Editorial

Über seine verschiedenen Öffnungen, seine Fenster, Türen und Einschnitte, kommuniziert ein Gebäude mit der Umgebung – je nach Format, Anzahl und Platzierung mal weniger und mal mehr. Öffnungen vermitteln zwischen innen und außen, lassen Licht ins Gebäude, ermöglichen Ein- und Ausblicke. Dabei spielt die Öffnung nicht nur für den gestalterischen Ausdruck eines Baukörpers eine wesentliche Rolle, sondern prägt auch die innenräumliche Atmosphäre entscheidend.

Während das Zusammenspiel von geschlossenen und offenen Flächen, von Material, Form und Farbe das Erscheinungsbild eines Gebäudes nach außen hin bestimmt, ergibt sich die Innenraumwirkung aus Proportion, Dimension, Licht und Schatten. In der November-Ausgabe stellen wir Projekte kritisch vor, bei denen mit dem Thema Öffnungen jeweils sehr unterschiedlich umgegangen wurde. | Ulrike Kunkel

Sagengestalt im Passepartout

(SUBTITLE) Besucherzentrum am Herkules-Denkmal in Kassel

Der »Herkules«, Wahrzeichen der drittgrößten hessischen Stadt, soll nach deren Wunsch 2013 UNESCO-Weltkulturerbe werden. Im Rahmen der in diesem Zusammenhang geplanten Neuordnung der Museumslandschaft Hessen Kassel entwarf das Berliner Büro – des jüngst mit dem großen BDA-Preis geehrten – Volker Staab ein neues Besucherzentrum. Exemplarisch belegen die Architekten hierbei, dass Fenster nicht nur als schnöde Tageslichtquelle dienen, sondern als Kommunikationsmittel zwischen Innen- und Außenraum funktionieren.

Zum Bau des gewaltigen Oktogon-Schlosses mit weitläufiger Grotten- und Kaskadenanlage am Hang des Habichtswalds ließ sich Landgraf Karl im ausgehenden 17. Jahrhundert von den barocken Park- und Gartenanlagen Italiens inspirieren. Ziel seines Baumeisters Giovanni Francesco Guerniero war das Verwischen der Grenze zwischen Kunst und Natur mit einem wie aus dem Fels gewachsenen achteckigen Kastell und dem daraus entspringenden künstlichem Wasserlauf. 1713 fiel die Entscheidung das artifizielle Steinmassiv zusätzlich mit einer aufgesetzten Pyramide und der 8,25 m hohen Herkules-Statue zu krönen. Die ungünstige Kombination aus Eisengerüst mit Kupferblechverkleidung bei der Figur und die Verwendung des besonders anfälligen Tuffsteins machen die Sehenswürdigkeit jedoch zu einem Dauersanierungsfall. Aus heutiger Sicht versprüht der Herkules mit seinen moosbewachsenen Brüstungszinnen etwas vom Kitsch eines Walt-Disney-Vergnügungsparks, obgleich er durch seine schiere Größe durchaus beeindruckt. Beeindruckend sind auch die Renovierungskosten von rund 30 Mio. Euro bzw. das Volumen von 200 Mio. Euro für die Neuordnung der Museumslandschaft Hessen Kassel. Immerhin hat sich diese mit dem Bergpark, seinen Wasserkünsten und dem Herkules 2013 für den Titel des Weltkulturerbes beworben. Geradezu zwergenhaft erscheint dagegen die Bausumme von etwa 3,5 Mio. Euro für den knapp 700 m² großen Neubau, der durch eine winterbedingte Zwangspause mit leichter Verspätung nach zweijähriger Bauzeit im Juni 2011 eröffnet wurde. Staab Architekten waren nach einem vorangegangenen Realisierungswettbewerb und einer Machbarkeitsstudie hinsichtlich des Standorts 2007 mit der Planung beauftragt worden.

Monolithischer Findling

Vom neu angelegten Parkplatz führt der Weg direkt zum Besucherzentrum. Seine geknickte Form und der helle Beton verleihen ihm eine starke Präsenz, obwohl es sich flach an den steigenden Hangverlauf schmiegt und so den Blick auf das dahinter gelegene Wahrzeichen freilässt. Zwei waagerechte, bündig gesetzte Langfenster gestatten nur wenig Einsicht in den Bau. In der reliefartigen Fassade zeichnet sich die Brettchenschalung aus sägerauem Nadelholz in verschiedenen Dicken und Formaten ab – ein Verweis auf das poröse Felsgestein des Monuments. Dehnungsfugen verlaufen im Muster dieser Schalung und gewährleisten so ein homogenes Erscheinungsbild. Das vom Herkules-Denkmal gut einsehbare Dach wurde als fünfte Ansichtsseite bewusst von Aufbauten freigehalten und mit großformatigen, zu den Außenwänden analogen Sichtbetonplatten bedeckt. Die Entwässerung erfolgt über eine umlaufende, versenkt eingebaute Rinne mit innenliegenden Abläufen.

Sei es noch so erforderlich, von oben betrachtet stellen die angrenzenden Kohorten von bunten Pkws und Bussen ein wahres Ärgernis inmitten der Idylle dar. Dennoch wird der Baukörper ganz nach den Wünschen der Planer zum landschaftlichen Element – wie ein bearbeiteter Findling am Übergang zum Grünraum. Der tiefe Einschnitt an der Längsseite dient der darin untergebrachten Bushaltestelle als Unterstand und leitet die Ankömmlinge über seine Trichterform ins Innere.

Gerahmter Held

Dass Wandöffnungen nicht ausschließlich dem Tageslichteinfall dienen, wird unmittelbar beim Betreten des Hauptraums deutlich. Aus dem Halbdunkel heraus orientiert sich das Auge nach Licht, so dass der Blick leicht nach oben gerichtet geradewegs durch ein 3 x 6 m hohes Panoramafenster auf die griechische Sagengestalt fällt. Während linker Hand in das Gebäude Schließfächer und der Zugang zum Personenaufzug ausgezähnt wurden, führt eine axial zum Herkules ausgerichtete Treppe zur oberen Ebene, wobei der Besucher permanent eine gerahmte Ansicht des Helden vor sich hat. Die gekonnte Blickinszenierung lässt keinen Zweifel aufkommen, wer oder was hier im Mittelpunkt steht. Fast scheint es, als würde man sich durch ein überdimensioniertes Fernrohr bewegen. Seitlich des Aufgangs sind über die Raumbreite Sitzstufen angegliedert, von denen aus Filme, Vorträge und Präsentationen verfolgt werden können. Ein weiteres großes Fenster erlaubt im oberen Bereich den Ausblick in das südliche Drusetal. Vor diesem informiert eine kleine Ausstellung über die Historie des Komplexes. Der optisch im Beton eingelassene, aus Holz gefertigte Museumsshop bietet die Tickets und allerlei Souvenirs, wobei die Merchandise-Palette mit Publikationen, Postkarten, Tassen, Schlüsselanhängern sowie Herkulessekt, -wein und -pralinen beinahe an amerikanische Verhältnisse erinnert.

Die spärliche Verwendung von Materialien – polygonale Wände und das gefaltete Dach in glattem Sichtbeton, geschliffener Estrichboden, alle Möbel und Einbauten in dunklem Holz – und das diskret gesetzte Licht über Deckeneinbaustrahlern und Downlights verleihen dem fließenden Raum eine geradezu andächtige Atmosphäre. Umso eindrucksvoller wirken auch die Bezüge durch die gerahmte Außenwelt. Der Ausgang (oder wahlweise zweiter Eingang) neben der Verkaufsfläche führt den Besucher schließlich zum Wahrzeichen.

Kleiner Bau - grosse Architektur

Die Fenster wurden als großflächige Wandöffnungen mit ungeteilter Festverglasung und Profilen in dunkel eloxiertem Aluminium ausgeführt. Der Sonnenschutz erfolgt über Beschichtungen der Glasscheiben, zudem setzt eine Nano-Beschichtung die Oberflächenspannung des Regenwassers herab, so dass dieses durch leichteres Abfließen den Schmutz hinwegschwemmt. Lediglich die Fenster in Büro- und Aufenthaltsraum verfügen als zweiter Fluchtweg über Öffnungsflügel. Ein im UG untergebrachtes raumlufttechnisches Gerät sorgt über Schlitzauslässe für den ständigen Luftaustausch. Die Abluft aus dem Besucherraum wird mittels eines Radialventilators in den Sanitärbereich eingeblasen und von dort über das RLT-Gerät abgeführt. Da vor Ort weder Fernwärme noch Erdgas zur Verfügung standen, entschied man sich für eine naheliegende Lösung: Die Wärmeversorgung erfolgt über eine Fußbodenheizung mittels Wärmepumpe bei Nutzung geothermaler Energie durch ein Erdsondenfeld unter dem Parkplatz.

Der Koloss von Kassel mag gefallen oder nicht, Wohnungssuchende in der Umgebung zahlen jedenfalls trotz kilometerweiter Entfernung für den »Herkulesblick« sehr viel Geld. Insbesondere die zweimal wöchentlich stattfindenden Wasserspiele und der von englischen Landschaftsvorstellungen geprägte Bergpark locken auch verstärkt internationales Publikum an. Das neue Besucherzentrum zeugt in seiner hervorragenden Ausführung in jedem Fall von höchster Handwerkskunst und sorgfältiger Detailplanung. Wie so oft sind es die kleinen Dinge, die große Wirkung haben und große Architektur manifestiert sich eben nicht unbedingt über ihre (Erscheinungs-)Größe. Diese Bereicherung für die Anlage dürfte der UNESCO-Bewerbung definitiv zugutekommen!

db, Mo., 2011.11.07

07. November 2011 Hartmut Möller

Auffällig aber unprätentiös

(SUBTITLE) Mehrfamilienhaus in Zürich-Altstetten

Für das Erscheinungsbild des Baukörpers ist die Gliederung der Fassade durch vor- und zurückspringende, unterschiedliche Fensterformate in z.T. leicht tanzenden Achsen sowie die Wahl des groben Rillenputzes und des ausgewogenen grünen Farbtons prägend. Die großformatigen Fenster ergeben lichtdurchflutete Innenräume von hoher Aufenthaltsqualität.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begann in Zürich die Wohnungsbautätigkeit in großem Stil. Dies betraf auch den bislang noch weitgehend ländlich geprägten Stadtteil Altstetten, ganz im Westen an der Grenze zur Nachbargemeinde Schlieren gelegen. Motor des Siedlungsbaus waren hier wie in anderen Quartieren primär Genossenschaften – so auch die 1944 gegründete und ausschließlich in Altstetten tätige Baugenossenschaft Halde Zürich (BHZ). Besondere Aufmerksamkeit erzielten deren im Jahr 1952 bezogene VII. und VIII. Kolonie, für die ein Terrain in leichter Hanglage oberhalb der Tramendstation Farbhof erworben worden war. Zwei- und dreigeschossige Mehrfamilienhäuser gruppierten sich in lockerer Anordnung um die Glättlistraße, die Haupterschließungsstraße des Quartiers; mit ihrer starken Durchgrünung orientierte sich die Siedlung an seinerzeit viel rezipierten skandinavischen Vorbildern. Unmittelbar westlich dieser Siedlung, die entsprechend dem Standard v. a. Drei- und Vierzimmerwohnungen umfasste und von den Architekten M. Zollinger und J. Strasser entworfen worden war, entstand in den Folgejahren das als Pavillonsystem realisierte Schulhaus Chriesiweg von Fred Cramer, Werner Jaray und Claude Paillard. Dieses war das Resultat eines anlässlich der Ausstellung »Das neue Schulhaus« im Kunstgewerbemuseum veranstalteten Architekturwettbewerbs und gilt mit seinen niedrigen Baukörpern und den Klassenzimmern zugeordneten Gartenhöfen aus heutiger Sicht als Musterbeispiel damaligen kindgerechten Bauens.

Die geringe Ausnutzungsziffer der BHZ-Siedlung führte im Jahr 1985 dazu, dass die Genossenschaft die niedrigeren Gebäude im Zuge einer Gesamtsanierung um ein Geschoss aufstocken ließ. Fensterläden, Fenstereinteilungen, Satteldach – alles blieb erhalten. Weitere 15 Jahre später stellte sich erneut die Frage, wie die Siedlung in die Zukunft zu führen wäre. »Ersatzneubau« lautete das aktuelle Schlagwort: Die Kleinwohnungen der Nachkriegsära genügten zeitgenössischen Ansprüchen nicht mehr, und so begannen viele Genossenschaften, die bescheidenen Siedlungen durch große Bauvolumina mit räumlich opulenten Wohnungen zu ersetzen. Die BHZ entschied sich anders: Man votierte dafür, die bestehende Substanz moderat zu sanieren und die als essentiell für die Qualität der Siedlung angesehene Freiraumgestaltung zu erneuern. Kies- und Asphaltwege sind an die Stelle früherer Steinplattenwege getreten, und so hat die Siedlung etwas vom Charme der 50er Jahre eingebüßt. Gleichwohl muss die neue Außenraumgestaltung mit ihren Aufenthaltsbereichen für Kinder und Erwachsene durchaus als gelungen angesehen werden.

Grosszügiger Ersatzneubau

Nur an einer Stelle kam es zu einem Ersatzneubau: Ganz im Westen des Areals – dort, wo die Siedlung an das Gelände des Schulhauses Chriesiweg angrenzt. Vier bestehende Reihenhäuser und ein nicht mehr benötigter Kindergarten wurden durch einen vor Kurzem fertiggestellten viergeschossigen Wohnblock ersetzt, der von dem in Regensberg ansässigen Architekturbüro L3P entworfen wurde. Abweichend von der Orthogonalität der bestehenden Volumina konzipierten die Architekten ein polygonal geprägtes Gebäude mit einer auf der Ostseite einwärts geknickten Fassade, welcher die Westseite mit verschobenen Proportionen – geringerer Winkel, Knickpunkt aus der Mitte verschoben – folgt. Die einwärts geknickte, überdies durch Loggien aufgelockerte Ostfassade wartet mit einer umarmenden Geste auf und wird gleichsam als Abschluss der Siedlung lesbar, wobei die Viergeschossigkeit keinesfalls als Maßstabssprung ins Auge sticht, sondern sich harmonisch in die locker gestreute Gebäudestruktur einreiht. Die geschlossene, lediglich durch vor- oder rückspringende Fenster akzentuierte Westfassade bildet die Kante zum angrenzenden Schulareal, ohne diesem zu nahe zu rücken oder die niedrige Bebauung in den Schatten zu stellen.

Wirkt die polygonale Form mitunter wie ein Versuch, ein eigentlich banales Gebäude etwas zeitgenössischer aussehen zu lassen, so haben L3P die Grundrisse durchaus konsequent auf die Gesamtform abgestimmt. Rechte Winkel finden sich nur an wenigen Stellen der insgesamt 16 Wohnungen, die zweibündig von zwei Treppenhäusern aus erschlossen werden und annähernd spiegelsymmetrisch seitlich der Erschließungszonen angeordnet sind. Die Geschossgrundrisse zeigen sich identisch.

Ungewöhnlich und durchaus attraktiv ist der großzügige Wohnbereich, der sich mäandrierend durch die Wohnungen zieht und drei unterschiedliche Zonen ausbildet: die Richtung Westen orientierte Küche, eine großzügige Mittelzone und schließlich den Wohnbereich im Westen, die sich mittels einer Glaswand mit der Loggia verbindet. Die eingestellte Box von Bad und WC verstärkt diese Konfiguration, führt aber zu der Konsequenz, dass die innenliegenden Nasszellen auf natürliche Belichtung und Belüftung verzichten müssen. Nicht unproblematisch, zumindest bei konventionellen Möblierungsvorstellungen, sind die z. T. extrem schräg verlaufenden Wände der Schlafzimmerboxen.

Tanzende Fensterachsen

Ein grober, grün gestrichener Putz vereinheitlicht das Äußere des Doppelhauses. Die Farbe mag etwas modisch anmuten – positiv ausgedrückt: zeitgenössisch – und wird durch ein komplementäres Rot-Violett-Braun ergänzt, welches die Fensterlaibungen und Eingangsbereiche prägt. Der Putz in diesen Partien ist feiner, wie auch in den Loggien und in den Wohnungen selbst. Das Grün tritt in abgeschwächter, eher pastellfarbener Anmutung auch an anderen Bauten der BHZ-Siedlung auf, so dass auch die Farbintensität die Bedeutung des Neubaus akzentuiert, ohne ihn indes als Fremdkörper erscheinen zu lassen.

Die unterschiedliche Behandlung der Fassadenöffnungen verleiht dem Wohnblock sein charakteristisches Gepräge. Die der Siedlung zugewandte Westfassade, wiewohl durch die mittleren und seitlichen Loggien aufgelockert, gibt sich ruhig: Nur die von Geschoss zu Geschoss die Seite wechselnden geschlitzten und die Lüftungsflügel verbergenden Aluminiumpanels der Treppenhausfenster durchbrechen die vertikale Abwicklung der Fassade. Eine stärkere Rhythmisierung kennzeichnet die Westseite. Drei Fensteranordnungen finden sich hier: Quergelagerte, innen angeschlagene Einzelfenster mit seitlichem Lüftungspanel, Verbünde aus zwei quergelagerten Einzelfenstern mit Lüftungspanels – und schließlich außen angeschlagene Quadratfenster mit hervortretenden Metallrahmen, welche die Küchenzonen markieren. Bei den Quadratfenstern tanzt jeweils eins aus der vertikalen Reihe, was allerdings – wie auch der Versprung der Lüftungsflügel – gestalterischem Kalkül entspringt und sich nicht aus der Grundrisslogik oder aus Belichtungsanforderungen ableiten lässt. Die Architekten verstehen ihre Fensterformen als Reverenz an den Bestand der Siedlungsbauten ringsum; so sehen sie beispielsweise die Lüftungspanels als zeitgenössische Interpretation der Fensterläden. Diese Rückführung ist durchaus nachvollziehbar, allerdings sind das Spiel mit verschiedenen Fenstertypen sowie das Verspringen von Geschoss zu Geschoss unabhängig davon aus dem Schweizer Bauen der jüngeren Vergangenheit sattsam bekannt.

db, Mo., 2011.11.07

07. November 2011 Hubertus Adam

Gezielte Einschnitte

(SUBTITLE) Atelier- und Wohnhaus in Rotterdam

Aus einem heruntergekommenen Wohnhaus in Rotterdam-Süd haben Zecc und Rolf.fr eine bewohnbare Skulptur gemacht. Das alte Haus dient nur noch als Hülle, die von neuen Öffnungen durchstoßen wird. Auch innen ist Öffnung das Schlüsselwort: Im vollständig entkernten Haus hängt ein »Raumobjekt«, das weder Türen noch Wände noch Zimmer hat.

Mitten in einer ganz gewöhnlichen Straße im Rotterdamer Arbeiterviertel Katendrecht sitzt ein Fremdkörper. Eingeklemmt zwischen einer dreigeschossigen Reihenhauszeile und einem niedrigen Werkstattbau aus dem 19. Jahrhundert, wirkt das schwarzglänzende Haus mit Kunstgras-Seitenfassade wie ein Eindringling aus einer anderen Welt. Was es so befremdlich macht, ist v. a. seine Zweideutigkeit: Einerseits schließt es nahtlos an seine Nachbarbauten an, andererseits könnte es kaum andersartiger sein. Es wirkt zugleich abstrakt und vertraut, neu und alt, fehl am Platz und in seinem Kontext verankert. Die wenigen neuen Fenster, deren tiefe Stahlrahmen die alte Fassade an scheinbar willkürlichen Stellen durchstoßen, machen das Verwirrspiel noch größer.

Zwarte Parel, also »schwarze Perle« hat Bewohner Rolf Bruggink sein Domizil getauft. Er hat es in Zusammenarbeit mit dem in Utrecht ansässigen Architekturbüro Zecc entworfen, das er 2003 gemeinsam mit Marnix van der Meer gründete, aber 2007 wieder verließ, um fortan unter dem Namen Rolf.fr als Möbeldesigner zu arbeiten. Die Begründung für seinen Ausstieg aus der Architektur ist angesichts der Schwarzen Perle wenig verwunderlich: Im Baugeschäft musste Bruggink für seinen Geschmack zu viele Kompromisse eingehen. Entsprechend fern jeglichen Zugeständnisses an Konventionen oder Stereotypen hielt er sich beim Entwurf seines eigenen Arbeits- und Wohnhauses.

Von der Wasserkocherei zum Bastelhaus

Bevor Bruggink 2008 zum Besitzer des Hauses wurde, stand es über 30 Jahre lang leer. Bei Google Streetview kann man noch den Zustand vor dem Umbau sehen: Der Sockelbereich des Backsteinbaus war mit grauen Steinplatten bekleidet und sämtliche Fenster mit zusammengeklaubten Brettern mehr schlecht als recht zugenagelt. Aufgrund seines erbärmlichen Zustands und seiner Lage in einem Problemviertel von Rotterdam, das früher v. a. für Prostitution bekannt war und seither mit hohen Arbeitslosen- und Immigrantenzahlen kämpft, wurde das Haus in das »klushuizen-Programm« der Gemeinde aufgenommen. Im Rahmen dieses Programms – klushuis bedeutet soviel wie »Bastelhaus« – kauft die Stadt Rotterdam verfallene Häuser auf, um sie extrem günstig, aber unter einer Reihe von Bedingungen weiterzuverkaufen. Die neuen Eigentümer verpflichten sich, innerhalb eines Jahres 200 000 Euro in die Renovierung des Hauses zu investieren und danach drei Jahre lang selber darin zu wohnen. Ziel des Projekts ist es, den Leerstand zu bekämpfen und gleichzeitig die Gentrifizierung von Stadtvierteln zu befördern. Nachdem die ersten Versuche vor einigen Jahren erfolgreich verliefen, sind derzeit 170 solche »klushuizen« im Angebot.

Rolf Bruggink zufolge hat er die Schwarze Perle nicht nur günstig, sondern sogar umsonst von der Gemeinde bekommen. Das Haus aus dem späten 19. Jahrhundert beherbergte in den Obergeschossen einst zwei kleine Mietwohnungen und im EG eine Wasserkocherei, in der die Bewohner des Viertels, in dem es keinen Warmwasseranschluss gab, eimerweise heißes Wasser kaufen konnten. Mittlerweile war es eigentlich abrissreif, denn wie Bruggink bald feststellen musste, waren sämtliche Geschossbalken verrottet. Letzteres trug zu der Entscheidung bei, alle Geschossdecken und Trennwände zu entfernen und den so entstandenen 5 m breiten, 10 m langen und 11 m hohen Raum ganz neu einzuteilen.

Gestapelte Funktionsbereiche

Im EG des Gebäudes befindet sich nun ein 5 m hoher Atelierraum mit anschließendem Bambusgärtchen. Die eigentliche Sensation ist aber der darüber liegende Wohnbereich, in dem es keine Zimmer, Wände oder Türen im konventionellen Sinne mehr gibt. Stattdessen stapeln sich dort halboffene Funktionszonen, die zum Essen, Kochen, Arbeiten oder Schlafen dienen. Ein riesiges skulpturales Objekt, aus Holzstäben zusammengeleimt und von den obersten Deckenbalken abgehängt, bildet den Kern des Gebäudes, ist Treppe, Boden, Wand und Decke und nimmt außerdem alle Leitungen auf. In seiner Allseitigkeit wirkt es wie ein dreidimensionales, kantiges Möbiusband, zu dessen räumlicher Abstraktion das Fehlen von Treppengeländern und sonstigen Details noch beiträgt. Vom Atelier aus schraubt man sich durch die verschiedenen Lebensbereiche hindurch nach oben, bis man auf die Dachterrasse gelangt, auf der ein gläsernes Gewächshaus mit frei stehender Badewanne steht. Unterwegs öffnen sich immer wieder Lufträume, die Blickbeziehungen bieten und die Höhe des schlotartigen Raums betonen.

Die Position der neuen Fensteröffnungen bestimmten die Architekten erst, als das Interieur fertig entworfen war. Sie wurden ganz auf das neue Innenleben des Hauses abgestimmt und entsprechen deshalb nicht den alten Fensterplatzierungen. Stattdessen befindet sich das Fenster im 1. OG nun genau vor der Spüle und jenes im 2. OG vor dem Arbeitsplatz. Außen haben sie tiefe, beinahe scharfkantige Stahlrahmen, die den Akt des Durchstoßens der alten Fassade und der aus Holz nachgebildeten alten Sprossenfensterscheiben betonen. Innen hingegen liegen sie fast ohne Laibung in der Wand: Nicht einmal ein Fenstergriff stört die Detaillosigkeit, denn sie können nicht geöffnet werden. Zusätzliches Tageslicht fällt, dank der offenen Raumanordnung, von einem Oberlicht-Band hinter der Dachtraufe bis in die untere Wohnebene. Hinzu kommen die kleinen neuen, spielerisch verteilten, quadratischen Fenster in der Seitenfassade, die jedoch ebenfalls eher dem Lichteinfall als dem Ausblick dienen. Insgesamt hat das Haus deshalb einen recht introvertierten Charakter und scheint an seinem eigenen komplexen Innenleben genug zu haben, womit es die Hoffnung der Gemeinde, dass solche Bastelhäuser einen positiven Effekt auf die Umgebung haben könnten, ein wenig ad absurdum führt. Einzig die Dachterrasse sowie die unverändert gebliebenen alten Balkontüren an der Rückseite des Hauses bieten eine Aussicht – auf die Gärten im Blockinneren.

Verfremdung und Abstraktion

Wird das Bild des Hauses außen von etwas zu witzigem knallgrünen Kunstgras in Kombination mit dem glänzenden Schwarz der Hauptfassade geprägt (die, wie niederländische Grachtenhäuser im 17. Jahrhundert, mit gefärbtem Leinöl gestrichen wurde), so dominieren innen die drei Grautöne, mit denen das Raumobjekt lackiert ist. Als Kontrast dient die rechte Seitenwand, die im bröseligen Rohzustand belassen wurde, sowie die linke Seitenwand, die weiß gestrichen ist und auf der sich noch die Spuren der alten Handläufe abzeichnen. Diese Strategie der Verfremdung des Alten durch neue Eingriffe, die es ab- strahieren und gleichzeitig sichtbar lassen, haben Zecc und Rolf Bruggink natürlich nicht neu erfunden. Bemerkenswert ist bei der Schwarzen Perle jedoch, mit welcher Konsequenz das Thema durchgezogen wurde, wie sehr Innen und Außen einander bedingen, obwohl der Altbau eigentlich nur noch eine Hülle ist, und wie neuartig das Raumerlebnis ist, das daraus entsteht.

db, Mo., 2011.11.07

07. November 2011 Anneke Bokern

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