Editorial

Sozialpolitik und Wohnbau sind in Österreichs Hauptstadt seit den Zeiten des Roten Wien ab den 1920er Jahren eng miteinander verknüpft. Während in vielen anderen europäischen Städten der kommunale Besitz an Wohnbauten in den letzten Jahrzehnten auf den Markt geworfen wurde, verfügt die Stadt Wien mit rund 220.000 Wohnungen nach wie vor über einen beträchtlichen Immobilienbestand und hat darüber hinaus Einfluss auf die Vergabe von Wohnungen, die von gemeinnützigen Bauträgern errichtet werden. Insgesamt kontrolliert die Stadt Wien somit direkt oder indirekt rund 50 Prozent des Wohnungsmarktes. In Berlin bedauert die SPD heute beispielsweise sehr, dass in den Jahren 2000/2001 wegen angeblichen Kapitalbedarfs viele Wohnungen aus kommunalem Besitz (sehr günstig) vom damaligen Finanzsenator Thilo Sarazzin verkauft worden sind und damit ein wichtiges sozialpolitisches Lenkungsinstrument abhanden gekommen ist.

Die erfreuliche Situation in Wien führt zwar dazu, dass die Kosten für Wohnraum im internationalen Vergleich nach wie vor relativ günstig sind, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch dieserorts problematische Entwicklungen gibt. Diese rühren unter anderem daher, dass die Stadt selbst keine Wohnungen mehr baut (der letzte Gemeindebau wurde 2004 errichtet) und die Anzahl der sehr günstigen Substandardwohnungen in der so genannten Kategorie D aufgrund reger Sanierungstätigkeit in den letzten Jahren und Jahrzehnten nahezu vollständig vom Markt verschwunden sind.

Die von gemeinnützigen Bauträgern errichteten Genossenschaftswohnungen werden zu einen bestimmten Prozentsatz von der kommunalen Einrichtung »Wiener Wohnen« vergeben und sind abhängig von der Lage – was die monatlichen Kosten anbelangt – verhältnismäßig günstig. Zur Miete kommen jedoch notwendige Eigenmittel in Form von Baukostenzuschüssen, die für sozial schwache MieterInnen meist nur schwer zu finanzieren sind. Relativ günstig wohnt in Wien nach wie vor wer langfristig planen kann, auf zentrale Lage nicht allzu viel Wert legt und über einen gewissen Grad an Eigenmittel verfügt. Treffen diese Voraussetzungen nicht zu, kann Wohnen auch in Wien sehr teuer werden. Die Anzahl der befristeten Mietverhältnisse nimmt kontinuierlich zu und ein häufiger Wohnungswechsel ist aufgrund des auch hierzulande ansteigenden Interesses an Immobilien mit laufenden Mietsprüngen nach oben verknüpft.

Die Folgen dieser Entwicklung sind eine steigende Anzahl von Delogierungen mit derzeit rund 4.000 Fällen pro Jahr oder rund 12.000 betroffenen Personen und Protestaktionen auch in Form von Hausbesetzungen. Um die Anzahl der Delogierungen künftig wieder zu verringern, kündigte Wohnbaustadtrat Michael Ludwig jüngst ein so genanntes Wohnungssicherungsgesetz an. Wie dieses Gesetz im Detail aussehen soll, ist (noch) nicht bekannt.

Es geht im Schwerpunkt dieser Ausgabe von dérive also um Wohnbau, genauer gesagt um sozialen Wohnbau in Wien. Verantwortlich dafür zeichnet ein Forschungsteam um Andreas Rumpfhuber, der für dérive zuletzt das Schwerpunktheft Arbeit Leben (dérive 34) redaktionell gestaltet hat. Entstanden sind die Ergebnisse zum Modell Wiener Wohnbau im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts SCIBE – Scarcity and Creativity in the Built Environment, das von Jeremy Till geleitet wird.

Michael Klein hat für den Schwerpunkt einen historischen Abriss über den sozialen Wohnbau in Wien erstellt. Georg Kolmayr hat sich die mediale Berichterstattung zur Wohnbaupolitik und die diesbezügliche Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Wien angesehen. Andreas Rumpfhuber untersucht in seinem Beitrag »Vienna’s Housing Apparatus and Its Contemporary Challenges: Superblock turned Überstadt« das Konzept der Stadt Wien im Detail und nimmt Alternativen wie etwa Baugruppen unter die Lupe. Das Forschungsteam hat auch zahlreiche in die Materie involvierte Personen interviewt und deren Statements in einem Beitrag zusammengefasst sowie ein sehr nützliches Glossar zum Modell Wiener Wohnbau zusammengestellt. Mehr Informationen zum Schwerpunkt gibt es im einleitenden Text von Andreas Rumpfhuber zu lesen. Alle Texte des Schwerpunkts sind übrigens in englischer Sprache, einen kurzen Einblick bietet das deutschsprachige Abstract zu jedem Artikel.

Florian Huber macht sich im Magazinteil über den gegenwärtigen Stand der Gentrifizierungsdebatte Gedanken und exemplifiziert diese an einem der Wiener Paradebeispiele, dem Leopoldstädter Karmelitermarkt. Manfred Russo hat einen Nachruf auf den Stadtsoziologen Hartmut Häußermann verfasst, der nach schwerer Krankheit am 31. Oktober verstorben ist. Häußermann ist für einige Standardwerke der deutschsprachigen Stadtsoziologie verantwortlich, die er meist gemeinsam mit Walter Siebel verfasst hat. Für dérive verfasste Hartmut Häußermann bereits in Heft 17 einen Artikel über postmoderne Stadterneuerung und blieb dem Magazin seither verbunden.

Den Abschluss bildet wie immer Manfred Russos Serie zur Geschichte der Urbanität. Die New York Teile sind abgeschlossen, nun beginnt eine Folge zum Thema postmoderne Stadt. Das Kunstinsert in der Mitte des Heftes stammt diesmal von Sonia Leimer, mehr dazu von den KuratorInnen Paul Rajakovics und Barbara Holub auf Seite 37. Mir bleibt ein gutes neues Jahr zu wünschen und darüber zu informieren, dass wir mit unserem Headquarter übersiedeln und ab 2012 in der Mayergasse 5/12 in Wien Leopoldstadt residieren werden. Es gibt viel Raum und viele Ideen – mehr dazu dann im nächsten Jahr!

Christoph Laimer

Inhalt

Introduction: The Vienna Model of Housing Provision in Times of Austerity
Andreas Rumpfhuber

Models and Solutions, Life and Practice in Social Housing in Vienna
Michael Klein

Views from within. (Self-)perceptions, (Self-)descriptions – Experts’ Prospects, Challenges and Critique in the Vienna Housing Provision
Andreas Rumpfhuber, Georg Kolmayr, Michael Klein

Lucky Vienna. How an Image of Housing is Cultivated
Georg Kolmayr

Vienna’s Housing Apparatus and Its Contemporary Challenges: Superblock turned Überstadt
Andreas Rumpfhuber

Vienna Housing Glossary
Michael Klein, Georg Kolmayr, Andreas Rumpfhuber, Teresa Klestorfer

Kunstinsert:
Sonia Leimer: Chinese Garden, 2010
Paul Rajakovics, Barbara Holub

Magazin:
Gentrifizierung – Reflexionen über einen kritischen Begriff in der Krise
Florian J. Huber

Nachruf auf Hartmut Häußermann
Manfred Russo

Die unausgesetzte Attacke. Über die Aktualität von Guy Debords Denken
Thomas Ballhausen

Serie | Geschichte der Urbanität: Teil 35
Postmoderne: Stadt und Angst 1
Manfred Russo

Besprechungen:
Ein Berlin der Frauen
Elke Krasny

Sklaverei, Exotismus, Rassismus
Christoph Laimer

Intimität und Metropole
Elke Krasny

Prostitution – eine andere Welt?
Christoph Laimer

Religiöse Bewegungen als urbane Machtfaktoren
Christoph Laimer

Gemischtes Durcheinanderleben – Meile mit Eile
Michael-Franz Woels

When the hype is over
Elke Rauth

Visionäre Pragmatik
Andre Krammer

NUR ONLINE:
Viennale 2011: Fahren oder nicht – Raum und Antiraum
Tina Hedwig Kaiser

Introduction: The Vienna Model of Housing Provision in Times of Austerity

Public & Social Housing in General

Social and public housing once qualified as a means of intervening in society in order to achieve the equal distribution of ever expanding wealth in Europe. Municipal housing, as well as state owned industry, restrictive regulations such as taxation on luxury and speculation and the stimulus of subsidies were the legitimate and broadly accepted tools by which to implement a social liberalist society. Today, however, all these governmental tools and actions seem to be tired out and no longer accepted by a broader popular discourse. The labour class, which was at the core of the social democratic discourse on public housing, seems to have disappeared: dissolved into what are today called target groups: young families, senior citizens, single households, carless collectives, etc.

In recent years, underpinned by the liberal discourse of Western industrial nations and in parallel with the advancements of the so-called financial capitalism (Marazzi 2010) that has led to the current financial crises, it has appeared that there is no acute housing shortage and no misery, and thus no need for public housing or subsidies any longer. With this development the individual subject was made to believe that they had sole responsibility for their good or bad »luck«. The state and municipalities could easily and without resistance outsource the housing question – that is to build affordable housing for all – and get rid of real estate in order to implement a lean administration and fill the supposedly empty city treasury. In many European cities a traditional renters-market was and still is gradually being transformed into an exclusive owners-market.

The pragmatic social-democratic attitude of reforming society towards a distributed wealth – which has, from the beginning, been strongly associated with the production of housing – has been replaced by a generally accepted impetus towards (reduced state intervention) less state and a wide-reaching austerity policy. Friedrich Engels’ position in his seminal text The Housing Question (1872) seems bereft of any basis; in particular, the argument that: »only by the solution of the social question, that is, by the abolition of the capitalist mode of production, is the solution of the housing question made possible.« (Engels 1872)

Since the 1960s the capitalist mode of production has expanded radically into society at large (Tronti 1974), including into what Marx had called the Non-Labour. The labour class has disintegrated since this time; its particularized contemporaries are no longer represented within the general discourse. This has led to a situation in which the social question has been excluded, as if it has already been solved by individualization and particularization. Thus the current situation has presented itself as if there is, on the one hand, no need to reform and actualize the current liberalized systems of housing provision towards more common wealth. On the other hand, the current situation has created status setting in which it is utterly unacceptable to speak about revolutionary policy. Still I believe that exactly this idea of a possible revolutionary politics is necessary in order to not succumb to the liberal promise that we are all liable for our own luck.

The Research

Our local research project Modelling Vienna as part of a larger research consortium comprising a team at the University of Westminster, a team from the School of Architecture in Oslo, and colleagues from Iceland – sets out to research the specific practice of the Vienna model of public housing provision. The research in Vienna will be conducted in two phases. The first part is an endeavour to analyse the current model of public housing provision, understanding the domain of housing as a field that is crossed by many different professions and disciplines. The research so far includes: the missing history of Red Vienna’s post World War II legacy, interviews with experts in Vienna, analysis of the discourse that occurs in and around the model of housing provision, and reviews of cases (concrete objects of the currently themed housing production, from the »car-free settlement« to »young and affordable housing« to »young architects«). In the second (future) phase the research aims to develop alternative scenarios for a future model of housing provision, beyond the simple binary of liberalism versus socialism, engaging in the current state of austerity measures …

Vienna Model of Social Housing Provision

Somehow the city of Vienna managed to keep its stock of Gemeindebauten that the municipality had built since the early 1920s; additionally, in the 1990s it was able to rearrange the production of public and social housing in a specific way: it liberalized the system of social housing provision, securing its leading position within the Vienna market. Thus the municipality is still the main player setting the criteria for the production of housing, actually owning or through subsidies indirectly controlling about 50% of the housing stock in Vienna.

It thus has a huge influence on the private market of real estate and through this, one can argue, has established a kind of alternative economy in the city of Vienna.

Only slowly are we able to identify the limits of the system of social housing provision and its alternative economy beyond an obvious critique of the anachronistic and unbearable attitude of the centralistic model of governance that is in place in Vienna. And we start to understand how the overall highly successful model of housing provision is coming under scrutiny and being diluted by its actors (be it architects, be it developers, be it politicans) unable to step outside the binary of liberalism versus socialism. With the global financial crisis and an ever more dominant dictum of austerity policy, even the City of Vienna aims to consolidate its treasury and proposes supposedly »innovative« ways of solving the problem of affordable housing production with the introduction of the so-called Wohnbauinitiative. The city hands out public money to socalled private partners building large housing projects. In return these new consortia of financial service providers and building contractors are bound to a specific maximum rent for the next 10 years. At the same time, bottom-up initiatives promoting Co-Housing have recently sprung up making themselves visible within the city’s discourse …

In this issue of dérive we are able to present some of the findings of our research so far. Starting with a genealogy of publicly funded housing since the end of the World War II, the text investigates the alteration of a formerly ideologically coined politics towards a liberalized system of an integrated housing market in which Vienna’s municipality directly and indirectly controls about the half of housing real estate in the Austrian capital, and in which the boundaries between social housing and private investment are blurry. The subsequent text presents parts of a wider analysis of the discourse in and around the Vienna model of housing provision, discussing the aspiration of the city of Vienna to address a multitude of possible »consumers«.

A third text reports on a series of (anonymous) interviews conducted by the research team last winter. The interviewees speak about their personal prospects and challenges in the Vienna housing provision. Finally, the concluding text tries to frame the current situation by looking at the Superblock turned Überstadt. The text aims to address the specific Viennese situation and its innovative efforts.

All the texts in this issue of dérive are written in English and accompanied by only a short abstract in German. This is exceptional for dérive. After a long discussion the editorial team and the authors decided to publish in English in order to make this very special situation – the alternative economy in Vienna beyond the mythic »Red Vienna« – accessible to a broader international community. Thus the issue also contains a glossary in which we have tried to translate specific concepts of the Vienna discourse into English.

The Vienna research team includes Andreas Rumpfhuber, Michael Klein, Georg Kolmayr, Teresa Klestorfer, and Lisa Ehrenstrasser (until 09/2011). The project is funded by the HERA Joint Research Program (heranet.info): SCIBE – Scarcity and Creativity in the Built Environment (www.scibe. eu). It is hosted by the Institute of Design Assessment and the Multidisciplinary Design Group at TU Vienna. We are grateful to Professor Ina Wagner who facilitated our research proposal.

1) The City owns 27% of the housing stock in Vienna (Public Housing, Gemeindebauten). A further 21% of the housing stock is owned (and controlled) by limited profit housing developers; they are socially bound, and through the subsidies and the quality measures indirectly controlled by the municipality.


[Andreas Rumpfhuber is an architect and researcher living in Vienna. He founded Expanded Design, an office for design and research. Andreas is currently director of the Austrian Science Fund Project »The Architecture of Cybernetics of Architecture«, a project about the invention of office landscaping in the 1950s and is principal investigator of the esf/hera-funded research project SCIBE. Andreas Rumpfhuber is an architect and researcher living in Vienna. He founded Expanded Design, an office for design and research. Andreas is currently director of the Austrian Science Fund Project »The Architecture of Cybernetics of Architecture«, a project about the invention of office landscaping in the 1950s and is principal investigator of the esf/hera-funded research project SCIBE.]


Literature:
Marazzi, Christian (2010): The Violence of Financial Capitalism, Semiotext(e) intervention series, Los Angeles: Semiotext(e)
Engels, Friedrich (1872): The Housing Question. Online: http://www.marxists.org/archive/marx/works/1872/housingquestion/ index.htm, German: Friedrich Engels: Zur Wohnungsfrage: http://www.mlwerke.de/me/me18/me18_209.htm
Tronti, Mario (1974): Arbeiter und Kapital. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik, (Italian Original: 1966; the text Factory and Society was first published in: Quaderni Rossi, 2/1962, pp. 17— 40).

dérive, Di., 2012.01.17

17. Januar 2012 Andreas Rumpfhuber

Mode ls and Solutions, Life and Practice in Social Housing in Vienna

Abstract

Wettbewerbe und Qualitätssicherung, Beurteilungskriterien und effizientes Wirtschaften markieren heute Kernaspekte in der Praxis des sozialen, geförderten Wohnungswesens von Wien. Damit hat sich ein Verständnis von sozialem Wohnbau durchgesetzt, das sich viel mehr an Management und Controlling ausrichtet, als das je zuvor der Fall war.

Wien stellt, was die soziale Wohnversorgung anbelangt, eine Ausnahme dar – von den Anfängen im Roten Wien bis zu den heutigen Formen. Dabei ist es jedoch nicht alleine die schiere Menge an Wohnraum, die sich im Steuerungsbereich der Stadt befindet – derzeit etwa die Hälfte des gesamten Wohnungsbestandes Wiens –, die eine Besonderheit darstellt; es ist auch das, was ein Modell genannt werden könnte: also das Verständnis von Stadt, die Zielsetzungen von Wohnungsbau und die Art und Weise, die Praktiken und Techniken, mit denen ein solches Vorhaben verfolgt wird. Solche Modelle ändern sich: mit ihrem zeitlichen und räumlichen Kontext, mit den Bedürfnissen und Wünschen, mit den Formen von Wissen und mit den Vorstellungen von Regieren und Gesellschaft.

Im Versuch, solche Änderungen nachzuzeichen, geht der Text auf wesentliche Aspekte einzelner Modelle ein: das ambivalente Verhältnis des Wiederaufbaus zur Modernisierung, den Optimismus und den Glauben an Planbarkeit und Technisierung in der Stadterweiterung, die Kritik an einer solchen Auffassung der Modernisierung, die Wiederentdeckung der historischen Stadt, die Auffächerung von Lebensentwürfen, die sich nun über Wohnen verwirklichen lassen sollen und einher gehen mit einer immer stärkeren Orientierung an Wettbewerb und Markt. Anhand der Rolle und der Auffassung von »Leben« im Hinblick auf den Wohnbau greift der Text auf frühere Entwicklungen zurück und betont so Zeitlichkeit und Begrenztheit von Aspekten wie »Lösung« oder »Modern-sein«.

dérive, Di., 2012.01.17

17. Januar 2012 Michael Klein

Visionäre Pragmatik

Karl Brunner (1887-1960) war ein österreichischer Städtebauer, der von 1929 bis 1948 die Stadtentwicklung in Lateinamerika wesentlich beeinflusste. Er entstammte der Wiener Städtebauschule, studierte in Wien bei Karl Mayreder, einem Zeitgenossen Otto Wagners, und beteiligte sich nach seiner Rückkehr 1948 bis zu seinem Tod 1960 am Wiederaufbau Wiens.

Trotzdem schien Brunner lange Zeit hierzulande in Vergessenheit geraten. Andreas Hofer, der am Städtebauinstitut der TU Wien lehrt, hat nun einen „Zwischenbericht“ zu seinen langjährigen Forschungen zu Karl Brunner und dem Einfluss des europäischen Städtebaus auf Lateinamerika im Allgemeinen in Buchform herausgebracht.

Eine chilenische Delegation, bestehend aus fortschrittlichen KünstlerInnen und PlanerInnen, war Ende der 1920er Jahre auf den Wiener Städtebauer Brunner aufmerksam geworden. 1929 wurde er in Santiago de Chile zum städtebaulichen Berater der Regierung berufen und beeinflusste in den kommenden Jahren in höchsten Planungsämtern insbesondere die städtebauliche Entwicklung von Santiago, Bogotá und Panama-Stadt, aber auch zahlreiche Entwicklungskonzepte von Provinzstädten in Chile, Kolumbien und Panama. Andreas Hofer zeichnet in seinem Buch das fachliche Profil des Städtebauers Brunner nach und setzt die Einzelperson in Beziehung zum historischen Kontext, insbesondere zur architektonischen Moderne. Mit dieser teilte Brunner das Interesse an sozialreformerischen Konzepten, begegnete aber wesentlichen Paradigmen der „Funktionalen Stadt“, wie sie in der Charta von Athen propagiert worden war, mit Kritik. Brunner war beeinflusst vom sozialen Wohnbau des Roten Wien, kombinierte funktionale Fragen aber immer mit einer akribischen Analyse des Status Quo vor Ort. Den Planungen gingen detaillierte Analysen der existierenden Stadt voraus. Er analysierte die Wohndichte –die EinwohnerInnenzahl bezogen auf die bebaute Fläche –, setzte Luftaufnahmen als Analyseinstrument ein, ließ Verkehrszählungen durchführen und distanzierte sich von den Stadtvisionen, die auf Kahlschlag und einer „tabula rasa“ beruhten. Er konzipierte pragmatische Strategien auf der Ebene der Stadterneuerung und Stadterweiterung, und statt einem radikalen Kahlschlag setzte er auf durchdachte partielle Eingriffe im Stadtgefüge.

Le Corbusiers Stadtvisionen betrachtete er als einen Kniefall vor dem Individualverkehr, während Brunner selbst die Wichtigkeit des öffentlichen Verkehrssystems betonte und einen Baustopp in Quartieren durchsetzen ließ, die öffentlich nicht erschlossen waren. In seinen Stadtentwicklungsplänen finden sich dezidiert gemischte Zonen, die eine funktionale Trennung konterkarieren. Interessanterweise mussten Karl Brunners Konzepte in seiner Zeit unmodern und traditionell wirken, heute aber wirken seine Strategien überraschend zeitgemäß. Seine reformistische Auseinandersetzung mit der Stadt wurde in späteren Jahren durch morphologische Untersuchungen ergänzt. Brunner kritisierte die vorherrschenden Rastergrundrisse der lateinamerikanischen Städte, da sie aus seiner Sicht eine Abstraktion waren, die nicht zuletzt topografische Gegebenheiten eines Kontextes negierten. Brunner setzte – wie Andreas Hofer betont – den vorgefertigten Modellen, die viele EuropäerInnen nach Südamerika zu exportieren trachteten, eine beweglichere Städtebaupraxis entgegen, geprägt von „trial and error“, Empirie sowie Adaptions- und Lernfähigkeit. Karl Brunner wäre in diesem Sinn als spätmoderner Vordenker zu entdecken. Seine Vernetzung von Städtebau, Politik und Volkswirtschaft, die Integration sozialwissenschaftlicher Parameter und der Kulturwissenschaft in die Planung, seine Kritik an einer profitorientierten Wohnbaupraxis sind Bausteine eines integrativen Städtebaus, dessen Grundsätze auch heute noch relevant erscheinen.

dérive, Di., 2012.01.17

17. Januar 2012 André Krammer

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