Editorial

Möchten wir in Städten, Siedlungen und Landschaften leben, die von gestalterischen Egotrips dominiert werden, die zudem noch schlecht altern? Wohl eher nicht. Architektur, die sowohl den Bezug zum Kontext als auch den Aspekt der Dauerhaftigkeit ernst nimmt, überzeugt häufig gerade durch ihre dezente, zurückhaltend-abwägende Gestaltung: Farbigkeit, Details und Gebäudevolumen werden nicht dazu eingesetzt, Aufmerksamkeit zu heischen, sondern ganz im Gegenteil sorgfältig austariert, um neben dem Wohlbefinden der Nutzer auch die Entwicklung des Kontexts zu fördern. Wir stellen Projekte vor, die auf ihr jeweiliges Umfeld mit einer Architektur reagieren, die trotz Verzichts auf gestalterische Knalleffekte Gebäude mit Charakter entstehen lässt. Darüber hinaus widmen wir uns in einem Fachbeitrag dem aktuellen Trend beim Bauen im Bestand, der die lange Jahre verfolgte Maxime des Kontrasts von Alt und Neu infrage stellt. | Martin Höchst

Intelligente Fortschreibung

(SUBTITLE) Verwaltungszentrum Oberer Graben in St.Gallen (CH)

An der Schnittstelle zwischen Altstadt und Bahnhofsvorstadt haben die Baseler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider zwei Geschäftshäuser des frühen 20. Jahrhunderts um zwei Neubauten ergänzt. Die vier zusammengeschalteten Häuser bilden nun ein Ensemble, das durch die subtile Balance zwischen Alt und Neu überzeugt. Die Architekten verwendeten Rasterfassaden – aber dies frei von jeglicher Stereotypie, wie man sie heutzutage allerorten findet.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert veränderte sich die ökonomische Struktur des Kantons Sankt Gallen radikal. War die Handstickerei seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor avanciert, so führte nun die Industrialisierung des Stickereigewerbes zu einem Urbanisierungsschub in der bisher kleinstädtisch geprägten Kantonshauptstadt. Ein neuer Bautypus entstand: das Kontorhaus, in dem die in den Industriebetrieben ringsum produzierten Textilien ausgerüstet, konfektioniert, zur Schau gestellt und zum Versand bereit gemacht wurden. Hauptabsatzmarkt der boomenden St.Galler Textilindustrie waren die Vereinigten Staaten, und so trugen viele der mächtigen Stickereihandelshäuser amerikanische Namen: Washington, Chicago, Pacific, Oceanic.

Vorbilder für die Kontorhäuser gab es in der Schweiz nicht – man orientierte sich stattdessen an den Metropolen der damaligen Welt, an Chicago und Berlin. Im Westen der Stadt, zwischen Bahnhof und dem Altstadtkern, entstand ein neues Stadtviertel, das völlig neue Maßstäbe setzte und auch heute noch – trotz massiven Eingriffen in den 60er und 70er Jahren – durch seine grandiosen, dem Späthistorismus, dem Jugendstil und der Reformarchitektur vor dem Ersten Weltkrieg zuzuweisenden Bauten zu faszinieren vermag.

Zu den wichtigsten Akteuren zählten der aus Nordböhmen stammende, vom Wiener Bauen des Fin de Siècle geprägte Wendelin Heene, die Züricher Architekten Pfleghard & Haefeli sowie die 1887 in Karlsruhe gegründete Bürogemeinschaft der Schweizer Architekten Robert Curjel und Karl Moser, die 1907 angesichts lukrativer Bauaufträge eine Zweigniederlassung in Sankt Gallen installierten. Als Bauleiter für ihre ostschweizer Aufträge fungierte der aus dem Schwarzwald stammende Architekt Anton Aberle, der sich 1909 selbstständig machte und noch im gleichen Jahr ein als Geschäftshaus für eine Buchbinderei und Kartonagefabrik am Oberen Graben errichtete – dort, wo früher der Stadtgraben das westliche Ende der Altstadt markiert hatte. Vier Jahre später vollendete Aberle ein unmittelbar benachbartes Stickereigeschäftshaus. Beide Gebäude sind unzweideutig von Curjel & Moser inspiriert und folgen dem in Sankt Gallen gängigen Typus der mit Sandstein bekleideten, in ihrer Formensprache zwischen Neubarock, Jugendstil und Reformarchitektur oszillierenden Stahlbetonskelettkonstruktionen.

Etwas zeitversetzt bedeutete der Erste Weltkrieg den Niedergang für die örtliche Textilindustrie. 1944 übernahm die kantonale Verwaltung Aberles Bauten am Oberen Graben und nutzte sie fortan für das Justiz- und Sicherheitsdepartement.

Vereinigte Vielfalt

Weil die Bausubstanz nach mehr als einem halben Jahrhundert weder den räumlichen Bedürfnissen noch den sicherheitstechnischen und energetischen Standards genügte, führte der Kanton 2003 einen Wettbewerb im einstufigen Verfahren durch, den das junge Baseler Büro jessenvollenweider für sich entscheiden konnte. Ziel war nicht nur die Sanierung des Bestands, sondern auch dessen Ergänzung durch Neubauten auf beiden Seiten. Planung und Realisierung verzögerten sich durch die Neuorganisation der Kantonalen Verwaltung verantwortlich waren. Am Ende fiel die Entscheidung, das Sicherheits- und Justizdepartement, sowie das Gesundheitsdepartement mit ihren Ämtern und Abteilungen im Gesamtkomplex unterzubringen. Einige Bereiche, so das Straßenverkehrsamt mit Zulassungsstelle, die Meldestelle und das Migrationsamt, weisen eine hohe Besucherfrequenz auf, andere – etwa die Justizbehörde – unterliegen verstärkten Sicherheitsvorkehrungen. Die Aufgabe der Architekten bestand also nicht nur darin, Alt- und Neubauten zueinander in Beziehung zu setzen, sondern auch in einer den Betriebsabläufen entsprechenden räumlichen Optimierung.

Differenziert und geöffnet

jessenvollenweider sind beide Herausforderungen auf kongeniale Weise gelungen. Die beiden ergänzenden Volumina – im Süden entlang des Oberen Grabens, im Nordwesten entlang der Frongartenstraße – ergänzen die beiden Bestandsgebäude zu einem Ensemble aus vier Bauten, die als eigenständige Elemente erkennbar bleiben, sich aber doch zusammenfügen. Gewiss tragen die Neubauten zur Verdichtung bei, klären die bisher disparate städtebauliche Situation und orientieren sich an der Idee der Blockrandbebauung. Die große Qualität der Lösung besteht aber darin, dass es hier nicht um die Verabsolutierung einer heute gerne als Allheilmittel angesehenen städtebaulichen Typologie geht. Wie selbstverständlich gelingt es jessenvollenweider, an der Gartenstraße an ein ehemaliges Bankgebäude der 70er Jahre anzuknüpfen, während sie im Nordwesten, an der Frongartenstraße, die Hofsituation öffnen und den Eingang zum Straßenverkehrsamt auf der Rückseite der Aberle-Bauten anordnen.



Auf subtile Weise, ganz unspektakulär, offenbart sich die Intelligenz der architektonischen Lösung beim genauen Hinsehen. Denn die Rigidität einer Blockrandbebauung wird hier mit verschiedenen Mitteln gemildert, ja infrage gestellt. Zum einen treffen orthogonale und gekurvte Elemente aufeinander – eine Kombination die sich nicht nur am Eckbau Oberer Graben/Frongartenstraße, sondern auch bei anderen Gebäuden aus der Boomzeit der Stickereiwirtschaft in Sankt Gallen findet; zum zweiten tragen zurückspringende Attikazonen sowie Dachterrassen zur volumetrischen Differenzierung des Gesamtensembles und zu seiner Adaptionsfähigkeit bei; zum dritten schließlich lösen die Architekten die klassische Opposition von Innen und Außen, von Repräsentations- und Hoffassade auf, indem sie den Block an der Frongartenstraße öffnen. Sukzessive verschiebt sich hierbei die Rasterstruktur des Anbaus im Hof zu einer Lochfassade.

Weiche Übergänge

Wie subtil jessenvollenweider vorgehen, zeigt sich nicht zuletzt an der differenzierten Gestaltung der Neubaufassaden im Verhältnis zu den Altbauten. Das historische Eckgebäude Oberer Graben 32 ist latent horizontal gegliedert, und so antworten sie mit dem Neubau Frongartenstraße 5 komplementär mit einer vertikal betonten Struktur. An die vertikal bestimmte Fassade Oberer Graben 36 schließt sich hingegen der horizontal gegliederte Bauteil Oberer Graben 38 an, der überdies zum Sichtbetonbau der 70er Jahre an der Gartenstraße vermittelt. Beide Neubauten sind in Mischbauweise erstellt: Die Hauptstruktur als Ortbeton, die zurücktretenden Elemente wurden vorgefertigt und vor Ort vergossen. Durch Behandlung des mit Kalkstein als Zuschlagstoff versehenen Betons mit dem Stockhammer erzielten die Architekten eine fast textile Oberflächenstruktur, welche mit den Werksteinfassaden der Altbauten ebenso harmoniert wie mit der Betonstruktur des Baus aus den 70ern und überdies als Reverenz an die St.Galler Textilindustrie verstanden werden kann. Letzteres gilt auch für die ornamentalen Details der Kastenfenster aus Baubronze, welche der rationalen Fassadenstruktur ein poetisches Element beigesellen. Das gleiche Muster findet sich auch als Serigrafie in der Schalterhalle des Straßenverkehrsamts.

Ziel im Innern war es, die vorhandene Raumdisposition zu klären und möglichst sinnvoll mit den räumlichen Ergänzungen zu verbinden. Die Räumlichkeiten des Straßenverkehrsamts sind im Hofgeschoss angeordnet, die der Ausweis- und Meldestelle im vom Oberen Graben aus zugänglichen EG. Die Besprechungsräume, welche von allen Dienststellen genutzt werden, finden sich im 1. OG. Schwarzer Terrazzo prägt die öffentlichen Bereiche, während in den Büros Linoleum verlegt wurde; Fensterrahmen, Fußleisten und Handläufe bestehen aus Eichenholz.

Das spektakulärste Element – und zugleich die größte Intervention im Rahmen der bestehenden Substanz – stellt der imposante Lichthof dar, welcher die vormals bestehenden Treppenhäuser der Gebäude Oberer Graben 32 und 36 ersetzt und den räumlichen Schwerpunkt des Ensembles bildet. Wie auch das Nebentreppenhaus Oberer Graben 38 wird das Atrium von einem Stabwerk aus gelblich glänzenden und verdrehten Stahlstäben eingefasst. Als Kunst am Bau schweben reflektierende, an Vögel erinnernde Objekte von Adrian Hostettler (Hellraum, St.Gallen) im Lichtraum. Über Reflektoren von oben natürlich belichtet, verleihen sie dem Atrium ein elegantes und poetisches Gepräge. Es avanciert zu einer schillernden Druse innerhalb eines zurückhaltenden und doch selbstbewussten Ganzen.

db, Mo., 2013.07.01

01. Juli 2013 Hubertus Adam

Die Macht der Zurückhaltung

(SUBTITLE) Mehrfamilienhaus »Flottwell Zwei« in Berlin

Formale Reduktion und Zurückhaltung bedeuten nicht zwangsläufig Unscheinbarkeit. Das zeigt das Büro Heide & von Beckerath mit einem Mehrfamilienhaus in der Berliner Flottwellstraße. Der Neubau steht in der Tradition der Moderne und ist gleichwohl auf der Höhe der Zeit.

Mit größter Selbstverständlichkeit besetzt dieses Haus seinen Ort. Gelassen, in sich ruhend, gerade so, als wisse es um seine besonderen Qualitäten und bräuchte sie eben deshalb nicht in die Welt hinausposaunen. Als Neubau erkenntlich und in seiner Erscheinung entschieden heutig, steht das Gebäude mit seiner klar gegliederten und formal bewusst zurückhaltenden Fassade unverkennbar in der Tradition der Moderne. Mies van der Rohe, dessen Büro sich einst um die Ecke befand, hätte mit großer Wahrscheinlichkeit seine Freude daran gehabt: An der farblich akzentuierten vertikalen Zweiteilung dieses Hauses, an der stockwerkshohen Verglasung der Wohnungen, an den hellgrauen Vorhängen, die bei Bedarf für Beschattung und Sichtschutz sorgen, an den die gesamte Wohnungsbreite einnehmenden Balkonen, an deren denkbar einfachen, wunderbar filigranen Metallbrüstungen und überhaupt an dem nüchtern-sachlichen und doch kraftvollen Auftritt des vergleichsweise schmalen Gebäudes.

Ihm wären mit Sicherheit auch die Stufen aufgefallen, mit denen sich die nicht sonderlich weit auskragenden Balkone zum Straßenraum abtreppen (linke Hausseite) bzw. ansteigen (rechte Hausseite). Ob Mies aus diesen ungewöhnlichen »Split-Level«-Balkonen auch auf die innere Struktur des Hauses geschlossen hätte, wo das Motiv eine zentrale Rolle spielt, dürfen wir dahingestellt sein lassen. Wir begnügen uns vorerst mit der Feststellung, dass einem leidlich sensiblen, aufmerksamen Beobachter spätestens bei diesem gestalterischen Detail auffallen wird, dass es mit diesem Wohnhaus, bei aller demonstrativ zur Schau getragenen Normalität womöglich doch etwas Besonderes auf sich hat. Zur Wahrnehmung seiner überdurchschnittlichen gestalterischen Qualität würde im Zweifelsfall auch ein Blick auf die fast zeitgleich entstandene Nachbarbebauung genügen.

Abseitig und zentral

Die Flottwellstraße, in der das Haus steht, gehört nicht zu den prominenten Adressen Berlins und darf dennoch zu den sehr guten innerstädtischen Wohnlagen gezählt werden. In fußläufiger Entfernung zum Potsdamer Platz und zum Kulturforum lebt man hier ganz nah an den Verlockungen des Großstadttrubels und doch weit genug von seinen Zumutungen entfernt. Südlich des Landwehrkanals und parallel zur (längst wieder hippen) Potsdamer Straße gelegen, gehörte die Straße jahrzehntelang zu jenen für Berlin typischen, halb vergessenen Nachkriegsbrachen, die ungeachtet ihrer Zentrumsnähe als völlig abseitig wahrgenommen wurden. Das hat sich erst in jüngster Vergangenheit geändert und mag auch mit der Fertigstellung des Parks am Gleisdreieck (s. db 3/2012, S. 25) in unmittelbarer Nachbarschaft zusammenhängen. Denn die auf dem ehemaligen Areal des Anhalter- und Potsdamer Güterbahnhofs realisierte, kürzlich eröffnete Grünanlage hat wesentlich dazu beigetragen, das Interesse von Planern und Investoren auf das Quartier und seine Qualitäten zu lenken.

Für den Neubau der Flottwellstraße Nr. 2, der sich übrigens ohne Federlesen an die städtebauliche Vorgabe der Blockrandbebauung hält, zeichnet das in Berlin ansässige Büro Heide & von Beckerath verantwortlich – und das in zweifacher Hinsicht. »Flottwell Zwei«, wie das Projekt intern getauft wurde, entstand zwar offiziell im Rahmen einer Baugemeinschaft. Tatsächlich waren bei diesem Wohnhaus die Architekten über ihre planerische Leistungen hinaus auch als Projektentwickler tätig. Wie genau es dabei um die finanziellen bzw. wirtschaftlichen Dinge bestellt war, haben wir nicht eruiert und es tut hier auch weiter nichts zur Sache. Bemerkenswert aber bleibt, dass die Architekten selbst die nur 418 m² große Parzelle entdeckten, ihr Potenzial erkannten und das Grundstück in einem Bieterverfahren vom Land Berlin erstehen konnten; dass sie danach ein außergewöhnliches und ambitioniertes Konzept für die Wohnungen entwickelten und auf eigenes Risiko umsetzten. Schließlich, dass sie damit offensichtlich die Bedürfnisse einer genügend großen Nutzer- bzw. Käufergruppe trafen und das Projekt zumindest mit so großem Erfolg zu Ende führen konnten, dass sie nun an weiteren derartigen Vorhaben arbeiten.

Kompakt und flexibel

Was das schlichte Äußere des Hauses auch dem aufmerksamsten Betrachter nicht enthüllt, ja was es mit seiner scheinbaren Normalität fast schon verschleiert, ist sein komplexes, erstaunlich variantenreiches Innenleben. Denn anders als es die Fassade suggeriert, fallen die dahinter liegenden Wohnungen in Größe und Zuschnitt unterschiedlich aus. Dazu trägt der bereits erwähnte Split-Level wesentlich bei, denn er erlaubt es, die zueinander versetzten Wohnebenen in unterschiedlicher Weise miteinander zu verknüpfen. So entwickelten die Architekten für das Haus ursprünglich nicht weniger als acht Wohnungstypen. Die Palette reichte vom Ein-Zimmer-Apartment mit gerade einmal 32 m² bis hin zu einer sich über drei Geschosse bzw. sechs Ebenen erstreckenden Wohneinheit mit einer Grundfläche von 273 m². Realisiert wurden am Ende aber nur fünf Varianten. Die größten Wohnungen weisen dabei eine Fläche von 145 m² auf, die sich über drei Ebenen verteilen. Das fertige Haus besteht aus 12 getrennten Wohneinheiten. Hinzu kommt ein gewerblich genutztes Studio im EG.

Als zentrale Zielsetzung der Grundrissentwicklung benennen die Architekten die Kombination von Kompaktheit und Flexibilität. Die Wohnungen wurden zu diesem Zweck in drei Bereiche eingeteilt, die grundsätzlich in einem räumlich offenen Verhältnis zueinander stehen, bei Bedarf aber durch mehrteilige, raumhohe Schiebetüren voneinander getrennt werden können. Der Bereich, der nach Osten, zur Straße hin liegt und dort vom Balkon begrenzt wird, dient idealerweise dem gemeinschaftlichen Wohnen. In der Mitte der Grundrisse, befindet sich die offen konzipierte Küche und das Badezimmer. Der nach Westen und damit zum ruhigen Hofraum hin orientierte Bereich schließlich nimmt die Schlafräume auf, die sich anstelle eines vollwertigen Balkons mit einem schmalen Austritt begnügen müssen. Geschosshohe Fenster auch an der rückwärtigen Fassade garantieren trotz einer Gebäudetiefe von 16 m dabei eine gute natürliche Belichtung auch des mittleren Bereichs.

Zur optionalen Ausstattung des Hauses gehören modular konzipierte Einbauküchen und Einbau-Wandschränke. In ihrer geradlinigen Schlichtheit und formalen Zurückhaltung korrespondieren sie glücklich mit dem äußeren Erscheinungsbild des Gebäudes. Und außen wie innen sind es die Details – bei den Einbaumöbeln etwa die Griffeinkerbung der Schranktüren – an denen sich die Qualität der Gestaltung manifestiert.

Zum Understatement und zur formalen Zurückhaltung, die dieses Wohnbauprojekt kennzeichnen, gehört auch das Farbkonzept. Von den Holzböden und hölzernen Einbauten abgesehen, beschränkt sich die Farbigkeit auf Schwarz, Weiß und diverse warme Grautöne. Das erscheint geschmackvoll und in sich schlüssig, wirkt aber, zumindest auf den Fotografien der noch leeren Wohnungen, bisweilen auch reichlich kühl. Energetisch beschreitet das Projekt keine neuen Wege. Durch den Anschluss an die Fernwärmeversorgung, den kompakten Baukörper und eine gute Dämmung der Fassade (verputztes WDVS und Dreifach-Verglasungen) konnten die Anforderungen der seit 2009 gültigen Energieeinsparverordnung um 30 % unterschritten werden. Aufgrund der aussteifenden Wirkung der gestaffelten Geschossdecken konnten überdies einige der Wände der Mischkonstruktion (Stahlbeton und Mauerwerk) ressourcenschonend schlank dimensioniert werden. Das ist nach Ansicht der Architekten ökologisch befriedigend und für die Bewohner ein handfester ökonomischer Vorteil. Es ist relativ offensichtlich und legitim, dass der Fokus des Projekts nicht auf diesem Feld lag.

In Zeiten wie heute, da der Wohnungsbau in der Berliner Innenstadt entweder durch billige Investoren-Architektur oder durch meist schales Luxusgehabe in den verschiedensten formalen Spielarten geprägt wird, ist ein Projekt wie Flottwell Zwei eine wohltuende Ausnahme. Es wäre gut für die Stadt, wenn der hier zum Ausdruck kommende Geist der gestalterischen Zurückhaltung und der entspannten Selbstverständlichkeit Schule machen würde.

db, Mo., 2013.07.01

01. Juli 2013 Mathias Remmele

Moderne Verwandtschaft

(SUBTITLE) Erweiterung und Teilsanierung der Heinrich-Schütz-Schule in Kassel

Die Heinrich-Schütz-Schule von Heinrich Tessenow aus den späten 20er Jahren gilt als prägendes Beispiel der »Frühen Moderne«. Ihre Sanierung war lange überfällig, der Anbau eines Klassentrakts dringend nötig. Den Spagat zwischen historischer Verpflichtung und eigenständigem Ausdruck meistern die Architekten durch einen zurückhaltenden aber dennoch selbstbewussten Umgang mit dem baulichen Erbe.

Die wachsende Anzahl von Schülerinnen des 1909 gegründeten ersten Mädchengymnasiums im Regierungsbezirk Kassel erforderte 1927 einen Neubau, dessen Wettbewerb der Reformarchitekt Heinrich Tessenow gewann. Zur Fertigstellung 1930 wurde die Schule »Malwida-von-Meysenbug-Schule«, nach der progressiven Kämpferin für Pressefreiheit und Emanzipation, benannt. Weil jedoch deren verkörpertes Frauenbild nicht in die Ideologie der Nationalsozialisten passte, benannten diese sie 1940 um; bis heute trägt sie aufgrund ihres musikalischen Schwerpunkts den Namen des frühbarocken Komponisten Heinrich Schütz. Im Krieg wenig beschädigt, beschlagnahmten die amerikanischen Besatzer das Gebäude, die Turnhalle wurde kurzerhand zur Garagenwerkstatt und die Aula zum Kino »Liberty« umfunktioniert. Seit Wiedereinzug der ursprünglichen Institution 1947 folgten etliche interne organisatorische Veränderungen – gegenwärtig beheimatet die kooperative Gesamtschule gut 1000 Schüler der fünften bis zehnten Klassenstufe.

Fußläufig vom Bahnhof Wilhelmshöhe entfernt liegt das Bundessozialgericht (ehemaliges Generalkommando, 1938) in unmittelbarer Nachbarschaft zur Heinrich-Schütz-Schule. Die Entwurfsansätze beider aus annähernd gleicher Zeit stammenden Bauten könnten kaum unterschiedlicher sein. Während auf der einen Seite wuchtig gerahmte Fenster in tiefen Laibungen den Eindruck von Masse verstärken, scheinen ihre gegenüber flachbündig gesetzten Pendants in feinen Faschen die Fassade als gläserne Wand auflösen zu wollen. Um das viergeschossige, in Nord-Süd-Richtung axialsymmetrische Schulhaus mit Innenhof gruppieren sich an den Ecken drei, mit ähnlichen Ansichten aber unterschiedlichen Volumen, gestaltete Flügel: Aula, Hausmeisterwohnung und Turnhalle. Flach geneigte Dächer und rigide Lochfassaden der quaderförmigen Baukörper verweisen dabei auf Tessenows Drang hin zum »Neuen Bauen«.

Weitergedacht

2009 erhielten die ortsansässigen Architekten Schultze + Schulze für die Renovierung der Aula und Einfügung einer Mensa in Tessenows Schule aus Mitteln des Konjunkturprogramms von Bund und Land den Direktauftrag. Darüber hinaus sollte ein 1975 rücksichtslos angefügter Waschbetonbau abgebrochen und statt seiner der Neubau eines Fachklassentrakts mit 13 Unterrichts- und Sammlungsräumen entstehen. Dessen Lage auf dem Grundstück – als Weiterführung des östlichen Turnhallenannexes – bewahrt die freie Sicht auf das als Endpunkt einer angrenzenden Grünanlage gedachte Schulgebäude. Zudem schafft seine Position eine Straßenanbindung der zuvor ringsum durch Grün auf Abstand gehaltenen Anlage und lenkt damit die Personenströme Richtung Haupteingang. Wie selbstverständlich fügt sich der als »Malwida-von-Meysenbug-Flügel« bezeichnete Trakt in die Dramaturgie des Tessenow’schen Grundrisses ein. Seine klaren Linien unterstreichen das puristische Erscheinungsbild des Gesamtensembles. Für ganz unterschiedliche Ansichten der Ergänzung sorgt ihre Hanglage: Hofseitig betrachtet duckt sie sich überwiegend eingeschossig nah am Boden, nach Süden zeigt sie ihre drei Etagen in voller Höhe. Bei aller Demut gegenüber dem wenig zugänglichen »Weißen Schloss« gibt sich der Flachbau offen, freundlich, und daher durchaus eigenständig.

Modern(e) fortgeführt

Zur Herstellung einer Verwandtschaft mit modernen Mitteln begegnen die Architekten der denkmalgeschützten Ikone im wahrsten Wortsinn auf Augenhöhe. In Verlängerung der Turnhalle nehmen sie deren Traufhöhe, Breite und Farbigkeit auf. Eine obligatorische Glasfuge trennt den Erweiterungsbau vom Bestand und belichtet das dahinterliegende Treppenhaus. Der zweite Aufgang als Fluchtweg befindet sich am anderen Kopfende, wo der lang gestreckte Riegel dreigeschossig an die Freiherr-vom-Stein-Straße andockt. Ein kleiner in Wandscheiben ausgeführter Balkon lockert die Straßenfassade auf und gibt ihr – zusammen mit den lang gezogenen Fensterbändern – den Anstrich der »Neuen Sachlichkeit«. Die Südansicht hingegen erinnert in ihrer Struktur an die »Zweite Moderne«, an Bauten von Sep Ruf oder Egon Eiermann. Stationäre Sonnensegel gliedern die fast vollständig verglaste Front. Das spannbare und mit Kunststoff überzogene Textilgewebe lässt dabei aufgrund seiner Mikroperforierung natürliches Licht aber keine Wärme ins Innere.

Auf der Hofseite führt ein Laubengang in direkter Verlängerung zum Haupteingang des historischen Hauptgebäudes und verknüpft so bereits im Außenbereich Alt und Neu. Nicht nur bei schlechtem Wetter ist dies ein beliebter Ort von Schülern, Skateboardern und Inlineskatern. Die reduzierte Materialwahl der Ergänzung aus Putz, Glas und Stahl versprüht zeitlose Noblesse. Dank weit außen liegender Pfosten-Riegel-Konstruktion im Wandaufbau kaschieren die Aluminiumfenster mit ihren raumhohen, außenbündig gesetzten Scheiben, bauphysikalisch sinnvoll, die Außenkanten des eingesetzten WDVS'. Um die Langlebigkeit des druckanfälligen Fassadenaufbaus zu gewährleisten, wurde er auf Eingangsebene großflächig mit einer 11,5 cm breiten Vorsatzmauerschale verstärkt. Erst bei genauerem Hinsehen zeichnet sich diese als minimaler Versatz ab.

Behutsam wiederbelebt

Vom Pausenhof aus gelangt man am Haupteingang über eine respekteinflößend breite Treppe ins Foyer des mächtigen Klassenblocks. Während rechter Hand der alte Klassentrakt anschließt, führt der Weg geradeaus in die frisch sanierte Aula. Im UG direkt unterhalb der Vorhalle befindet sich die neue Mensa. Ihre nach Süden vorgelagerte Terrasse öffnet sich zum Park an der Wilhelmshöher Allee, wo einst der unsensible Betonklotz den Blick auf die Südfassade verstellte. Tiefe Fensternischen, die den Schülern als Sitzgelegenheiten dienen, erlauben nun eine freie Aussicht ins Grüne.

Mit Eintritt in die grundlegend sanierte Aula durch die den Originalproportionen nachempfundene Türanlage begibt sich der Besucher auf eine Zeitreise. Bühnengestaltung (nach heutigem Orchesteranspruch etwas vergrößert), Vorhänge, Messinglampen sowie Farbanstriche an Holzverkleidung der Stützen und Decke orientieren sich an Fotobelegen des ursprünglichen Zustands; die wie Marmor wirkende Kalkschlämme an den Wänden leitet sich aus Vor-Ort-Befunden ab. Brandflecken im abgeschliffenen Parkett zeugen von einem Bombentreffer aus dem Zweiten Weltkrieg. Zwei Originalstuhlreihen auf der Empore vermitteln den von Tessenow gewollt spartanischen Eindruck – der heutige Zuhörer hat es dagegen gern etwas bequemer, sodass der Rest des Gestühls rot gepolstert ist. Die in schwarz gehaltene Technik entspricht dem aktuellen Stand und lässt sich je nach Anlass leicht entfernen. Als Glücksfall für die Erneuerung der Fenster in der Aula stellte sich der Abriss des ungelenken Appendix aus den 70ern heraus: ehemals vermauerte Öffnungen im Haupthaus gaben Originalrahmen preis, nach deren Vorbild die aktuellen Profile in schlanker Optik gefertigt werden konnten. So zeichnet der durch großflächige, hohe Fenster zweiseitig belichtete Saal auf wunderbare Weise ein Bild der Stimmung nach, die hier schon früher geherrscht haben mag.

Gezielt betont

Sowohl die reduzierte Formsprache als auch der punktuelle Einsatz von Farbe der sensibel wiederhergestellten Aula setzt sich innerhalb des neuen Fachklassentrakts wohltuend fort, ohne sie jedoch nachzuahmen. So betonen wenige Farbtupfer die Klassenzugänge und Treppen. Der Bodenbelag aus geflammtem Basalt und die schwarzen Türflügel kontrastieren in den weiß gehaltenen Erschließungsbereichen mit den je nach Etage rot bzw. hellblau gestrichenen Türlaibungen. Gleiches gilt für die hellblauen Stahlbleche der Treppenbrüstungen, die den skulpturalen Eindruck der freigestellten Stiege unterstützen. Im Gebäude orientieren sich alle Klassenräume nach Süden in die Grünanlagen; die opulenten Glasscheiben sind zum Arbeiten am PC zusätzlich über Rollos abblendbar. Lediglich die Sammlungsräume im UG liegen in der hangseitig bedingten Dunkelzone. Zur Belichtung des fensterlosen untersten Flurs bedienen sich die Planer eines effektiven Kniffs. Durch eine Reihe von selbsttragenden, stahlbewehrten Elementen aus Glasbausteinen leiten sie das über Lichtkuppeln gewonnene Tageslicht nach unten. Zwar erfüllt der Anbau mit seiner beheizbaren Be- und Entlüftungsanlage die Kriterien eines Passivhauses, um jedoch eine gewisse akustische Wahrnehmung des Parks zu gewährleisten, wurden als Kompromiss Öffnungsflügel in die Fassade integriert, die dazu noch als Zugang zu den Putzbalkonen dienen.

Abgesehen von einigen Spechthöhlen in ihrer Außenhaut weist die Schulerweiterung nach zwei Jahren noch keine Schäden auf. Selbst Graffitis sind nicht zu finden, obgleich sich die weißen Fassaden als Ziel von Attacken dieser Art bestens anböten. Dies lässt sowohl auf eine hohe Nutzerakzeptanz als auch auf die besondere Aufmerksamkeit der Schulleitung schließen. Eine größere Auszeichnung des Kleinods, das bereits u. a. die »Simon-Louis-du-Ry-Plakette« des BDA Hessen erhalten hat, kann es wohl kaum geben.

db, Mo., 2013.07.01

01. Juli 2013 Hartmut Möller

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