Editorial

„Kritik der unreinen Vernunft“
Architekturkritik als soziale Praxis

SZ: Sie analysieren die Unterhaltungskunst und betreiben sie zugleich. Ist zu viel Theorie für einen Künstler nicht die Pest?
Chilly Gonzales: Hm, das ist das Halt-die-Klappe-und-spiel-Klavier-Argument.

Das Argument, das der in den 90er Jahren im Underground-Berlin bekannt gewordene Musiker und kritischer Geist der elektronischen Indiepop-Szene Chilly Gonzales hier in unnachahmlicher Weise aufspießt, entspricht einer weit verbreiteten Haltung. Es erinnert an Rudolf Schwarz’ berühmtes Diktum „Bilde Künstler, rede nicht“, mit dem dieser Goethe zitierend eine wichtige Debatte der deutschen Nachkriegsarchitektur bestimmte und das sich als äußerst langlebig erwies. Ist diese unintellektuelle Haltung der Grund dafür, dass mit Ausnahme von zwei, drei architekturbezogenen Schriften von Martin Heidegger, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas deutsche Beiträge zur Architekturtheorie weltweit nicht wahrgenommen wurden? Teilt in diesem Sinne die deutsche Architekturtheorie das Schicksal der deutschen Architektur nach 1945, die – mit Ausnahme von Egon Eiermann, Oswald Mathias Ungers und Frei Otto – trotz höchster technischer Performanz kaum internationale Bedeutung hat?

Woher der Hang zur Unintellektualität stammt, haben wir im Gespräch mit dem Architekturhistoriker Thilo Hilpert nachzuvollziehen versucht (s. S. 74ff.). Er sieht ihn nicht zuletzt als Ergebnis des Sonderwegs der deutschen Architekturzeitschriften nach 1945. Obwohl es bescheidene Ansätze zur Eröffnung eines kritischen Diskurses gab, dominierte ein Verzicht auf konzeptuelles Denken alle wichtigen Zeitschriften, seien es Baukunst und Werkform, Bauwelt, Baumeister oder Bauen und Wohnen. Während in England, Frankreich und Italien schon in den 1950er Jahren die Aufarbeitung der Moderne und eine kritische Auseinandersetzung mit ihr begannen, wurden in der Bundesrepublik in Abwehr der vorangegangenen nationalsozialistischen Exesse die produktiven Kräfte fast ausschließlich durch die Rekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft gebunden. Gefangen in diesem Prozess konnte man deshalb auf die wiedererwachende europäische Architekturdiskussion nicht anders als mit Aversion reagieren: Man lief Sturm gegen alles vermeintlich Avantgardistische. Nur im Sinne eines psychischen Wiederholungszwangs lässt sich deshalb nachvollziehen, dass man sich die Zukunft der Stadt und Gesellschaft nur in den Konturen der politisch-kulturellen Kämpfe der 1920er vorstellen konnte. Erstickt wurden dadurch alle weiterführenden, die Industriegesellschaft auch in der Bundesrepublik transzendierenden Fragen, mit der Folge einer Theorievergessenheit und Konzeptionslosigkeit der tragenden Architekturzeitschriften, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart zu spüren sind.

Erst mit der Interbau Berlin 1957 öffneten sich die deutschen Architekturzeitschriften zaghaft für die post-heroische Phase der Moderne nach 1945, erst mit der IBA 1984 für den postmodernen Diskurs. Schließlich ist erst Anfang der 1980er Jahre mit Daidalos eine eigenständige Zeitschrift zur Architekturtheorie entstanden. Die einsetzende Internationalisierung der Publizistik blieb aber im wesentlichen eine nachholende Bewegung gegenüber den architektonischen und architekturtheoretischen Fortschritten andernorts. Sie diente mehr dem Nachholbedarf nach innen als dass sie selbst Tendenzen setzen konnte. Es fehlte ihr, aufgrund der nach 1945 getroffenen Richtungsentscheidungen durch die bundesdeutsche Gründergeneration mit Alfons Leitl, Rudolf Schwarz und Otto Bartning, schlicht an inhaltlicher Substanz (vgl. Thilo Hilpert im Gespräch).

Intellektualität befördert zwar eine kritische Praxis, sie ist aber keine hinreichende Bedingung für Kritik. Nach Michel Foucault sollte man Kritik auch nicht mit Theorie oder Wissen verwechseln: „Die kritische Ontologie unserer selbst darf beileibe nicht als eine Theorie, eine Doktrin betrachtet werden, auch nicht als ein ständiger, akkumulierender Korpus von Wissen; sie muss als eine Haltung vorgestellt werden.“ Wenn aber Kritik nicht mit Theorie und Wissen gleichzusetzen ist, welche Rolle spielt dann Architekturtheorie für die Architekturkritik? Diese Frage betrifft den Kern des Selbstverständnisses von ARCH als theoretisch und konzeptionell ausgerichteter Zeitschrift. Heißt das, dass Theorie gänzlich verzichtbar ist und das „Halt-die-Klappe-und-spiel-Klavier-Argument“ letztendlich zutrifft? Dass dies mitnichten der Fall ist, beschreibt Thomas Lemke in seiner Darstellung des Kritik-Begriffs von Foucault: „Die Feststellung, dass es keine notwendige Verbindung zwischen Wissen und Kritik gibt, bedeutet […] nicht, dass der Theoriebildung keine kritische Rolle zukommen kann. Im Gegenteil spielt die Theorie eine wichtige Aufgabe in einem Unternehmen der Problematisierung, weil sie die Ansprüche auf Universalität überprüft, um die Elemente von Willkürlichkeit und Kontingenz in ihnen aufzuzeigen. Damit kann Theorie, wenn sie ihre eigenen historischen Bedingungen reflektiert, die Rolle einer „Gegenwissenschaft“ spielen, die […] den Weg für eine Veränderung sozialer Praktiken bereitet.“ (Siehe S. 110)

Theorie ist in diesem Sinne kein Mittel zur Rationalisierung, sondern zur Reflexion von Handlungen, wodurch sie zu einem Instrument des Widerspruchs mutiert. Nach Thomas Lemke „verschiebt sich der Ansatzpunkt der Kritik, die ihre Grundlage nicht mehr in der „richtigen Theorie“ hat, sondern sich in einer reflektierten Entscheidung oder „Option“ manifestiert. Hatte Kant eine „Kritik der reinen Vernunft“ unternommen, um ihr Vermögen und ihre universellen Grenzen aufzuzeigen, so praktiziert Foucault eine „Kritik der unreinen Vernunft“, die die Grenzen der Erkenntnis als historische Grenzen unseres geschichtlichen Seins begreift.“ (Siehe S. 109)

In diesem Sinne ist die in dieser Ausgabe schlaglichtartig dargestellte Geschichte der Kritik kein Versuch einer allgemeingültigen Klärung dessen, worum es sich dabei handelt, sondern vielmehr eine offene Auswahl an historischen Optionen kritischer Standpunkte. Oder, um es erneut mit Lemke zu sagen: „Wenn sich Kritik nicht mehr durch den Anspruch auf Universalität und „Letztbegründung“ ausweisen kann, wenn sie niemals den Zustand einer „Sättigung“ erreicht, sondern eine Praktik ist, deren Aufgabe niemals beendet ist, dann kann diese historische Kritik nur eine „experimentelle“ sein.“ (Siehe S. 110)

Kritik erschöpft sich demnach nicht in einer negativen, sich auf eine universale Rationalität berufende „Aufklärung“ von etwas, seien es Illusionen oder Irrtümer. Vielmehr ist sie eine „positive“ Praxis, die (Handlungs-)Optionen eröffnet. Als Praxis muss sie immer wieder eingeübt, als Experiment immer wieder gewagt werden. Wenn in diesem Heft die Kritiker der architektonischen Moderne bewusst überrepräsentiert sind, dann möchten wir den offenen Charakter des Projekts Moderne unterstreichen.

Woran lässt sich Kritik dennoch festmachen? Oder, mit Foucault gefragt, „Was ist Kritik?“ Und schließlich, in unserem Fall, „Was heißt Kritik für Architekturzeitschriften?“ Mit der Auswahl der Kritiker und Projekte in der vorliegenden Ausgabe zeigen wir unterschiedliche Ausprägungen und Möglichkeiten der Kritik und folgen dabei Foucaults Definition, wonach „Kritik weniger ein neutral-theoretisches Wissen (repräsentiert) als dass sie eine ethisch-politische Haltung verkörpert“.

Demnach müssen wir die wohlfeile Klage über das Fehlen von Theorie und Wissen relativieren, wenn wir dem heutigen Mangel an Kritik auf den Grund gehen wollen. Die Kritik wird sogar gänzlich verschwinden, wenn es nicht gelingt, die „Haltung der Kritik“ (Foucault) mit den neuen Formen von Diskurs und Öffentlichkeit in Einklang zu bringen. Aus der Perspektive des Zeitschriftenmachens verschränkt sich die problematische Aussicht der Kritik seit der Zeitenwende von 2000 mit der Krise des Mediums Zeitschrift selbst. Seit etwa dieser Zeit befinden sich die Auflagenzahlen der Architekturzeitschriften im stetigen Sinkflug. Sinkende Abozahlen und zurückgehende Einnahmen gehören seitdem zum Alltagsgeschäft.

An die Stelle der Zeitschrift tritt das Netz. Es löst die Zeitschrift als Informationsquelle ab. Sie tritt in den Hintergrund, wird im besten Sinne zum Zweitmedium nach dem Netz. Sie verliert dadurch ihre ursprüngliche Funktion als aktuelles Informationsmedium und kann, wenn überhaupt, nur noch als Kommunikationsmedium überleben. Dazu bedarf es neuer Formen inhaltlich-medialer Vermittlung. Denn das Netz liefert die Information in Echtzeit ins Haus. Wie dagegen die Zeitschrift als ein über ihre kommunikative Funktion hinaus wirkendes Medium der Kritik auszugestalten sei, sucht ARCH in der Praxis zu erproben: durch eine neuartige Verschränkung von Zeitschrift, Webauftritt und öffentlicher Performanz. So haben wir in jüngster Zeit zur Ausgabe „Post-Oil-City“ eine Ausstellung kuratiert. Mit dieser Ausgabe initiieren wir zudem die Veranstaltungsreihe ARCH features als Plattform für junge Architekten und Kritiker. Dies wird durch Newsletter, Präsenz in sozialen Netzwerken und einen Relaunch der Homepage begleitet. Die Zeitschrift wird dadurch zu einem multi-medialen Projekt. Wie in diesen Medien Kritik als Haltung in transformierter Form weiterlebt und dadurch eine neue Öffentlichkeit für die Architekturkritik geschaffen werden kann, wird über den Erfolg oder Misserfolg von ARCH , ARCH features und archplus.net entscheiden (Vgl. Relaunch von archplus.net, S. 205; ARCH features BARarchitekten).

Ausgespart wurde bis hierhin die inhaltliche Ausformung der Kritik. Stattdessen haben wir uns auf die Richtungsentscheidungen im Nachkriegsdeutschland konzentriert, um zu zeigen, wie sich der deutsche Sonderweg entwickeln konnte. Während die europäischen Nachbarstaaten begannen, am Vorabend der sich in den 1960er Jahren abzeichnenden nach-industriellen Gesellschaft, die Architekturkritik für Fragen der Stadt, Geschichte und Gesellschaft zu öffnen, um sie an die sich verändernden Produktionsbedingungen von Architektur anzupassen, erschöpfte man sich hierzulande in der durch die Kriegszerstörungen erzwungenen nachholenden Wiederherstellung der Industriegesellschaft. Deren Anforderungen regierten den Wiederaufbau der Städte, der zwar dem technischen State of the art entsprach, aber kaum einen Gedanken an die mit den 1960er Jahren manifest werdenden Anforderungen der post-fordistischen Gesellschaft verlor. Dabei kamen hier andere Formen von Produktion und Mobilität, ja von Leben ins Spiel, die nicht mehr nach dem Prinzip von Leistung und Entlohnung funktionieren. Eine neue Lebensweise stand auf der Agenda, die sich zuerst in der Rock- und Popkultur andeutete und von dort in benachbarte Felder auswirkte.

Demgegenüber legte die architektonische Kultur hierzulande immer wieder noch einmal die alte Platte der Industriegesellschaft auf und spielte das bekannte Lied: konservativ gegen modern, rechts gegen links. Der kalte Krieg nach innen. Und so musste man auch die Kritik der ’68er missverstehen und in ihnen nicht die Vorboten post-materieller Lebensweisen erkennen, sondern den Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft überhaupt. Und mit entsprechender Verve wurden sie dann auch bekämpft. Wobei eingeräumt werden muss, dass sich die ’68er-Bewegung politisch im gleichen Sinne missverstanden. Ihre Wirksamkeit betraf vielmehr den kulturellen Bereich, indem sie post-materielle Lebensformen provozierten, die sich heute durchgesetzt haben.

Sprechen wir von den Perspektiven der Kritik heute und von der Architekturkritik im Besonderen, dann müssen wir den Blick weiten und sowohl nach außen als auch nach innen richten. Nach innen, um die Kritik an den Fragen der post-fordistischen Gesellschaft auszurichten, in der Stadt und Architektur, Geschichte und Gesellschaft eine neue Bedeutung gewinnen bzw. schon gewonnen haben. Dieser neue Blick auf die Stadt führt in der Regel dazu, dass der Moderne Versagen vorgeworfen wird. In der Tradition einer konservativ gefärbten Kritik an der Moderne, die geschickt die bürgerlichen Ängste vor Revolten mit dem Anspruch der Moderne nach gesellschaftlicher Veränderung vermischt, wird die Moderne pauschal für die Fehlentwicklungen der Industriegesellschaft haftbar gemacht. Stattdessen sollte man in der Moderne das unvollendete Projekt dieser Gesellschaft sehen: die uneingelösten Versprechen nach Freiheit, Selbstbestimmung und Entfaltung des Individuums. Daraus resultiert die Verkennung des Überschusses, der in den Konzepten und Projekten der Moderne angelegt ist, so schlecht sie im Einzelnen auch verwirklicht sein mögen. In diesem Sinne ist die Moderne das Beispiel par excellence für eine projektive Praxis. Und Architektur ist per se projektiv. Nach außen müssen wir den Blick hingegen wenden, um die Theoriedefizite der Nachkriegszeit zu kompensieren. Dadurch soll eine selbstreflexive Kritik ermöglicht werden. Vor diesem doppelten Hintergrund lässt sich die Architekturkritik als eine theoretisch fundierte, selbstreflexive und projektive Praxis verstehen.

Diese Kritik muss theoretisch fundiert sein, weil sie es mit einem Phänomen zu tun hat, das, in den Worten von Ole W. Fischer, „sozial konditioniert ist und als solches wiederum die Gesellschaft formt; diese Kritik ist selbstreflexiv, weil sie ihren eigenen (historischen) Standpunkt, ihre Methoden und ihre gesellschaftliche Rolle (als Produzent von Texten und Bewertungen) mitdenkt; und diese Kritik ist projektiv, weil sie Aktivitäten anregt, Alternativen vorschlägt und Handeln vorausbestimmt. Dieser Wunsch nach Veränderung, dieser Zug zur Praxis macht aus ihr eine produktive Kritik.“ (Siehe S. 123)
Für Zeitschriften bedeutet dieses Verständnis von Kritik als theoretisch fundierte, selbstreflexive und projektive Praxis, dass sie sich einem neuen Praxiszusammenhang stellen müssen, in dem Stadt und Architektur, Kritik und Multi-Medialität, Politik und Öffentlichkeit jeweils Glieder einer Kette von „Übersetzungen“ (Bruno Latour) sind. Und für ARCH bedeutet das, dass sie ein Glied in dieser Kette ist, inhaltlich, medial und praktisch-politisch.

von Nikolaus Kuhnert, Anh- Linh Ngo
Team: Cornelia Escher, Nicole Opel sowie Steve Danesch, Susanne Jany und Marco Rüdel

Inhalt

Zeitung

02 Im Geisterhaus der Gegenwart
Kockelkorn, Anne

02 Rekonstruktion einer Debatte
Zareh, Vesta Nele

04 Frieden kartieren
Herresthal, Kristina

04 Richtigstellung ARCH 198/199
ARCH

05 Farbatlas Zürich
Neitzke, Peter

06 Flugschule für Architekten
Mühlthaler, Erika

06 Die grüne Moderne
Sohn, Elke

07 Versuch einer Theorie der Praxis
Escher, Cornelia

07 Architektur an der Schwelle
Jany, Susanne

08 Die ac revue - Ein Zeitdokument der Nachkriegsmoderne 1956-84
Krause, Jan R.

12 Post-Oil City, Bilder einer Ausstellung
ARCH

196 Literatur zum Thema

204 Relaunch archplus.net


Zur Kritik

14 Editorial: Kritik als soziale Praxis
Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh


Essays

16 Geschichte der Kritik
Krise der Kritik – Kritik der Krise. Architekturkritik und Architekturkrise
Hoffmann-Axthelm, Dieter

74 1945–1970er Jahre
„Im Falschen gibt es nichts Richtiges“
Hilpert, Thilo / Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh

80 1950er/1960er Jahre
Die Automatisierung der Kritik – Architekturkritik und medientechnische Verfahren
Vrachliotis, Georg

108 Michel Foucault
Was ist Kritik? – Foucaults Konzeption einer „positiven“ Kritik
Lemke, Thomas

120 Seit 2000
Kritik der Architekturkritik –
Architektur zwischen Gesellschaft und Form
Fischer, Ole W.


Genealogie der Kritik
Escher, Cornelia / Jany, Susanne / Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh / Opel, Nicole

22 Vormoderne
Institutionen der Kritik

24 18. Jahrhundert
Aufklärung

26 Um 1750
Architekturkritik

28 18. /19. Jahrhundert
Romantik

30 19. Jahrhundert
Frühsozialistische U topien

32 19. Jahrhundert
Anarchismus

34 Seit 1850
Marxismus

36 19. Jahrhundert
Architekturgeschichte

38 1910–1930
Avantgarde

70 1930er Jahre
Kritische Theorie

72 1960er Jahre
68er-Bewegung

102 1960er/1970er Jahre
Ökobewegung

104 1960er/1970er Jahre
Postmoderne

106 1970er Jahre
Michel Foucault

114 1970er Jahre
Postcolonial Studies

116 1990er /2000er Jahre
Bruno Latour

118 Seit 2000
Post-Criticality


Kritiker des 20. Jahrhunderts

40 Über die Unterschiede zwischen Funktionalismus, Utilitarismus und Rationalismus
Behne, Adolf

42 Die gesellschaftliche Dimension des Neuen – Adolf Behnes Formalismuskritik
Nicolai, Bernd

46 Zu Mies van der Rohes Haus Tugendhat
Ginsburger, Roger

48 Doppelagent und radikaler Kritiker – Roger Ginsburger
Cohen, Jean-Louis

52 Über Le Corbusiers Mundaneum sowie die Theorie des Konstruktivismus
Teige, Karel

54 Instrument oder Monument? Karel Teiges Gretchenfrage der Architektur
Hain, Simone

62 Über Walter Gropius’ Bauhaus in Dessau
Giedion, Sigfried

64 Eine Apologie der Gegenwart – Sigfried Giedions „operative Kritik“
Georgiadis, Sokratis

86 Über den Entwurf für die Universität Sheffield von Alison und Peter Smithson
Banham, Reyner

88 The History of the Immediate Future – Reyner Banhams prospektivische Kritik
Stalder, Laurent

94 Über die innere Krise der Architektur seit der Aufklärung
Tafuri, Manfredo

96 Kritischer Realismus – Manfredo Tafuri und Rem Koolhaas. Eine Gegenüberstellung
Biraghi, Marco


Projekte

126 Christoph Schlingensief und Francis Kéré. Operndorf für Afrika – Wie eine Idee zum Architekten fand
Kéré, Francis

128 Festspielhaus Afrika, Laongo
Kéré, Francis

136 Kritik der Burkinischen Vernunft - Über Christoph Schlingensiefs und Francis Kérés „Operndorf“ in Laongo
Trüby, Stephan

138 Architekturfakultät, Nantes
Lacaton & Vassal

148 Metropole und Exodus – Über Rem Koolhaas
Negri, Antonio

150 Prada Transformer, Seoul
OMA

160 Kritischer Funktionalismus – Die Architektur von SANAA als
Versuch einer reflexiven Moderne
Uehara, Yushi

162 EPFL Rolex Learning Center, Lausanne
SANAA

172 Das instrumentalisierte Experiment – Manuel Herz im Gespräch mit Ines Weizman

174 Jüdisches Gemeindezentrum, Mainz
Manuel Herz Architekten

184 Decolonizing Architecture, Palästina – Für eine in die Zukunft gerichtete Archäologie der israelischen Siedlungen
Hilal, Sandi / Petti, Alessandro / Weizman, Eyal


Baufokus: Materialkunde

198 Faserverbundwerkstoffe in der Gebäudehülle
Wurm, Jan / Weber, Felix


ARCH features

BARarchitekten: Mischen Possible
Projekt Oderberger Straße
BARarchitekten

Herausbildung der Architekturkritik

(SUBTITLE) Um 1750

„Die Verschiedenheit der Urtheile des Geschmacks, die ohne Schaden der Richtigkeit auf beiden Seiten bestehen kann, hat den Nutzen, daß das critische Gleichgewicht unter den Kunstrichtern dadurch erhalten wird. Es ist dem Wachsthume und der Aufnahme der Wissenschaften, inbesonderheit der schönen Wissenschaften, nichts zuträglicher als beständige Streitigkeiten der Kunstrichter, wenn sie vernünftig geführet werden. Und nichts ist dieser Absicht schädlicher, als ein allgemeiner Friede in der gelehrten Welt.“
Georg Friedrich Meyer, 1745

Ableitung der Theorie aus der Praxis

Schon in der Antike wird die handwerkliche Praxis des Bauens in theoretischen Schriften reflektiert, um Prinzipien für eine Bewertung von Architektur festzuschreiben. Ältestes Zeugnis aus dieser Zeit sind Vitruvs 10 Bücher über Architektur, in denen der Autor u.a. die Einheit von handwerklicher (fabrica) und geistiger, also theoretischer Arbeit (ratiocinatio) des Architekten postuliert. In der Renaissance, die ihren architektonischen Ausdruck in den Vorbildern antiker Bauwerke sucht, beeinflussen Vitruvs Schriften maßgeblich die neue Stilrichtung und die Herausbildung einer eigenständigen Architekturtheorie. Mit der von den Theoretikern dieser Zeit forcierten Trennung zwischen geistiger Arbeit, dem Entwurf, und handwerklicher Ausführung, dem Bauen, entstand von nun an eine sich weitende Kluft zwischen Theorie und Praxis. Damit wurde deren noch auf das mittelalterliche Zunftsystem zurückgehende Einheit aufgehoben.

Theorie + ästhetisches Urteil = Kritik

Der vitruvianischen Tradition folgend war die entstehende Architekturtheorie eine stark wissenschaftlich-mathematisch geprägte Disziplin, bei der Proportionsstudien und Konstruktionsprinzipien im Mittelpunkt standen. Erst in der Ästhetikdebatte des 18. Jahrhunderts rückt Architektur – wenn auch verspätet – in das Blickfeld ästhetischer Betrachtung. Die Architekturdebatte wird um eine ästhetische Wertung ergänzt, und auf diesem Weg findet die Kritik Eingang in die Architektur. Diese neue Bewertungskategorie des ästhetischen Geschmacksurteils legitimiert nun ein „Urteil auch ohne Kenntnis der Regeln“. Sie weitet den Diskurs über Architektur über den bis dahin kleinen, geschlossenen Gelehrtenkreis hinaus aus. Mit der Zeitschrift als neuem Leitmedium des 18. Jahrhunderts wird erstmals ständeübergreifend auch das gebildete Bürgertum als Publikum angesprochen. Gleichzeitig verlagert sich der Diskurs auf allgemeinverständliche und vor allem schöngeistige Themen, bei denen besonders die Schulung des Geschmacksurteils im Zentrum steht.

Regelhafte Beschreibung von Bauwerken

In dieser Zeit entstehen „Regelwerke“, die auf allgemeinverständlicher Betrachtungsebene ein Vokabular für die Bewertung der Baukunst liefern. Sie legen einen wichtigen Grundstein für eine kritische Auseinandersetzung mit Architektur. So erweitert der französische Architekturtheoretiker Marc-Antoine Laugier (1713-1769) in seinem Essai sur l’architecture (1753) die rationalistischen vitruvianischen Prinzipien um eine funktionalistische und sensualistische Betrachtungsebene, die die Wirkung der Architektur auf den menschlichen Körper berücksichtigt. Die Basis seiner Betrachtungen bildet dabei nicht eine rein historische Analyse, sondern die eigene Wahrnehmung und Empfindung – also eine Beurteilung der Bauwerke nach rein optischen Erscheinungen. Einen wichtigen Beitrag zur ästhetischen Auseinandersetzung mit der Baukunst leistet u.a. der deutsche Archäologe und Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717-1768).

ARCH+, Mo., 2010.10.25

25. Oktober 2010

68er-Bewegung

(SUBTITLE) 1960er Jahre

Während der Studentenbewegung der 1960er Jahre tritt die Kritik aus dem philosophisch-wissenschaftlichen Zusammenhang heraus. Es entsteht ein sich gesellschaftlich breit niederschlagender Diskurs des Kritischen: Von den studentischen Initiativen ausgehend sollen sämtliche sozialen Schichten, vor allem aber die Arbeiterklasse, mobilisiert werden. In der Orientierung an den marxistischen Theorien, der Frankfurter Schule, der Psychoanalyse bzw. des Existentialismus werden die jeweiligen sozial-, kapitalismus- bzw. ideologiekritischen Grundhaltungen dieser Denkschulen aufgenommen. Dabei geht es allerdings nicht um einen umfassenden und konstruktiven gesellschaftspolitischen Neuentwurf.

Zwischen Politik und Lifestyle

Was diese Form der Sozialkritik auszeichnet, ist ihr aktionistisches Potential, da im Rückgriff auf die Ideen des Marxismus auch dessen Handlungsimpulse übernommen werden. Die Kritik der 68er zielt zudem auf eine weitreichende öffentliche Wirksamkeit, da gerade die Öffentlichkeit als das wichtigste Instrument demokratischer Auseinander-setzung mit der politischen Macht angesehen wird. Im Zuge der Omnipräsenz des Kriti-schen und des Insistierens auf der politischen Potenz der Kritik entwickelt sich diese zu-nehmend zur Lebenshaltung: Kritik als Attitüde des antiautoritären, aufgeklärten Subjekts und als entschiedene politische Gegen-Haltung zum Traditionellen und Etablierten.

Kritische Universität als Protestorgan

1967 wird die Kritische Universität (KU) von Arbeitsgruppen des Sozialistischen Deut-schen Studentenbundes (SDS) an der Freien Universität Berlin ins Leben gerufen. Diese versteht sich als vorbildhafter Gegenentwurf zur etablierten Lehrpraxis der Massenuni-versitäten sowie deren bildungsbürgerlicher Ideologien und dient als Sprachrohr, um allgemeine bildungspolitische Defizite publik zu machen. Die Protagonisten der KU pro-pagieren die Aufhebung der strikten Grenze zwischen Wissenschaft und Politik sowie die Neuorientierung sämtlicher Bildungsinstitutionen hin zu einem selbstbestimmten Lernen.

Für praktische Relevanz in der Architektur

Die Kritik der Architekturstudenten richtet sich in erster Linie gegen die traditionelle Architekturausbildung an den Hochschulen und gegen die als unpolitisch wahrgenomme-ne, sich an ästhetischen Fragen aufhaltende Einstellung der Professoren. Sie fordern einen stärker praktisch orientierten, sich der sozialen Verantwortlichkeit stellenden Realitätsbe-zug in der Lehre und Praxis; sie opponieren gegen konkrete architektonische und stadt-planerische Entscheidungen, etwa die Kahlschlagsanierung von Gründerzeitvierteln in Berlin-Kreuzberg. Generell plädiert man für eine durch Politik und Sozialwissenschaften gestützte Bau- und Planungspraxis, die zudem durch eine kritische Auseinandersetzung in enger Kooperation von Architekt und Intellektuellen fundiert wird.

Kulturrevolution

Das Politisch-Kritische der 68er-Bewegung ist in seiner Wirkung divergent: Die kritische Haltung erfährt zum einen eine Radikalisierung durch den RAF-Terrorismus der siebziger Jahre. Zum anderen – und das ist das eigentlich Revolutionäre – kommt es zu einer Ent-radikalisierung des Kritischen im öffentlichen Bewusstsein: Das kritische Projekt, als randständiges Phänomen lediglich von einer Minderheit revoltierender Studenten vertre-ten, ist zwar nicht politisch, umso mehr jedoch kulturell einschlägig. Die aus den Studen-tenprotesten resultierenden Friedens-, Umwelt- und Frauenrechtsbewegungen etwa ge-winnen in den Jahren nach den Aufständen maßgeblich an gesellschaftlicher Akzeptanz, Resonanz bzw. an politischem Einfluss und machen somit die kritischen Ansätze der 68er sozial wirksam.

ARCH+, Mo., 2010.10.25

25. Oktober 2010

Kritik der burkinischen Vernunft

(SUBTITLE) Über Christoph Schlingensiefs und Francis Kérés „Operndorf“ in Laongo

Es gibt zwei Arten von Kritik: eine vulgäre und eine philosophische. Während Erstere das Aufzeigen eines Misstandes meint und üblicherweise in der mal impliziten, mal expliziten Aufforderung kulminiert, vermeintliche bzw. tatsächliche Fehlentwicklungen künftig abzustellen, versucht Letztere die Frage nach den Bedingungen von etwas zu beantworten. In diesem Sinne wollte etwa Immanuel Kant mit seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) nicht etwa die praktische Vernunft in Frage stellen, sondern die Bedingungen der Möglichkeit von praktischer Vernunfterkenntnis ausloten. Während Vulgärkritik prospektiv verfährt – sie geht von einem Objekt der Kritik aus, um in Zukunft subjektiv Schlimmeres zu verhindern –, verfährt philosophische Kritik retrospektiv: Sie bohrt im Vorausgehenden, um im Fluchtpunkt des Kritik-Objekts anzukommen. Dabei verhält sie sich zur Vulgärkritik wie der Humus zu jenen Blumen des Bösen, die der Kritiker sich ins Knopfloch zu stecken pflegt, während der Philosoph nach dem rechtem Dünger sucht.

„Remdoogo“ zu kritisieren heißt, von Vulgärkritik Abstand zu nehmen, denn die Errichtung des „Operndorfes“ im burkinischen Laongo, das von Christoph Schlingensief initiiert und von Francis Kéré entworfen wurde, wird sich noch ein bisschen ziehen. Und dies nicht nur Schlingensiefs Todes wegen, von dem eine gleichermaßen vorbereitete wie schockierte Öffentlichkeit im August 2010 Notiz zu nehmen hatte. Auch die kalkuliert entschleunigte Verfahrensweise des Architekten, die einer geradezu Nadolnyschen „Entdeckung der Langsamkeit“ gleichkommt, wird die Fertigstellung hinauszögern. Überhaupt: Was heißt schon „Fertigstellung“, wenn es – wie so oft bei Kérés Bauten – um Architektur als ein soziales Projekt geht? Um eine Art gebaute Entwicklungshilfe, bei der das N-Wort „Nachhaltigkeit“ endlich einmal Sinn macht? Dass sich dabei der Architekt selbst als der beste und produktivste, nämlich als ein auf die Bedingungen von Remdoogo fokussierter Kritiker entpuppt, passt da nur ins Bild.

Als die zentrale Bedingung des Operndorfes darf wohl Schlingensiefs Anfang 2008 diagnostizierte Krebserkrankung betrachtet werden. In geradezu ästhetisierender Symmetrie sollte mit Remdoogo an ein Ende kommen, was, folgt man der Autodiagnose des Regisseurs und Künstlers, in Bayreuth begonnen hatte: die Korrelation von Krebserkrankung und Festspiel-Gedanke. Immer wieder betonte Schlingensief, dass es der Grüne Hügel war, auf dem seine lebensbedrohende Krankheit ihre Ouvertüre fand: „Ich bin wirklich überzeugt, dass der Krebs bei mir mit Bayreuth zu tun hat. [...] Ich habe ein Tor geöffnet, das ich niemals hätte öffnen dürfen.“ Dieses Tor öffnete Schlingensief im Jahre 2004, als er – unter größten atmosphärischen Spannungen mit dem damaligen Festspielleiter Wolfgang Wagner – den Parsifal inszenierte. Schlingensief, der Opern-Debütant, wollte das Bühnenwerk so gut inszenieren, dass er sich offenbar eine Art Todessehnsucht zulegte: „Ich bin erregbar durch Musik, durch diese Musik von Wagner besonders, das zerreißt mich, das macht mich fertig.“ Umso labiler hinterließ ihn der „Fascho-Laden“ Bayreuth. Knapp drei Jahre später – Schlingensief war nunmehr stark vom Lungenkrebs gezeichnet – legte er am Grab seines Anfang 2007 verstorbenen Vaters ein Gelübde ab, dass er „ein Theater, ein Opernhaus, in Afrika bauen werde, wenn das hier [also Schlingensiefs Erkrankung, S.T.] gut ausgeht“. Wer wollte ihm diesen letzten großen Wunsch versagen?

Für den Todesstern, der Remdoogo fortan den Weg wies, steht nicht nur die ästhetisierende Einrahmung von Schlingensiefs Krebserkrankung durch zwei Festspielhäuser – einem todbringenden fränkischen und einem erlösenden afrikanischen. Auch dass der Regisseur kontinuierlich nach engelsgleichen Projekt-Schützern suchte, verwies auf sein existentiell bedrohtes Leben. Zunächst gelang es Schlingensief im Jahre 2009, den damaligen Außenminister und Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier als Unterstützer von Remdoogo zu gewinnen. Nach dem schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl im selben Jahr musste jedoch ein neuer Schutzengel her – und der damalige Bundespräsident Horst Köhler rückte an Steinmeiers Stelle. Für einen geplanten Besuch des Bundespräsidenten am 9. Juni 2010 wurde in Laongo sogar – in einem beispiellosen architektonisch-organisatorischen Kraftakt – ein Fragment des Operndorfes errichtet: eine WC-Anlage mit fließendem Wasser mitten in der Savanne. Wenige Tage vor der Einweihung, am 31. Mai, trat Köhler jedoch zurück. Seither harrt das fertig gestellte „Scheißhaus Köhlers“ (Schlingensief) als durchaus anal-fixierter Gründungsakt von Remdoogo einer eingehenden psychoanalytischen Deutung – und kündet von hoffentlich in Bälde zu erwartenden Goldenen Zeiten. Man kann sich lebhaft vorstellen, welcher extremen psychischen und physischen Kräfte ein durch Therapie und Medikamente Geschwächter bedurfte, eine Immunisierungsstrategie durch Spitzenpolitiker auch dann fortzusetzen, wenn diese durch die Fährnisse des Politischen immer wieder abhanden gekommen waren.

Mit Hauruckaktionen wie der präsidialen WC-Anlage drohte Ungemach: die Gefahr zweier konkurrierender Arbeitsgeschwindigkeiten, die auf Dauer nur schwer zu synchronisieren gewesen wären: Auf der einen Seite stand da Schlingensief, der, bedingt durch seine Lebenssituation, immerwährend – und im wahrsten Sinne des Wortes – eine „Deadline“ vor Augen hat, die ihn antrieb und ihm schnelle, sichtbare Resultate abverlangte. Auf der anderen Seite stand – und steht noch immer – der 1967 in Burkina Faso als Häuptlingssohn geborene Francis Kéré, der durch eine Architektur bekannt geworden ist, deren Qualitäten vor allem auf der longue durée des partizipatorischen Bauens aufbauen. Zu Lebzeiten Schlingensiefs hieß Remdoogo zu verwirklichen vor allem, das schnelle, szenografische Performer-Denken des deutschen Regisseurs mit einer Kéréschen Architektur in Übereinstimmung zu bringen, die keineswegs nur auf bauliche Low-tech-Raffinessen zu reduzieren ist, sondern raffiniert mit Beteiligungs-Strukturen und klimatischen Zyklen arbeitet – Phänomenen also, die nun mal ihre Zeit brauchen. Immer wieder musste dem Furor Schlingensiefs durch Kérés Hinweise auf Regen- und Lehmtrocknungszeiten Einhalt geboten werden. Es stand ein zwar unter besten Freunden ausgetragener, aber doch zunehmend spürbarer Konflikt zwischen einem unduldsamen deutschen Schamanen und einem gewissenhaften afrikanischen Ingenieur im Raum.

Es gehört zu den großen Leistungen Kérés, dass er Remdoogo bereits „unter“ Schlingensief subversiv verbesserte – und nun, nach dem Tod des Regisseurs, souverän darauf aufbauen kann. Zunächst ist in diesem Zusammenhang das Areal des Baugrundstücks zu erwähnen, in dessen Nähe sich eine für Uneingeweihte nicht erkennbare religiöse Stätte befindet. Schlingensief sprach zwar immer von einer „spirituelle Aufladung“ des Remdoogo-Areals, doch die genauen Koordinaten jenes Ortes, den Kérés Freunde und Verwandte als „heilig“ empfinden, musste der Architekt vor seinem Freund und Bauherrn immer geheim halten, um Heiliges nicht den Indiskretionen europäischer Fernsehkameras preiszugeben. Auch die Konzeption von Remdoogo als einem Festspielhaus barg Konfliktstoff zwischen Initiator und Architekt, denn das Wort „Festspiel“ impliziert eine deutliche Trennung zwischen Bühnenakteur und Zuschauer – eine Trennung, der in Afrika eine weit geringere Bedeutung zukommt als in europäisch geprägten Theatertraditionen. Zurecht geht es Kéré beim „Operndorf“ mehr um ein Festhaus als um ein Festspielhaus – darauf deutet bereits das Wort „Remdoogo“ hin, das auf Mòoré ein ausgelassenes Fest meint, und zwar ohne disziplinierte Zuschauer.

Kérés manierliche, aber bestimmte Kritik an Schlingensief wird auch am Beispiel der Bühne deutlich. Sie stellt ein Remake jener einst unrealisiert gebliebenen Rundbühne dar, die in Gropius’ und Piscators Totaltheater aus dem Jahre 1927 entstehen sollte. Von der Ruhrtriennale finanziert, wurde ein Widergänger als transportable Konstruktion gefertigt und im April 2010 in 13 Schiffscontainern nach Burkina Faso gebracht. Dort ruht die Konstruktion seither unausgepackt im Sand. Kéré hat gute Gründe zu befürchten, dass sich dieses High-tech-Wunder aus Deutschland als ein Danaergeschenk entpuppen könnte. Denn wie soll die diffizile Stahlkonstruktion mit ihrer sensiblen Elektronik in eine Architektur eingehaust werden, deren Bautoleranzen dem Lehmbau entstammen? Und wie wird die Piscatorbühne nach einigen Jahren aussehen, wenn Regenzeiten den Rost wachsen ließen? Und überhaupt: Wer wird die Bühne warten? Um Remdoogo trotz dieser Unwägbarkeiten in jedem Falle zum Erblühen zu bringen, schmuggelte Kéré in das Projekt eine „Alternativbühne“ hinein, die robuster kaum sein könnte: einen öffentlichen Platz vor dem Festhaus, dessen Bühnenprospekt durch die – von außen betrachtet – konkave Wand des Haupteingangs gebildet wird.

Die Zusammenarbeit von Schlingensief und Kéré steht in einer langen Tradition konfliktträchtiger Versuche gemeinsamen Wirkens von Architekt und Auftraggeber, zu deren bekanntesten – und auch misslungensten – jene von Wagner und Semper gehörte. Kurz zur Rekapitulation: Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die beiden verhinderten Polit-Aktivisten der Deutschen Revolution von 1848/49, Gottfried Semper und Richard Wagner, von König Ludwig II. von Bayern umworben. Der Kini wollte die beiden für ein Festspielhausprojekt gewinnen. Alles schien auf dem besten Wege zu sein, doch nach und nach verfestigte sich bei Wagner die Überzeugung, dass Semper kein Glücksfall für das Festspielhaus-Projekt war, ja, dass er sich sogar als der größte Feind für die Wagnersche Idee des „Gesamtkunstwerks“ entpuppen könnte. Denn ab einem bestimmten Moment dämmerte dem Komponisten, dass die elaborierte Architektur Sempers schlicht zu virtuos sein könnte für ein Festspielkonzept, welches das Gebaute jenseits der Bühne unter allen Umständen vergessen machen wollte. Mit dieser Erkenntnis begann Wagner seinen ehemaligen Freund Semper gegenüber Ludwig II. zu beschädigen.

Auch wenn Schlingensief noch lebte, würde den Machern von Remdoogo ein solches Schicksal erspart bleiben. Denn was das dortige Bühnengeschehen anbelangt, waren die Vorstellungen Schlingensiefs im Gegensatz zu jenen Wagners immer recht vage geblieben. Nur dass dieser Ort unter gar keinen Umstände eine Ruine werden darf – darin war sich der Regisseur sicher. Diesen programmatischen Leerraum, der die Gefahr eines dysfunktionalen Herzes für Remdoogo in Form eines kaputten Totaltheaters mitten in Burkina Faso parallelisiert, weiß Kéré nun im Sinne der Menschen vor Ort zu nutzen. Man denke etwa beispielsweise an die Fassade des Festhauses: Sie besteht aus einem Stabwerk aus Hölzern mit einem Durchmesser von 7-10 cm, die vom Boden bis zum Dach reichen, um die Lehmwand des Auditoriums vor Regen und Sonneneinstrahlung zu schützen. Die Wahl des Materials kommt dabei einem Manifest für ganz Subsahara-Afrika gleich, denn es handelt sich um Eukalyptusholz, das wie kein zweites für eine misslungene Entwicklungspolitik in Afrika steht: Frankreich wollte damit in seiner ehemaligen Kolonie schnell Bäume zur Feuerholzgewinnung anpflanzen, erreichte dadurch aber vor allem eine extreme Austrocknung der Böden. Mittlerweile weiß man, dass die Eukalyptusplantagen besser heute als morgen verschwinden sollten, doch wohin mit dem vielen Holz? Wenn Kérés Fassaden-Exempel Schule machen sollte, dann wäre dem Land viel geholfen.

Höchstwahrscheinlich wird mit Remdoogo kein Operndorf entstehen, sondern eine Festbühne mit Schule, Klinik, Gästehaus sowie diversen Wohnungen und Werkstätten. Mitten in einem Schattenreich der Globalisierung zeichnet sich eine dieser wunderbar angemessenen, eleganten Kéréschen Architekturen ab – ein Ort, in dem unter Anleitung eines charismatischen Sozialarbeiter-Architekten eine Dorfgemeinschaft technisch und ästhetisch überaus Bemerkenswertes auf die Beine stellt: Kein Ort des Todes, sondern einer des Lebens. Die Kritik der burkinischen Vernunft ist eine gebaute.

ARCH+, Mo., 2010.10.25

25. Oktober 2010 Stephan Trüby

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