungsprinzipien zusammen, wie es ja auch im Stadtentwicklungsplan zu lesen ist. Es stellt sich die Frage, ob man nicht von der Illusion der flächendeckenden Beplanung der Stadt vor jeder Projektentscheidung abgehen sollte. Das würde bedeuten, Anlasswidmungen zwar einerseits zu akzeptieren - andererseits für diese aber sinnvolle und vor allem demokratisch legitimierte Prozeduren festzulegen und vonseiten der Stadt verstärkt Projektgebiete zu betreuen. Die grüne Gemeinderätin Sabine Gretner meint: „Für die völlig unterschiedliche Planungssituation in der Gründerzeitstadt und am Stadtrand bräuchte es differenzierte Instrumente, die es abhängig von der jeweiligen Situation erlauben, für die Allgemeinheit wichtige Rahmenbedingungen festzulegen.“ So könnte man hier, an der Peripherie, manches festschreiben, was Flächenwidmungsplan und Bauordnung heute nicht ermöglichen, weil das Vorbild dafür immer die historische Stadt war.

Das Projekt zeigt die typischen Merkmale des Investorenstädtebaus: Flächenwidmung nach Vorgabe der maximalen Verwertbarkeit statt nach den Erfordernissen der Allgemeinheit; Ignoranz gegenüber mangelhaften Verkehrsanschlüssen, die nachträglich um viel Geld von der öffentlichen Hand finanziert werden müssen; und keinerlei Rücksicht auf öffentliches Interesse an Grünraum und einer Stadt der kurzen Wege. Wien fördert all das durch billige Grundstücke, wunschgemäße Widmungen, üppige Wohnbauförderung und, als Draufgabe, Autobahn- und U-Bahnbau bis vor die Haustür. Die Kosten bleiben bei der öffentlichen Hand, die Gewinne privat - ob das wirklich die richtige Definition von Public-Private-Partnership ist?

Der Standard, Sa., 2007.02.17

10. Februar 2007Robert Temel
Der Standard

Bin Architekt, bin Bauherr

Die Verknüpfung unternehmerischen Risikos mit architektonischem Anspruch hat eine große Geschichte mit Protagonisten wie Otto Wagner und Frank Lloyd Wright. Heute ist dieses Prinzip seltener, führt aber immer wieder zu herausragenden Ergebnissen.

Die Verknüpfung unternehmerischen Risikos mit architektonischem Anspruch hat eine große Geschichte mit Protagonisten wie Otto Wagner und Frank Lloyd Wright. Heute ist dieses Prinzip seltener, führt aber immer wieder zu herausragenden Ergebnissen.

In der gegenwärtigen Diskussion um Baukultur argumentieren Architekten häufig, dass eine klare Trennung zwischen Planung und Ausführung zu befürworten ist. Damit sprechen sie sich eindeutig gegen Totalunternehmermodelle aus, wie dies beispielsweise beim berüchtigten Klagenfurter Stadion der Fall ist.

Ein großer Vorteil einer Ins-tanzentrennung ist, dass sich Planer und Bauunternehmen gegenseitig kontrollieren und gleichermaßen zum Erfolg des Gesamtprojekts beitragen. Ein weiterer Vorteil liegt in der Tatsache, dass seitens der Architekten kein wirtschaftliches Interesse an einer bestimmten Bauweise oder umgekehrt Einfluss der Bauausführenden auf bestimmte Planungsvorgaben besteht. Die Arbeitsteilung liegt somit im Interesse des Auftraggebers, das da lautet: Kostenersparnis und höchste Qualität.

Anders sieht die Sache bei der Trennung von Projektentwicklung und Planung, also von Bauträgerschaft und Architektenleistung, aus. Immer wieder hört man die Klage, dass es so wenig Innovation bei Raumprogrammen und Gebäudetypen gebe und die Architekten nur geringe Spielräume innerhalb der Bauträger-Vorgaben haben. Als logische Folge daraus nehmen Architekten die Bauherrenfunktion nun selbst in die Hand. Dadurch können sie einerseits außergewöhnliche Bauprojekte realisieren und andererseits - vorausgesetzt, dass ihr Produkt vom Markt entsprechend angenommen wird - weitaus höhere Gewinne erzielen als mit Planung allein.

Vorreiter Steiermark

Ein gutes Pflaster für derartige Projekte scheint die Steiermark zu sein. Neben dem Atelier Innocad, dessen „Golden Nugget“ in Graz bereits für einige Furore sorgte, ist das Architektur- und Designbüro Pentaplan ebenso mit mehreren selbst entwickelten Realisierungen erfolgreich im Kurs. Das aktuelle Projekt trägt den Titel „Alphawolf“ und liegt in Andritz, einem Stadtteil im Norden von Graz. In der Endausbaustufe (Fertigstellung 2008) wird das Projekt 140 Wohnungen umfassen.

Ein zentrales Ziel des Projektes ist es, aus dem planerisch schwierigen Hanggrundstück optimale Wohnungen im hochwertigen Segment herauszuholen - als Konkurrenz zur etwas größeren Wohnung und zum Einfamilienhaus. Pentaplan versucht, dies durch Atrium-, Terrassen- und Reihenhäuser zu erreichen; der jeweiligen Einheit sind großzügige Gärten und Terrassen zugeordnet. „Die Bebauung soll sich den Hang hinabtreppen“, erklärt Architekt Wolfgang Köck von Pentaplan, „damit wird jeder Wohnung beste Besonnung geboten.“

Doch auch hier, bei der unmittelbaren Verknüpfung zwischen Entwickler und Planer, macht sich der unerbittliche Druck des Marktes bemerkbar. Während die ersten Bauabschnitte von „Alphawolf“, die bereits 2004 und 2006 übergeben worden waren, noch vergleichsweise aufwändige Typologien mit Atriumhäusern und Terrassenhausanlagen waren, sind die neueren Bauteile großteils wesentlich einfachere Reihen- und Doppelhaustypen.

Langzeiterfahrung

Pentaplan realisierte in Graz-Mariatrost unter dem Titel „Liquid Sky“ bereits Ende der Neunzigerjahre ein Atriumreihenhaus-Projekt, das für einige Furore sorgte. Die zuvor im Forschungsbereich tätigen Architekten erhielten ein Angebot über ein Baugrundstück und wagten den Sprung ins kalte Wasser, dieses nicht nur zu beplanen, sondern auch gleich selbst zu entwickeln. „Liquid Sky“ war wesentlich dichter konzipiert und folgte - so die Architekten - in seinem Zusammenspiel von Privatbereichen und Kontaktzonen dem Modell eines Dorfes mit Anger. Dem gegenüber bildet „Alphawolf“ die dichte und vielfältigere Variante einer Einfamilienhaus-Siedlung.

Der Ausgleich zwischen Marktbedarf und architektonischer Ambition wird allerdings zusehends schwieriger, scheint es. „Man lebt mit zwei Seelen in einer Brust“, stellt Köck fest. Obwohl bei den Projekten von Pentaplan die Funktionen Bauträgerschaft, Planung und Vertrieb rechtlich in getrennten Unternehmen verankert sind, ist die Zusammenarbeit letztendlich so dicht, dass die Interessengegensätze, die sonst zwischen verschiedenen Protagonisten ausgetragen werden, hier intern gelöst werden müssen. Dennoch bietet das Modell Potenzial für Innovationen am sonst überaus konventionellen Wohnbaumarkt.

Der Standard, Sa., 2007.02.10

27. Januar 2007Robert Temel
Der Standard

Bauen Wohnen Forschen

Klassische moderne Architektur ist untrennbar mit Innovation verbunden: durch neue Baumaterialien wie Stahl, Glas und Beton, neue Bautechniken wie Fertigbau, neue Bautypen wie sozialen Wohnbau und neue Baukonzepte wie die Gartenstadt oder den Hochhauscluster. Heute, in der so genannten Zweiten Moderne, sieht das anders aus.

Klassische moderne Architektur ist untrennbar mit Innovation verbunden: durch neue Baumaterialien wie Stahl, Glas und Beton, neue Bautechniken wie Fertigbau, neue Bautypen wie sozialen Wohnbau und neue Baukonzepte wie die Gartenstadt oder den Hochhauscluster. Heute, in der so genannten Zweiten Moderne, sieht das anders aus.

Die Innovationen der Hochzeit der architektonischen Moderne bis in die 1930er-Jahre waren möglich durch die Kooperation von Architekten, Bauunternehmern und Industrie. In einer späteren Phase der modernen Architektur, den 1960er- und 70er-Jahren, wurde der damals so genannte „Bauwirtschaftsfunktionalismus“, also die massenhafte Vulgarisierung der Moderne in Form schlechter Bauten, heftiger Kritik unterzogen. Auch das war wieder eine Zeit der Erneuerung: Nun standen etwa Formen des Städtischen, die Weiterentwicklung des industrialisierten Bauens und die Partizipation, also die Beteiligung der zukünftigen Benützer an der Planung, auf der Agenda.

Heute scheint es zwischen Bauen und Innovation keine direkte Verbindung mehr zu geben, wenn man von neuen Fassadenlösungen für Auto- und sonstige Museen absieht. Der Wohnbauforscher Wolfgang Amann stellte kürzlich in einer Studie zum Thema fest, dass die gesamtösterreichische Forschungsquote im vergangenen Jahr bei 2,43 Prozent des Bruttoinlandsproduktes lag, während die Bauwirtschaft bei 0,24 Prozent, also einem Zehntel, dahindümpelt.

Das ist bei einer Branche mit derartiger Bedeutung - immerhin ein Zehntel der österreichischen Wirtschaftsleistung - ein Problem. Es geht beileibe nicht nur um neue Betonarten oder Ziegelformen. Amann unterteilt die Bauwirtschaft in vier Bereiche: die bauausführende Wirtschaft, also Baugewerbe und Bauindustrie, wozu Unternehmen wie Strabag und Porr zählen; die Bauprodukte-Lieferanten von Wienerberger bis Eckelt Glas, von Waagner-Biró Stahlbau bis Zumtobel; die Bauträger, Architekten, Planer und Ingenieure; und schließlich immobilienbezogene Dienstleistungen wie Verwalter, Makler, Facility Management und Finanzierung.

Nach dieser Aufzählung überaus innovativer Unternehmen mag es überraschen, dass Forschung in der Branche ein Nischendasein fristet. Schließlich gibt es einige Felder, in denen die österreichischen Anbieter besonders stark sind. Dazu zählen das energieeffiziente und nachhaltige Bauen etwa in Form von Passivhäusern, Solartechnologie, die Neue Österreichische Tunnelbaumethode oder der Holzbau. Die positiven Beispiele zeigen, welche Möglichkeiten in einer Weiterentwicklung der Bauwirtschaft lägen. Im Durchschnitt über alle Marktteilnehmer gerechnet lässt die Innovationskraft allerdings zu wünschen übrig, wie ein Blick auf eine durchschnittliche österreichische Baustelle deutlich macht.

Wolfgang Amann relativiert die geringe Forschungsquote durch den Hinweis auf die europaweit vergleichbare niedrige Innovationsbereitschaft in der Baubranche. Was fehlt, ist auch ein positives Bild von Innovation, sagt er: „Verfahren der öffentlichen Hand wie der Wiener Bauträgerwettbewerb könnten von den Unternehmen viel stärker als Anlass für Forschung und Entwicklung genützt werden.“

Auch der Blick auf den Teilbereich der architektonischen Planung bringt nichts Besseres zutage: Forschung ist in der österreichischen Architektur kein zentrales Thema, wenn man die Entwicklungsarbeit, die Architekten im Rahmen ihrer Planungstätigkeit jeden Tag leisten, nicht dazuzählen will. Die ehemals sehr wichtige Wohnbauforschung führt seit 1988, als sie von der Bundes- in die Länderzuständigkeit wechselte, ein Mauerblümchendasein. Das Defizit wird auch im aktuellen Baukulturreport an die österreichische Bundesregierung thematisiert, der den Begriff Baukultur endlich ganzheitlich betrachtet und sich nicht nur auf die Architektensicht beschränkt. Der Report fordert massive Investitionen in Forschung und Entwicklung im Planungs- und Baubereich. Und dabei kann es nicht nur um Innovation im Hinblick auf Materialien und Bauabläufe gehen, sondern ebenso wichtig ist Forschung zu Planungsprozessen und Nutzungsformen. Die Architekturforscherin Edeltraud Haselsteiner formuliert das so: „Wesentlich für einen Innovationsschub im Baubereich ist das Einbeziehen der gesamten Wertschöpfungskette, von den Planern, Produzenten und Ausführenden bis zu den Nutzern.“ Zum Erfolg braucht es einerseits die klare Orientierung am Bedarf und andererseits die Kooperation quer durch die Sektoren. Wenn Bauunternehmen, Hersteller und Architekten getrennt voneinander forschen, ist die Effektivität jedenfalls drastisch reduziert.

Einen ersten Schritt in die richtige Richtung setzte die Forschungsförderungsgesellschaft FFG im vergangenen Herbst, indem sie die „Brancheninitiative Bauwirtschaft“ startete. Die bisher etwa sechs Millionen Euro Forschungsförderung, die pro Jahr in den Baubereich fließen, sollen nun verdoppelt werden. Die Initiative bewegt sich allerdings ausschließlich im Rahmen der bestehenden Programme, ohne eigene Angebote speziell für die Bauforschung.

Ergänzende Schritte scheinen nötig, wenn die hiesige Bauwirtschaft sich im europäischen Kontext behaupten will. Peter Kremnitzer von Porr, Koordinator der von den Forschungsnutzern ins Leben gerufenen Austrian Construction Technology Platform, meint, dass die vorhandenen Förderangebote von der Branche zu wenig ausgenützt werden. Ein besonderes Problem ist die kleinteilige Strukturierung der Bauwirtschaft, die Forschungsinvestitionen sehr schwierig macht: „Die Lösung dafür sind Cluster von kleinen und mittleren Unternehmen wie beispielsweise die Holzcluster in vielen österreichischen Bundesländern.“ Durch derartige Zusammenschlüsse kann die kritische Größe für Forschungsprojekte erreicht werden. Aus seiner Sicht ist außerdem das aktuelle Vergaberecht in Österreich nicht gerade innovationsfreundlich, weil es - jedenfalls in seiner üblichen Anwendung - auf konservative Standardlösungen setzt und innovative Alternativvorschläge bestraft.

Der Betonproduzent Wolfgang Rieder gibt eine Perspektive vor: „Um weiterbestehen zu können, wenn die österreichische Bauleistung langfristig auf den um zwei Prozent niedrigeren EU-Schnitt sinkt, müssen wir innovativ sein und exportieren.“ Er setzt mit seinen Produkten auf Nachhaltigkeit durch längere Lebensdauer und durch die Verwendung natürlicher Beschichtungen. Rieder konnte sich mit einer neuen Produktlinie für Faserbeton innerhalb weniger Jahre international positionieren, liefert heute in Länder von Neuseeland bis USA und baut mit Architekturstars wie Zaha Hadid und Norman Foster.

Der Standard, Sa., 2007.01.27

Profil

Architektur- und Stadtforscher in Wien

Mitgliedschaften

Mitgliedschaften
2003–2009 Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Architektur, ÖGFA
2009–2019 Vorstandsmitglied der Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen
2015–2023 Mitbegründer und Vorsitzender des Aufsichtsrats bei Der WoGen Wohnprojekte-Genossenschaft e.G.
Seit 2013 Sprecher der Plattform Baukulturpolitik

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