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19. März 2024Stephan Trüby
Neue Zürcher Zeitung

Israelhass in der Architektenszene – ETH-Mitarbeiter feiern den 7. Oktober und unterzeichnen offene Briefe von Hamas-Freunden

Nach der Hamas-Attacke vom 7. Oktober 2023 ist deutlich geworden: Das Architekturdepartement der ETH Zürich hat sich zu einem Hotspot für wissenschaftlich verbrämten Antisemitismus entwickelt.

Nach der Hamas-Attacke vom 7. Oktober 2023 ist deutlich geworden: Das Architekturdepartement der ETH Zürich hat sich zu einem Hotspot für wissenschaftlich verbrämten Antisemitismus entwickelt.

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15. Januar 2022Stephan Trüby
Der Standard

Gekommen, um zu bauen

Das Humboldt Forum im Berliner Schloss, immerhin das wichtigste deutsche Kulturprojekt seit der Wiedervereinigung, ist in die Hände von Reaktionären und Planlosen geraten.

Das Humboldt Forum im Berliner Schloss, immerhin das wichtigste deutsche Kulturprojekt seit der Wiedervereinigung, ist in die Hände von Reaktionären und Planlosen geraten.

Die Türen stehen offen, die Fakten sind geschaffen, doch die Debatten reißen nicht ab: Das Humboldt Forum im teilrekonstruierten Berliner Schloss, das im Dezember 2020 digital und im Juli 2021 mit real existierenden Besucherströmen eröffnet wurde, ringt um woke Akzeptanz. Dabei hatte das Projekt mit einer verlockenden Idee begonnen: Ausgerechnet in ein Remake der Residenz von Kurfürsten, Königen und Kaisern sollten zwei Museen einziehen, Preußens und Deutschlands Haltung zur Welt repräsentieren – das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst.

Das Zusammenspiel von Fassade und Programm wäre prädestiniert gewesen, eine aufklärerische Desillusionierungsmaschine, ein „Doppelmuseum“ zu realisieren, das künstlerische Artefakte in dem spiegelt, was als „aggressives Außenverhalten von Kulturen“ beschrieben werden könnte. Und eine Fake-Fassade hätte einem solchen Museum geholfen: Sie hätte Authentizitätserwartungen, die ihrerseits durchaus reaktionär sein können, von Anfang an unterlaufen.

Es kam anders: nostalgischer. Konservativer. Reaktionärer. Das Humboldt-Forum steht wegen teils extrem rechter Spender unter Beschuss. Das Geld für die Fassadenrekonstruktion – insgesamt 105 Millionen Euro – wurde vom Förderverein Berliner Schloss e. V. um den Hamburger Kaufmann Wilhelm von Boddien eingesammelt.

Rechte Spender

Zu diesen Spendern gehört auch der Verein Gesellschaft Berliner Schloss e. V., dessen dreiköpfiger Vorstand zu zwei Dritteln aus rechten Akteuren besteht: dem Schatzmeister Daniel Krüger (der ein AfD-Politiker ist) sowie dem zweiten Vorsitzenden Guido Hinterkeuser, der die „Gemeinsame Erklärung 2018“ mitunterzeichnet hat, in der sich Rechtsextremisten gegen eine „Beschädigung Deutschlands“ durch eine „illegale Masseneinwanderung“ aussprachen.

Die Motive hinter derlei Finanzierungen dürften mit konservativen Selbstberuhigungsformeln nicht hinreichend erklärt werden. Rechte Spender wollen eben nicht nur harmlose Zeitreisen unternehmen, sondern sie sind gekommen, um voller Entschlossenheit Bühnenbilder für den politischen Rollback zu bauen. Erhardt Bödecker (1925–2016) etwa, der extrem rechte Bänker der im Kaiserreich den „erfolgreichsten Staat der deutschen Geschichte“ sah, spendete mit seiner Frau Anneliese die Neufertigung der Nordkartusche des Eosanderportals.

Als der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt in einem Tagesspiegel- Artikel die rechtsradikalen und antisemitischen Züge von Bödeckers Weltbild publik machte, reagierte die Stiftung Humboldt Forum schnell, distanzierte sich von den Positionen des Großspenders und entfernte das Reliefmedaillon des Ehepaars, das allen Geldgebern mit Zuwendungen ab eine Million Euro aufwärts zugesichert worden war.

Dies sind nicht die einzigen Fassadenfinanziers mit Rechtsdrall. Der Chefredakteur Dieter Stein und der Autor Claus Wolfschlag der Berliner Wochenzeitung Junge Freiheit , der Rechtsanwalt und AfD-Kandidat bei den Stuttgarter Gemeinderatswahlen Thomas Sambuc, Karl-Klaus Dittel, Mitgründer des AfD-nahen Vereins zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheit griffen alle zum Geldbeutel, ebenso wie der „Preußenabend München“, eine Organisation, bei der, so berichtet Jörg Häntzschel in der Süddeutschen Zeitung mit Verweis auf Recherchen des Bayerischen Rundfunks, „rechtskonservative Akademiker, Vertriebenenfunktionäre, AfD-Politiker und Neonazis“ auftreten. Es liefe auf eine Verharmlosung hinaus, diese als „Einzelfälle“ abzutun.

Bereits während der Bauphase hatten sich die Kontroversen um das Humboldt Forum von den Fassaden zu den Ausstellungsinhalten verschoben. So kritisierte die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy den Namen „Humboldt Forum“ als bloßes Label, forderte eine kritischere Auseinandersetzung mit „all den Schweinereien“ aus 300 Jahren Sammeltätigkeit und verließ 2017 unter Protest den Beirat des Humboldt Forum. Savoy sieht einen fundamentalen Widerspruch zwischen der Fassadenreplik und den Ausstellungsinhalten: Während das Humboldt Forum mit seinem architektonischen Erscheinungsbild die Möglichkeit suggeriere, Geschichte rückgängig machen zu können, werde den vor allem afrikanischen Gesellschaften, die um Rückführung entwendeter Artefakte bitten, das genaue Gegenteil erklärt: Geschichte lasse sich eben nicht rückgängig machen.

Dass der postkoloniale Groschen bei den Verantwortlichen des Humboldt Forum erst in jüngster Zeit so einigermaßen gefallen ist, ist kulturpolitisch besonders fatal, da sich der Bau des Schlossoriginals von Andreas Schlüter Gewinnen aus der Kolonie Groß-Friedrichsburg im heutigen Ghana verdankte. Darauf verweist Anna Yeboah mit ihrer eindrücklichen Schilderung in der Zeitschrift ARCH+, wie sie mit ihrem aus Ghana stammenden Vater einmal jenes noch heute existierende Fort besuchte, in dessen Kellerräumen Tausende von Menschen Einsperrungen und Folterungen erleiden mussten, bevor sie nach Mittelamerika deportiert wurden. Von ihren Qualen blieb vor Ort eine schwarze Masse zurück, die den Kellerboden heute wie ein weicher Estrich überzieht: eine über die Jahrhunderte stabilisierte Melasse aus Blut und menschlichen Fäkalien.

Kulturpolitisches Totaldesaster

Doch von derlei wollen die deutschen Schlossbaufreunde lieber nichts wissen. Es könnte ihr Bild von der „guten alten Zeit“ stören. Statt einen Gedanken an afrikanische Blutböden zu verschwenden, setzte der Förderverein dem Humboldt Forum noch die ultimative Krone auf: Von einem christlichen Kreuz bekrönt, wird die neu errichtete Schlosskuppel von einer rundum laufenden Tambour-Inschrift geschmückt, auf der geschrieben steht: „Es ist kein ander Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn der Name Jesu, zu Ehren des Vaters, daß im Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

Mittlerweile hat sich die Stiftung Humboldt Forum vom Kuppelspruch distanziert und will ihn nachts mit einer leuchtenden Laufschrift und Auszügen aus dem Grundgesetz sowie der Menschenrechtserklärung überblenden. Und tagsüber, bei laufendem Betrieb, soll die im Museum adressierte Weltgesellschaft sich dem christlichen Herrschaftsanspruch unterwerfen? Das kulturpolitische Totaldesaster namens „Humboldt Forum“ tritt nun, so scheint es, in eine Phase der High-End-Bizarrerie ein.

Doch selbst die Leuchtschrift-Hilflosigkeit bringt Wilhelm von Boddien noch aus der Façon. Wer laut von Boddien christliche Insignien heute infrage stelle, riskiere „einen kulturellen Bruch, wie wir ihn in unserer Geschichte noch nie hatten – die Herrschaft der Säkularisierung über unsere 2000 Jahre alten Wurzeln im Christentum“. Möge ihm irgendwer erklären, dass es sich bei dem Bau nicht um eine Kirche, sondern um einen in der Tat säkularen Ort handelt. Und dass Aufklärung nur gegen religiöse Mächte durchgesetzt werden konnte und kann.

Man muss es so deutlich formulieren: Das wichtigste deutsche Kulturprojekt seit der Wiedervereinigung ist in die Hände einer Mesalliance von Reaktionären und Planlosen geraten. Es braucht in Deutschland neben neuer politischer Entschlossenheit wohl nun vor allem auch schweres Gerät, um sich den symbolpolitischen Zumutungen ultrakonservativer Stadtbildlobbyisten zu erwehren.

[ Stephan Trüby ist Professor für Architektur und Kulturtheorie sowie Direktor des Instituts für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart. Zahlreiche Buchpublikationen, zuletzt: „Rechte Räume. Politische Essays und Gespräche“ (2020). ]

Der Standard, Sa., 2022.01.15

19. August 2021Stephan Trüby
Neue Zürcher Zeitung

Wem nützt ein Grossprojekt in China? Auch beim Bauen wird um die richtige moralische Haltung gekämpft

Der Architektur hilft am Ende nur noch die Hypermoral, wenn eine terrestrische gegen eine libertäre Ethik kämpft.

Der Architektur hilft am Ende nur noch die Hypermoral, wenn eine terrestrische gegen eine libertäre Ethik kämpft.

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19. März 2012Stephan Trüby
ARCH+

Innerer Urbanismus

Es gehört zu den architekturtheoretischen Konstanten seit der Neuzeit, nach dem Zusammenhang von Architektur und Stadt zu fragen. Gehorcht der kleine Maßstab...

Es gehört zu den architekturtheoretischen Konstanten seit der Neuzeit, nach dem Zusammenhang von Architektur und Stadt zu fragen. Gehorcht der kleine Maßstab...

Es gehört zu den architekturtheoretischen Konstanten seit der Neuzeit, nach dem Zusammenhang von Architektur und Stadt zu fragen. Gehorcht der kleine Maßstab von Raumfolgen und Etagen denselben Prinzipien wie die großmaßstäblichen Arrangements urbaner Areale? Welche Rolle spielen Durchwegung und Zirkulation auf beiden Ebenen? Gibt es gar eine Selbstähnlichkeit von Stadt und Haus? Das im Bau befindliche Zürcher „Toni-Areal“ von EM2N lädt wie derzeit wohl kaum ein zweites Bauwerk dazu ein, solche Fragen zu diskutieren.

Die Festungsmauer und das Haus als kleine Stadt

Die Verwandtschaft von Haus und Stadt wurde zum ersten Mal durch Leon Battista Alberti in seinen 1452 fertiggestellten Zehn Büchern über die Architektur angesprochen. Darin schreibt er: „Und wie man in der Stadt das Forum und die Plätze, so wird man im Hause das Atrium, den Saal und Räume dieser Art haben, die nicht an abgelegener, verborgener und enger Stelle liegen, sondern vollkommen zugänglich sein müssen, dass auf sie die übrigen Räumlichkeiten ganz unbehindert münden können. Auf sie werden sich nämlich die Mündungen der Stiegen und Gänge öffnen, in ihnen werden die Begrüßungen und Besuche der Bekannten entgegengenommen.“ Damit wurde die Stadt und ihre Durchwegung zum Vorbild für das Haus und seine Erschließung ausgerufen. Es kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern, dass Georg Germann – im Anschluss an Überlegungen Giulio Carlo Argans – die architektonische Schrift Albertis als ein „Traktat des Urbanismus“ bezeichnet hat: „Bei Alberti [...] fügt sich die Architektur in den größeren Rahmen der Stadt, ist sie deren Interpretation, die von sichtbaren Formen getragene Botschaft ihrer Bedeutung.“
Die Stadt, die von Alberti ins Haus geholt wurde, war eine befestigte.

Diese urbanistische Besonderheit sollte man auch im Auge behalten, wenn man von seinen Architekturen spricht. Sie erklärt nämlich nicht nur die Raumtopologien, sondern auch die Innenarchitekturen, die der Architekt und viele seiner klassisch inspirierten Nachfolger planten und bauten. Heiner Mühlmann hat darauf hingewiesen, dass die Stadt und das Zimmer im Haus der Renaissance topologisch identisch sind: Beide stellen Sphären dar, die transversal von einer Bewegungsbahn durchschnitten werden. Der Weg durch einen Renaissance-Saal, der in einer geraden Linie von Tür zu Tür führt, kann als eine herunterskalierte, von Stadttor zu Stadttor spannende Via regia betrachtet werden. Das Kleine spiegelt sich im Großen – zumal das Große, nämlich die Stadt und ihre Umfassungsmauer, in der Sicht Albertis ja auch das Höchste ist: „Da die Stadt [...] als Ganze einem Gott geweiht ist, wird die Stadtmauer zum eigentlichen Gebäude der Stadt.“ Von dieser militärisch-sakralen High-Ranking-Architektur leiten sich alle anderen Bauwerke ab: Je bedeutsamer ein Gebäude für das Kollektiv der Civitas ist, desto stärker treten Anleihen an eine Stadttor-Ästhetik in den Vordergrund. In den Zentren vieler Städte gerieren sich Triumphbögen als Pseudo-Stadttore, und Triumphbogenmotive tauchen an fast allen wichtigen Gebäuden der Stadt in unterschiedlicher Dichte auf – die Ornamentik und das Bildprogramm aller urbanen Häuser sind gewissermaßen an der Stadtmauer und ihren Toren „geeicht“. Die einzig „eigentlichen“ Räume der Renaissance-Stadt, die nicht auf andere Gebäude Bezug nehmen, sind, so Mühlmann, die Geheimkorridore von Palazzi in der Dicke der Wand: „Hinter der Architektur befindet sich in einem Bereich architektonischer Jenseitigkeit technische Architektur. Ihre Räume sind die Hohlräume zwischen Innenwand und Außenwand.“

Die unbefestigte Stadt und das Ende des Hauses als Weg und Platz

Seit Stadtbefestigungen militärisch sinnlos geworden sind, also seit der Etablierung und Konsolidierung des Territorialstaats im 18. und 19. Jahrhundert, sind Albertis Ideen vom Haus als einer kleinen Stadt hinfällig geworden. Denn seither ist das Primat des Hindurchgehens durch das Primat des Daranvorbeigehens ersetzt worden: Wie Robin Evans dargelegt hat, sind die Räume mit den vielen Türen, die sich zu Enfiladen reihen, weitgehend durch Räume mit nur einer Tür ersetzt worden. Anders gesagt: Die Transversalen sind den Tangentialen gewichen. Das tangentiale Zeitalter der Architektur hatte seinen Vorläufer in den Zellen der mittelalterlichen Klöster, um sich ab der Aufklärung Mitte des 18. Jahrhundert zunächst in Hospitälern, Asylen und Gefängnissen und später auch in den allgemeinen Wohnformen durchzusetzen. Seither gehen Urbanismus und Architektur weitgehend getrennte Wege, denn fortan ging man zwar nach wie vor durch Städte hindurch, aber an den meisten Räumen und Zimmern vorbei. Moderne Gebäude sind anders organisiert als moderne Städte: Während die Durchwegungsoptionen von Städten seit dem Wegfall von Fortifikationen noch gesteigert wurden, reduzieren sich die Erschließungen von einzelnen Gebäuden auf den einen Zugang, an den sich zumeist – jedenfalls bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – baumartig verästelte Korridorstrukturen anschließen. Versuche aus den fünfziger und sechziger Jahren, mithilfe multikursal organisierter „Mat-Buildings“ Baumstrukturen zu überwinden, gelten spätestens seit der um 2000 entstandenen neuen Sicherheitserwartungen an Zugangskontrollen als Sackgassen der Architekturevolution.

Seit der Moderne leiten sich Erschließungskonzepte innerhalb von Gebäuden kaum noch von der dichten Stadt, sondern vor allem von der Natur bzw. der offenen Landschaft ab. Insbesondere Josef Frank und Le Corbusier entwarfen in diesem Geiste innerarchitektonische Wege. Zwar bezieht sich Frank, der über Alberti promovierte, in seinem Aufsatz Das Haus als Weg und Platz explizit auf die Stadt als Vorbild seiner Raumschöpfungen. Doch begründet er seine Vorliebe für gebaute Parcours recht inkonsistent mit dem Abwechslungsbedürfnis des Städters nach architektonischen Dschungel-Surrogaten: „Der Mensch im Urwald brauchte keine Architektur, denn er hatte genügend Zeit und Raum sich ungehindert bewegen zu können, und musste sich nichts vortäuschen lassen. Wir, durch die Zivilisation eingesperrt, machen uns künstliche Wege und Plätze im Haus und dem kleinen Stück Erde, das wir Garten nennen, um Abwechslung auf dem möglichst kleinen Raum zu schaffen.“ Im selben Geiste, aber mit eindeutigerer Wortwahl, setzt Le Corbusier unter dem Motto „promenade architecturale“ auf die landschaftliche Erlebnisqualität durchwegter Architektur. Er formulierte ein „Gesetz des Durchwanderns“ und realisierte in seiner Pariser Villa La Roche (1925) seine erste Architektur-Promenade: „Man tritt ein. Gleich bietet das architektonische Schauspiel sich dem Blick dar. Man folgt einem vorgezeichneten Weg, und die Perspektiven entwickeln sich in großer Mannigfaltigkeit. Man spielt mit dem hereinströmenden Licht, das die Wände erhellt oder dämmrige Winkel schafft. Die Öffnungen geben die Sicht auf das Äußere frei, wo man (infolge der abgewinkelten Anordnung des Hauses und der Verzahnung von Innen- und Außenraum) die architektonische Einheit wieder findet.“

Was in den Tangentialerschließungen moderner Architekturen und in den intellektuellen Bezügen von Josef Frank und mehr noch von Le Corbusier implizit enthalten ist, wurde von Rem Koolhaas und seinem „Oeuvre incomplète“ S,M,L,XL explizit gemacht: das Ende der humanistischen Spiegelung des Makrokosmos im Mikrokosmos im Geiste von Albertis „Haus als kleiner Stadt“. Indem Koolhaas sein architektonisches Werk weder chronologisch noch typologisch oder geografisch, sondern nach Konfektionsgrößen ordnet, kommuniziert er: „S“ ist etwas völlig anderes als „XL“; es gibt kein geheimes Band, kein „connective tissue“, das Architektur und Stadtplanung im Innersten zusammenhielte. Verblüfft darüber, „dass allein schon die Größe eines Gebäudes ein ideologisches Programm konstituiert“, konstatiert der niederländische Architekt: „Bigness = Urbanismus versus Architektur.“

Bigness in Zürich

Inwieweit das Haus auf der einen und die Stadt bzw. Landschaft auf der anderen Seite einander ähnlich sind, inwieweit sie gar topologisch identisch sind, ist eine Frage, die in einem Land wie der Schweiz, in dem die Urbanisierungsprozesse der Moderne nicht nur auf die Städte begrenzt blieben, von besonderer Aktualität. Entsprechend herrscht in dem Alpenland seit ein paar Jahren eine kontrovers geführte Urbanismus-Debatte, initiiert vor allem durch das Buch Die Schweiz. Ein städtebauliches Porträt, das Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron, Christian Schmid und ihr ETH-Studio Basel herausgegeben haben. Am kontroversesten scheint diese Diskussion innerhalb des Instituts selbst geführt zu werden, denn betrachtet man den Band genauer, so fällt auf, dass beim wohl entscheidendsten Diskussionspunkt, nämlich der Frage, ob die Schweiz genuin anti-städtisch verfasst ist oder ob sie nicht vielmehr selbst als eine große Stadt zu betrachten ist, zwei unvereinbare Positionen für intellektuelle Inkonsistenz im Buch sorgen. Während etwa Jacques Herzog mit Verweis auf die Gemeindeautonomie von einem spezifischen „Antiurbanitätsmolekül“ der Schweiz spricht und in der radikal-föderalistischen Verfasstheit des Landes ein hochproblematisches „System der Abgrenzung, der Kleinteiligkeit, des Kleinmuts und des Egoismus“ erblickt, zeichnet Christian Schmid ein konträres, nämlich dezidiert städtisches Bild der Schweiz, wenn er schreibt: „Ausgangspunkt unserer Analyse ist die Hypothese, dass alle Gebiete der Schweiz als urban zu begreifen sind. Sie sind alle in der einen oder anderen Form vom Urbanisierungsprozess erfasst und grundlegend transformiert worden. Es macht keinen Sinn mehr, Stadt und Land oder Agglomerationen und ländliche Gebiete voneinander zu unterscheiden: Die gesamte Schweiz ist urbanisiert, und entsprechend sind alle ihre Landschaften mit Begriffen der Urbanisierung zu analysieren.“

Ein Blick auf das 1977 errichtete „Toni-Areal“ in Zürich-West könnte die beiden antipodischen Positionen wohl versöhnen, denn wie kaum ein zweites Gebäude in Zürich steht es für eine industrielle und letzten Endes auch urbanistische Durchdringung des Schweizer Territoriums – und gleichzeitig für die Fähigkeit dieses Prozesses, städtische Monumente zu generieren. Denn um nichts anderes handelt es sich beim Toni-Areal: um das gigantische, hochaufragende Artefakt eines nahrungsindustriellen Streamlinings; um die seinerzeit größte Milchfabrik Europas, in der täglich bis zu eine Million Liter Milch zu Joghurt, Butter, Sahne, Käse, Eis oder Milchpulver verarbeitet werden konnte [Abb. 1-2]. 1999 beschloss die Swiss Dairy Food, in der die Toni-Molkerei aufgegangen war, das Werk aus Kostengründen stillzulegen; ein Jahr später wurde der Betrieb liquidiert. Übrig blieb die zähe Baustruktur einer „generischen Zweckarchitektur“, die sich durch Böden von hoher Belastbarkeit, einer Stützenkonstruktion mit großen Spannweiten sowie doppelgeschossige Raumhöhen auszeichnet. Als bizarre Hinterlassenschaft an die Nachnutzer ragen – als eine Art Zürcher Kondensat des größten eidgenössischen Bauprojekts der Nachkriegszeit: der Schweizer Autobahn – breite LKW-Rampen in den Himmel; Stanislaus von Moos hat sie einmal als „zyklopische Ohren“ bezeichnet. Die jüngere Architekturgeschichtsschreibung hat sich daran gewöhnt, in diesen Rampen eine unter dem Pseudonym „Anonymus“ verfasste Flaschenpost Le Corbusiers zu erblicken, um einen eigenen Entwurf doch noch zur Realisierung zu bringen: den Plan des Schweizer Wahlparisers für das Europa-Parlament in Straßburg aus dem Jahre 1964, welcher vor allem durch seine weit auskragende promenade architecturale von sich reden machte [Abb. 3].

Das neue Toni-Areal: Aneignung des Rohen

Was sollte aus dem Toni-Koloss werden? Erste Überlegungen der als Grundpfandgläubigerin involvierten Zürcher Kantonalbank in Richtung Bürobau, Einkaufszentrum oder Entertainmentcenter zerschlugen sich. Als „Geburtsstunde“ des heute entstehenden Hochschulstandorts Toni-Areal kann eine vom Kanton Zürich 2005 in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie gelten. In der Folge entschied sich der Regierungsrat des Kantons zusammen mit den Schulleitungen und dem Fachhochschulrat für das Toni-Areal als zentralen Standort für die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und für die zur Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) gehörenden Departemente Angewandte Psychologie und Soziale Arbeit. Darüber hinaus werden Räume für öffentliche und halböffentliche Nutzungen sowie 100 Mietwohnungen entstehen. Ein Studienauftrag unter sieben eingeladenen Generalplanerteams folgte, aus dem das Projekt der Architekten Mathias Müller und Daniel Niggli, besser bekannt unter dem Namen „EM2N“, als Sieger hervorging. Die Kantonalbank verkaufte das Toni-Areal an die Generalunternehmung Allreal, die nun nicht nur die Baustelle und das gesamte Planerteam leitet, sondern auch als Vermieterin des umgebauten Gebäudes fungieren wird. Hierfür wurde im Jahre 2008 für den Toni-Campus der umfangreichste je abgeschlossene Mietvertrag des Kantons Zürich unterzeichnet: Auf eine feste Mietdauer von 20 Jahren fixiert und mit zwei Verlängerungsoptionen sowie einem Vorkaufsrecht des Kantons versehen, wird der jährliche Mietzins für die Gesamt-Mietfläche von 70.000 Quadratmetern 15,2 Millionen Franken betragen. Umfassende Planungsunterlagen sind Teil des Mietvertrages. In den Größendimensionen etwa vergleichbar mit dem Pariser Centre Pompidou oder der Tate Modern in London [Abb. 4], wird im Neuen Toni Platz für rund 5.000 Mitarbeiter, Dozenten und Studenten, für ein Kino, einen Jazzclub, vier Konzertsäle, diverse Ausstellungsräume sowie das Sammlungszentrum des Museums für Gestaltung geschaffen. Für den Ausbau der Liegenschaft bewilligte der Kantonsrat einen Kredit von rund 138 Millionen Franken.

Um das komplexe Raumprogramm in der ehemaligen Milchfabrik unterzubringen, wählten EM2N die Strategie eines „inneren Urbanismus“. Gemeint ist ein artifizielles Wegesystem, das – ergänzt um neue Lichthöfe – aus dem bestehenden Gebäude herausgestemmt wird. Dieses besteht im Wesentlichen aus den Querspangen der bestehenden Rampenanlage und einer neuen, zweigeschossigen Haupteingangshalle. Dazwischen erstreckt sich – im Innern des Hauses – eine ebenfalls neue Treppenkaskade, die, von der Eingangshalle ansteigend, bis in die oberste Etage der Rampenanlage reicht, und von dort Zugang zu einer „Kulturterrasse“ und einer „Dachpromenade“ ermöglicht. In der Summe entsteht ein strukturell an einen Knochen erinnernder öffentlicher Raum, der als „vertikaler Boulevard“ den öffentlichen Außenraum in das Gebäude hineinziehen soll [Abb. 5-10]. Raffinierterweise verstanden es die Architekten, diese Wegefigur von Brandschutzlasten frei zu halten, sodass ein offener Raum ohne Brandabschnittsklappen und feuerbeständige Bauteile zu erwarten sein wird. Die Treppenkaskade beschreiben die Architekten wie folgt: „Sie oszilliert zwischen weit und eng, monumental und fast intim. Durch eine Abfolge von wechselnden Raumstimmungen führt sie die Besucher durchs Gebäude, schafft Adressen, bindet Nutzungen zusammen und bildet Identifikationspunkte aus. Um diese Figur herum können sich die Nutzungen auf ihren „Parzellen“ flexibel entwickeln. So entsteht ein Haus mit kräftigen, Identifikation stiftenden Räumen und gleichzeitig maximaler Nutzungsflexibilität.“

Ein Schlüsselbegriff für das Verständnis des Neuen Toni ist „Aneignung“. Müller und Niggli legen Wert darauf, dem Gebäude keine Respekt erheischenden Oberflächen zu verpassen. Eine Besitzergreifung des Gebäudes durch neue Nutzer soll mehr sein als das Abstellen von Möbeln und das Anbringen von Namensschildern an Büros und Werkstätten. Gleichsam haptisch soll der neue Bau in Beschlag genommen werden: durch eine As-found-Ästhetik, die tote Perfektion meidet und das Rohe als Aufforderung zur Intervention begreift. Diese Zielrichtung wird durch eine künstlerische Lichtinstallation des Berliner Büros realities:united flankiert, die die Beschränkungen der berüchtigten „Kunst am Bau“ überwindet, indem sie das Nützliche (Lichtgebung für weitgehend innen liegenden Räume) mit dem Angenehmen (der Verpflichtung auf Aneignung) verbindet. Für ihre Arbeit nutzen die Berliner das gesamte für die öffentlichen Erschließungsbereiche notwendige Beleuchtungssystem [Abb. 11-15]. Das Licht, so realities:united, „folgt keinem wie auch immer gearteten „technischen“ Anordnungsraster, und auch sonst fehlt der Bezug zu anderen in Frage kommenden Typologien; weder entsteht in der Zusammenballung von Leuchten eine erkennbare „Lichtskulptur“, noch dient die Akzentuierung einer dramaturgischen oder architektonischen „Verdeutlichung“ des Raumes oder der Architektur“. Indem sie etwaige Erwartungshaltungen an Beleuchtungssysteme bewusst unterlaufen und auch suboptimale Lichtatmosphären bewusst suchen, provozieren sie Partizipation: „Die Nutzer, z.B. StudentInnen, die ihre Arbeiten ausstellen, finden keine Flächen vor, die für den Ausstellungsbetrieb optimiert sind, sondern Orte, die in dem Prozess der Aneignung eine Auseinandersetzung und ggf. eine Veränderung der Gegebenheiten provozieren.“ (realities:united) Vielleicht ist es das, was von der alten Idee des „Hauses als Weg und Platz“ ins 21. Jahrhundert hinübergerettet werden sollte: Der „innere Urbanismus“ kommt nur dann von innen, wenn er auf die Handlungen und Mikropolitiken der Nutzer rekurriert.


[Stephan Trüby, geb. 1970, ist Freier Architekt, Theoretiker, Kurator sowie Direktor des Postgraduierten-Studiengangs Spatial Design der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Er studierte an der AA School in London, promovierte bei Peter Sloterdijk und war von 2007 bis 2009 Professor für Architektur an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Sein neues Buch, Die Geschichte des Korridors, erscheint in Kürze. Er ist Ständiger Mitarbeiter von ARCH.]

ARCH+, Mo., 2012.03.19



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25. Oktober 2010Stephan Trüby
ARCH+

Kritik der burkinischen Vernunft

Es gibt zwei Arten von Kritik: eine vulgäre und eine philosophische. Während Erstere das Aufzeigen eines Misstandes meint und üblicherweise in der mal...

Es gibt zwei Arten von Kritik: eine vulgäre und eine philosophische. Während Erstere das Aufzeigen eines Misstandes meint und üblicherweise in der mal...

Es gibt zwei Arten von Kritik: eine vulgäre und eine philosophische. Während Erstere das Aufzeigen eines Misstandes meint und üblicherweise in der mal impliziten, mal expliziten Aufforderung kulminiert, vermeintliche bzw. tatsächliche Fehlentwicklungen künftig abzustellen, versucht Letztere die Frage nach den Bedingungen von etwas zu beantworten. In diesem Sinne wollte etwa Immanuel Kant mit seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) nicht etwa die praktische Vernunft in Frage stellen, sondern die Bedingungen der Möglichkeit von praktischer Vernunfterkenntnis ausloten. Während Vulgärkritik prospektiv verfährt – sie geht von einem Objekt der Kritik aus, um in Zukunft subjektiv Schlimmeres zu verhindern –, verfährt philosophische Kritik retrospektiv: Sie bohrt im Vorausgehenden, um im Fluchtpunkt des Kritik-Objekts anzukommen. Dabei verhält sie sich zur Vulgärkritik wie der Humus zu jenen Blumen des Bösen, die der Kritiker sich ins Knopfloch zu stecken pflegt, während der Philosoph nach dem rechtem Dünger sucht.

„Remdoogo“ zu kritisieren heißt, von Vulgärkritik Abstand zu nehmen, denn die Errichtung des „Operndorfes“ im burkinischen Laongo, das von Christoph Schlingensief initiiert und von Francis Kéré entworfen wurde, wird sich noch ein bisschen ziehen. Und dies nicht nur Schlingensiefs Todes wegen, von dem eine gleichermaßen vorbereitete wie schockierte Öffentlichkeit im August 2010 Notiz zu nehmen hatte. Auch die kalkuliert entschleunigte Verfahrensweise des Architekten, die einer geradezu Nadolnyschen „Entdeckung der Langsamkeit“ gleichkommt, wird die Fertigstellung hinauszögern. Überhaupt: Was heißt schon „Fertigstellung“, wenn es – wie so oft bei Kérés Bauten – um Architektur als ein soziales Projekt geht? Um eine Art gebaute Entwicklungshilfe, bei der das N-Wort „Nachhaltigkeit“ endlich einmal Sinn macht? Dass sich dabei der Architekt selbst als der beste und produktivste, nämlich als ein auf die Bedingungen von Remdoogo fokussierter Kritiker entpuppt, passt da nur ins Bild.

Als die zentrale Bedingung des Operndorfes darf wohl Schlingensiefs Anfang 2008 diagnostizierte Krebserkrankung betrachtet werden. In geradezu ästhetisierender Symmetrie sollte mit Remdoogo an ein Ende kommen, was, folgt man der Autodiagnose des Regisseurs und Künstlers, in Bayreuth begonnen hatte: die Korrelation von Krebserkrankung und Festspiel-Gedanke. Immer wieder betonte Schlingensief, dass es der Grüne Hügel war, auf dem seine lebensbedrohende Krankheit ihre Ouvertüre fand: „Ich bin wirklich überzeugt, dass der Krebs bei mir mit Bayreuth zu tun hat. [...] Ich habe ein Tor geöffnet, das ich niemals hätte öffnen dürfen.“ Dieses Tor öffnete Schlingensief im Jahre 2004, als er – unter größten atmosphärischen Spannungen mit dem damaligen Festspielleiter Wolfgang Wagner – den Parsifal inszenierte. Schlingensief, der Opern-Debütant, wollte das Bühnenwerk so gut inszenieren, dass er sich offenbar eine Art Todessehnsucht zulegte: „Ich bin erregbar durch Musik, durch diese Musik von Wagner besonders, das zerreißt mich, das macht mich fertig.“ Umso labiler hinterließ ihn der „Fascho-Laden“ Bayreuth. Knapp drei Jahre später – Schlingensief war nunmehr stark vom Lungenkrebs gezeichnet – legte er am Grab seines Anfang 2007 verstorbenen Vaters ein Gelübde ab, dass er „ein Theater, ein Opernhaus, in Afrika bauen werde, wenn das hier [also Schlingensiefs Erkrankung, S.T.] gut ausgeht“. Wer wollte ihm diesen letzten großen Wunsch versagen?

Für den Todesstern, der Remdoogo fortan den Weg wies, steht nicht nur die ästhetisierende Einrahmung von Schlingensiefs Krebserkrankung durch zwei Festspielhäuser – einem todbringenden fränkischen und einem erlösenden afrikanischen. Auch dass der Regisseur kontinuierlich nach engelsgleichen Projekt-Schützern suchte, verwies auf sein existentiell bedrohtes Leben. Zunächst gelang es Schlingensief im Jahre 2009, den damaligen Außenminister und Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier als Unterstützer von Remdoogo zu gewinnen. Nach dem schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl im selben Jahr musste jedoch ein neuer Schutzengel her – und der damalige Bundespräsident Horst Köhler rückte an Steinmeiers Stelle. Für einen geplanten Besuch des Bundespräsidenten am 9. Juni 2010 wurde in Laongo sogar – in einem beispiellosen architektonisch-organisatorischen Kraftakt – ein Fragment des Operndorfes errichtet: eine WC-Anlage mit fließendem Wasser mitten in der Savanne. Wenige Tage vor der Einweihung, am 31. Mai, trat Köhler jedoch zurück. Seither harrt das fertig gestellte „Scheißhaus Köhlers“ (Schlingensief) als durchaus anal-fixierter Gründungsakt von Remdoogo einer eingehenden psychoanalytischen Deutung – und kündet von hoffentlich in Bälde zu erwartenden Goldenen Zeiten. Man kann sich lebhaft vorstellen, welcher extremen psychischen und physischen Kräfte ein durch Therapie und Medikamente Geschwächter bedurfte, eine Immunisierungsstrategie durch Spitzenpolitiker auch dann fortzusetzen, wenn diese durch die Fährnisse des Politischen immer wieder abhanden gekommen waren.

Mit Hauruckaktionen wie der präsidialen WC-Anlage drohte Ungemach: die Gefahr zweier konkurrierender Arbeitsgeschwindigkeiten, die auf Dauer nur schwer zu synchronisieren gewesen wären: Auf der einen Seite stand da Schlingensief, der, bedingt durch seine Lebenssituation, immerwährend – und im wahrsten Sinne des Wortes – eine „Deadline“ vor Augen hat, die ihn antrieb und ihm schnelle, sichtbare Resultate abverlangte. Auf der anderen Seite stand – und steht noch immer – der 1967 in Burkina Faso als Häuptlingssohn geborene Francis Kéré, der durch eine Architektur bekannt geworden ist, deren Qualitäten vor allem auf der longue durée des partizipatorischen Bauens aufbauen. Zu Lebzeiten Schlingensiefs hieß Remdoogo zu verwirklichen vor allem, das schnelle, szenografische Performer-Denken des deutschen Regisseurs mit einer Kéréschen Architektur in Übereinstimmung zu bringen, die keineswegs nur auf bauliche Low-tech-Raffinessen zu reduzieren ist, sondern raffiniert mit Beteiligungs-Strukturen und klimatischen Zyklen arbeitet – Phänomenen also, die nun mal ihre Zeit brauchen. Immer wieder musste dem Furor Schlingensiefs durch Kérés Hinweise auf Regen- und Lehmtrocknungszeiten Einhalt geboten werden. Es stand ein zwar unter besten Freunden ausgetragener, aber doch zunehmend spürbarer Konflikt zwischen einem unduldsamen deutschen Schamanen und einem gewissenhaften afrikanischen Ingenieur im Raum.

Es gehört zu den großen Leistungen Kérés, dass er Remdoogo bereits „unter“ Schlingensief subversiv verbesserte – und nun, nach dem Tod des Regisseurs, souverän darauf aufbauen kann. Zunächst ist in diesem Zusammenhang das Areal des Baugrundstücks zu erwähnen, in dessen Nähe sich eine für Uneingeweihte nicht erkennbare religiöse Stätte befindet. Schlingensief sprach zwar immer von einer „spirituelle Aufladung“ des Remdoogo-Areals, doch die genauen Koordinaten jenes Ortes, den Kérés Freunde und Verwandte als „heilig“ empfinden, musste der Architekt vor seinem Freund und Bauherrn immer geheim halten, um Heiliges nicht den Indiskretionen europäischer Fernsehkameras preiszugeben. Auch die Konzeption von Remdoogo als einem Festspielhaus barg Konfliktstoff zwischen Initiator und Architekt, denn das Wort „Festspiel“ impliziert eine deutliche Trennung zwischen Bühnenakteur und Zuschauer – eine Trennung, der in Afrika eine weit geringere Bedeutung zukommt als in europäisch geprägten Theatertraditionen. Zurecht geht es Kéré beim „Operndorf“ mehr um ein Festhaus als um ein Festspielhaus – darauf deutet bereits das Wort „Remdoogo“ hin, das auf Mòoré ein ausgelassenes Fest meint, und zwar ohne disziplinierte Zuschauer.

Kérés manierliche, aber bestimmte Kritik an Schlingensief wird auch am Beispiel der Bühne deutlich. Sie stellt ein Remake jener einst unrealisiert gebliebenen Rundbühne dar, die in Gropius’ und Piscators Totaltheater aus dem Jahre 1927 entstehen sollte. Von der Ruhrtriennale finanziert, wurde ein Widergänger als transportable Konstruktion gefertigt und im April 2010 in 13 Schiffscontainern nach Burkina Faso gebracht. Dort ruht die Konstruktion seither unausgepackt im Sand. Kéré hat gute Gründe zu befürchten, dass sich dieses High-tech-Wunder aus Deutschland als ein Danaergeschenk entpuppen könnte. Denn wie soll die diffizile Stahlkonstruktion mit ihrer sensiblen Elektronik in eine Architektur eingehaust werden, deren Bautoleranzen dem Lehmbau entstammen? Und wie wird die Piscatorbühne nach einigen Jahren aussehen, wenn Regenzeiten den Rost wachsen ließen? Und überhaupt: Wer wird die Bühne warten? Um Remdoogo trotz dieser Unwägbarkeiten in jedem Falle zum Erblühen zu bringen, schmuggelte Kéré in das Projekt eine „Alternativbühne“ hinein, die robuster kaum sein könnte: einen öffentlichen Platz vor dem Festhaus, dessen Bühnenprospekt durch die – von außen betrachtet – konkave Wand des Haupteingangs gebildet wird.

Die Zusammenarbeit von Schlingensief und Kéré steht in einer langen Tradition konfliktträchtiger Versuche gemeinsamen Wirkens von Architekt und Auftraggeber, zu deren bekanntesten – und auch misslungensten – jene von Wagner und Semper gehörte. Kurz zur Rekapitulation: Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die beiden verhinderten Polit-Aktivisten der Deutschen Revolution von 1848/49, Gottfried Semper und Richard Wagner, von König Ludwig II. von Bayern umworben. Der Kini wollte die beiden für ein Festspielhausprojekt gewinnen. Alles schien auf dem besten Wege zu sein, doch nach und nach verfestigte sich bei Wagner die Überzeugung, dass Semper kein Glücksfall für das Festspielhaus-Projekt war, ja, dass er sich sogar als der größte Feind für die Wagnersche Idee des „Gesamtkunstwerks“ entpuppen könnte. Denn ab einem bestimmten Moment dämmerte dem Komponisten, dass die elaborierte Architektur Sempers schlicht zu virtuos sein könnte für ein Festspielkonzept, welches das Gebaute jenseits der Bühne unter allen Umständen vergessen machen wollte. Mit dieser Erkenntnis begann Wagner seinen ehemaligen Freund Semper gegenüber Ludwig II. zu beschädigen.

Auch wenn Schlingensief noch lebte, würde den Machern von Remdoogo ein solches Schicksal erspart bleiben. Denn was das dortige Bühnengeschehen anbelangt, waren die Vorstellungen Schlingensiefs im Gegensatz zu jenen Wagners immer recht vage geblieben. Nur dass dieser Ort unter gar keinen Umstände eine Ruine werden darf – darin war sich der Regisseur sicher. Diesen programmatischen Leerraum, der die Gefahr eines dysfunktionalen Herzes für Remdoogo in Form eines kaputten Totaltheaters mitten in Burkina Faso parallelisiert, weiß Kéré nun im Sinne der Menschen vor Ort zu nutzen. Man denke etwa beispielsweise an die Fassade des Festhauses: Sie besteht aus einem Stabwerk aus Hölzern mit einem Durchmesser von 7-10 cm, die vom Boden bis zum Dach reichen, um die Lehmwand des Auditoriums vor Regen und Sonneneinstrahlung zu schützen. Die Wahl des Materials kommt dabei einem Manifest für ganz Subsahara-Afrika gleich, denn es handelt sich um Eukalyptusholz, das wie kein zweites für eine misslungene Entwicklungspolitik in Afrika steht: Frankreich wollte damit in seiner ehemaligen Kolonie schnell Bäume zur Feuerholzgewinnung anpflanzen, erreichte dadurch aber vor allem eine extreme Austrocknung der Böden. Mittlerweile weiß man, dass die Eukalyptusplantagen besser heute als morgen verschwinden sollten, doch wohin mit dem vielen Holz? Wenn Kérés Fassaden-Exempel Schule machen sollte, dann wäre dem Land viel geholfen.

Höchstwahrscheinlich wird mit Remdoogo kein Operndorf entstehen, sondern eine Festbühne mit Schule, Klinik, Gästehaus sowie diversen Wohnungen und Werkstätten. Mitten in einem Schattenreich der Globalisierung zeichnet sich eine dieser wunderbar angemessenen, eleganten Kéréschen Architekturen ab – ein Ort, in dem unter Anleitung eines charismatischen Sozialarbeiter-Architekten eine Dorfgemeinschaft technisch und ästhetisch überaus Bemerkenswertes auf die Beine stellt: Kein Ort des Todes, sondern einer des Lebens. Die Kritik der burkinischen Vernunft ist eine gebaute.

ARCH+, Mo., 2010.10.25



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ARCH+ 200 Kritik

Presseschau 12

19. März 2024Stephan Trüby
Neue Zürcher Zeitung

Israelhass in der Architektenszene – ETH-Mitarbeiter feiern den 7. Oktober und unterzeichnen offene Briefe von Hamas-Freunden

Nach der Hamas-Attacke vom 7. Oktober 2023 ist deutlich geworden: Das Architekturdepartement der ETH Zürich hat sich zu einem Hotspot für wissenschaftlich verbrämten Antisemitismus entwickelt.

Nach der Hamas-Attacke vom 7. Oktober 2023 ist deutlich geworden: Das Architekturdepartement der ETH Zürich hat sich zu einem Hotspot für wissenschaftlich verbrämten Antisemitismus entwickelt.

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15. Januar 2022Stephan Trüby
Der Standard

Gekommen, um zu bauen

Das Humboldt Forum im Berliner Schloss, immerhin das wichtigste deutsche Kulturprojekt seit der Wiedervereinigung, ist in die Hände von Reaktionären und Planlosen geraten.

Das Humboldt Forum im Berliner Schloss, immerhin das wichtigste deutsche Kulturprojekt seit der Wiedervereinigung, ist in die Hände von Reaktionären und Planlosen geraten.

Die Türen stehen offen, die Fakten sind geschaffen, doch die Debatten reißen nicht ab: Das Humboldt Forum im teilrekonstruierten Berliner Schloss, das im Dezember 2020 digital und im Juli 2021 mit real existierenden Besucherströmen eröffnet wurde, ringt um woke Akzeptanz. Dabei hatte das Projekt mit einer verlockenden Idee begonnen: Ausgerechnet in ein Remake der Residenz von Kurfürsten, Königen und Kaisern sollten zwei Museen einziehen, Preußens und Deutschlands Haltung zur Welt repräsentieren – das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst.

Das Zusammenspiel von Fassade und Programm wäre prädestiniert gewesen, eine aufklärerische Desillusionierungsmaschine, ein „Doppelmuseum“ zu realisieren, das künstlerische Artefakte in dem spiegelt, was als „aggressives Außenverhalten von Kulturen“ beschrieben werden könnte. Und eine Fake-Fassade hätte einem solchen Museum geholfen: Sie hätte Authentizitätserwartungen, die ihrerseits durchaus reaktionär sein können, von Anfang an unterlaufen.

Es kam anders: nostalgischer. Konservativer. Reaktionärer. Das Humboldt-Forum steht wegen teils extrem rechter Spender unter Beschuss. Das Geld für die Fassadenrekonstruktion – insgesamt 105 Millionen Euro – wurde vom Förderverein Berliner Schloss e. V. um den Hamburger Kaufmann Wilhelm von Boddien eingesammelt.

Rechte Spender

Zu diesen Spendern gehört auch der Verein Gesellschaft Berliner Schloss e. V., dessen dreiköpfiger Vorstand zu zwei Dritteln aus rechten Akteuren besteht: dem Schatzmeister Daniel Krüger (der ein AfD-Politiker ist) sowie dem zweiten Vorsitzenden Guido Hinterkeuser, der die „Gemeinsame Erklärung 2018“ mitunterzeichnet hat, in der sich Rechtsextremisten gegen eine „Beschädigung Deutschlands“ durch eine „illegale Masseneinwanderung“ aussprachen.

Die Motive hinter derlei Finanzierungen dürften mit konservativen Selbstberuhigungsformeln nicht hinreichend erklärt werden. Rechte Spender wollen eben nicht nur harmlose Zeitreisen unternehmen, sondern sie sind gekommen, um voller Entschlossenheit Bühnenbilder für den politischen Rollback zu bauen. Erhardt Bödecker (1925–2016) etwa, der extrem rechte Bänker der im Kaiserreich den „erfolgreichsten Staat der deutschen Geschichte“ sah, spendete mit seiner Frau Anneliese die Neufertigung der Nordkartusche des Eosanderportals.

Als der Architekturtheoretiker Philipp Oswalt in einem Tagesspiegel- Artikel die rechtsradikalen und antisemitischen Züge von Bödeckers Weltbild publik machte, reagierte die Stiftung Humboldt Forum schnell, distanzierte sich von den Positionen des Großspenders und entfernte das Reliefmedaillon des Ehepaars, das allen Geldgebern mit Zuwendungen ab eine Million Euro aufwärts zugesichert worden war.

Dies sind nicht die einzigen Fassadenfinanziers mit Rechtsdrall. Der Chefredakteur Dieter Stein und der Autor Claus Wolfschlag der Berliner Wochenzeitung Junge Freiheit , der Rechtsanwalt und AfD-Kandidat bei den Stuttgarter Gemeinderatswahlen Thomas Sambuc, Karl-Klaus Dittel, Mitgründer des AfD-nahen Vereins zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheit griffen alle zum Geldbeutel, ebenso wie der „Preußenabend München“, eine Organisation, bei der, so berichtet Jörg Häntzschel in der Süddeutschen Zeitung mit Verweis auf Recherchen des Bayerischen Rundfunks, „rechtskonservative Akademiker, Vertriebenenfunktionäre, AfD-Politiker und Neonazis“ auftreten. Es liefe auf eine Verharmlosung hinaus, diese als „Einzelfälle“ abzutun.

Bereits während der Bauphase hatten sich die Kontroversen um das Humboldt Forum von den Fassaden zu den Ausstellungsinhalten verschoben. So kritisierte die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy den Namen „Humboldt Forum“ als bloßes Label, forderte eine kritischere Auseinandersetzung mit „all den Schweinereien“ aus 300 Jahren Sammeltätigkeit und verließ 2017 unter Protest den Beirat des Humboldt Forum. Savoy sieht einen fundamentalen Widerspruch zwischen der Fassadenreplik und den Ausstellungsinhalten: Während das Humboldt Forum mit seinem architektonischen Erscheinungsbild die Möglichkeit suggeriere, Geschichte rückgängig machen zu können, werde den vor allem afrikanischen Gesellschaften, die um Rückführung entwendeter Artefakte bitten, das genaue Gegenteil erklärt: Geschichte lasse sich eben nicht rückgängig machen.

Dass der postkoloniale Groschen bei den Verantwortlichen des Humboldt Forum erst in jüngster Zeit so einigermaßen gefallen ist, ist kulturpolitisch besonders fatal, da sich der Bau des Schlossoriginals von Andreas Schlüter Gewinnen aus der Kolonie Groß-Friedrichsburg im heutigen Ghana verdankte. Darauf verweist Anna Yeboah mit ihrer eindrücklichen Schilderung in der Zeitschrift ARCH+, wie sie mit ihrem aus Ghana stammenden Vater einmal jenes noch heute existierende Fort besuchte, in dessen Kellerräumen Tausende von Menschen Einsperrungen und Folterungen erleiden mussten, bevor sie nach Mittelamerika deportiert wurden. Von ihren Qualen blieb vor Ort eine schwarze Masse zurück, die den Kellerboden heute wie ein weicher Estrich überzieht: eine über die Jahrhunderte stabilisierte Melasse aus Blut und menschlichen Fäkalien.

Kulturpolitisches Totaldesaster

Doch von derlei wollen die deutschen Schlossbaufreunde lieber nichts wissen. Es könnte ihr Bild von der „guten alten Zeit“ stören. Statt einen Gedanken an afrikanische Blutböden zu verschwenden, setzte der Förderverein dem Humboldt Forum noch die ultimative Krone auf: Von einem christlichen Kreuz bekrönt, wird die neu errichtete Schlosskuppel von einer rundum laufenden Tambour-Inschrift geschmückt, auf der geschrieben steht: „Es ist kein ander Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn der Name Jesu, zu Ehren des Vaters, daß im Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

Mittlerweile hat sich die Stiftung Humboldt Forum vom Kuppelspruch distanziert und will ihn nachts mit einer leuchtenden Laufschrift und Auszügen aus dem Grundgesetz sowie der Menschenrechtserklärung überblenden. Und tagsüber, bei laufendem Betrieb, soll die im Museum adressierte Weltgesellschaft sich dem christlichen Herrschaftsanspruch unterwerfen? Das kulturpolitische Totaldesaster namens „Humboldt Forum“ tritt nun, so scheint es, in eine Phase der High-End-Bizarrerie ein.

Doch selbst die Leuchtschrift-Hilflosigkeit bringt Wilhelm von Boddien noch aus der Façon. Wer laut von Boddien christliche Insignien heute infrage stelle, riskiere „einen kulturellen Bruch, wie wir ihn in unserer Geschichte noch nie hatten – die Herrschaft der Säkularisierung über unsere 2000 Jahre alten Wurzeln im Christentum“. Möge ihm irgendwer erklären, dass es sich bei dem Bau nicht um eine Kirche, sondern um einen in der Tat säkularen Ort handelt. Und dass Aufklärung nur gegen religiöse Mächte durchgesetzt werden konnte und kann.

Man muss es so deutlich formulieren: Das wichtigste deutsche Kulturprojekt seit der Wiedervereinigung ist in die Hände einer Mesalliance von Reaktionären und Planlosen geraten. Es braucht in Deutschland neben neuer politischer Entschlossenheit wohl nun vor allem auch schweres Gerät, um sich den symbolpolitischen Zumutungen ultrakonservativer Stadtbildlobbyisten zu erwehren.

[ Stephan Trüby ist Professor für Architektur und Kulturtheorie sowie Direktor des Instituts für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart. Zahlreiche Buchpublikationen, zuletzt: „Rechte Räume. Politische Essays und Gespräche“ (2020). ]

Der Standard, Sa., 2022.01.15

19. August 2021Stephan Trüby
Neue Zürcher Zeitung

Wem nützt ein Grossprojekt in China? Auch beim Bauen wird um die richtige moralische Haltung gekämpft

Der Architektur hilft am Ende nur noch die Hypermoral, wenn eine terrestrische gegen eine libertäre Ethik kämpft.

Der Architektur hilft am Ende nur noch die Hypermoral, wenn eine terrestrische gegen eine libertäre Ethik kämpft.

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19. März 2012Stephan Trüby
ARCH+

Innerer Urbanismus

Es gehört zu den architekturtheoretischen Konstanten seit der Neuzeit, nach dem Zusammenhang von Architektur und Stadt zu fragen. Gehorcht der kleine Maßstab...

Es gehört zu den architekturtheoretischen Konstanten seit der Neuzeit, nach dem Zusammenhang von Architektur und Stadt zu fragen. Gehorcht der kleine Maßstab...

Es gehört zu den architekturtheoretischen Konstanten seit der Neuzeit, nach dem Zusammenhang von Architektur und Stadt zu fragen. Gehorcht der kleine Maßstab von Raumfolgen und Etagen denselben Prinzipien wie die großmaßstäblichen Arrangements urbaner Areale? Welche Rolle spielen Durchwegung und Zirkulation auf beiden Ebenen? Gibt es gar eine Selbstähnlichkeit von Stadt und Haus? Das im Bau befindliche Zürcher „Toni-Areal“ von EM2N lädt wie derzeit wohl kaum ein zweites Bauwerk dazu ein, solche Fragen zu diskutieren.

Die Festungsmauer und das Haus als kleine Stadt

Die Verwandtschaft von Haus und Stadt wurde zum ersten Mal durch Leon Battista Alberti in seinen 1452 fertiggestellten Zehn Büchern über die Architektur angesprochen. Darin schreibt er: „Und wie man in der Stadt das Forum und die Plätze, so wird man im Hause das Atrium, den Saal und Räume dieser Art haben, die nicht an abgelegener, verborgener und enger Stelle liegen, sondern vollkommen zugänglich sein müssen, dass auf sie die übrigen Räumlichkeiten ganz unbehindert münden können. Auf sie werden sich nämlich die Mündungen der Stiegen und Gänge öffnen, in ihnen werden die Begrüßungen und Besuche der Bekannten entgegengenommen.“ Damit wurde die Stadt und ihre Durchwegung zum Vorbild für das Haus und seine Erschließung ausgerufen. Es kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern, dass Georg Germann – im Anschluss an Überlegungen Giulio Carlo Argans – die architektonische Schrift Albertis als ein „Traktat des Urbanismus“ bezeichnet hat: „Bei Alberti [...] fügt sich die Architektur in den größeren Rahmen der Stadt, ist sie deren Interpretation, die von sichtbaren Formen getragene Botschaft ihrer Bedeutung.“
Die Stadt, die von Alberti ins Haus geholt wurde, war eine befestigte.

Diese urbanistische Besonderheit sollte man auch im Auge behalten, wenn man von seinen Architekturen spricht. Sie erklärt nämlich nicht nur die Raumtopologien, sondern auch die Innenarchitekturen, die der Architekt und viele seiner klassisch inspirierten Nachfolger planten und bauten. Heiner Mühlmann hat darauf hingewiesen, dass die Stadt und das Zimmer im Haus der Renaissance topologisch identisch sind: Beide stellen Sphären dar, die transversal von einer Bewegungsbahn durchschnitten werden. Der Weg durch einen Renaissance-Saal, der in einer geraden Linie von Tür zu Tür führt, kann als eine herunterskalierte, von Stadttor zu Stadttor spannende Via regia betrachtet werden. Das Kleine spiegelt sich im Großen – zumal das Große, nämlich die Stadt und ihre Umfassungsmauer, in der Sicht Albertis ja auch das Höchste ist: „Da die Stadt [...] als Ganze einem Gott geweiht ist, wird die Stadtmauer zum eigentlichen Gebäude der Stadt.“ Von dieser militärisch-sakralen High-Ranking-Architektur leiten sich alle anderen Bauwerke ab: Je bedeutsamer ein Gebäude für das Kollektiv der Civitas ist, desto stärker treten Anleihen an eine Stadttor-Ästhetik in den Vordergrund. In den Zentren vieler Städte gerieren sich Triumphbögen als Pseudo-Stadttore, und Triumphbogenmotive tauchen an fast allen wichtigen Gebäuden der Stadt in unterschiedlicher Dichte auf – die Ornamentik und das Bildprogramm aller urbanen Häuser sind gewissermaßen an der Stadtmauer und ihren Toren „geeicht“. Die einzig „eigentlichen“ Räume der Renaissance-Stadt, die nicht auf andere Gebäude Bezug nehmen, sind, so Mühlmann, die Geheimkorridore von Palazzi in der Dicke der Wand: „Hinter der Architektur befindet sich in einem Bereich architektonischer Jenseitigkeit technische Architektur. Ihre Räume sind die Hohlräume zwischen Innenwand und Außenwand.“

Die unbefestigte Stadt und das Ende des Hauses als Weg und Platz

Seit Stadtbefestigungen militärisch sinnlos geworden sind, also seit der Etablierung und Konsolidierung des Territorialstaats im 18. und 19. Jahrhundert, sind Albertis Ideen vom Haus als einer kleinen Stadt hinfällig geworden. Denn seither ist das Primat des Hindurchgehens durch das Primat des Daranvorbeigehens ersetzt worden: Wie Robin Evans dargelegt hat, sind die Räume mit den vielen Türen, die sich zu Enfiladen reihen, weitgehend durch Räume mit nur einer Tür ersetzt worden. Anders gesagt: Die Transversalen sind den Tangentialen gewichen. Das tangentiale Zeitalter der Architektur hatte seinen Vorläufer in den Zellen der mittelalterlichen Klöster, um sich ab der Aufklärung Mitte des 18. Jahrhundert zunächst in Hospitälern, Asylen und Gefängnissen und später auch in den allgemeinen Wohnformen durchzusetzen. Seither gehen Urbanismus und Architektur weitgehend getrennte Wege, denn fortan ging man zwar nach wie vor durch Städte hindurch, aber an den meisten Räumen und Zimmern vorbei. Moderne Gebäude sind anders organisiert als moderne Städte: Während die Durchwegungsoptionen von Städten seit dem Wegfall von Fortifikationen noch gesteigert wurden, reduzieren sich die Erschließungen von einzelnen Gebäuden auf den einen Zugang, an den sich zumeist – jedenfalls bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – baumartig verästelte Korridorstrukturen anschließen. Versuche aus den fünfziger und sechziger Jahren, mithilfe multikursal organisierter „Mat-Buildings“ Baumstrukturen zu überwinden, gelten spätestens seit der um 2000 entstandenen neuen Sicherheitserwartungen an Zugangskontrollen als Sackgassen der Architekturevolution.

Seit der Moderne leiten sich Erschließungskonzepte innerhalb von Gebäuden kaum noch von der dichten Stadt, sondern vor allem von der Natur bzw. der offenen Landschaft ab. Insbesondere Josef Frank und Le Corbusier entwarfen in diesem Geiste innerarchitektonische Wege. Zwar bezieht sich Frank, der über Alberti promovierte, in seinem Aufsatz Das Haus als Weg und Platz explizit auf die Stadt als Vorbild seiner Raumschöpfungen. Doch begründet er seine Vorliebe für gebaute Parcours recht inkonsistent mit dem Abwechslungsbedürfnis des Städters nach architektonischen Dschungel-Surrogaten: „Der Mensch im Urwald brauchte keine Architektur, denn er hatte genügend Zeit und Raum sich ungehindert bewegen zu können, und musste sich nichts vortäuschen lassen. Wir, durch die Zivilisation eingesperrt, machen uns künstliche Wege und Plätze im Haus und dem kleinen Stück Erde, das wir Garten nennen, um Abwechslung auf dem möglichst kleinen Raum zu schaffen.“ Im selben Geiste, aber mit eindeutigerer Wortwahl, setzt Le Corbusier unter dem Motto „promenade architecturale“ auf die landschaftliche Erlebnisqualität durchwegter Architektur. Er formulierte ein „Gesetz des Durchwanderns“ und realisierte in seiner Pariser Villa La Roche (1925) seine erste Architektur-Promenade: „Man tritt ein. Gleich bietet das architektonische Schauspiel sich dem Blick dar. Man folgt einem vorgezeichneten Weg, und die Perspektiven entwickeln sich in großer Mannigfaltigkeit. Man spielt mit dem hereinströmenden Licht, das die Wände erhellt oder dämmrige Winkel schafft. Die Öffnungen geben die Sicht auf das Äußere frei, wo man (infolge der abgewinkelten Anordnung des Hauses und der Verzahnung von Innen- und Außenraum) die architektonische Einheit wieder findet.“

Was in den Tangentialerschließungen moderner Architekturen und in den intellektuellen Bezügen von Josef Frank und mehr noch von Le Corbusier implizit enthalten ist, wurde von Rem Koolhaas und seinem „Oeuvre incomplète“ S,M,L,XL explizit gemacht: das Ende der humanistischen Spiegelung des Makrokosmos im Mikrokosmos im Geiste von Albertis „Haus als kleiner Stadt“. Indem Koolhaas sein architektonisches Werk weder chronologisch noch typologisch oder geografisch, sondern nach Konfektionsgrößen ordnet, kommuniziert er: „S“ ist etwas völlig anderes als „XL“; es gibt kein geheimes Band, kein „connective tissue“, das Architektur und Stadtplanung im Innersten zusammenhielte. Verblüfft darüber, „dass allein schon die Größe eines Gebäudes ein ideologisches Programm konstituiert“, konstatiert der niederländische Architekt: „Bigness = Urbanismus versus Architektur.“

Bigness in Zürich

Inwieweit das Haus auf der einen und die Stadt bzw. Landschaft auf der anderen Seite einander ähnlich sind, inwieweit sie gar topologisch identisch sind, ist eine Frage, die in einem Land wie der Schweiz, in dem die Urbanisierungsprozesse der Moderne nicht nur auf die Städte begrenzt blieben, von besonderer Aktualität. Entsprechend herrscht in dem Alpenland seit ein paar Jahren eine kontrovers geführte Urbanismus-Debatte, initiiert vor allem durch das Buch Die Schweiz. Ein städtebauliches Porträt, das Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron, Christian Schmid und ihr ETH-Studio Basel herausgegeben haben. Am kontroversesten scheint diese Diskussion innerhalb des Instituts selbst geführt zu werden, denn betrachtet man den Band genauer, so fällt auf, dass beim wohl entscheidendsten Diskussionspunkt, nämlich der Frage, ob die Schweiz genuin anti-städtisch verfasst ist oder ob sie nicht vielmehr selbst als eine große Stadt zu betrachten ist, zwei unvereinbare Positionen für intellektuelle Inkonsistenz im Buch sorgen. Während etwa Jacques Herzog mit Verweis auf die Gemeindeautonomie von einem spezifischen „Antiurbanitätsmolekül“ der Schweiz spricht und in der radikal-föderalistischen Verfasstheit des Landes ein hochproblematisches „System der Abgrenzung, der Kleinteiligkeit, des Kleinmuts und des Egoismus“ erblickt, zeichnet Christian Schmid ein konträres, nämlich dezidiert städtisches Bild der Schweiz, wenn er schreibt: „Ausgangspunkt unserer Analyse ist die Hypothese, dass alle Gebiete der Schweiz als urban zu begreifen sind. Sie sind alle in der einen oder anderen Form vom Urbanisierungsprozess erfasst und grundlegend transformiert worden. Es macht keinen Sinn mehr, Stadt und Land oder Agglomerationen und ländliche Gebiete voneinander zu unterscheiden: Die gesamte Schweiz ist urbanisiert, und entsprechend sind alle ihre Landschaften mit Begriffen der Urbanisierung zu analysieren.“

Ein Blick auf das 1977 errichtete „Toni-Areal“ in Zürich-West könnte die beiden antipodischen Positionen wohl versöhnen, denn wie kaum ein zweites Gebäude in Zürich steht es für eine industrielle und letzten Endes auch urbanistische Durchdringung des Schweizer Territoriums – und gleichzeitig für die Fähigkeit dieses Prozesses, städtische Monumente zu generieren. Denn um nichts anderes handelt es sich beim Toni-Areal: um das gigantische, hochaufragende Artefakt eines nahrungsindustriellen Streamlinings; um die seinerzeit größte Milchfabrik Europas, in der täglich bis zu eine Million Liter Milch zu Joghurt, Butter, Sahne, Käse, Eis oder Milchpulver verarbeitet werden konnte [Abb. 1-2]. 1999 beschloss die Swiss Dairy Food, in der die Toni-Molkerei aufgegangen war, das Werk aus Kostengründen stillzulegen; ein Jahr später wurde der Betrieb liquidiert. Übrig blieb die zähe Baustruktur einer „generischen Zweckarchitektur“, die sich durch Böden von hoher Belastbarkeit, einer Stützenkonstruktion mit großen Spannweiten sowie doppelgeschossige Raumhöhen auszeichnet. Als bizarre Hinterlassenschaft an die Nachnutzer ragen – als eine Art Zürcher Kondensat des größten eidgenössischen Bauprojekts der Nachkriegszeit: der Schweizer Autobahn – breite LKW-Rampen in den Himmel; Stanislaus von Moos hat sie einmal als „zyklopische Ohren“ bezeichnet. Die jüngere Architekturgeschichtsschreibung hat sich daran gewöhnt, in diesen Rampen eine unter dem Pseudonym „Anonymus“ verfasste Flaschenpost Le Corbusiers zu erblicken, um einen eigenen Entwurf doch noch zur Realisierung zu bringen: den Plan des Schweizer Wahlparisers für das Europa-Parlament in Straßburg aus dem Jahre 1964, welcher vor allem durch seine weit auskragende promenade architecturale von sich reden machte [Abb. 3].

Das neue Toni-Areal: Aneignung des Rohen

Was sollte aus dem Toni-Koloss werden? Erste Überlegungen der als Grundpfandgläubigerin involvierten Zürcher Kantonalbank in Richtung Bürobau, Einkaufszentrum oder Entertainmentcenter zerschlugen sich. Als „Geburtsstunde“ des heute entstehenden Hochschulstandorts Toni-Areal kann eine vom Kanton Zürich 2005 in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie gelten. In der Folge entschied sich der Regierungsrat des Kantons zusammen mit den Schulleitungen und dem Fachhochschulrat für das Toni-Areal als zentralen Standort für die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und für die zur Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) gehörenden Departemente Angewandte Psychologie und Soziale Arbeit. Darüber hinaus werden Räume für öffentliche und halböffentliche Nutzungen sowie 100 Mietwohnungen entstehen. Ein Studienauftrag unter sieben eingeladenen Generalplanerteams folgte, aus dem das Projekt der Architekten Mathias Müller und Daniel Niggli, besser bekannt unter dem Namen „EM2N“, als Sieger hervorging. Die Kantonalbank verkaufte das Toni-Areal an die Generalunternehmung Allreal, die nun nicht nur die Baustelle und das gesamte Planerteam leitet, sondern auch als Vermieterin des umgebauten Gebäudes fungieren wird. Hierfür wurde im Jahre 2008 für den Toni-Campus der umfangreichste je abgeschlossene Mietvertrag des Kantons Zürich unterzeichnet: Auf eine feste Mietdauer von 20 Jahren fixiert und mit zwei Verlängerungsoptionen sowie einem Vorkaufsrecht des Kantons versehen, wird der jährliche Mietzins für die Gesamt-Mietfläche von 70.000 Quadratmetern 15,2 Millionen Franken betragen. Umfassende Planungsunterlagen sind Teil des Mietvertrages. In den Größendimensionen etwa vergleichbar mit dem Pariser Centre Pompidou oder der Tate Modern in London [Abb. 4], wird im Neuen Toni Platz für rund 5.000 Mitarbeiter, Dozenten und Studenten, für ein Kino, einen Jazzclub, vier Konzertsäle, diverse Ausstellungsräume sowie das Sammlungszentrum des Museums für Gestaltung geschaffen. Für den Ausbau der Liegenschaft bewilligte der Kantonsrat einen Kredit von rund 138 Millionen Franken.

Um das komplexe Raumprogramm in der ehemaligen Milchfabrik unterzubringen, wählten EM2N die Strategie eines „inneren Urbanismus“. Gemeint ist ein artifizielles Wegesystem, das – ergänzt um neue Lichthöfe – aus dem bestehenden Gebäude herausgestemmt wird. Dieses besteht im Wesentlichen aus den Querspangen der bestehenden Rampenanlage und einer neuen, zweigeschossigen Haupteingangshalle. Dazwischen erstreckt sich – im Innern des Hauses – eine ebenfalls neue Treppenkaskade, die, von der Eingangshalle ansteigend, bis in die oberste Etage der Rampenanlage reicht, und von dort Zugang zu einer „Kulturterrasse“ und einer „Dachpromenade“ ermöglicht. In der Summe entsteht ein strukturell an einen Knochen erinnernder öffentlicher Raum, der als „vertikaler Boulevard“ den öffentlichen Außenraum in das Gebäude hineinziehen soll [Abb. 5-10]. Raffinierterweise verstanden es die Architekten, diese Wegefigur von Brandschutzlasten frei zu halten, sodass ein offener Raum ohne Brandabschnittsklappen und feuerbeständige Bauteile zu erwarten sein wird. Die Treppenkaskade beschreiben die Architekten wie folgt: „Sie oszilliert zwischen weit und eng, monumental und fast intim. Durch eine Abfolge von wechselnden Raumstimmungen führt sie die Besucher durchs Gebäude, schafft Adressen, bindet Nutzungen zusammen und bildet Identifikationspunkte aus. Um diese Figur herum können sich die Nutzungen auf ihren „Parzellen“ flexibel entwickeln. So entsteht ein Haus mit kräftigen, Identifikation stiftenden Räumen und gleichzeitig maximaler Nutzungsflexibilität.“

Ein Schlüsselbegriff für das Verständnis des Neuen Toni ist „Aneignung“. Müller und Niggli legen Wert darauf, dem Gebäude keine Respekt erheischenden Oberflächen zu verpassen. Eine Besitzergreifung des Gebäudes durch neue Nutzer soll mehr sein als das Abstellen von Möbeln und das Anbringen von Namensschildern an Büros und Werkstätten. Gleichsam haptisch soll der neue Bau in Beschlag genommen werden: durch eine As-found-Ästhetik, die tote Perfektion meidet und das Rohe als Aufforderung zur Intervention begreift. Diese Zielrichtung wird durch eine künstlerische Lichtinstallation des Berliner Büros realities:united flankiert, die die Beschränkungen der berüchtigten „Kunst am Bau“ überwindet, indem sie das Nützliche (Lichtgebung für weitgehend innen liegenden Räume) mit dem Angenehmen (der Verpflichtung auf Aneignung) verbindet. Für ihre Arbeit nutzen die Berliner das gesamte für die öffentlichen Erschließungsbereiche notwendige Beleuchtungssystem [Abb. 11-15]. Das Licht, so realities:united, „folgt keinem wie auch immer gearteten „technischen“ Anordnungsraster, und auch sonst fehlt der Bezug zu anderen in Frage kommenden Typologien; weder entsteht in der Zusammenballung von Leuchten eine erkennbare „Lichtskulptur“, noch dient die Akzentuierung einer dramaturgischen oder architektonischen „Verdeutlichung“ des Raumes oder der Architektur“. Indem sie etwaige Erwartungshaltungen an Beleuchtungssysteme bewusst unterlaufen und auch suboptimale Lichtatmosphären bewusst suchen, provozieren sie Partizipation: „Die Nutzer, z.B. StudentInnen, die ihre Arbeiten ausstellen, finden keine Flächen vor, die für den Ausstellungsbetrieb optimiert sind, sondern Orte, die in dem Prozess der Aneignung eine Auseinandersetzung und ggf. eine Veränderung der Gegebenheiten provozieren.“ (realities:united) Vielleicht ist es das, was von der alten Idee des „Hauses als Weg und Platz“ ins 21. Jahrhundert hinübergerettet werden sollte: Der „innere Urbanismus“ kommt nur dann von innen, wenn er auf die Handlungen und Mikropolitiken der Nutzer rekurriert.


[Stephan Trüby, geb. 1970, ist Freier Architekt, Theoretiker, Kurator sowie Direktor des Postgraduierten-Studiengangs Spatial Design der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Er studierte an der AA School in London, promovierte bei Peter Sloterdijk und war von 2007 bis 2009 Professor für Architektur an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Sein neues Buch, Die Geschichte des Korridors, erscheint in Kürze. Er ist Ständiger Mitarbeiter von ARCH.]

ARCH+, Mo., 2012.03.19



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25. Oktober 2010Stephan Trüby
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Kritik der burkinischen Vernunft

Es gibt zwei Arten von Kritik: eine vulgäre und eine philosophische. Während Erstere das Aufzeigen eines Misstandes meint und üblicherweise in der mal...

Es gibt zwei Arten von Kritik: eine vulgäre und eine philosophische. Während Erstere das Aufzeigen eines Misstandes meint und üblicherweise in der mal...

Es gibt zwei Arten von Kritik: eine vulgäre und eine philosophische. Während Erstere das Aufzeigen eines Misstandes meint und üblicherweise in der mal impliziten, mal expliziten Aufforderung kulminiert, vermeintliche bzw. tatsächliche Fehlentwicklungen künftig abzustellen, versucht Letztere die Frage nach den Bedingungen von etwas zu beantworten. In diesem Sinne wollte etwa Immanuel Kant mit seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) nicht etwa die praktische Vernunft in Frage stellen, sondern die Bedingungen der Möglichkeit von praktischer Vernunfterkenntnis ausloten. Während Vulgärkritik prospektiv verfährt – sie geht von einem Objekt der Kritik aus, um in Zukunft subjektiv Schlimmeres zu verhindern –, verfährt philosophische Kritik retrospektiv: Sie bohrt im Vorausgehenden, um im Fluchtpunkt des Kritik-Objekts anzukommen. Dabei verhält sie sich zur Vulgärkritik wie der Humus zu jenen Blumen des Bösen, die der Kritiker sich ins Knopfloch zu stecken pflegt, während der Philosoph nach dem rechtem Dünger sucht.

„Remdoogo“ zu kritisieren heißt, von Vulgärkritik Abstand zu nehmen, denn die Errichtung des „Operndorfes“ im burkinischen Laongo, das von Christoph Schlingensief initiiert und von Francis Kéré entworfen wurde, wird sich noch ein bisschen ziehen. Und dies nicht nur Schlingensiefs Todes wegen, von dem eine gleichermaßen vorbereitete wie schockierte Öffentlichkeit im August 2010 Notiz zu nehmen hatte. Auch die kalkuliert entschleunigte Verfahrensweise des Architekten, die einer geradezu Nadolnyschen „Entdeckung der Langsamkeit“ gleichkommt, wird die Fertigstellung hinauszögern. Überhaupt: Was heißt schon „Fertigstellung“, wenn es – wie so oft bei Kérés Bauten – um Architektur als ein soziales Projekt geht? Um eine Art gebaute Entwicklungshilfe, bei der das N-Wort „Nachhaltigkeit“ endlich einmal Sinn macht? Dass sich dabei der Architekt selbst als der beste und produktivste, nämlich als ein auf die Bedingungen von Remdoogo fokussierter Kritiker entpuppt, passt da nur ins Bild.

Als die zentrale Bedingung des Operndorfes darf wohl Schlingensiefs Anfang 2008 diagnostizierte Krebserkrankung betrachtet werden. In geradezu ästhetisierender Symmetrie sollte mit Remdoogo an ein Ende kommen, was, folgt man der Autodiagnose des Regisseurs und Künstlers, in Bayreuth begonnen hatte: die Korrelation von Krebserkrankung und Festspiel-Gedanke. Immer wieder betonte Schlingensief, dass es der Grüne Hügel war, auf dem seine lebensbedrohende Krankheit ihre Ouvertüre fand: „Ich bin wirklich überzeugt, dass der Krebs bei mir mit Bayreuth zu tun hat. [...] Ich habe ein Tor geöffnet, das ich niemals hätte öffnen dürfen.“ Dieses Tor öffnete Schlingensief im Jahre 2004, als er – unter größten atmosphärischen Spannungen mit dem damaligen Festspielleiter Wolfgang Wagner – den Parsifal inszenierte. Schlingensief, der Opern-Debütant, wollte das Bühnenwerk so gut inszenieren, dass er sich offenbar eine Art Todessehnsucht zulegte: „Ich bin erregbar durch Musik, durch diese Musik von Wagner besonders, das zerreißt mich, das macht mich fertig.“ Umso labiler hinterließ ihn der „Fascho-Laden“ Bayreuth. Knapp drei Jahre später – Schlingensief war nunmehr stark vom Lungenkrebs gezeichnet – legte er am Grab seines Anfang 2007 verstorbenen Vaters ein Gelübde ab, dass er „ein Theater, ein Opernhaus, in Afrika bauen werde, wenn das hier [also Schlingensiefs Erkrankung, S.T.] gut ausgeht“. Wer wollte ihm diesen letzten großen Wunsch versagen?

Für den Todesstern, der Remdoogo fortan den Weg wies, steht nicht nur die ästhetisierende Einrahmung von Schlingensiefs Krebserkrankung durch zwei Festspielhäuser – einem todbringenden fränkischen und einem erlösenden afrikanischen. Auch dass der Regisseur kontinuierlich nach engelsgleichen Projekt-Schützern suchte, verwies auf sein existentiell bedrohtes Leben. Zunächst gelang es Schlingensief im Jahre 2009, den damaligen Außenminister und Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier als Unterstützer von Remdoogo zu gewinnen. Nach dem schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl im selben Jahr musste jedoch ein neuer Schutzengel her – und der damalige Bundespräsident Horst Köhler rückte an Steinmeiers Stelle. Für einen geplanten Besuch des Bundespräsidenten am 9. Juni 2010 wurde in Laongo sogar – in einem beispiellosen architektonisch-organisatorischen Kraftakt – ein Fragment des Operndorfes errichtet: eine WC-Anlage mit fließendem Wasser mitten in der Savanne. Wenige Tage vor der Einweihung, am 31. Mai, trat Köhler jedoch zurück. Seither harrt das fertig gestellte „Scheißhaus Köhlers“ (Schlingensief) als durchaus anal-fixierter Gründungsakt von Remdoogo einer eingehenden psychoanalytischen Deutung – und kündet von hoffentlich in Bälde zu erwartenden Goldenen Zeiten. Man kann sich lebhaft vorstellen, welcher extremen psychischen und physischen Kräfte ein durch Therapie und Medikamente Geschwächter bedurfte, eine Immunisierungsstrategie durch Spitzenpolitiker auch dann fortzusetzen, wenn diese durch die Fährnisse des Politischen immer wieder abhanden gekommen waren.

Mit Hauruckaktionen wie der präsidialen WC-Anlage drohte Ungemach: die Gefahr zweier konkurrierender Arbeitsgeschwindigkeiten, die auf Dauer nur schwer zu synchronisieren gewesen wären: Auf der einen Seite stand da Schlingensief, der, bedingt durch seine Lebenssituation, immerwährend – und im wahrsten Sinne des Wortes – eine „Deadline“ vor Augen hat, die ihn antrieb und ihm schnelle, sichtbare Resultate abverlangte. Auf der anderen Seite stand – und steht noch immer – der 1967 in Burkina Faso als Häuptlingssohn geborene Francis Kéré, der durch eine Architektur bekannt geworden ist, deren Qualitäten vor allem auf der longue durée des partizipatorischen Bauens aufbauen. Zu Lebzeiten Schlingensiefs hieß Remdoogo zu verwirklichen vor allem, das schnelle, szenografische Performer-Denken des deutschen Regisseurs mit einer Kéréschen Architektur in Übereinstimmung zu bringen, die keineswegs nur auf bauliche Low-tech-Raffinessen zu reduzieren ist, sondern raffiniert mit Beteiligungs-Strukturen und klimatischen Zyklen arbeitet – Phänomenen also, die nun mal ihre Zeit brauchen. Immer wieder musste dem Furor Schlingensiefs durch Kérés Hinweise auf Regen- und Lehmtrocknungszeiten Einhalt geboten werden. Es stand ein zwar unter besten Freunden ausgetragener, aber doch zunehmend spürbarer Konflikt zwischen einem unduldsamen deutschen Schamanen und einem gewissenhaften afrikanischen Ingenieur im Raum.

Es gehört zu den großen Leistungen Kérés, dass er Remdoogo bereits „unter“ Schlingensief subversiv verbesserte – und nun, nach dem Tod des Regisseurs, souverän darauf aufbauen kann. Zunächst ist in diesem Zusammenhang das Areal des Baugrundstücks zu erwähnen, in dessen Nähe sich eine für Uneingeweihte nicht erkennbare religiöse Stätte befindet. Schlingensief sprach zwar immer von einer „spirituelle Aufladung“ des Remdoogo-Areals, doch die genauen Koordinaten jenes Ortes, den Kérés Freunde und Verwandte als „heilig“ empfinden, musste der Architekt vor seinem Freund und Bauherrn immer geheim halten, um Heiliges nicht den Indiskretionen europäischer Fernsehkameras preiszugeben. Auch die Konzeption von Remdoogo als einem Festspielhaus barg Konfliktstoff zwischen Initiator und Architekt, denn das Wort „Festspiel“ impliziert eine deutliche Trennung zwischen Bühnenakteur und Zuschauer – eine Trennung, der in Afrika eine weit geringere Bedeutung zukommt als in europäisch geprägten Theatertraditionen. Zurecht geht es Kéré beim „Operndorf“ mehr um ein Festhaus als um ein Festspielhaus – darauf deutet bereits das Wort „Remdoogo“ hin, das auf Mòoré ein ausgelassenes Fest meint, und zwar ohne disziplinierte Zuschauer.

Kérés manierliche, aber bestimmte Kritik an Schlingensief wird auch am Beispiel der Bühne deutlich. Sie stellt ein Remake jener einst unrealisiert gebliebenen Rundbühne dar, die in Gropius’ und Piscators Totaltheater aus dem Jahre 1927 entstehen sollte. Von der Ruhrtriennale finanziert, wurde ein Widergänger als transportable Konstruktion gefertigt und im April 2010 in 13 Schiffscontainern nach Burkina Faso gebracht. Dort ruht die Konstruktion seither unausgepackt im Sand. Kéré hat gute Gründe zu befürchten, dass sich dieses High-tech-Wunder aus Deutschland als ein Danaergeschenk entpuppen könnte. Denn wie soll die diffizile Stahlkonstruktion mit ihrer sensiblen Elektronik in eine Architektur eingehaust werden, deren Bautoleranzen dem Lehmbau entstammen? Und wie wird die Piscatorbühne nach einigen Jahren aussehen, wenn Regenzeiten den Rost wachsen ließen? Und überhaupt: Wer wird die Bühne warten? Um Remdoogo trotz dieser Unwägbarkeiten in jedem Falle zum Erblühen zu bringen, schmuggelte Kéré in das Projekt eine „Alternativbühne“ hinein, die robuster kaum sein könnte: einen öffentlichen Platz vor dem Festhaus, dessen Bühnenprospekt durch die – von außen betrachtet – konkave Wand des Haupteingangs gebildet wird.

Die Zusammenarbeit von Schlingensief und Kéré steht in einer langen Tradition konfliktträchtiger Versuche gemeinsamen Wirkens von Architekt und Auftraggeber, zu deren bekanntesten – und auch misslungensten – jene von Wagner und Semper gehörte. Kurz zur Rekapitulation: Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die beiden verhinderten Polit-Aktivisten der Deutschen Revolution von 1848/49, Gottfried Semper und Richard Wagner, von König Ludwig II. von Bayern umworben. Der Kini wollte die beiden für ein Festspielhausprojekt gewinnen. Alles schien auf dem besten Wege zu sein, doch nach und nach verfestigte sich bei Wagner die Überzeugung, dass Semper kein Glücksfall für das Festspielhaus-Projekt war, ja, dass er sich sogar als der größte Feind für die Wagnersche Idee des „Gesamtkunstwerks“ entpuppen könnte. Denn ab einem bestimmten Moment dämmerte dem Komponisten, dass die elaborierte Architektur Sempers schlicht zu virtuos sein könnte für ein Festspielkonzept, welches das Gebaute jenseits der Bühne unter allen Umständen vergessen machen wollte. Mit dieser Erkenntnis begann Wagner seinen ehemaligen Freund Semper gegenüber Ludwig II. zu beschädigen.

Auch wenn Schlingensief noch lebte, würde den Machern von Remdoogo ein solches Schicksal erspart bleiben. Denn was das dortige Bühnengeschehen anbelangt, waren die Vorstellungen Schlingensiefs im Gegensatz zu jenen Wagners immer recht vage geblieben. Nur dass dieser Ort unter gar keinen Umstände eine Ruine werden darf – darin war sich der Regisseur sicher. Diesen programmatischen Leerraum, der die Gefahr eines dysfunktionalen Herzes für Remdoogo in Form eines kaputten Totaltheaters mitten in Burkina Faso parallelisiert, weiß Kéré nun im Sinne der Menschen vor Ort zu nutzen. Man denke etwa beispielsweise an die Fassade des Festhauses: Sie besteht aus einem Stabwerk aus Hölzern mit einem Durchmesser von 7-10 cm, die vom Boden bis zum Dach reichen, um die Lehmwand des Auditoriums vor Regen und Sonneneinstrahlung zu schützen. Die Wahl des Materials kommt dabei einem Manifest für ganz Subsahara-Afrika gleich, denn es handelt sich um Eukalyptusholz, das wie kein zweites für eine misslungene Entwicklungspolitik in Afrika steht: Frankreich wollte damit in seiner ehemaligen Kolonie schnell Bäume zur Feuerholzgewinnung anpflanzen, erreichte dadurch aber vor allem eine extreme Austrocknung der Böden. Mittlerweile weiß man, dass die Eukalyptusplantagen besser heute als morgen verschwinden sollten, doch wohin mit dem vielen Holz? Wenn Kérés Fassaden-Exempel Schule machen sollte, dann wäre dem Land viel geholfen.

Höchstwahrscheinlich wird mit Remdoogo kein Operndorf entstehen, sondern eine Festbühne mit Schule, Klinik, Gästehaus sowie diversen Wohnungen und Werkstätten. Mitten in einem Schattenreich der Globalisierung zeichnet sich eine dieser wunderbar angemessenen, eleganten Kéréschen Architekturen ab – ein Ort, in dem unter Anleitung eines charismatischen Sozialarbeiter-Architekten eine Dorfgemeinschaft technisch und ästhetisch überaus Bemerkenswertes auf die Beine stellt: Kein Ort des Todes, sondern einer des Lebens. Die Kritik der burkinischen Vernunft ist eine gebaute.

ARCH+, Mo., 2010.10.25



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