Editorial

Von Korridoren und Blackboxes, Big Boxes und logistischen Landschaften

Jeder kennt sie. Doch niemand nimmt sie bewusst wahr. Schon gar nicht Architekten. Meist erlebt man sie nur im Vorbeifahren. Sobald man die Stadt verlässt oder sich ihr nähert, ist man von ihnen umgeben. Ihre Gebäude säumen die Autobahnzufahrten und Bahntrassen. In ihrer fast monumentalen Banalität versperren sie den Blick auf das Land. Die Rede ist von den Infrastrukturbauten, den un-dekorierten Schuppen der entwickelten Dienstleistungsgesellschaft, um Robert Venturi zu paraphrasieren, der sich als einer der ersten mit diesem Phänomen beschäftigt hatte.

Sie bilden längst eine eigene Kategorie von Landschaft – eben jene der logistischen Landschaft. Mit dieser Ausgabe untersuchen wir sie als eine der zentralen Aufgaben der Architektur im 21. Jahrhundert.

In der Regel reagiert man mit Abscheu auf die scheinbar ungeplanten Landschaften der Servicearchitekturen. Sie verführen zum Kulturkonservativismus in Bezug auf die Veränderungen von Stadt und Land. Ein solcher Kulturkonservativismus hat in Deutschland weit zurückreichende Wurzeln und prägte die Sichtweise besonders vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an den konservativen Architekten und Kulturkritiker Paul Schultze-Naumburg und seine kurz nach 1900 entstandene neunbändige Buchreihe Kulturarbeiten, deren letzte drei Bände sich der „Gestaltung der Landschaft durch den Menschen“ widmeten. Schon in Kenntnis seines späteren Wirkens im Dienste der Nationalsozialisten wird die Auseinandersetzung mit seinen im konservativen Geist des frühen Werkbunds formulierten Handlungsanweisungen heute anders ausfallen müssen, auch wenn sie in ihrer Kritik der Landschaftszerstörung heutigen Positionen scheinbar ähneln. Ebenso wenig kann man heute außer Acht lassen, dass die industrialisierte Landschaft kein bloßes Gegenüber mehr ist zur alten Stadt und zur „unberührten Natur“, die man durch soziale und ästhetische Strategien wieder aus der Welt schaffen könnte. Nicht nur sind wir ein Teil dieser industrialisierten Landschaft, sondern wir produzieren sie täglich neu – gerade auch in ihren jüngsten Ausprägungen. Denn wer erliegt nicht dem leichthändigen Kauf im Internet und setzt damit eine ungeheure logistische Infrastruktur in Gang, die wir in dieser Ausgabe in ihren verschiedenen Aspekten aufzeigen. Mit einem Klick befördern wir zudem unbewusst eine Tendenz zur Globalisierung des Handels, welche die Stadt insgesamt in einen warenästhetischen Showroom des E-Commerce verwandelt.

Fragen der Globalisierung des Städtischen standen bereits im Mittelpunkt der letzten ARCH Ausgabe zur „Krise der Repräsentation“. Dort haben wir nach deren Auswirkungen auf die Stadt gefragt, und zwar in bewusster Eingrenzung auf den mitteleuropäischen Kontext. Diese Fragestellung mündet in ein bezeichnendes Paradoxon: Einerseits führt sie gegenwärtig zur Rekonstruktion im Zweiten Weltkrieg zerstörter deutscher Stadtzentren, die fast wie Phönix aus der Asche wiedererstehen.

Andererseits bewirkt sie gerade im Versuch, an die untergegangene historische Identität der Städte anzuknüpfen, eine radikale Modernisierung der Stadt, die keinen Stein mehr auf dem anderen belässt – mit der Konsequenz, dass der deutsche Sonderweg zu einem spannungsreichen Verhältnis zwischen einer globalisierten Ökonomie und der Sehnsucht nach historischer Kontinuität führt.

Man wähnt sich im falschen Film bzw. in den Kulissen einer Architektur, die NS-Zeit, Krieg und Wiederaufbau ausblendet. Dabei bilden diese neuen Altstädte nur die Bühne für ein globalisiertes Konsumverhalten, das sich kaum von demjenigen in anderen Städten unterscheidet, heißen diese nun New York, Singapur oder Shanghai. Das Verhältnis von Globalisierung und Sehnsucht nach historischer Kontinuität nimmt unter diesen Bedingungen eine ganz besondere, nicht ungefährliche Bedeutung an. Stadt wird in dieser Inszenierung der Warenästhetik unterworfen, ja selbst zur Ware.

Mit dieser Ausgabe wollen wir uns nun mit der meist ausgeblendeten Rückseite dieser inszenierten Stadt des Spektakels beschäftigen. Susan Nigra Snyder und Alex Wall sprechen vom Gegensatz zwischen der Rückseite – „Backstage“ – und der „Frontstage“, zur Schauseite der Stadt. Durchgesetzt hat sich als Bezeichnung für den Backstage inzwischen die logistische Landschaft.

Mit diesem Terminus werden seit über einem Jahrzehnt die sich neu herausbildenden Landschaften der Häfen, Flugplätze, Autobahnen, Eisenbahnen, der Service-, Distributions-, Daten- und Callcenter bezeichnet. Sie bilden die Basis der Globalisierung, d.h. des Übergangs zu einem auf weltweiter Distribution basierenden Wirtschaftsmodell, dessen neue „Just-in-Time“-Gesetzmäßigkeiten Produktion und Konsum von globalen Waren-, Kommunikations- und Kapitalströmen abhängig machen. Indem wir die Auswüchse der wirtschaftlichen Entwicklung des noch jungen Jahrhunderts als Landschaft lesbar machen, wollen wir sie zugleich als Gestaltungsaufgabe zugänglich machen. Denn diese Räume müssen zu einer Aufgabe von Architektur und Stadtplanung werden, wenn sie nicht zu Wegwerflandschaften und -architekturen werden sollen.

Deshalb ist diese Ausgabe ein erster Versuch, sich den Aufgabenstellungen des 21. Jahrhunderts zu stellen.

Damit greifen wir zwei Themen auf, die seit den 1950er Jahren Architekten und Stadtplaner umtreiben, und zwar gerade moderne Architekten, die sich mit allen Fasern ihres Körpers ungebrochen dem Fortschritt der Industriegesellschaft verpflichtet sahen: die Verlandschaftlichung der Stadt und die Industrialisierung der Architektur. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an so unterschiedliche Konzepte wie die Stadtlandschaft von Hans Bernhard Reichow oder Hans Scharoun und an das modulare Bauen von Konrad Wachsmann oder Fritz Haller. Angesichts der heutigen postindustriellen Gesellschaft ergeben sich folgende Fragen fast wie von selbst: An welchen technischen, aber auch gesellschaftlichen Problemen sind diese Konzepte gescheitert (man denke nur an den Abriss der Metastadt oder die Verödung der Sennestadt), welche Potentiale bergen sie (man denke zum Beispiel nur an Konrad Wachsmanns Wendepunkt im Bauen von 1959, das eine ganze Generation bewegte), und welche Perspektiven können diese Konzepte heute eröffnen, wenn man sie unter der Bedingung gegenwärtiger gesellschaftlicher, kultureller und technischer Möglichkeiten aufgreift und weiterdenkt.

Modular zu bauen war damals ein Programm fast utopischen Zuschnitts, zu dessen Beleg Studien von Zukunftsforschern über den sozialen Wandel herangezogen wurden. Heute muss der soziale Wandel nicht mehr beschworen werden. Er ist ein Diktat der Realität bzw. eine abhängige Variable des frei flottierenden Kapitals. Auf diese Unfassbarkeit des Programms zielt Jesse LeCavalier in seinem Beitrag „All diese Zahlen …“‚ wenn er schreibt, dass die Gehäuse des Walmart-Komplexes keine „fixen Orte“ mehr sind, sondern nur noch „temporäre Knotenpunkte von Waren und Information“, Hybride also, die sich nur noch durch die Infrastrukturen definieren – die globalen Transport-, Kommunikations- und Kapitalflüsse. Unmittelbarer Ausfluss dieser materiellen und immateriellen Ströme sind die logistischen Landschaften weltweit.

Hat der Anspruch auf Gestaltung der logistischen Landschaft gegen diese Effizienzvorgaben eine Chance? Er wird aussichtslos bleiben, solange er meint, durch Rückgriff auf den Städtebau der alten Stadt oder durch Anspruch nach Autonomie der Architektur die Gegenwart noch beherrschen zu können. Dieser Anspruch wird genauso scheitern wie die modernen Utopien gescheitert sind – mit dem wichtigen Unterschied, dass von ihm außer den Kulissen des Konsums kaum etwas übrigbleiben wird, während der utopische Überschuss der Moderne immer noch nachwirkt. So könnten sich neue Perspektiven eröffnen, wenn wir bei den „grenzwertigen“ Versuchen der 1960er Jahre ansetzen. Grenzwertig meint in diesem Zusammenhang jene Ansätze und Konzepte von damals, die sich um die Auflösung der Grenzen zwischen den Disziplinen, zwischen Architektur und Ingenieurwesen, zwischen Architektur und Sozialwissenschaften, zwischen Architektur und Informatik oder Systemtheorie bemühten, um zu einem Verständnis von Architektur und Stadt vorzustoßen, das sich nicht mehr disziplinär bestimmen lässt und dessen Chancen erst durch die von Aldo Rossi eingeleitete Wende des Architekturdiskurses in den 1970er Jahren zunichte gemacht wurden. Dort wieder anzusetzen, würde aber heute heißen, die damals wie heute tabuisierte Frage nach der Gestaltungsmacht von Architektur und Stadt aufzugreifen: Sind diese Entwicklungen noch mit den Mitteln von Architektur und Stadt zu beherrschen oder stehen diese nicht selbst zur Disposition? Und wenn ja, durch welche Hybride von Querschnittsdisziplinen sind sie zu ersetzen? Es sind Fragen, die nicht nur explizit konservativ Konzepte, sondern die Interventionsmöglichkeiten von Architektur und Stadt überhaupt betreffen. Nur so lässt sich der versperrte Zugang zur Realität und damit auch derjenigen zur Gestaltung der logistischen Landschaft freilegen.

Der Weg dahin führt über die Erkenntnis, dass die logistischen Landschaften nicht nur die Kehrseite der aufgehübschten Stadtzentren sind, sondern letztere ohne den Sprawl von Flugplätzen, Autobahnen, Eisenbahnen, Service-, Distributions-, Daten- und Callcentern gar nicht lebensfähig wären. Diese Ambivalenz der zeitgenössischen Stadt macht die Vergeblichkeit absoluter Modelle deutlich, in denen wir bisher zu denken gewohnt waren. Es geht nicht mehr darum, Probleme ein für alle Mal und für jeden Maßstab allgemeingültig zu lösen, von der Servicedecke bis zur planetarischen Stadt, wie es Georg Vrachliotis in seinem Beitrag „Der infrastrukturelle Raum“ am Beispiel des Schaffens von Fritz Haller zeigt. Wir müssen stattdessen lernen, den jeweils besonderen Ort und die spezifische Aufgabe nicht nach den Imperativen eines allgemeingültigen Modells zuzurichten – ganz gleich ob dieses Modell nun Stadtlandschaft oder Europäische Stadt heißt. Wir müssen lernen, zu differenzieren und nach Maßgabe der konkreten Situation zu entscheiden. „Situativer Urbanismus“ haben wir vor einiger Zeit diesen Ansatz genannt und mit einer entsprechenden Ausgabe ein Konzept von Stadt zu propagieren versucht, das nicht mehr auf ein Modell zu reduzieren ist, aus denen sich dann die konkreten städtischen Situationen deduzieren lassen. Stattdessen gilt es heute zu erkennen, dass die Vielfalt an ganz unterschiedlichen Situationen erst das Städtisch-Sein und damit auch die Struktur der Stadt ausmacht.

Die Unterwerfung des Landes unter die Stadt ist kein neues Thema. Neu dagegen ist, dass die logistische Landschaft heute weltweit auftritt und damit ein neues Verhältnis von Herrschafts- und Dienstbarkeitsarchitektur eingeführt wird. Daher beschränkt sich die Ausgabe nicht nur auf die Gegenwart, sondern ordnet im ersten Teil die neuen Logistiklandschaften in eine architekturhistorische Perspektive ein. Wir kontrastieren dabei die urbanistische Ebene der Logistik mit den Architekturen der Dienstbarkeit. Historisch beginnen wir mit der Einführung von „Versorgungswegen, geheimen Gängen, unscheinbaren Tapetentüren und speziellen Dienstbotenstiegen“, welche die Enfiladen als „Magistralen der Macht“ in den Palästen des 17. Jahrhunderts „doppeln“, wie Markus Krajewski im einleitenden Essay schreibt. Die Entwicklung setzt sich fort mit der Mutation des Geheimgangs zum Korridor, der dem transversalen Durchschreiten des Raumes mittels der Enfilade die tangentiale Erschließung entgegenstellt (vgl. Stephan Trüby, S. 26 ff.). Im 19. Jahrhundert findet die Korridorerschließung als architektonisches Ordnungselement breite Anwendung in diversen staatlichen Großbauten wie Krankenhäusern, Gefängnissen, Kasernen und Mietshäusern. Der Korridor wird zum Werkzeug des „Zirkulationsmanagements für Personen“ in der Disziplinargesellschaft.

Mit dem parallelen Blick auf die dienende Infrastruktur der Architektur und der Stadt machen wir auf die Bedeutung der Distribution für die postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft aufmerksam. Der Begriff der Distribution, wie ihn Marx 1858 in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie verwendet, bietet in seiner Vieldeutigkeit im Kontext der logistischen Landschaft unterschiedliche Zugänge zum Thema: Einerseits meint Distribution im einfachsten Sinne die Verteilung, also den Vertrieb der Waren, die heute darüber hinaus auch die globale Ebene der Just-in-Time-Produktion, des Outsourcing und Offshoring sowie die der digitalen Vernetzung und der immateriellen Güter des E-Commerce einschließt. Andererseits gebraucht Marx den Begriff auch im Sinne der gesellschaftlichen Wohlstandsverteilung, womit indirekt die Frage der Verteilungsgerechtigkeit angesprochen wäre. Angesichts der ideologischen und ökonomischen Basis der Globalisierung als Grundlage der logistischen Landschaften ist diese Frage weiterhin von großer Brisanz.

Vor dem Hintergrund der aktuellen ökonomischen und ökologischen Krisen müssen wir jedoch einen dritten, postmarxistischen Aspekt der Distribution ins Auge fassen: die der Risikoverteilung. Nach Ulrich Beck unterscheidet sich die gegenwärtige „zweite Moderne“ von der ersten, industriegesellschaftlichen Moderne vor allem im Wechsel von der „Logik der Reichtumsverteilung“ zur „Logik der Risikoverteilung“: „In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen.“ (Ulrich Beck: Risikogesellschaft, 1986) Beck zufolge geht es heute in der Risikogesellschaft immer mehr um die Folgenbewältigung „der technisch-ökonomischen Entwicklung selbst.
Der Modernisierungsprozeß wird „reflexiv“, sich selbst zum Thema und Problem.“ Insofern ist diese Ausgabe auch ein Versuch, sich den Aufgabenstellungen der reflexiven Moderne zu nähern (vgl. Wilhelm Klauser, S. 86 ff.). Hierzu stellen wir im zweiten Teil theoretische Analysen zur logistischen Landschaft und Fallstudien zu Service-, Distributions-, Daten- und Callcenter sowie Projekte vor, die den möglichen architektonischen Umgang mit diesen neuen Aufgaben zeigen.

Redaktionsgruppe dieser Ausgabe: Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo, Nicole Opel 
mit Daniel Felgendreher, Rafael Kopper, Giulia Maniscalco, Chrissie Muhr, Dorit Schneider

Für inhaltliche Anregungen und die gute Zusammenarbeit im Rahmen der Heftvorbereitung und des Symposiums Dienstbarkeitsarchitekturen danken wir Markus Krajewski und Stephan Trüby sowie Anne-Julchen Bernhardt, Anna Marijke Weber und Sascha Glasl für die Ergebnisse des Studienprojekts Tertiär, grau.

Inhalt

02 Bau mir ein Haus aus den Knochen von Niklas Luhmann
Stephan Trüby

08 Ästhetik des sozialen Raumes
Anne Kockelkorn

09 Richtigstellungen zu ARCH 204

10 Editorial: Servicearchitekturen
Nikolaus Kuhnert / Anh-Linh Ngo

12 Timeline Servicearchitekturen
Rafael Kopper / Anh-Linh Ngo / Nicole Opel / Dorit Schneider / Chrissie Muhr

20 Vom Servant zum Server. Die Herrschaft der stummen Diener und elektronischen Gehilfen
Markus Krajewski

26 Räume der Dienstbarkeit und der Macht. Eine Einführung in die Kulturgeschichte des Korridors
Stephan Trüby

34 Innerer Urbanismus. Prolegomena zum Zürcher Toni-Areal von EM2N
Projekt: EM2N featuring realities:united
Text: Stephan Trüby

44 Der infrastrukturelle Raum. Fritz Hallers Architektursysteme
Georg Vrachliotis

50 Temporäres Goethe-Institut in Santiago de Chile
Projekt: FAR frohn & rojas

56 Architektur der Black Box. Die Case Studies von Brandlhuber
Projekte: b&k, Brandlhuber
Text: Nikolaus Kuhnert / Anh-Linh Ngo mit ChrissievMuhr

62 Das Containerprinzip
Alexander Klose


Logistische Landschaften

70 Bildessay
Frank Breuer

76 Logistiklandschaften
Charles Waldheim / Alan Berger

84 Die Stadt als Totaltheater. Distribution als Triebkraft eines umfassenden Urbanismus
Susan Nigra Snyder / Alex Wall

86 Landschaften der Risikogesellschaft
Wilhelm Klauser

90 Tertiär, grau. Eine Studie zur logistischen Landschaft in Deutschland
Anne-Julchen Bernhardt mit Anna Marijke Weber / Sascha Glasl

92 Fallstudie Logistik
Silja Kampmann / Leonard Wertgen

98 Logistikkomplex des IKRK in Genf
Projekt: group8

102 „All diese Zahlen…“ Logistik, Vertriebssysteme und der Walmart-Komplex
Jesse LeCavalier

108 Fallstudie Callcenter
Julia Krebs

112 Callcenter Santo Tirso
Projekt: Aires Mateus

116 Fallstudie Datenzentren
Sebastian Haufe / Matthias Poczatko

120 Pionen – White Mountain. Wikileaks-Server in Stockholm
Projekt: Albert France-Lanord Architects

124 Fallstudie Interface
Niklas Fanelsa

Projekttexte: Daniel Felgendreher / Rafael Kopper / Giulia Maniscalco / Anh-Linh Ngo / Nicole Opel


ARCH features 9
Redesigning Design
Reed Kram und Clemens Weisshaar im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo

Innerer Urbanismus

(SUBTITLE) Prolegomena zum Zürcher Toni-Areal von EM2N

Es gehört zu den architekturtheoretischen Konstanten seit der Neuzeit, nach dem Zusammenhang von Architektur und Stadt zu fragen. Gehorcht der kleine Maßstab von Raumfolgen und Etagen denselben Prinzipien wie die großmaßstäblichen Arrangements urbaner Areale? Welche Rolle spielen Durchwegung und Zirkulation auf beiden Ebenen? Gibt es gar eine Selbstähnlichkeit von Stadt und Haus? Das im Bau befindliche Zürcher „Toni-Areal“ von EM2N lädt wie derzeit wohl kaum ein zweites Bauwerk dazu ein, solche Fragen zu diskutieren.

Die Festungsmauer und das Haus als kleine Stadt

Die Verwandtschaft von Haus und Stadt wurde zum ersten Mal durch Leon Battista Alberti in seinen 1452 fertiggestellten Zehn Büchern über die Architektur angesprochen. Darin schreibt er: „Und wie man in der Stadt das Forum und die Plätze, so wird man im Hause das Atrium, den Saal und Räume dieser Art haben, die nicht an abgelegener, verborgener und enger Stelle liegen, sondern vollkommen zugänglich sein müssen, dass auf sie die übrigen Räumlichkeiten ganz unbehindert münden können. Auf sie werden sich nämlich die Mündungen der Stiegen und Gänge öffnen, in ihnen werden die Begrüßungen und Besuche der Bekannten entgegengenommen.“ Damit wurde die Stadt und ihre Durchwegung zum Vorbild für das Haus und seine Erschließung ausgerufen. Es kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern, dass Georg Germann – im Anschluss an Überlegungen Giulio Carlo Argans – die architektonische Schrift Albertis als ein „Traktat des Urbanismus“ bezeichnet hat: „Bei Alberti [...] fügt sich die Architektur in den größeren Rahmen der Stadt, ist sie deren Interpretation, die von sichtbaren Formen getragene Botschaft ihrer Bedeutung.“
Die Stadt, die von Alberti ins Haus geholt wurde, war eine befestigte.

Diese urbanistische Besonderheit sollte man auch im Auge behalten, wenn man von seinen Architekturen spricht. Sie erklärt nämlich nicht nur die Raumtopologien, sondern auch die Innenarchitekturen, die der Architekt und viele seiner klassisch inspirierten Nachfolger planten und bauten. Heiner Mühlmann hat darauf hingewiesen, dass die Stadt und das Zimmer im Haus der Renaissance topologisch identisch sind: Beide stellen Sphären dar, die transversal von einer Bewegungsbahn durchschnitten werden. Der Weg durch einen Renaissance-Saal, der in einer geraden Linie von Tür zu Tür führt, kann als eine herunterskalierte, von Stadttor zu Stadttor spannende Via regia betrachtet werden. Das Kleine spiegelt sich im Großen – zumal das Große, nämlich die Stadt und ihre Umfassungsmauer, in der Sicht Albertis ja auch das Höchste ist: „Da die Stadt [...] als Ganze einem Gott geweiht ist, wird die Stadtmauer zum eigentlichen Gebäude der Stadt.“ Von dieser militärisch-sakralen High-Ranking-Architektur leiten sich alle anderen Bauwerke ab: Je bedeutsamer ein Gebäude für das Kollektiv der Civitas ist, desto stärker treten Anleihen an eine Stadttor-Ästhetik in den Vordergrund. In den Zentren vieler Städte gerieren sich Triumphbögen als Pseudo-Stadttore, und Triumphbogenmotive tauchen an fast allen wichtigen Gebäuden der Stadt in unterschiedlicher Dichte auf – die Ornamentik und das Bildprogramm aller urbanen Häuser sind gewissermaßen an der Stadtmauer und ihren Toren „geeicht“. Die einzig „eigentlichen“ Räume der Renaissance-Stadt, die nicht auf andere Gebäude Bezug nehmen, sind, so Mühlmann, die Geheimkorridore von Palazzi in der Dicke der Wand: „Hinter der Architektur befindet sich in einem Bereich architektonischer Jenseitigkeit technische Architektur. Ihre Räume sind die Hohlräume zwischen Innenwand und Außenwand.“

Die unbefestigte Stadt und das Ende des Hauses als Weg und Platz

Seit Stadtbefestigungen militärisch sinnlos geworden sind, also seit der Etablierung und Konsolidierung des Territorialstaats im 18. und 19. Jahrhundert, sind Albertis Ideen vom Haus als einer kleinen Stadt hinfällig geworden. Denn seither ist das Primat des Hindurchgehens durch das Primat des Daranvorbeigehens ersetzt worden: Wie Robin Evans dargelegt hat, sind die Räume mit den vielen Türen, die sich zu Enfiladen reihen, weitgehend durch Räume mit nur einer Tür ersetzt worden. Anders gesagt: Die Transversalen sind den Tangentialen gewichen. Das tangentiale Zeitalter der Architektur hatte seinen Vorläufer in den Zellen der mittelalterlichen Klöster, um sich ab der Aufklärung Mitte des 18. Jahrhundert zunächst in Hospitälern, Asylen und Gefängnissen und später auch in den allgemeinen Wohnformen durchzusetzen. Seither gehen Urbanismus und Architektur weitgehend getrennte Wege, denn fortan ging man zwar nach wie vor durch Städte hindurch, aber an den meisten Räumen und Zimmern vorbei. Moderne Gebäude sind anders organisiert als moderne Städte: Während die Durchwegungsoptionen von Städten seit dem Wegfall von Fortifikationen noch gesteigert wurden, reduzieren sich die Erschließungen von einzelnen Gebäuden auf den einen Zugang, an den sich zumeist – jedenfalls bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – baumartig verästelte Korridorstrukturen anschließen. Versuche aus den fünfziger und sechziger Jahren, mithilfe multikursal organisierter „Mat-Buildings“ Baumstrukturen zu überwinden, gelten spätestens seit der um 2000 entstandenen neuen Sicherheitserwartungen an Zugangskontrollen als Sackgassen der Architekturevolution.

Seit der Moderne leiten sich Erschließungskonzepte innerhalb von Gebäuden kaum noch von der dichten Stadt, sondern vor allem von der Natur bzw. der offenen Landschaft ab. Insbesondere Josef Frank und Le Corbusier entwarfen in diesem Geiste innerarchitektonische Wege. Zwar bezieht sich Frank, der über Alberti promovierte, in seinem Aufsatz Das Haus als Weg und Platz explizit auf die Stadt als Vorbild seiner Raumschöpfungen. Doch begründet er seine Vorliebe für gebaute Parcours recht inkonsistent mit dem Abwechslungsbedürfnis des Städters nach architektonischen Dschungel-Surrogaten: „Der Mensch im Urwald brauchte keine Architektur, denn er hatte genügend Zeit und Raum sich ungehindert bewegen zu können, und musste sich nichts vortäuschen lassen. Wir, durch die Zivilisation eingesperrt, machen uns künstliche Wege und Plätze im Haus und dem kleinen Stück Erde, das wir Garten nennen, um Abwechslung auf dem möglichst kleinen Raum zu schaffen.“ Im selben Geiste, aber mit eindeutigerer Wortwahl, setzt Le Corbusier unter dem Motto „promenade architecturale“ auf die landschaftliche Erlebnisqualität durchwegter Architektur. Er formulierte ein „Gesetz des Durchwanderns“ und realisierte in seiner Pariser Villa La Roche (1925) seine erste Architektur-Promenade: „Man tritt ein. Gleich bietet das architektonische Schauspiel sich dem Blick dar. Man folgt einem vorgezeichneten Weg, und die Perspektiven entwickeln sich in großer Mannigfaltigkeit. Man spielt mit dem hereinströmenden Licht, das die Wände erhellt oder dämmrige Winkel schafft. Die Öffnungen geben die Sicht auf das Äußere frei, wo man (infolge der abgewinkelten Anordnung des Hauses und der Verzahnung von Innen- und Außenraum) die architektonische Einheit wieder findet.“

Was in den Tangentialerschließungen moderner Architekturen und in den intellektuellen Bezügen von Josef Frank und mehr noch von Le Corbusier implizit enthalten ist, wurde von Rem Koolhaas und seinem „Oeuvre incomplète“ S,M,L,XL explizit gemacht: das Ende der humanistischen Spiegelung des Makrokosmos im Mikrokosmos im Geiste von Albertis „Haus als kleiner Stadt“. Indem Koolhaas sein architektonisches Werk weder chronologisch noch typologisch oder geografisch, sondern nach Konfektionsgrößen ordnet, kommuniziert er: „S“ ist etwas völlig anderes als „XL“; es gibt kein geheimes Band, kein „connective tissue“, das Architektur und Stadtplanung im Innersten zusammenhielte. Verblüfft darüber, „dass allein schon die Größe eines Gebäudes ein ideologisches Programm konstituiert“, konstatiert der niederländische Architekt: „Bigness = Urbanismus versus Architektur.“

Bigness in Zürich

Inwieweit das Haus auf der einen und die Stadt bzw. Landschaft auf der anderen Seite einander ähnlich sind, inwieweit sie gar topologisch identisch sind, ist eine Frage, die in einem Land wie der Schweiz, in dem die Urbanisierungsprozesse der Moderne nicht nur auf die Städte begrenzt blieben, von besonderer Aktualität. Entsprechend herrscht in dem Alpenland seit ein paar Jahren eine kontrovers geführte Urbanismus-Debatte, initiiert vor allem durch das Buch Die Schweiz. Ein städtebauliches Porträt, das Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron, Christian Schmid und ihr ETH-Studio Basel herausgegeben haben. Am kontroversesten scheint diese Diskussion innerhalb des Instituts selbst geführt zu werden, denn betrachtet man den Band genauer, so fällt auf, dass beim wohl entscheidendsten Diskussionspunkt, nämlich der Frage, ob die Schweiz genuin anti-städtisch verfasst ist oder ob sie nicht vielmehr selbst als eine große Stadt zu betrachten ist, zwei unvereinbare Positionen für intellektuelle Inkonsistenz im Buch sorgen. Während etwa Jacques Herzog mit Verweis auf die Gemeindeautonomie von einem spezifischen „Antiurbanitätsmolekül“ der Schweiz spricht und in der radikal-föderalistischen Verfasstheit des Landes ein hochproblematisches „System der Abgrenzung, der Kleinteiligkeit, des Kleinmuts und des Egoismus“ erblickt, zeichnet Christian Schmid ein konträres, nämlich dezidiert städtisches Bild der Schweiz, wenn er schreibt: „Ausgangspunkt unserer Analyse ist die Hypothese, dass alle Gebiete der Schweiz als urban zu begreifen sind. Sie sind alle in der einen oder anderen Form vom Urbanisierungsprozess erfasst und grundlegend transformiert worden. Es macht keinen Sinn mehr, Stadt und Land oder Agglomerationen und ländliche Gebiete voneinander zu unterscheiden: Die gesamte Schweiz ist urbanisiert, und entsprechend sind alle ihre Landschaften mit Begriffen der Urbanisierung zu analysieren.“

Ein Blick auf das 1977 errichtete „Toni-Areal“ in Zürich-West könnte die beiden antipodischen Positionen wohl versöhnen, denn wie kaum ein zweites Gebäude in Zürich steht es für eine industrielle und letzten Endes auch urbanistische Durchdringung des Schweizer Territoriums – und gleichzeitig für die Fähigkeit dieses Prozesses, städtische Monumente zu generieren. Denn um nichts anderes handelt es sich beim Toni-Areal: um das gigantische, hochaufragende Artefakt eines nahrungsindustriellen Streamlinings; um die seinerzeit größte Milchfabrik Europas, in der täglich bis zu eine Million Liter Milch zu Joghurt, Butter, Sahne, Käse, Eis oder Milchpulver verarbeitet werden konnte [Abb. 1-2]. 1999 beschloss die Swiss Dairy Food, in der die Toni-Molkerei aufgegangen war, das Werk aus Kostengründen stillzulegen; ein Jahr später wurde der Betrieb liquidiert. Übrig blieb die zähe Baustruktur einer „generischen Zweckarchitektur“, die sich durch Böden von hoher Belastbarkeit, einer Stützenkonstruktion mit großen Spannweiten sowie doppelgeschossige Raumhöhen auszeichnet. Als bizarre Hinterlassenschaft an die Nachnutzer ragen – als eine Art Zürcher Kondensat des größten eidgenössischen Bauprojekts der Nachkriegszeit: der Schweizer Autobahn – breite LKW-Rampen in den Himmel; Stanislaus von Moos hat sie einmal als „zyklopische Ohren“ bezeichnet. Die jüngere Architekturgeschichtsschreibung hat sich daran gewöhnt, in diesen Rampen eine unter dem Pseudonym „Anonymus“ verfasste Flaschenpost Le Corbusiers zu erblicken, um einen eigenen Entwurf doch noch zur Realisierung zu bringen: den Plan des Schweizer Wahlparisers für das Europa-Parlament in Straßburg aus dem Jahre 1964, welcher vor allem durch seine weit auskragende promenade architecturale von sich reden machte [Abb. 3].

Das neue Toni-Areal: Aneignung des Rohen

Was sollte aus dem Toni-Koloss werden? Erste Überlegungen der als Grundpfandgläubigerin involvierten Zürcher Kantonalbank in Richtung Bürobau, Einkaufszentrum oder Entertainmentcenter zerschlugen sich. Als „Geburtsstunde“ des heute entstehenden Hochschulstandorts Toni-Areal kann eine vom Kanton Zürich 2005 in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie gelten. In der Folge entschied sich der Regierungsrat des Kantons zusammen mit den Schulleitungen und dem Fachhochschulrat für das Toni-Areal als zentralen Standort für die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und für die zur Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) gehörenden Departemente Angewandte Psychologie und Soziale Arbeit. Darüber hinaus werden Räume für öffentliche und halböffentliche Nutzungen sowie 100 Mietwohnungen entstehen. Ein Studienauftrag unter sieben eingeladenen Generalplanerteams folgte, aus dem das Projekt der Architekten Mathias Müller und Daniel Niggli, besser bekannt unter dem Namen „EM2N“, als Sieger hervorging. Die Kantonalbank verkaufte das Toni-Areal an die Generalunternehmung Allreal, die nun nicht nur die Baustelle und das gesamte Planerteam leitet, sondern auch als Vermieterin des umgebauten Gebäudes fungieren wird. Hierfür wurde im Jahre 2008 für den Toni-Campus der umfangreichste je abgeschlossene Mietvertrag des Kantons Zürich unterzeichnet: Auf eine feste Mietdauer von 20 Jahren fixiert und mit zwei Verlängerungsoptionen sowie einem Vorkaufsrecht des Kantons versehen, wird der jährliche Mietzins für die Gesamt-Mietfläche von 70.000 Quadratmetern 15,2 Millionen Franken betragen. Umfassende Planungsunterlagen sind Teil des Mietvertrages. In den Größendimensionen etwa vergleichbar mit dem Pariser Centre Pompidou oder der Tate Modern in London [Abb. 4], wird im Neuen Toni Platz für rund 5.000 Mitarbeiter, Dozenten und Studenten, für ein Kino, einen Jazzclub, vier Konzertsäle, diverse Ausstellungsräume sowie das Sammlungszentrum des Museums für Gestaltung geschaffen. Für den Ausbau der Liegenschaft bewilligte der Kantonsrat einen Kredit von rund 138 Millionen Franken.

Um das komplexe Raumprogramm in der ehemaligen Milchfabrik unterzubringen, wählten EM2N die Strategie eines „inneren Urbanismus“. Gemeint ist ein artifizielles Wegesystem, das – ergänzt um neue Lichthöfe – aus dem bestehenden Gebäude herausgestemmt wird. Dieses besteht im Wesentlichen aus den Querspangen der bestehenden Rampenanlage und einer neuen, zweigeschossigen Haupteingangshalle. Dazwischen erstreckt sich – im Innern des Hauses – eine ebenfalls neue Treppenkaskade, die, von der Eingangshalle ansteigend, bis in die oberste Etage der Rampenanlage reicht, und von dort Zugang zu einer „Kulturterrasse“ und einer „Dachpromenade“ ermöglicht. In der Summe entsteht ein strukturell an einen Knochen erinnernder öffentlicher Raum, der als „vertikaler Boulevard“ den öffentlichen Außenraum in das Gebäude hineinziehen soll [Abb. 5-10]. Raffinierterweise verstanden es die Architekten, diese Wegefigur von Brandschutzlasten frei zu halten, sodass ein offener Raum ohne Brandabschnittsklappen und feuerbeständige Bauteile zu erwarten sein wird. Die Treppenkaskade beschreiben die Architekten wie folgt: „Sie oszilliert zwischen weit und eng, monumental und fast intim. Durch eine Abfolge von wechselnden Raumstimmungen führt sie die Besucher durchs Gebäude, schafft Adressen, bindet Nutzungen zusammen und bildet Identifikationspunkte aus. Um diese Figur herum können sich die Nutzungen auf ihren „Parzellen“ flexibel entwickeln. So entsteht ein Haus mit kräftigen, Identifikation stiftenden Räumen und gleichzeitig maximaler Nutzungsflexibilität.“

Ein Schlüsselbegriff für das Verständnis des Neuen Toni ist „Aneignung“. Müller und Niggli legen Wert darauf, dem Gebäude keine Respekt erheischenden Oberflächen zu verpassen. Eine Besitzergreifung des Gebäudes durch neue Nutzer soll mehr sein als das Abstellen von Möbeln und das Anbringen von Namensschildern an Büros und Werkstätten. Gleichsam haptisch soll der neue Bau in Beschlag genommen werden: durch eine As-found-Ästhetik, die tote Perfektion meidet und das Rohe als Aufforderung zur Intervention begreift. Diese Zielrichtung wird durch eine künstlerische Lichtinstallation des Berliner Büros realities:united flankiert, die die Beschränkungen der berüchtigten „Kunst am Bau“ überwindet, indem sie das Nützliche (Lichtgebung für weitgehend innen liegenden Räume) mit dem Angenehmen (der Verpflichtung auf Aneignung) verbindet. Für ihre Arbeit nutzen die Berliner das gesamte für die öffentlichen Erschließungsbereiche notwendige Beleuchtungssystem [Abb. 11-15]. Das Licht, so realities:united, „folgt keinem wie auch immer gearteten „technischen“ Anordnungsraster, und auch sonst fehlt der Bezug zu anderen in Frage kommenden Typologien; weder entsteht in der Zusammenballung von Leuchten eine erkennbare „Lichtskulptur“, noch dient die Akzentuierung einer dramaturgischen oder architektonischen „Verdeutlichung“ des Raumes oder der Architektur“. Indem sie etwaige Erwartungshaltungen an Beleuchtungssysteme bewusst unterlaufen und auch suboptimale Lichtatmosphären bewusst suchen, provozieren sie Partizipation: „Die Nutzer, z.B. StudentInnen, die ihre Arbeiten ausstellen, finden keine Flächen vor, die für den Ausstellungsbetrieb optimiert sind, sondern Orte, die in dem Prozess der Aneignung eine Auseinandersetzung und ggf. eine Veränderung der Gegebenheiten provozieren.“ (realities:united) Vielleicht ist es das, was von der alten Idee des „Hauses als Weg und Platz“ ins 21. Jahrhundert hinübergerettet werden sollte: Der „innere Urbanismus“ kommt nur dann von innen, wenn er auf die Handlungen und Mikropolitiken der Nutzer rekurriert.


[Stephan Trüby, geb. 1970, ist Freier Architekt, Theoretiker, Kurator sowie Direktor des Postgraduierten-Studiengangs Spatial Design der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Er studierte an der AA School in London, promovierte bei Peter Sloterdijk und war von 2007 bis 2009 Professor für Architektur an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Sein neues Buch, Die Geschichte des Korridors, erscheint in Kürze. Er ist Ständiger Mitarbeiter von ARCH.]

ARCH+, Mo., 2012.03.19

19. März 2012 Stephan Trüby

Die Stadt als Totaltheater

(SUBTITLE) Distribution als Triebkraft eines umfassenden Urbanismus

Immer mehr Güter müssen immer schneller an immer mehr Orte gelangen. Unser Konsumverhalten, zusammen mit der neuen, auf weltweiter Vernetzung basierenden Produktionsweise, verursacht einen beschleunigten, immerwährenden Materialfluss entlang globaler Transport- und Informationskanäle. Dadurch gewinnt die Logistik eine herausragende Bedeutung. Dieser zu wenig beachtete „Backstage“-Bereich bildet den komplementären Raum zur repräsentativen Schauseite unseres Konsums, die Kehrseite der Stadt der Einkaufszentren, der Malls und des Tourismus, der virtuellen Welt der Werbung und des TV- und Internet-Shopping.

Die Voraussetzung für unseren täglichen Konsum sind Landschaften des Transports und der Logistik: Lagerhallen und Autobahnen, belebt von Güterzügen, LKWs und Lieferwagen, die sich im Einklang mit den penibel kontrollierten Zeitplänen der Just-in-Time-Produktion bewegen. In diesem Essay beschreiben wir diese Logistiklandschaft in einem städtischen, regionalen und kontinentalen Maßstab, um die Beziehung zwischen Infrastruktur und Stadt zu untersuchen. Wir wollen herausfinden, wie sich die Folgen der unzähligen Alltagsverrichtungen unserer Konsumkultur auf den Prozess der Urbanisierung auswirken und wie sie neue Formen städtischen Lebens hervorbringen. Wir behaupten, dass die Vertriebssysteme – zusammen mit Entertainment, Tourismus sowie Forschung und Entwicklung in Wissenschaft und Technik – die Basis für einen neuen Urbanismus bildet.

Die duale Stadt des Konsums und der Distribution

Die Blocks am Times Square genau nördlich der 42nd Street sind voll von Geschäften und Themenrestaurants, und es wimmelt dort von Menschen, die sich offenbar nach einer Themenparkversion von Stadt sehnen, die sauber, kontrolliert und umweltfreundlich ist.

In einem Artikel über die erstaunliche Verwandlung des New Yorker Times Square und der 42nd Street von einer übel beleumundeten Zone von Sex, Drogen und Kriminalität in „eine der angesagtesten Entertainment- und Shoppingzonen“, weist der amerikanische Architekturkritiker Paul Goldberger darauf hin, dass die Macht des Marktes – und nicht die bewusste Planung von Stadtaktivisten, Politikern und Planern – eine neue urbane Form hervorgebracht hat.

Die Wiedergeburt des Areals offenbart „die Entwicklung der amerikanischen Stadt von einer primär von Geschäft und Handel dominierten Sphäre zu einer, die hauptsächlich für Tourismus, Entertainment und Konsum da ist.“ Sauberkeit, Kontrolle und Unterhaltung, wie sie Shopping-Malls garantieren und bereitstellen, werden immer stärker auf Stadtzentren übertragen und von Touristen und Besuchern regelrecht erwartet.

Diese Zonen des Tourismus, des Entertainment und des Konsums werden charakterisiert durch eine klare Trennung von repräsentativer Schauseite und dienenden Backstage-Bereichen. Im Fall Manhattans wird die von Goldberger konstatierte Reinheit der öffentlichen Bühne am Times Square von einem Backstage-Bereich unterstützt, der die Bewegung von Gütern gewährleistet, von ihrer Ankunft in Großraum New York bis zum Bestimmungsort ihres Konsums.

Etwa 18 Kilometer südwestlich von Manhattan liegt die vermutlich größte und sichtbarste Logistiklandschaft der USA. Das nahe der Stadt Newark gelegene Logistikareal ist ein Beispiel für eine immer dichter werdende und eng vernetzte städtische Landschaft, wo rund um die Uhr Hochbetrieb herrscht. Obgleich die Komponenten dieses gigantischen Ensembles – Flughafen, Highways, Hafenanlagen und Verschiebebahnhöfe – an herkömmliche Industriegelände erinnern, führen die zunehmend zeitsensiblen Anforderungen der globalen Wirtschaft dazu, dass sie sich in einem Zustand ständiger Innovation und unablässiger Experimente befinden; nicht von ungefähr war der Hafen zum Beispiel 1956 der Geburtsort des Containers, der die Grundlage für den heute vorherrschenden intermodalen Güterverkehr bildet. Die Port Authority, die Hafenbehörde von New York und New Jersey, zu der vier Flughäfen, zehn Hafenanlagen sowie sechs Brücken und Tunnel gehören, muss schnell auf neue Entwicklungen im Konsum und in der globalen Warenproduktion reagieren. Es handelt sich um ein Netzwerk, das sich in das dichte städtische und vorstädtische Gewebe einer Region integrieren muss, in der 17 Millionen Menschen leben. Es kann daher kaum überraschen, dass die Bruttofläche, die der Port Authority unterstellt ist, in etwa der Größe von Manhattan entspricht.

Im Kreuzungspunkt von Information und Gütern: Eine neue Stadttypologie

Im Unterschied zur Port Authority mit einer Gesamtfläche von ca. 4.000 Hektar, die zwischen bestehende Gemeinden eingebettet und an die New Yorker Wasserstraßen angebunden ist, wurde der ebenfalls über 4.000 Hektar große Handels- und Logistikkomplex Alliance in Texas auf bis dahin unerschlossenem Land errichtet.

Alliance scheint ein funktionierender Prototyp einer neuen, auf dem Schnittpunkt von Information und Gütern fußenden städtischen Typologie zu sein, die das Resultat von Veränderungen in Produktion und Konsum ist.

Alliance basiert auf mehreren Schlüsselsystemen: Just-in-Time-Produktion, Bodentransport und weltweite Luftfracht. Rings um diesen Infrastruktur-Knotenpunkt sind sogenannte „Intermodal Business Parks“ eingerichtet, planmäßige Reaktionen auf globale Märkte und internationale Beschaffungslogistik. Im Unterschied zu herkömmlichen Industriegebieten sind die neu errichteten Produktions- und Vertriebshallen akkurat in landschaftlich gestaltete, an einen Universitätscampus erinnernde Gelände eingebettet. Der Komplex wächst rasant und vergrößert sich um angrenzende Wohnbezirke und Einkaufsviertel, die zwischen den Industriezonen angelegt sind. Die zukünftige Lebensqualität dieser Wohngebiete hängt ab von der erfolgreichen Integration einer Infrastruktur, die die Nachfrage von Fabriken und Städten befriedigt, die weit davon entfernt liegen.

Da sich das Muster der Urbanisierung geändert hat – von der radialzentrischen Stadt des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer verstreuten regionalen Besiedlung mit multiplen Zentren –, transformieren Vertrieb und Konsum die traditionelle Stadt in vierfacher Weise: im Maßstab der Straße, indem sie den LKW-Verkehr drastisch erhöhen und somit das Funktionieren des städtischen Systems jeder Großstadt tagtäglich empfindlich beeinträchtigen; in einem städtischen Maßstab, indem sie die Frontstage- und die Backstage-Bereiche von Städten verändern; in einem regionalen Maßstab, indem sie ein Gerüst für die Entwicklung neuer Städte bilden; und schließlich in einem globalen Maßstab, indem sie die Hierarchie von Städten innerhalb der Wirtschaft eines Landes neu ordnen. Was sich dabei herauszubilden scheint, ist eine Gruppe von „Backstage-Städten“ – auf den Umschlag von Waren spezialisierte Dienstleistungsstädte –, die in einem regionalen und nationalen Maßstab die „Frontstage-Städte“, d. h., die Zentren der Geschäftswelt und Kultur, des Entertainments und der Erholung mit allem Nötigen versorgen.

Die globale Dimension und Bedeutung dieser neuen Landschaften des Transports und der Logistik lässt sich beispielsweise anhand der Metropolregion Pearl River Delta im Süden Chinas aufzeigen, die sich auf Finanzwirtschaft, Produktion und Export spezialisiert hat. Das Pearl River Delta ist der kommerzielle Umschlagplatz zwischen China und dem Rest der Welt. Neben neuen Straßen und Eisenbahnlinien werden auch neue intermodale Containerhäfen und Flughäfen mit substanzieller Luftfrachtkapazität gebaut, alles unterstützt von einem Glasfaserkabelnetz. Wird diese zusammenhanglose Stadtlandschaft des Warenaustauschs zum „repräsentativen urbanen Gesicht des 21. Jahrhunderts“ avancieren, wie Manuel Castells gefragt hat? Über das bloße Verständnis der standortspezifischen Logik dieser neuen Entwicklungen hinaus sind wir der Überzeugung, dass die Logistiklandschaft ein Erprobungsgelände für neue Formen der Urbanisierung und möglicherweise für eine Architektur ist, die das städtische Leben verändern wird.

Veränderungen in der Logistiklandschaft

Die vorstehenden Ausführungen aus dem Jahre 1998 beschrieben die Auswirkungen von Distribution und Logistik auf die städtische Form: die Trennung zwischen inszenierten Stätten des Konsums und der für die Warenherstellung und -anlieferung zuständige Backstage- Infrastruktur. Während des letzten Jahrzehnts hat es in diesem Zusammenhang zwei wesentliche Veränderungen gegeben:

Verbraucherlogistik

Die digitale Vernetzung und Soziale Medien haben die vormals klar definierten Grenzen der Frontstage/Backstage-Stadt aufgeweicht. Die Verbraucherlogistik bezieht über Smartphone-Apps, RFID-Tags, Barcodes, Social Media, Websites und Blogs den Konsumenten in den Güterfluss ein und lassen ihn an der Preisgestaltung, Lagerhaltung und dem Vertrieb teilhaben; sie verlagert durch die umfassende Information – in einem Ausmaß, das die Möglichkeiten des Service in einem herkömmlichen Laden sprengt – den Schwerpunkt des Handels und verwandelt dadurch Ladengeschäfte in eine Art „Showrooms“ für den E-Commerce.
Als Schauplätze des Handels sind Städte schon immer physische Orte des Austauschs auf mehreren Ebenen gewesen. Die über persönliche Geräte zugängliche digitale Technologie erzeugt einen iterativen Kontext, in dem urbane Lebensstile und städtische Form in einen neuen Dialog eintreten und dabei das Physische und Virtuelle und die öffentliche urbane Bühne und die Backstage-Bereiche zu einem nahtlosen räumlichen Kontinuum verschmelzen. Der sofortige Zugang zu Informationen verändert das Tempo und die Rhythmen des Stadtlebens. Die Stadt als eine von der unschönen Infrastruktur der Backstage-Vorgänge befreiter Schauplatz des Konsums wird ersetzt durch temporäre, flüchtig-durchlässige Prozesse, die unaufhörlich von neuen Informationen angetrieben werden, um neue soziale Situationen und Orte zu erschaffen.

Logistikkreislauf

Es herrscht zunehmend Konsens über die Wichtigkeit, jede unserer Handlungen hinsichtlich ihrer Folgen für den Planeten zu beurteilen.

Dieser Konsens hat die traditionellen Backstage-Bereiche der Abfallwirtschaft und des Recycling in den Vordergrund des Konsums verschoben. Diese Verwischung der Grenzen zwischen zwei einstmals getrennten Bereichen hat zu einer Neuausrichtung der Liefer- und Vertriebsketten geführt.

Das System der „vorwärtsgerichteten“ Distribution – der Prozess, bei dem Rohmaterialien, Einzelteile und fertige Produkte von Zulieferern zum Herstellern und von dort über Vertriebsfirmen zum Verbraucher fließen – wird um seinen Gegenpart, die „rückwärtsgerichtete“ Distribution, erweitert. Bisher war die Entsorgungslogistik zuständig für die Beseitigung von schadhaften oder veralteten Produkten sowie den ständig wachsenden Bereich des Recycling. Es hat sich jedoch ein neues Segment herausgebildet, das das Einsammeln von gebrauchten Produkten und deren Recycling als Bestandteil der Markenstrategie in den Mittelpunkt stellt. Wenn der Verbraucher in einer vom Hersteller bereitgestellten, eigens dafür entworfenen Verpackung ein Produkt zurücksendet, das am Ende seines Produktlebenszyklus angelangt ist, so ist ein Teil des traditionellen Entsorgungsprozesses in den Vordergrund der Konsumsphäre gerückt. Dieser Materialfluss verwandelt die Distribution von einem linearen – von der Gewinnung des Rohmaterials über die Produktion bis zur Müllkippe – in einen zirkulären Prozess, der nicht mehr auf einer Müllkippe endet, sondern Abfälle und verbrauchte Produkte wieder zum Rohmaterial macht (nach dem Prinzip „cradle to cradle“ – von der Wiege zur Wiege).

Der Schwerpunkt in der Gleichung von Vertrieb und Handel auf der einen und Konsum auf der anderen Seite hat sich verlagert. Die tragbare digitale, über Soziale Medien erfolgende Kommunikation bringt Transparenz in das System; sie schafft Verbindungen zwischen der virtuellen und physischen Welt, und sie verbreitet Informationen, die gesellschaftliche Wertvorstellungen verändern.

Der mit dem logistischen Wissen ausgestattete Verbraucher wägt die Folgen seiner Handlungen ab: Welches ist der beste Preis, woher stammt dieses Produkt und was geschieht mit ihm, wenn ich es nicht mehr brauche? Die Hersteller und Vertriebsfirmen müssen spezifischer auf diese sich wandelnden Verhaltensmuster reagieren.

In der herkömmlichen Stadt war der Verbraucher ein passiver Bewohner einer von oben nach unten organisierten Welt; heute wird jeder aktiv in die Distributionskette eingebunden und entscheidet mit darüber, wie man die gebrauchten Produkte wieder dem Produktionszyklus zuführt. Wenn wir unserer ursprünglichen, aus der Welt des Theaters entlehnten Analogie von der dualen Stadt folgen, die in eine öffentliche Bühne und in einen dienenden Backstage-Bereich geteilt ist, so muss man sich die Stadt heute eher wie ein Totaltheater vorstellen, in dem die Trennung zwischen Zuschauerareal und Bühnenraum nicht mehr gegeben ist. Diese Verwischung von Unterschieden zwischen Elementen des Netzwerks verlangt eine neue ganzheitliche und integrierte Vision von Architektur und Stadt, die dynamische räumliche und soziale Implikationen haben wird.


[Aus dem Amerikanischen von Fritz Schneider und Anh-Linh Ngo.
Leicht gekürzte, bearbeitete und aktualisierte Fassung des Textes „Emerging Landscapes of Movement and Logistics“. Zuerst erschienen in Architectural Design Profile, Nr. 134, 1998, S. 16-21.]

[Susan Nigra Snyder ist Architektin und Städteplanerin. Sie lehrte an der Universität Pennsylvania und forscht zu den Themen Konsum, öffentlicher Raum und Urbanismus.
Alex Wall studierte Architektur und Kunstgeschichte. Seit 2000 ist er Professor am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und leitet dort das Urban Design Studio. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschien 2005 Victor Gruen and the Transformation of the American Cityscape and Landscape bei Actar.]

ARCH+, Mo., 2012.03.19

19. März 2012 Susan Nigra Snyder, Alex Wall

Tertiär, grau

(SUBTITLE) Eine Studie zur logistischen Landschaft in Deutschland

Ein Projekt des Lehrstuhls für Gebäudelehre und Grundlagen des Entwerfens, RWTH Aachen

Betreuung: Prof. Anne-Julchen Bernhardt, Anna Marijke Weber, Sascha Glasl
Ko-Referent 1. Semester: Prof. Hartwig N. Schneider, Lehrstuhl für Baukonstruktion, RWTH Aachen

Die im Folgenden vorgestellten Fallstudien stammen von: Niklas Fanelsa, Sebastian Haufe, Silja Kampmann, Julia Krebs, Matthias Poczatko und Leonard Wertgen


Seit 1990 war die Beschreibung von Theorie und Praxis des virtuellen Raumes einer der Schwerpunkte dieser Zeitschrift. Eine Generation von Architekten hat sich mit den Hoffnungen der Zweiten Moderne beschäftigt, der reale Raum schien überwunden, der Computer, Simulation und totale Kommunikation versprachen neue Daseinsformen. Neue Technologien ermöglichen es spätestens mit der Verbreitung des Internets, dass Informationen unabhängig von räumlichen Grenzen an jedem beliebigen Ort und zu jedem Zeitpunkt empfangen und gesendet werden können. Dies hat nicht nur das Verständnis von Raum verändert, sondern auch die gesamte Gesellschaft entgrenzt. Die Ausbreitung der physischen Infrastruktur des Internet wurde jedoch vom architektonischen Diskurs und von Architekten kaum beachtet.

Der inzwischen zu einem Gemeinplatz gewordene Begriff der „digitalen Revolution“ beschreibt einerseits die Radikalität dieses Prozesses, andererseits hat die Digitalisierung bisher viel weniger direkt sichtbare Auswirkungen auf den gebauten Raum gehabt als ursprünglich angenommen. Obwohl sich die Arbeitswelt vollkommen verändert hat, die Mobilität immens gestiegen, die gesamte Wirtschaft globalisiert, das alltäglich Leben vollkommen gewandelt ist, sieht die gebaute Umwelt erst einmal nicht sonderlich anders aus als im Jahr 1990.

Der gebaute Raum ist nicht unwichtig geworden, sondern hat sich schleichend an die neuen Bedingungen angepasst: Typologien sind verschwunden, andere in Auflösung begriffen. Das Postamt ist als Typologie historisch geworden; Banken besitzen keine Schalterhallen mehr, sondern Beratungsinseln; Kaufhäuser melden Insolvenz an; Bibliotheken wickeln die Ausleihe übers Internet ab; 30% der Arbeit wird von zuhause erledigt, Jugendliche treffen sich nicht mehr an Tischtennisplatten, sondern in Sozialen Netzwerken. Aber das Verschwinden des Festnetztelefons, der Post, des Bargeldes und des Einzelhandels ist nicht mit dem Rückgang von gebautem Raum verbunden, sondern mit neuem Raum an neuen Orten. Die Informationsgesellschaft erzeugt riesige technisch hochausgerüstete Gebäude, die sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten in der Welt verteilen.

Während durch den Bildschirm das Internet raumlos erscheint, hat es sehr wohl eine räumliche Ausprägung. Die Dienstleistung hinter der Dienstleistung braucht Raum, irgendwo stehen sehr viele gekühlte Server, irgendwo sitzen Menschen an Telefonen, verpacken Kisten, fahren LKWs, schreiben Programme und sammeln Daten. Das Internet erzeugt eine große schweigende Masse an Gebäuden, die einen echten Ort haben und trotzdem mit der ganzen Welt verbunden sind.

Die Forschungen zu diesem System beschäftigen sich vor allem mit Wachstum, Effizienz und Energieverbrauch, das Maß aller Dinge ist die Kilowattstunde. Die Frage, wie viel Energie eine Suchanfrage verbraucht, beschäftigt Elektrotechniker, Physiker und Umweltingenieure weltweit. Das System spiegelt sich selbst, die These, dass der Energieverbrauch des Internets mittlerweile größer ist als der des Flugverkehrs, dass eine Suchanfrage so viel CO2 erzeugt wie eine kleine Kanne Tee, gehört zu den viel zitierten Wahrheiten des Internets. So wissen wir, dass alle Datencenter der Firma Google so viel Energie verbrauchen wie eine Großstadt, die Internetnutzung 1% des weltweiten Energieverbrauchs ausmacht und das mit einem Wachstum von mindestens 10% pro Jahr. Nach Moores Gesetz verdoppelt sich die Rechenleistung von Prozessoren und die Kapazität von Massenspeichern alle 18 Monate, immer mehr Menschen können immer leistungsfähigere Systeme benutzen, die durch immer schnellere Netze mit immer höheren Datenraten miteinander kommunizieren können. Diese Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen, momentan benutzen 2 Milliarden Menschen das Internet regelmäßig. Die Steigerung der Effizienz der Informationstechnologie wird durch die rasante Verbreitung des Internets ausgeglichen. Die Datenmenge des Netzes verdoppelt sich alle 4 Monate. Im Jahr 2030 wird das Internet mehr Energie verbrauchen als heute die gesamte Weltbevölkerung.

Die gebaute Wirklichkeit des Internets ist hingegen nahezu unerforscht. Die sich vor allem über ihre technischen Anforderungen erklärenden Bauten sind ein wichtiger Bestandteil der Infrastruktur des 21. Jahrhunderts, aber sie tauchen nicht in aktuellen Lehrbüchern der Architektur auf. Die Welt ist nicht fertig, sondern in einem Zustand ständiger Veränderung. Um die Welt zu verbessern, muss man sie daher sehr genau betrachten. In diesem Sinne müssen architektonische Eingriffe mit einer Feldforschung in den verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit beginnen. Aus der umfassenden Beschreibung der Wirklichkeit lassen sich Hypothesen aufstellen. Eine typologische Forschung muss einer hintergründigen Wissenschaftlichkeit folgen, Lehre soll experimentieren. Nicht die Welt hat die Antwort, sondern der Architekt stellt die richtigen Fragen.

Das einjährige Masterprojekt Tertiär, grau am Lehrstuhl Gebäudelehre der RWTH Aachen untersucht das System der Infrastruktur zweiter Ordnung und die ihm innewohnenden Regeln und Bedingungen, um daraus erste Verbesserungen des System zu entwickeln. Im ersten Semester wurden die Systemelemente erfasst und großteils erstmalig typologisch untersucht. Während jeder Student ein von ihm klar formuliertes Thema untersuchte, stellt die Summe aller Untersuchungen den Versuch dar, die Infrastruktur der Dienstleistungsgesellschaft möglichst breit zu erfassen. So werden die wichtigsten Gebäudetypologien umfassend beschrieben: Daten-, Call- und Distributionscenter. Zusätzlich stellen die weiteren Studien den größeren Zusammenhang dieser Typologien unter einem Einzelaspekt dar: Sicherheit, Netzwerke, Nachrichtenübermittlung, Logistik und Speicherung. Die in dieser Ausgabe dargestellten Fallstudien sind komprimierte Zusammenfassungen der Arbeiten. Im laufenden zweiten Semester entwickeln die Studenten aus ihren Forschungsergebnissen Ansatzpunkte für notwendige Eingriffe in das System, um so erste Prototypen entwerfen zu können.

ARCH+, Mo., 2012.03.19

19. März 2012 Anne-Julchen Bernhardt

Logistikkomplex des IKRK in Genf

Der Neubau des Logistikkomplexes für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf sollte in seiner Gestaltung und baulichen Form in erster Linie das Selbstverständnis des Roten Kreuzes als weltweit operierende neutrale Hilfsorganisation wiederspiegeln. Als zentraler Knotenpunkt wird von hier aus die Versorgung der weltweit agierenden Teams mit Medikamenten, Nahrungsmitteln und orthopädischen Geräten organisiert und koordiniert.

Der leicht von der Straße zurückgesetzte Bau grenzt sich mit einer prismatisch verformten, textilen Fassade aus weißem Zelttuch gegen die umgebende Industriebebauung ab. In seiner Materialität und Farbigkeit gewinnt das Gebäude einen stark symbolischen Charakter und stellt einen visuellen Bezug zu den weißen Schutzzelten in Katastrophengebieten und Flüchtlingslagern sowie den LKW-Planen der Rot-Kreuz-Hilfstransporte her.

Das komplexe Raumprogramm aus Logistikhalle, Vorbereitungs- und Transportzentrum, Ladeplattformen, Archiven und Büroräumen organisieren die Architekten nach den internen Arbeitsabläufen: Die Zonen der Warenanlieferung und Bereiche zur Vorbereitung der Auslieferung sind als Mezzaningeschoss ausgebildet und direkt mit dem Hochregallager verbunden. Der Logistikbereich ist über eine separate, vertikale Erschließung mit dem Administrationsbereich verbunden, der mit seinen Büro- und Konferenzräumen den Kernbereich für die Organisation der weltweiten Hilfseinsätze und deren Versorgung mit Material bildet. Die Architektur stellt immer wieder visuelle Beziehungen zwischen den beiden Bereichen her.

ARCH+, Mo., 2012.03.19

19. März 2012 Rafael Kopper, Nicole Opel

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