Editorial

Die Architekturgeschichte kann dann zur Quelle der Identitätsproduktion werden, wenn alle funktionalen Bezüge zwischen Form und Inhalt getilgt sind und sie in dieser frei konvertierbaren Form als Datensatz abrufbar ist. Die Deregulierung des Finanzkapitals findet in der Deregulierung des symbolischen Kapitals eine Entsprechung.

Nicht schon wieder die Rekonstruktionsdebatte, nicht schon wieder Berlin, nicht schon wieder das Stadtschloss. Alle Argumente scheinen ausgetauscht, die Positionen verhärtet. Warum also eine Ausgabe, die vordergründig die Rekonstruktion einzelner Gebäude bis hin zu ganzen historischen Zentren nachzeichnet und sich damit auf einem klassisch anti-modernen Terrain bewegt, das den Intentionen dieser Zeitschrift zutiefst widerspricht? Wie der Titel „Die Krise der Repräsentation“ andeutet, geht es uns um mehr als die genannten Themen, die nur stellvertretend für ein gesellschaftliches Phänomen stehen, zu dem wir – auch wenn dies erst auf den zweiten Blick einleuchten mag – auch die jüngeren Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, das Hamburger Gängeviertel und Mediaspree in Berlin zählen. Es geht um nicht weniger als um den Zusammenhang von Politik und Ökonomie, oder kurz darum, die Verfasstheit der Gesellschaft in Architektur und Stadt nachvollziehbar zu machen.

Die Anfänge liegen in der Zeitenwende, die in den 1960er Jahren einsetzt und in den folgenden Jahrzehnten im Neoliberalismus ihre Ausprägung findet. Der Neoliberalismus wird in der Folge die beherrschende Ideologie – dies gilt bis zur gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise. Fast unbemerkt setzt er ein, als eine technokratisch erscheinende, den Alltag kaum berührende Maßnahme: die Deregulierung der Geld- und Währungspolitik.

Damals sah man in den zu erwartenden frei flottierenden Kapitalströmen das Versprechen auf eine Reform des überregulierten Kapitalismus (heute stellt sich heraus, dass in eben dieser Deregulierung der Kapitalmärkte eine der Hauptursachen für die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise liegt). 1971 beschloss die Nixon-Administration die Abkopplung des US-Dollars vom Goldstandard und beendete damit die Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit. Die Grundlagen dieser Wirtschaftsordnung basieren auf dem Abkommen von Bretton Woods, das 1944, noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, beschlossen wurde und das in wesentlichen Teilen auf John Maynard Keynes zurückgeht. Damit wurden die Erfahrungen des amerikanischen New Deal zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung erweitert und ausgebaut. Hierzu gehören die Gründung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, aber auch die Bindung des US-Dollars an den Goldstandard und damit dessen Etablierung als westliche Leitwährung. Schließlich ist auch die Gründung eines einheitlichen Wirtschaftssystems mit festgelegten Wechselkursen zwischen den westlichen Volkswirtschaften Bestandteil des Programms. Diese Maßnahmen definieren den Rahmen eines globalen Wirtschaftssystems, das man gewöhnlich als Fordismus bezeichnet, seinen Nachfolger dann als Postfordismus.

Was hat nun diese Geschichte mit Architektur und Stadtplanung zu tun? Beide erfüllen, wie Manfredo Tafuri gezeigt hat, innerhalb des Fordismus wie Postfordismus eine wirtschaftspolitisch genau zu bemessende, wenn auch unterschiedliche Funktion. Diese Funktionalisierung der Stadtplanung und der Architektur durch den avancierten Kapitalismus war für ihn das „Drama der Moderne“.

Zum einem betrifft dieses Drama der Moderne die Stadt der Nachkriegszeit. Ausgangspunkt sind die verheerenden Kriegszerstörungen, die eigentlich einen grundsätzlichen Neuanfang ermöglicht hätten. Durchgesetzt hat sich aber in Deutschland eine in weiten Teilen konservative, auf der vorhandenen Infrastruktur basierende und sich an den Parametern von Industrie und tertiärem Sektor orientierende, pragmatische Modernisierung der Stadt. Dieser ungebrochene Pragmatismus war kaum an neuen Konzepten, dafür aber um so mehr an der Rationalisierung der Planung und Fertigung interessiert.

Ausnahmen bestätigen diese Tendenz. Konzepte der unmittelbaren Nachkriegsjahre wie die Stadtlandschaft von Hans Scharoun oder Projekte wie die autogerechte Stadt von Hans Bernhard Reichow bleiben befangen in einem Verständnis von Stadt, das in ihr entweder nur ein landschaftliches oder ein technisches Problem sieht und damit grundsätzlich ausklammert, was eigentlich Stadt ausmacht, was ihre Geschichte ist, in welcher Weise sie in die Gegenwart hinein wirkt und welche Perspektiven sie eröffnet. Erst die Kritik der 1960er Jahre wird diese Fragen in die Diskussion zurückbringen. Grundsätzlich führt das fordistische Zeitalter in Deutschland zu einer Steigerung der Planungsrationalität, ab 1972 auch der gesamtgesellschaftlichen Planung durch die sozialliberale Regierung, bei einem gleichzeitigen Verlust von Konzeptualität und Programmatik. Ein offensichtliches Vakuum, in das konservative Kräfte immer wieder versuchen werden vorzustoßen.

Zum anderen betrifft dieses Drama der Moderne die Architektur. Im Rahmen des Keynes’schen Wohlfahrtsstaates soll sie als Ausgleichsmechanismus für soziale Ungleichheiten fungieren. Man setzt damit nicht am Ursprung der Ungleichheit, der Arbeitswelt, an, sondern begibt sich auf kompensatorische Felder, nämlich im Bereich der Ausbildung (Schule und Universitäten), der Gesundheitsfürsorge (Krankenhäuser und Volksparks) und des Wohnens (Minimalwohnung und Großwohnsiedlung). In all diesen Fällen werden moderne Strategien fast bruchlos in die Nachkriegszeit überführt, mit dem Ziel, die ökonomisch bedingten Ungleichheiten politisch zu kompensieren.

Obwohl die Moderne ihren Radikalismus durch die Einbindung in den Keynes’schen Wohlfahrtsstaat eingebüßt hat, steht sie nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Beginn eines weltweiten Siegeszugs, allerdings als funktionalisierte Moderne. Sie verliert dadurch ihren Avantgardeanspruch und wird zum „Bauwirtschaftsfunktionalismus“, wie Heinrich Klotz ihren Niedergang so treffend charakterisiert hat.

Deregulierung des symbolischen Kapitals

Das Ende der auf Bretton Woods zurückgehenden Wirtschaftsordnung wird in den 1970er Jahren konkret. David Harvey führt in seinem Buch „The Condition of Postmodernity“ von 1989 folgende Gründe an: die Überakkumulationskrise der 1970er Jahre, die Rezession im selben Jahrzehnt, die eskalierenden Kosten des Vietnamkriegs und die steigende Belastung der Staatshaushalte durch den Ausbau des Sozialstaates in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Da die Staaten der westlichen Hemisphäre durch ein internationales System des Ausgleichs miteinander verbunden sind, erfasst die Krise alle sozialen Marktwirtschaften gleichermaßen, wobei sich die Überforderung der britischen Volkswirtschaft am frühesten zeigt. Margaret Thatcher, später auch Ronald Reagan suchen dem durch einen grundsätzlichen Wandel der Wirtschaftspolitik zu begegnen, indem sie von der Nachfrage- zur Angebotspolitik übergehen und „konsumtive Ausgaben“, wie die Sozialstaatsausgaben nun heißen, zu Gunsten von „investiven Ausgaben“ reduzieren. Ihr Hauptinstrument ist eine tiefgreifende Liberalisierung der Kapital-, Arbeits- und Absatzmärkte, die dieser neoliberalen Wende nicht nur als Namensgeber diente, sondern auch Ursache der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise ist.

Begriffe wie Deregulierung und Liberalisierung sind Euphemismen. Sie umschreiben im Kern die unbeschränkte und unkontrollierte Herrschaft des Finanzkapitals. Eingeleitet wird dadurch eine Stufe des Kapitalismus mit anderen Formen der Wertschöpfung als sie der Fordismus kannte. Harvey nennt diese Stufe des entwickelten Kapitalismus „flexible Akkumulation“. Angesichts dieser Entwicklung muss nicht nur das Verhältnis zwischen Realwirtschaft und Finanzkapital politisch neu ausgehandelt werden, sondern auch jenes zwischen Finanzkapital und kultureller Ökonomie. Denn Folge der neuen Herrschaft des Finanzkapitals ist nach Harvey eine tiefe Krise der Repräsentation. Sie äußert sich grundsätzlich in der Auflösung der Beziehung zwischen Form und Inhalt zugunsten frei verfügbarer Zeichen bzw. frei konvertierbarer Inhalte. Eine ursächliche Beziehung zwischen Form und Funktion entfällt. Besetzungen von Raum, Zuschreibungen von Bedeutung erfolgen nur noch spekulativ: „The breakdown of money as a secure means of representing value has itself created a crisis of representation in advanced capitalism.“ In dieser Repräsentationskrise des entwickelten Kapitalismus sieht Harvey das eigentliche Ende der Moderne und den Übergang zur Postmoderne.

Folgt man Harvey in der Frage der Krise der Repräsentation, dann sind die Konsequenzen für Stadt und Architektur im Postfordismus gravierend. Stadt und Architektur, ihrer beider Geschichte, werden durch die Austauschbarkeit ihrer Bedeutung zur frei verfügbaren database, die man hemmungslos per copy & paste einsetzen kann. Anything goes. Das meint in diesem Fall: Die Architekturgeschichte kann dann, und nur dann, zur Quelle der Identitätsproduktion werden, wenn alle funktionalen Bezüge zwischen Form und Inhalt getilgt sind und sie in dieser frei konvertierbaren Form als Datensatz abrufbar ist. Die Deregulierung des Finanzkapitals findet in der Deregulierung des symbolischen Kapitals eine Entsprechung. In diesem Sinne fungieren Stadt und Architektur als neues symbolisches Kapital, das sich nicht mehr durch Arbeit vermehrt, sondern durch copy & paste (allerdings ist Computerarbeit auch Arbeit, wenn auch in anderer Form, was die verheerende Rolle des computerbasierten Wertpapierhandels für die gegenwärtige Krise verdeutlicht). Für Architekten eröffnen sich dadurch Perspektiven und Räume jenseits fordistischer Bildstrategien. Diese forderten vom Architekten einen Zwang zur Gebrauchsorientierung und rationellen Fertigung ein, um der Masse zu nicht nur funktionalen, sondern auch sparsamen Wohnformen zu verhelfen – ein Versprechen des industriellen Bauens.

Mystifikation der Stadt

Seit den 1960er Jahren reagiert die Architektur fast seismographisch auf diese Veränderungen. Sie hat sich in jenen Jahren, in denen die Krise der Repräsentation noch latent war, an den Fragestellungen der Moderne und an ihrem methodischen Repertoire abgearbeitet: an Begriffen wie Funktion, Form und Bedeutung. Der Funktion warf man ihre Flüchtigkeit vor, der Form-Funktions-Beziehung ihre Beliebigkeit und der Bedeutung ihre, hinter der Forderung nach Sachlichkeit, verborgene Semantik eines falsch verstandenen Technizismus. Stattdessen suchte man nach neuen Medien der Repräsentation und identifizierte sie in der Stadt. Was die Stadt als Medium der Identitätsproduktion bedeutet, wird in der Auseinandersetzung von Manfredo Tafuri mit Aldo Rossi im Laufe der 1970er Jahre besonders deutlich. Rossi beharrte auf dem Zusammenhang zwischen Geschichte und Praxis, da, wie er schrieb, die „Architekturgeschichte der Architektur den eigentlichen Stoff liefere“. Dieses Band zwischen Geschichte und Praxis ist laut Tafuri jedoch durch die Industrialisierung zerrissen, was Rossi negiere, indem er einer privaten „Mystifikation“ folge.

Diese Auseinandersetzungen, die sich über ein Jahrzehnt hinzogen und die Kurt W. Forster in seinem Aufsatz „Architektur vor dem Verstummen retten. Rossis Zürcher Jahre als Transit“ beschreibt, gipfelten in dem Vorwurf, den Tafuri explizit gegen Louis Kahn und Robert Venturi erhebt, der sich aber auch auf Rossi beziehen lässt: Dass dieser nämlich Gefahr läuft, eine „Schule von Mystikern ohne einen vertretbaren Glauben [hervorzubringen]“, wenn er nicht nur den Unterschied zwischen Geschichte und Praxis bewusst überspielt, sondern darüber hinaus noch die Architekturgeschichte selbst zum Identitätsfokus seiner Architektur macht. Erst durch die neue Rolle von Stadt und Architektur, die Harvey als symbolisches Kapital im Postfordismus umreißt, wird die Bedeutung des Themas verständlich, die man der Frage der Kontinuität oder des Bruchs mit der Architekturgeschichte zumisst. Gegen die Rossi’sche Verteidigung der Kontinuität erhebt Tafuri den Vorwurf der Mystifikation. Diese Mystifikation ist heute Praxis.

Um die Mystifikation der Stadt geht es in dieser Ausgabe: die von Braunschweig, Hildesheim, Berlin, Dresden, Potsdam oder Frankfurt. Gleichgültig, was ihre Manifestationen umhüllen, ein Kaufhaus, einen Landtag, ein „Humboldt-Forum“, eine ganze Altstadt. Interessant wird die Argumentation erst, dass wir mit der vorliegenden Erzählweise nicht in die Sackgasse des rein moralischen Vorwurfs der Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse tappen oder der Debatte um Original und Reproduktion erliegen. Denn die Funktion dieser Mystifikationen ist eine gesellschaftliche, wie Wolfgang Scheppe es in seinem Beitrag anhand des Beispiels von Venedig nachvollzieht. In Deutschland heißt eine Spielart dieser Schule „Berlinische Architektur“. Auch wenn sie sich seit jüngstem „Berliner Rationalismus“ nennt, geht sie weniger auf Aldo Rossi als vielmehr auf Oswald Mathias Ungers zurück, wie André Bideau es in seinem vor kurzem erschienenen Buch „Architektur und symbolisches Kapital. Bilderzählungen und Identitätsproduktion bei O. M. Ungers“ dargelegt hat. Diese nunmehr bundesweite Schule sucht die deutsche Architektur zu beherrschen. Ihr Thema: der Rekonstruktivismus. Ihr Vorschlag: der Wechsel des Repräsentationsmediums. Ihre Architektur: die Retroavantgarde. Ihr Adressat: die Imagination einer bürgerlichen Gesellschaft. Ihre Hoffnung: Dass die imaginierte bürgerliche Gesellschaft „nach ihrer Kontingenz- und Vernichtungserfahrung im 20. Jahrhundert mit der Rekonstruktion der „europäischen Stadt“ gleichsam über ihren eigenen Ursprung zurückbeugt, den sie … baukörperlich zu erhalten sucht.“ (Joachim Fischer)

Zum Aufbau dieser Ausgabe

Das Heft gliedert sich in drei Bereiche, die miteinander verwoben sind. Auf der architektonischen Ebene bildet das Thema der Rekonstruktion architektonischer Artefakte den Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Hier lassen sich Fragen der Erinnerungskultur, der individuellen und kollektiven Repräsentationsbedürfnisse erörtern. Ist eine kritische Rekonstruktion überhaupt möglich?
Die Rekonstruktion eines architektonischen Objekts oder Ensembles hat Konsequenzen für den städtebaulichen Diskurs. Was bedeutet die Vergegenwärtigung der Vergangenheit wirklich – symbolisch und politisch? Wie ist das Verhältnis zwischen Stadtbild und Gesellschaftsbild?

Während Projekte zur Rekonstruktion historischer Stadtstrukturen vornehmlich symbolpolitisch argumentieren, zeichnet sich derzeit eine anders gelagerte Konfrontation ab: Bei den Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, das Hamburger Gängeviertel oder Mediaspree in Berlin handelt es sich in erster Linie um machtpolitische Debatten, bei denen die Selbstermächtigung der Bürgerschaft im Vordergrund steht. Hier erweist sich exemplarisch die Notwendigkeit, Prozesse der städtischen Modernisierung und der politischen Legitimation zusammen zu betrachten und neu miteinander zu verknüpfen. Wie lässt sich jenseits des repräsentativen Systems eine performative Demokratie (Peter Weibel) denken?

* Dieses Editorial greift folgende anregenden Arbeiten auf: André Bideau: Architektur und symbolisches Kapital. Bilderzählungen und Identitätsproduktion bei O. M. Ungers (erschienen in der Reihe Bauwelt Fundamente, Bd. 147, Basel 2011); Angelika Schnell: Die Konstruktion des Wirklichen. Eine systematische Untersuchung der geschichtstheoretischen Position in der Architekturtheorie Aldo Rossis, Diss. Stuttgart 2009; Ákos Moravánszky, Judith Hopfengärtner (Hg.): Aldo Rossi und die Schweiz. Architektonische Wechselwirkungen, Zürich 2011

Redaktionsgruppe dieser Ausgabe: Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo, Nicole Opel, Cornelia Escher mit Diana Bico, Sarah Borree, Daniel Felgendreher, Benjamin Häger, Chrissie Muhr, Dorit Schneider, Ronny Schüler sowie Rafael Kopper, Verena Pfeiffer, Verena Schmidt, Silke Wurzer

Inhalt

02 In Memoriam Werner Sewing
Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo

03 Architektur und Alltagskultur
Gregor Harbusch

03 Nur ein weiteres Regime?
Elisa Bertuzzo

03 Politische Räume
M. Miessen / P. Reed / K. Cupers / M. Nilsson / R. Pflugfelder

04 Mach’s-noch-mal-Architektur
Stephan Trüby

05 Ein Handbuch für den erfolgreichen Protest
Dorit Schneider

05 Richtigstellung Heft 201/ 202

05 Richtigstellung Heft 203

06 Editorial: Die Krise der Repräsentation
Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo

08 Realabstraktion und Fassade
Wolfgang Scheppe

18 Krisen der Repräsentation und Kriege der Bilder
Philip Ursprung

22 Jenseits von Krise und Repräsentation
Heike Delitz


Kritische Rekonstruktion

26 Medienarchitektur oder Von der Architektur des Bildes
Beatriz Colomina

32 Nagelhaus Zürich
Projekt: Thomas Demand, Caruso St John Architects
Text: Cornelia Escher, Nicole Opel

34 Die Meisterhaussiedlung in Dessau
Projekt: BFM Architekten
Text: Cornelia Escher, Anh-Linh Ngo

40 Barcelona-Pavillon
Projekt: Mies van der Rohe, Ignasi de Solà-Morales, Cristian Cirici und Fernando Ramos
Text: Sarah Borree, Anh-Linh Ngo

44 House
Projekt: Rachel Whiteread
Text: Sarah Borree, Anh-Linh Ngo

46 Naturkundemuseum Berlin
Projekt: Diener & Diener
Text: Sarah Borree, Anh-Linh Ngo


Stadtbild und Gesellschaftsbild

54 Das Gespenst der Utopie
Reinhold Martin

62 Rekonstruktion und Utopie
Philipp Oswalt

66 Schinkels Bauakademie. Schema und Systema
Wolf Meyer-Christian

70 Der Marktplatz zu Hildesheim und das Knochenhauerhaus
Benjamin Häger, ARCH

76 Rekonstruktivismus als soziale Bewegung
Joachim Fischer

80 Der Dresdner Neumarkt und die Frauenkirche
Benjamin Häger, ARCH

86 Postdam: Knobelsdorff ist nicht zu (s)toppen
Daniel Felgendreher, ARCH

92 Der Berliner Schlossplatz
Dorit Schneider, ARCH

100 Altstadt Reloaded
André Bideau

104 Die Frankfurter Altstadt
Benjamin Häger, ARCH

112 Die unsichtbare Stadt in der Stadt
Martin Murrenhoff

118 Fassaden: Von Kaufhaus-Schlössern und Schlosskaufhäusern
Cornelia Escher


Performative Demokratie

126 Von der repräsentativen zur performativen Demokratie
Peter Weibel

130 Timeline Protestkulturen
Verena Pfeiffer, Dorit Schneider, ARCH

140 Liebe deine Stadt – trotzdem
Jörg Biesler

Unter dem Pflaster der Strand / Josef-Haubrich-Kunsthalle / Liebe deine Stadt
Projekt: Merlin Bauer
Text / Grafik: Sarah Borree, ARCH

146 „Mediaspree versenken“
Text: Aljoscha Hofmann
Grafik: Verena Schmidt, Dorit Schneider, ARCH

150 Komm in die Gänge
Christoph Twickel

Gängeviertel und Recht auf Stadt
Text: Diana Bico, Benjamin Häger, Anh-Linh Ngo, ARCH
Grafik: Diana Bico, ARCH

154 Stuttgarter Republik
Stephan Trüby

158 Fallstudie Stuttgart 21
Ronny Schüler, Dorit Schneider, ARCH, Karsten Drohsel

170 Der Auftritt des Volkes auf der leergeräumten Bühne
Ulrich Bielefeld

175 Die Farbe der Entdifferenzierung
Arno Brandlhuber


ARCH features 7
Jürgen Mayer H. / Metropol Parasol
Text: Georges Teyssot, Olivier Jacques

Rekonstruktion und Utopie

(SUBTITLE) Das Unbehagen in der Moderne

Es wäre ein völliges Missverständnis, Rekonstruktionen in Architektur und Städtebau heute als etwas Konservatives zu sehen. Die heutigen Rekonstruktionsvorhaben sind etwas absolut Modernes. Die Kulturpraxis des Rekonstruierens von Bauwerken gibt es, wie Wilfried Nerdinger es in seiner Ausstellung am Architekturmuseum in München gezeigt hat, schon fast so lange wie das Bauen selbst. Aber sie ging bis zu Beginn der Moderne immer mit Aneignung und damit auch mit einer Aktualisierung einher. Die heute präferierte Form der Rekonstruktion, die fotografisch exakte Reproduktion der einstigen äußeren Erscheinung, stellt etwas sehr Spezifisches dar, das sich aus der Moderne entwickelt hat und erst durch das Aufkommen der technischen Bildmedien möglich geworden ist. Dies wird anhand des Berliner Schloss-Projektes sehr deutlich.

Rekonstruktion

Rekonstruktion ist heute eher eine fotografische als eine architektonische Praxis. Als Architekt der Rekonstruktion des Berliner Schlosses fungiert weder Andreas Schlüter (der Hauptarchitekt des Ursprungsgebäudes) noch Franco Stella (der mit der Rekonstruktion im Jahr 2009 beauftragte Architekt), sondern Albrecht Meydenbauer. Der Architekt Meydenbauer hatte ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Möglichkeiten der Fotografie für die Dokumentation des baulichen Erbes erforscht. Resultat seiner Arbeit war die Erfindung der Photogrammetrie, welche sich inzwischen zu einem sehr wichtigen Arbeitsgebiet entwickelt hat. Meydenbauer entwickelte die photogrammetrischen Methoden und die Geräte hierzu und überzeugte den Preußischen Staat, das nationale bauliche Erbe durch photogrammetrische Dokumentation zu sichern. 1885 wurde dafür die Preußische Messbildanstalt eingerichtet, die in den folgenden 35 Jahren 2.600 Gebäude in über 20.000 photogrammetrischen Aufnahmen dokumentierte. Die photogrammetrischen Aufnahmen, oft im Format von 40 x 40 cm in sehr guter Auflösung, haben eine exakt definierte Geometrie, so dass man an Hand der zweidimensionalen Aufnahme die dreidimensionale Geometrie des Gebäudes kalkulieren und rekonstruieren kann. In den Jahren 1916-21 führte Meydenbauer die Dokumentation der Museumsinsel einschließlich des Berliner Schlosses durch, von dessen Fassaden etwa 45 Aufnahmen existieren.

Bei dem sogenannten „Wiederaufbau“ des Berliner Schlosses werden aus diesen Fotografien mit Hilfe von Computerprogrammen dreidimensionale Daten generiert, die dann als physische Objekte realisiert werden. So gesehen ist die Rekonstruktion des Schlosses kein architektonisches Projekt, sondern das Plotten von sechs Fotografien. Die Plots werden in Stein ausgeführt und haben eine Dicke von einem Meter.

Auf den Plänen der prämierten Wettbewerbsarbeit von Franco Stella ist dies deutlich erkennbar. Die „historischen Fassaden“ sind zeichnerisch anders dargestellt und wirken wie in ein anderes Gebäude hineincollagiert. Musterschülerhaft setzte Stella die politischen Vorgaben um und füllte das Gebäude hinter den geforderten Fassaden mit den vom Bauherrn gewünschten Funktionen. Aber es formuliert keine Lösung für das architektonische Problem, wie aus den sechs geplotteten Fassaden und den Innenräumen ein architektonisches Objekt entstehen kann.

Vor ein uninspiriertes Inneres ohne architektonischen Gedanken oder Idee sind bezugslos die ein Meter tiefen Fassadenplots montiert. Am offenkundigsten wird das Problem im Schlüterhof. Dort gibt es die Fassaden der einst wunderbaren, ausgesprochen dreidimensional-skulptural gestalteten Treppenhäuser. Bei Schlüter waren die Fassaden die äußere Erscheinung der dreidimensionalen Komposition der Treppenhäuser. Bei Stella befinden sich hinter dem äußeren Abbild der historischen Treppenhausfassade willkürlich irgendwelche Funktionsräume wie Lager- und Büroräume, Besprechungsräume und eine Mitarbeitercafeteria.

Das Ganze ist eine mediale Architektur und insofern sehr modern: eine Geburt der Architektur aus der Fotografie. Und dieses Bauwerk wird dann vornehmlich wieder zur Erstellung neuer medialer Bilder dienen. Dies könnte an sich ein interessanter Prozess sein, wenn er als eine intellektuelle Herausforderung und künstlerisch-gestalterische Aufgabe verstanden wird, wie wir es beispielsweise im Kontext der Kunst bei Thomas Demand in exemplarischer Weise finden. Aber der Vorgang wird beim Berliner Schloss nicht als kulturelle Aufgabe verstanden, sondern als technische, die man Ingenieuren überlässt. Es ist die Utopie einer Architektur ohne Architekten.

Der Wettbewerb für das Bauvorhaben war insofern sehr erfolgreich, als eine Person gefunden wurde, die formal gesehen die Position des Architekten bekleidet, aber de facto nicht als Architekt agiert. Insofern war die rechtliche Auseinandersetzung von Hans Kollhoff mit dem Bauherren und Stella für das architektonische Problem symptomatisch. Denn tatsächlich erfüllt Stella nur in sehr reduzierter Form die juristischen und repräsentativen Aufgaben des Architekten. Als entwurfliche Autorität ist er weitgehend abwesend. Architektur ist auch gar nicht gefragt, eben so wenig eine Handschrift, sondern die Abwesenheit einer Handschrift. Insofern diente der Wettbewerb zum Berliner Schloss dazu, einen Nichtarchitekten zu finden, was in bemerkenswerter Weise gelungen ist.

Das Berliner Schlossprojekt stellt dabei kein Einzelfall dar, sondern nur ein prominentes Beispiel einer umfassenderen Entwicklung. Inzwischen gibt es bei ICOMOS (International Council on Monuments and Sites) ein internationales Komitee für die digitale Dokumentation des baulich-kulturellen Erbes. Die Objekte werden mit Laser eingescannt. Damit entsteht wie bei der Fotografie ein zeitlich eingefrorenes Stück Information. Zusammen mit der Technik des digitalen Plottens in Stein, die u.a. von chinesischen Unternehmen angeboten wird, ist es inzwischen möglich, in großen Quantitäten frühere Zustände von Bauten automatisiert zu reproduzieren oder zu vervielfältigen.

Utopie

Für die klassische Phase der Moderne in den 1920er-Jahren war Utopie die Vision von einer anderen, besseren Zukunft. In Berlin der letzten 20, 30 Jahre entwickelte sich ein anderes, rückwärtsgewandtes Konzept von Utopie. Die Utopie adressiert nicht mehr die Zukunft, sondern die Vergangenheit. Es bestand der Wunsch nach einer anderen Vergangenheit. Am liebsten würde man Dinge ungeschehen machen, was angesichts der Deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert eine verständliche Sehnsucht ist. Da dies unmöglich ist, versucht man den Anschein zu erwecken, als hätten sich Dinge nicht ereignet. Anders als bei den Utopien der klassischen Avantgarde geht es nicht darum, dass Alltagsleben und die Lebenspraxis zu verändern. Vielmehr will man bestehende Spuren und Repräsentationen der Vergangenheit auslöschen und durch neue Repräsentationen ersetzen. Diese neuen Geschichtsbilder und Narrative sollen das Identitätsverständnis der Gesellschaft verändern. Dabei ist die imaginierte andere Vergangenheit fiktional. Insofern handelt es sich durchaus um etwas Neues und auch um etwas Utopisches. Man will das 20. Jahrhundert – die eigentlich prägende Epoche für die Stadt – symbolisch auslöschen und mit dem 21. Jahrhundert direkt ans 19. Jahrhundert anknüpfen. Seit den 1970er-Jahren hat diese Haltung die Architekturentwicklung in Berlin mehr und mehr geprägt und sich dabei zunehmend radikalisiert. Das Ganze erinnert an die Schizophrenie einer gespaltenen Persönlichkeit, die sich vom eigenen Ich mehr und mehr entfernt und versucht, eine künstliche, neue Identität anzunehmen. Berlin ist offenkundig unfähig, zu sich selbst zu finden.

Nation

Traditioneller Weise dienten Monumente dazu, Machtverhältnisse darzustellen: Das Schloss, die Kirche, das Gericht. Im alten Berlin vor Beginn der Moderne gab es zwei große Monumente in der Stadt: Das Schloss als Repräsentation des irdischen Herrschers und der christliche Dom als Repräsentation des himmlischen Herrschers. Das war eine sehr klare und verständliche Visualisierung der Machtverhältnisse.

Heute hingegen wird Macht oft bewusst nicht veranschaulicht, gerade wirtschaftliche und politische Macht. Exemplarisch hierfür stehen die Hauptverwaltungen von Daimler Chrysler in Sindelfingen und von Microsoft in Seattle. Bei beiden sind die Gebäudemassen pavillionartig zergliedert und haben fast eine dorfartige Anmutung. Die Architektur bemüht sich, die tatsächlich vorhandene Macht nicht in Erscheinung zu bringen, sie zu verniedlichen. Die Architektur verfolgt ein Konzept der Tarnung.

Dem gegenüber steht die Monumentalisierung kultureller Einrichtungen. Kultur ist unverfänglich, niemand hat etwas gegen Kultur einzuwenden. Und gerade weil Kultur machtlos ist, wird sie heroisiert. Kulturbauten sind die Monumente der Gegenwart geworden.

Was bedeutet dies nun im Kontext der Berliner Debatte? Das Vorhaben einer Kunsthalle am Humboldthafen möchte der Oberbürgermeister als zeitgenössischen Monumentalbau à la Guggenheim Bilbao realisieren. Eine Option, welcher am Schlossplatz für die Entscheider nie in Frage kam. Der Schlossplatz ist ein politischer Ort, kein kultureller. Es ist ein Projekt zu der Frage, wie Deutschland als Staat, als Nation repräsentiert wird.

Die Rekonstruktion dient als Mantel, als Fiktion der Nichtsetzung: ein Rückgriff auf die Geschichte, der die Gegenwart scheinbar von einer Entscheidung entlastet. Die Rekonstruktion ist angeblich ein technischer Vorgang, kein kultureller. Der Architekt ist ein Toter (Schlüter) bzw. quasi ein Nichtarchitekt (Stella).

Natürlich ist die Rekonstruktion kein mechanischer Vorgang. Sie erzeugt eine moderne Architektur, sehr, sehr zeitgenössisch. Sie ist auch eine geschichtspolitische Setzung (und durchaus heroisch), die aber in der Camouflage einer unschuldigen Reparatur, einer mechanischen Reproduktion, einer gestalterischen Nichtentscheidung daherkommt. Für die Politik scheint dies die perfekte Lösung für die von ihr gewünschte Repräsentation des Nationalen heute zu sein.

Der Beitrag basiert auf dem Vortrag, den Philipp Oswalt anlässlich der Ausstellung „Nationalgalerie“ von Thomas Demand am 6.1.2010 in der Berliner Neuen Nationalgalerie gehalten hat. Hintergrund der Ausführungen ist sein Engagement in der Debatte um den Abriss des Palasts der Republik und der Rekonstruktion des Berliner Schlosses.

ARCH+, Mi., 2011.11.02

02. November 2011 Philipp Oswalt

Nagelhaus Zürich

Anfang 2007 lobte die Stadt Zürich einen Wettbewerb zur Neugestaltung des Escher-Wyss-Platzes aus, der die Wiederbelebung dieses städtischen „Unortes“ unter dem Viadukt der Hardbrücke zum Ziel hatte. Das prämierte Konzept – eine Zusammenarbeit des Berliner Künstlers Thomas Demand mit dem Londoner Architekturbüro Caruso St. John – schlägt unter dem Viadukt zwei Gebäude vor, die als „archäologische Fragmente“ auf die einst kleinteilige Bebauung an diesem Ort vor dem Bau der Hochtrasse in den 1960er Jahren verweisen.

Eine inhaltliche Aufladung erfährt das Projekt durch die Referenz an das Nagelhaus in der chinesischen Metropole Chongqing, welches vor einigen Jahren in der internationalen Presse für Aufsehen sorgte. Hier hatte der hartnäckige Widerstand der Besitzer gegen des Abriß eines ganzen Stadtviertels durch Immobilienentwickler ein einzelnes Haus isoliert in der ansonsten leergeräumten Fläche stehen lassen. Der Begriff Nagelhaus hat sich in China aus den Protesten einzelner Hauseigentümer gegen großangelegte Neubauplanungen entwickelt: Das stehen gebliebene Gebäude wird mit einem Nagel verglichen, der in einem harten Stück Holz steckt und nicht entfernt werden kann.

Für das Züricher Nagelhaus greifen Demand/Caruso St. John nicht nur die Nutzung des Referenzgebäudes in Chongqing auf. Entstehen sollte auch ein materialisiertes Nachbild des Ereignisses, dessen abstrahierte und geglättete Haut nicht das Originalgebäude, sondern das mediale Bild reproduziert und dem Platz auf symbolischer Ebene ein Quentchen widerborstiger Urbanität injiziert.

Über die funktionale und stadträumliche Intention des Projekts zur Belebung eines stadträumlich problematischen Areals legen sich eine Auseinandersetzung mit der Thematik von Kopie und Original, von Reproduktion und Rekonstruktion, wie sie Thomas Demand in seiner Kunst thematisiert. Der Verweis auf ein mediales Monument individuellen politischen Handelns erhielt durch die politische Realität eine nicht intendierten Pointe: Das Projekt kam aufgrund einer Volksabstimmung zu Fall, in deren Verlauf die Schweizerische Volkspartei (SVP) das Haus mit dem polemischen Spruch „7 Millionen für a Schissi“ plakativ auf dessen Funktion als Toilettenhäuschen reduziert hatte.

ARCH+, Mi., 2011.11.02

02. November 2011 Anh-Linh Ngo, Cornelia Escher

Komm in die Gänge

(SUBTITLE) Wunder in der Stadt der Tiefgaragen

Büropaläste in Glas und Stahl säumen die Straße, dazwischen Verwaltungsgebäude im klassischen norddeutschen Klinker. An jedem dritten Gebäude hängen Werbeplanen, die „hochwertige Büroflächen“ mit Slogans wie „Hier spielt die Musik“ oder „Arbeiten auf hohem Niveau“ feilbieten. Nur eines der Banner fällt aus dem Rahmen. Es hängt an einem vor Jahren eingerüsteten Gründerzeit-Wohnhaus mit schmutziger Fassade: „10.000 Quadratmeter unsaniertes Wohn- und Arbeiterquartier, seit Jahren für Sie leer. Ab null Euro den Quadratmeter. Schon zu 80 Prozent kreativ belegt.“ Dort, wo bei den anderen Bannern das Logo des Maklers steht, ist hier ein roter Punkt zu sehen. Darauf steht in weißer Schrift: „Komm in die Gänge“ – das Markenzeichen des wohl berühmtesten Häuserkampfes im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends: die Besetzung des Hamburger Gängeviertels.

Überall in der Republik spricht man vom „Wunder von Hamburg“ und bestaunt den Überraschungscoup, den die Besetzerinnen und Besetzer im Sommer 2009 landen konnten. Unter dem Slogan „Komm in die Gänge“ hatten sie an einem Wochenende im August zu einem „Hoffest“ in das langsam verfallende historische Arbeiterviertel eingeladen. „Über hundertfünfzig Künstler und Kreative“, heißt es in einer Erklärung, „bespielen ab Samstagmittag das Gängeviertel mit ihren Bildern, ihrer Musik und ihren Performances, um dieser Stadt zu zeigen, welches Potenzial hier an seiner Entfaltung gehindert wird.“ Das Fest geht zu Ende – doch die Gastgeber machen keine Anstalten, ihre Installationen abzubauen.

Von einer „Besetzung“ will niemand sprechen. Man bleibt einfach. Auch wenn sich Vertreter der städtischen Liegenschaftsverwaltung SAGA und Sprinkenhof AG lauthals beschweren und „Maßnahmen“ ankündigen, bleiben diese aus – und nicht nur das. Noch am selben Tag versichert die Sprecherin der Hamburger Kulturbehörde, es habe „zu keinem Zeitpunkt“ seitens der Behörden eine Anforderung „zur Räumung oder Durchführung anderer polizeilicher Maßnahmen gegeben“. Statt Wasserwerfern und Polizeiknüppeln kommen Solidaritätsnoten. Der Malerstar Daniel Richter hatte sich schon im Vorfeld als Schirmherr zur Verfügung gestellt, Filmemacher Fatih Akin unterstützt öffentlich die Aktion – und selbst die damalige Hamburger Kultursenatorin von Welck bekundet „großes Verständnis“.

Ein erstaunlicher Vorgang. Gilt doch seit fast drei Jahrzehnten in deutschen Großstädten: Jedes besetzte Haus ist innerhalb von 24 Stunden zu räumen. Mit der sogenannten „Berliner Linie“ von 1981 wollte man einer Bewegung Herr werden, die damals „zum allgemeinen Volkssport der jüngeren Generation“ geworden war.

Und so scheint es eine Ironie der Geschichte zu sein, dass der Häuserkampf heute – vierzig Jahre später – ausgerechnet inmitten einer innerstädtischen Premiumlage eine Wiedergeburt erlebt. Doch das ist kein Zufall. Die Besetzer des Gängeviertels, von denen viele zuvor als Zwischennutzer in ehemaligen Industriebrachen und Abbruchhäusern gelebt und gearbeitet haben, wählen bewusst einen Teil der Stadt, den die Linke und die Subkultur längst als Konsumzone abgeschrieben haben, um ein Schlaglicht auf die neoliberale Stadt und ihren Umgang mit Geschichte und mit Baudenkmälern zu werfen.

Anfang 2003 hatte die Finanzbehörde der Freien und Hansestadt das Areal im Höchstbieterverfahren an einen Käufer veräußert, der es als Spekulationsobjekt verfallen ließ und schließlich an einen niederländischen Immobilienfonds weiterverkaufte. Nach dessen Planungen sollten achtzig Prozent der Altbausubstanz weichen und lediglich ein paar Fassadenelemente dekorativ zwischen den neuen Bürotürmen platziert werden. Obwohl die meisten der bestehenden Gebäude denkmalgeschützt sind, befreite die Stadt das Bauprojekt weitgehend von städtebaulichen Auflagen.

Für Heiko Donsbach eine Todsünde: „Das gehört zu dieser furchtbaren Tendenz, die Städte ihrer Geschichte zu berauben“, sagt der Gängeviertel-Besetzer. Der 51-jährige Architekt kann lange und detailreich von der historischen Bausubstanz dieses letzten Restes der Gängeviertel sprechen, die sich im 19. Jahrhundert vom Hafenrand bis in die Innenstadt zogen, bis die Stadtväter sie nach dem Hafenarbeiterstreik von 1895 weitgehend abreißen ließen. Donsbach ist ein Veteran und das Gängeviertel ist nicht seine erste Besetzung. „Heute ist es wesentlich schwieriger, etwas zu entwickeln, was emanzipatorischen Charakter hat“, antwortet er, wenn man ihn nach dem Unterschied zur Hausbesetzer-Bewegung der siebziger und achtziger Jahre fragt. „Die Zeiten, in denen man noch einigermaßen glaubwürdig Ärger androhen konnte, wenn geräumt wird, die sind definitiv vorbei.“

Bei den Gängeviertel-Besetzern heute gestaltet sich das Verhältnis zum System komplexer. Die meisten sind zwischen zwanzig und Mitte dreißig und scheinen zumindest äußerlich nichts mit einer autonomen Polit- und Besetzer-Szene zu tun zu haben. Der skateboardfahrende Pflegetherapeut, die Grafikdesignerin, die mal was anderes gestalten will als die Werbebroschüren ihrer Kunden, der Mitarbeiter einer Eventagentur, der in seiner Freizeit Kunst-Happenings organisiert, die freien Designer und Künstler, denen bezahlbare Ateliers und Arbeitsräume fehlen, dazu ein Haufen Musiker und DJs, Freaks und Lebenskünstler: Die Besetzer und Supporter des Gängeviertels rekrutieren sich ausgerechnet aus jenem bohemistischen Milieu, um das laut Richard Florida Metropolen heute besonders werben müssen, wenn sie wirtschaftlich oben mitspielen wollen. Nicht zuletzt deshalb fasst die Politik die neuen Häuserkämpfer in Hamburg mit Samthandschuhen an. Die Räumung des Gängeviertels wäre ein Imageschaden für eine Stadt, die sich in bunten Broschüren gerne als „pulsierende Metropole“ für „Kulturschaffende aller Couleur“ anpreist.

Statt in eine politische Konfrontation mit der Stadt zu gehen und ihre Mechanismen von Aufwertung und Verdrängung zu „enttarnen“, so wie es die alte Linke gemacht hätte, spielen die Gänge-Aktivisten mit dem Image, die diese als „kreative Stadt“ von sich in die Welt setzt. Sie nutzen eben genau die Aufmerksamkeit, die Metropolen seit einigen Jahren den „kreativen Milieus“ schenken, um einen neuen politischen Raum zu konstituieren und den Diskurs über Kreativität und Stadt gegen den Strich zu bürsten.

Das sanfte Auftreten hat die Gängeviertel-Besetzung anschlussfähig gemacht für ein bürgerliches Spektrum. Doch es ist nicht nur eine strategische Entscheidung. Es entspricht dem Selbstbild vieler Gänge-Aktivistinnen und Aktivisten. Die meisten von denen, die die Besetzung geplant und initiiert haben, kommen weniger aus linken Zusammenhängen als aus temporären Kollektiven und Ateliergemeinschaften, mit denen sie zwar bereits seit Jahren praktische Erfahrung in der Aneignung von brachliegenden Gebäuden gesammelt, diese Praxis bis dato aber nicht mit politischen Forderungen verknüpft haben. Als Zwischennutzer, die immer nur bleiben konnten, bis die Gebäude abgerissen oder saniert wurden, sahen sie in regelmäßigen Abständen ihre Eroberungen verschwinden – und mit ihnen die Arbeit, die sie hineingesteckt hatten. Mit dem Entschluss, vom Zwischennutzer zum Besetzer zu werden, erklären sie diese Arbeit zum Politikum, zur legitimen Aneignung von städtischem Raum, zur sozialen Investition. Mit der Verbindung von quasi-bürgerlichem Auftreten und praktischer Aneignung jenseits von Recht und Gesetz hat die „Komm in die Gänge“-Initiative neues politisches Terrain betreten. Einerseits argumentiert man als Zusammenschluss besorgter Bürger, die sich ehrenamtlich um das Gemeinwohl, um den sozialen Ausgleich und das historische Erbe der Stadt kümmern. Andererseits agiert man nicht aus der Position privilegierter Bürgerlichkeit, wie sie ehrenamtlichen Zusammenschlüssen meistens innewohnt, sondern als Grassroots-Netzwerk, das sich selbst hilft. Das Bild von der kreativen Community, die im Gängeviertel eine Künstlerkolonie durchsetzen will, ist damit eine mediale Vereinfachung und ein Missverständnis. Von der ersten Pressemitteilung an benennt die Initiative ihr Projekt als „ein selbstverwaltetes, öffentliches und lebendiges Quartier mit kulturellen und sozialen Nutzungen“ und solidarisiert sich mit den Initiativen, die sich im Laufe des Jahres 2009 zum „Recht auf Stadt“-Netzwerk zusammengeschlossen haben.

Zum Jahreswechsel 2009/10 gelingt es der bunten Gemeinschaft ausreichend öffentlichen Druck aufzubauen, um den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg zu einer Rückabwicklung des Verkaufs an den Investor zu bewegen. „Jetzt haben wir die Möglichkeit, ein neues Konzept für das Gängeviertel zu verwirklichen“, erklärt die grüne Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk nach der Vertragsunterzeichnung. „Unter Berücksichtigung der Kriterien Stadtentwicklung, Denkmalschutz, Künstlernutzung und Wirtschaftlichkeit wollen wir eine tragfähige Lösung für das Gängeviertel finden.“ Tatsächlich folgt auf den symbolträchtigen Rückkauf ein Verhandlungsmarathon zwischen Stadt und Besetzern, in dem die Positionen einander recht kantig gegenüberstehen. Während der Senat von einem Entwicklungsmodell ausgeht, welches nach der Sanierung durch die städtische Wohnungsgesellschaft SAGA oder einen privaten Investor der „Komm in die Gänge“-Initiative eine Teilnutzung als Mieter anbietet, pochen die Besetzer darauf, das gesamte Viertel mit einem genossenschaftlichen Finanzierungsmodell zu übernehmen und in Selbstverwaltung zu belegen. Zum einen wehren sie sich dagegen, das Ensemble der städtischen Wohnungsgesellschaft zu überlassen, die es jahrelang und absichtsvoll hat verfallen lassen. Zum anderen argumentieren sie, dass eine Community, die auf engstem Raum Wohnungen, Arbeitsplätze, soziale Institutionen und öffentliche Veranstaltungen zusammenbringt, nur funktionieren kann, wenn ihre Mitglieder kollektiv bestimmen, was und wer dort wie mitmacht.

Im März 2010 präsentiert die Initiative ein Konzept, das vorsieht, das Gängeviertel als Genossenschaft zu entwickeln. Die Genossenschaftsmitglieder, so der Plan, bringen die Eigenkapitalsumme auf, auf deren Basis dann mit Förderdarlehen u.a. der Wohnungsbaukreditanstalt die Baukosten finanziert werden können. Die Tilgung erfolgt über die Mieteinnahmen, deren Reinertrag jährlich 616.000 Euro betragen würde. Die Mieten will man – je nach Nutzung und Leistungsfähigkeit – staffeln: Während die soziokulturell genutzten Flächen nicht teurer als 3 Euro pro Quadratmeter sein sollen, zahlen Gewerbemieter bis zu 12 Euro. Die Ateliers und Wohnungen liegen dazwischen, mit maximal 4 bzw. 6,50 Euro. Voraussetzung für die Umsetzung dieser Pläne ist, dass die Stadt der Initiative das Areal für eine symbolische Summe bzw. per Erbpacht überlässt.

Doch diese Forderung findet auf Seiten der Stadt wenig Anklang. In den Verhandlungen lehnt die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) eine Anhandgabe zugunsten der Besetzer ab und verkündet Anfang April 2010, sie wolle für die Sanierung und Entwicklung die Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg (STEG) als Treuhänder einsetzen. Ein auf den ersten Blick naheliegender Vorschlag: Statt weiter auf eine private Lösung zu setzen, will sich die Stadt nun eines bewährten Sanierungsträgers bedienen, den sie selbst einst als Instrument der „sanften Stadterneuerung“ ins Leben gerufen hat. Die STEG, Ende der Achtziger auch als Antwort auf die Besetzungen der Hafenstraße und der Roten Flora gegründet, sollte seinerzeit Protesten von Anwohnern gegen die Aufwertung ihrer Viertel vorbeugen. Mit Bürgerbeteiligungsverfahren, Runden Tischen, Sanierungsbeiräten, Quartiersmanagement-Büros und geförderten Wohn- und Gewerbemieten in dafür ausgewiesenen Sanierungsgebieten versuchte sie, Maßnahmen zur „Stadterneuerung“ möglichst anwohnerverträglich durchzuführen. Tatsächlich hat sich jedoch an den von der STEG betreuten Sanierungsgebieten Schanzenviertel und Karoviertel gezeigt, dass diese „sanfte Stadterneuerung“ ein wirksames Instrument zur Gentrifizierung ist. In den Verhandlungen zwischen Stadt und Gänge-Initiative waren zwei Punkte besonders schwierig: Zum einen ist da die Frage der selbst verwalteten Belegung und Nutzung. Auf bloße Absichtserklärungen seitens der Behörde und des Sanierungsträgers wollen sich die Gänge-Besetzer nicht verlassen. Sie fordern eine vertragliche Zusicherung, dass das Quartier auch nach der Instandsetzung autonom bleibt. Zum anderen pochen sie auf Vertragsbedingungen für die Instandsetzung, die verhindern, wirtschaftliche Sachzwänge für eine Kommerzialisierung oder Veräußerung des Gängeviertels ins Feld zu führen.

Ausgerechnet Richard Florida macht sich in einem ZDF-Interview zum Kronzeugen eines Paradigmenwechsels. Befragt nach dem im Gängeviertel vorgestellten Manifest „Not In Our Name, Marke Hamburg“ erklärte der US-Ökonom: „Künstler investieren ihren Schweiß, ihr Gespür und ihr Herzblut in ihre Viertel. Warum gibt man ihnen keinen Anteil an den Gebäuden? Wie wäre es denn, wenn sie Eigentumsrechte für ihre Arbeit beanspruchen könnten? Und warum sollte Hamburg nicht die erste Stadt sein, die genau das ausprobiert?“

Ein besonders geschickter Vereinnahmungs-Schachzug auf dem Weg zu einer neoliberalen Creative City? Oder die konkrete Utopie eines Gemeinwesens, in dem auch Arbeit jenseits der Wertschöpfungsketten einen Anspruch auf Teilhabe darstellt? Wie auch immer man Floridas Vorschlag interpretiert, in jedem Fall fällt er aus dem Rahmen dessen, was städtische Behörden derzeit umzusetzen willens und in der Lage sind. Und womöglich liegt gerade darin auch eine Chance des Gängeviertels: Dass es in den Städten sowohl das Bedürfnis als auch die Notwendigkeit gibt, Orte zu schaffen, die sich nur schwer in geregelte Eigentums- und Nutzungsverhältnisse überführen lassen, weil sie ökonomisch und sozialpolitisch aus dem Raster fallen. „Temporäre autonome Zonen“ – ein Begriff aus den frühen Neunzigern –, die zu verstetigen auch die Gefahr birgt, einen Rahmen zu schaffen, der die Unvorhersehbarkeit zerstört, von der sie leben. Andererseits geht es darum, bezahlbare Räume und öffentliche Orte zu erstreiten und zu sichern, um ein Beispiel zu geben, dass eine andere Stadtentwicklung möglich ist. Das Gängeviertel muss sich institutionalisieren, um das eigene Überleben und das der Häuser zu sichern. Gleichzeitig muss es gegen die institutionelle Erstarrung arbeiten, um ein Raum der Möglichkeiten bleiben zu können.

Dieser Text ist eine gekürzte und redigierte Fassung des gleichnamigen Kapitels aus dem Buch „Gentrifidingsbums oder eine Stadt für alle“, Edition Nautilus, Hamburg 2010. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags.Christoph Twickel, freier Autor, begleitete als Journalist die Hamburger „Recht auf Stadt“-Bewegung. Er schreibt u. a. für die taz, die Frankfurter Rundschau, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Brand eins und das Greenpeace Magazin.

ARCH+, Mi., 2011.11.02

02. November 2011 Christoph Twickel

Fallstudie Hamburg Gängeviertel

Die Gängeviertel

Die wegen ihrer engen, verwinkelten Gassen als Gängeviertel bezeichneten Arbeiterquartiere sind die charakteristische innerstädtische Siedlungsform des historischen Hamburgs. Aus sozialen und politischen Erwägungen heraus werden diese kleinteiligen Strukturen ab den 1890er Jahren in verschiedenen Sanierungsprogrammen nach und nach durch eine zeitgemäße Bebauung ersetzt. Spätestens nach den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg ist von dem historischen Stadtgewebe nur noch wenig erhalten. Die letzte zusammenhängende Gängebebauung wird in den 1960er Jahren beseitigt. Heute existieren nur noch wenige Fragmente; eines der Größten – schlicht als das Gängeviertel bekannt – befindet sich zwischen Valentinskamp und Speckstraße in der Hamburger Neustadt.

Hamburger Hausbesetzungsszene

Seit vierzig Jahren werden in Hamburg Häuser illegal besetzt – anfangs vor allem zur Eigennutzung, später auch als politisches Instrument, um auf die Wohnungsnot und den Mangel an sozialen Einrichtungen hinzuweisen oder auch als generelle Kampfansage gegen die Macht des Staates und der Investoren. Dabei präsentieren sich die Besetzer einerseits bewusst militant, andererseits werben sie um Verständnis und Solidarität in der Bevölkerung.

Die ereignisreiche Squatting-Dekade der 80er beginnt mit mehreren eher unpolitischen Hausbesetzungen in Altona-Altstadt, Eimsbüttel und St. Pauli, die alle gemäß der sogenannten Pawelczyk-Doktrin binnen eines Tages von der Polizei beendet werden. Ab Mitte der Achtziger verfolgen die Besetzungen immer häufiger politische Ziele: den Schutz historisch-wertvoller Gebäude und die Errichtung von sozio-kulturellen Stadtteilzentren. Die Akzeptanz in der Bevölkerung wächst, auch offizielle Körperschaften wie etwa die Denkmalpflegebehörde stützen diese symbolischen Besetzungen.

Verhandlungen zwischen Politikern, Eigentümern und Aktivisten finden immer häufiger statt und münden sporadisch in legalisierte Wohnprojekte. Auch die viel beachtete Besetzung der Hafenstraße, die nach einem jahrelangen Wechselspiel aus „Barrikaden-Tagen“ und Verhandlungen 1995 an die eigens gegründete Genossenschaft Alternative am Elbufer verkauft werden.

Eine weitere aufmerksam verfolgte Hausbesetzung spielt sich seit den späten 1980ern im Schanzenviertel ab, wo ein Investor ein altes Theater zu einer Oper ausbauen will. Das Bauprojekt scheitert und das historische Theatergebäude wird besetzt. Seither dient es unter dem Namen Rote Flora als autonomes Stadtteilzentrum, in dessen sich gentrifizierenden Umfeld es jährlich zu politischen Protesten und diffusen Krawallaktionen kommt. 2001 verkauft die Stadt das Gebäude an den Hamburger Immobilienkaufmann Klausmartin Kretschmer. Der Wert des Gebäude ist seitdem um das Hundertfache gestiegen.

In den 90ern wird der Umgang mit den Hausbesetzern deutlich verschärft. Die Besetzungen werden rasch aufgelöst, die betroffenen Gebäude abgerissen und die Grundstücke neu bebaut. Nach einer mehr als zehnjährigen Pause löst die Besetzung des Gängeviertels 2009 wieder eine Reihe von Squatting-Aktionen aus.

Bambule

Parallel zu den Hausbesetzungen finden auch illegale Grundstücksbelegungen durch Bauwagen-Gruppen statt. Teilweise sind die mobilen Besetzungen politisch motiviert und eine Protestform gegen hohe Mieten. Die aufsehenerregendste Räumung, angeordnet vom Innensenator Ronald Schill (Schill-Partei), ereignet sich 2002 auf dem Wagenplatz Bambule im Karolinenviertel.

Hamburger Stadtentwicklung

Die Hamburger Stadtplanung konzentriert sich seit den späten 1990er Jahren vor allem auf Leuchtturmprojekte. 1997 wird das Projekt HafenCity beschlossen und drei Jahre später in einem Masterplan konkretisiert. Das Konzept sieht die Transformation des zentral gelegenen Hafenareals in einen exklusiven Stadtteil vor und setzt eine umfassende Stadtentwicklung in Gang. Im Rahmen des Leitbilds Wachsende Stadt verfolgt der Senat neben der HafenCity weitere Großprojekte wie die IBA/IGA Wilhelmsburg, die Entwicklung Harburgs und die Aufwertung innerstädtischer Bereiche. Die Planungen zielen darauf ab, Hamburg für junge, hochqualifizierte, kreative Arbeitnehmer und vielversprechende Unternehmen attraktiv zu machen und die Innenentwicklung der Stadt massiv voranzutreiben. Ein offensives Marketing verdeutlicht diesen unternehmerischen Stadtentwicklungsansatz.

Recht auf Stadt

Die Wachsende Stadt ruft jedoch auch wachsenden Widerstand hervor. Immer mehr Menschen sehen sich von diesen Planungen für Privilegierte benachteiligt und fühlen sich von der Politik nicht repräsentiert, was sie in zahlreichen Demonstrationen zum Ausdruck bringen. Mit den Jahren formiert sich unter dem Slogan „Recht auf Stadt“ (Henri Lefebvre) ein Netzwerk aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten.

Kulturschaffende stellen sich seit langem auf ein Nomadendasein ein. Aufgrund steigender Mieten müssen sie alle Jahre ihre Arbeitsplätze und Behausungen wechseln und werden immer mehr aus innerstädtischen Lagen verdrängt (Gentrifizierungsprozess). Diese prekären Arbeitsbedingungen stehen im Gegensatz zum vom Senat verfolgten Leitbild der Creative City (Richard Florida), das die Bedeutung von Talent, Toleranz, Vielseitigkeit und Kreativität für die Stadtentwicklung betont.

Creative City

Richard Florida: „Wenn man sich ansieht, was das Ausmaß der Innovation antreibt oder die Höhe des Wirtschaftswachstums und des Wohlstands, dann zeigt sich, dass Orte mit einem vergleichsweise höheren Anteil an der kreativen Klasse auch höheres Wirtschaftswachstum haben, höhere Einnahmen, höhere Löhne, mehr Innovation.“
Richard Florida, The Rise of the Creative Class

Not in our name

Die Vermarktung der Kultur und die Instrumentalisierung von Kreativen für die Aufwertung von Stadtteilen kritisiert das 2009 erscheinende Manifest „Not In Our Name, Marke Hamburg!“. Darin kritisieren prominente Künstler die neoliberale Stadtentwicklung und ihre zugewiesene Rolle in dem „Unternehmen Stadt“.

Komm in die Gänge

Nach jahrelanger Vernachlässigung wird die zum Teil denkmalgeschützte Gängeviertelbebauung 2008 an das niederländische Unternehmen Hanzevast verkauft. Die Kündigung aller Mietverträge und die geplanten Abrissarbeiten führen im August 2009 zu einer Besetzung des Gängeviertels durch Kulturschaffende u.a. Fortan wird das Viertel von einer Genossenschaft dauerhaft und medienwirksam mit Ausstellungen, Konzerten und Performances bespielt. Mit prominenter Unterstützung gelingt es der Initiative, die Stadt in zahlreichen Protestaktionen und Verhandlungen dazu zu bewegen, das Grundstück zurückzukaufen und die Besetzung zu dulden. Im September 2011 unterzeichnen die Stadt und die Aktivisten ein Kooperationsabkommen zur Sanierung des Gebiets.

Das Gängeviertel wird bis auf weiteres von der Initiative selbstorganisiert verwaltet.

Erweiterte urbanistische Praxis

Die gemeinsame Sorge um eine verfehlte Stadtentwicklungspolitik (Privatisierung, Gentrifizierung), die zudem vermehrt Kunst und Kreativwirtschaft instrumentalisiert, hat in den letzten Jahren Bündnisse initiiert, die teilweise an stadtpolitische Bewegungen aus den 70er-Jahren erinnern. Man glaubt wieder an die Macht des Protestes. Mischt sich ein, nimmt Stellung, stellt Forderungen. Das Besondere dabei ist, dass die neue Generation über ausgeprägte mediale und ökonomische Kompetenzen verfügt, zudem ist sie es gewohnt, in temporären transdisziplinären Bündnissen zu operieren.

Diese Kompetenzen sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg des Protestes: Sie ermöglichen es, öffentliche Unterstützung zu gewinnen, indem Wahlmöglichkeiten aufgezeigt und tragfähige ökonomische Konzepte angeboten werden (eine unerlässliche Voraussetzung angesichts der Kassenlage der öffentlichen Haushalte). Nach dem Motto „Souverän ist, wer über Grund und Boden verfügt“ wurden alternative Entwicklungsmodelle wie Baugruppen, Syndikatshäuser, Genossenschaften oder alternative Eigentumstitel wie das Erbbaurecht erprobt, um andere Stadtkonzepte und Mischungsverhältnisse von Wohnen und Arbeiten, von Kunst und Gewerbe umzusetzen. Diese Initiativen lassen sich vor diesem Hintergrund als eine erweiterte urbanistische Praxis verstehen.

ARCH+, Mi., 2011.11.02

02. November 2011 Anh-Linh Ngo, Diana Bico

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