Editorial

Bausteine einer Post-Oil City
Bauausstellungen im 20. Jahrhundert

„Bauausstellungen bieten dem Zeitgeist eine Bühne. Doch diejenigen, die sich im Rückblick als die gelungenen erweisen, frönten weniger dem Mainstream als vielmehr seinen Gegenspielern“, schreibt Günther Uhlig in seiner Rückblende auf die Geschichte deutscher Bauausstellungen in diesem Heft. Die Unterscheidung zwischen Zeitfühligkeit und Mainstream gibt einen guten Hinweis auf die Gratwanderung, die ein Unterfangen wie eine Bauausstellung darstellt.

Entsprechend waren die Themenschwerpunkte der Bauausstellungen auch immer ein Spiegel gesellschaftlichen – und nicht nur disziplinären – Wandels. Während die Stuttgarter Weißenhofsiedlung, die 1927 im Rahmen einer Ausstellung unter der Leitung Mies van der Rohes errichtet wurde, die heroische Moderne und deren Ideal des modernen Großstadtmenschen feierte, waren die Deutsche Bauausstellung Berlin 1931 und die nachfolgende Sommerausstellung „Sonne, Luft und Haus für alle“ 1932 schon von den Ambivalenzen innerhalb der Bewegung der Moderne, aber auch von der konservativen Wende gekennzeichnet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg diente die West-Berliner Interbau 1957 vordergründig dem Neubau des zerstörten Hansaviertels, war aber auch ein Instrument zum Re-Import moderner Stadt- und Wohnformen. Die 1980–1987 erneut in West-Berlin veranstaltete IBA mit den Schwerpunkten „Behutsame Stadterneuerung“ (IBA Altbau) und „Kritische Rekonstruktion“ (IBA Neubau) zielte hingegen auf einen Stadtumbau, der typologisch auf den historischen Stadtgrundriss ausgerichtet war und bis in die Gegenwart das Entwicklungsmodell für Berlin vorgibt. Mit der IBA Emscher Park (1989-1999) kam eine neue Zukunftsaufgabe auf die Tagesordnung: der nachhaltige Umbau einer postindustriellen Region. Auf diesem Pfad des „perspektivischen Inkrementalismus“ in eine postindustrielle Stadt- und Kulturlandschaft mit ökologischem Anspruch wandeln seitdem fast alle großmaßstäblichen Planungsvorhaben. Die Einsicht, dass Planung nicht nur aus utopischem Überschuss Realität wird, sondern inkremental, d.h. aus einer Folge kleinteiliger Schritte, manchmal auch Rückschritten, besteht, die umso mehr einer übergeordneten Perspektive bedürfen, hat sich als Mainstream durchgesetzt.

Die IBA Hamburg (2007-2013)

Mit der Durchführung einer Internationalen Bauausstellung reiht sich Hamburg in die Tradition deutscher Bauausstellungen ein. Die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen liegen dabei auf der Hand, das Stichwort heißt Wandel: der Wandel einer postindustriellen und multiethnischen Stadtgesellschaft und der Wandel der energetischen Basis der Stadt angesichts des Klimawandels. Entsprechend lauten die Themen der IBA Hamburg „Kosmopolis“, „Metrozonen“ und „Stadt im Klimawandel“. Der Fokus liegt dabei auf der Elbinsel mit den Stadtteilen Wilhelmsburg, Veddel und dem Harburger Binnenhafen. Zeitgleich mit der IBA findet die Internationale Gartenschau (igs 2013) in Wilhelmsburg statt. In diesem Rahmen wird eine Vielzahl von Projekten durchgeführt, einen guten Überblick darüber bietet die Website der IBA Hamburg. Wir fokussieren die Ausgabe jedoch auf die sogenannte Bauausstellung in der Bauausstellung, d.h. auf den Teil, der am ehesten eine Bauausstellung im klassischen Sinne mit einem Ensemble gebauter Projekte darstellt, die Impulse für den erforderlichen kulturellen, städtebaulichen bzw. landschaftlichen Wandel setzen sollen.

Case Study Houses des 21. Jahrhunderts

Städtebaulich eingebettet in die Planungen der igs 2013 (Masterplan Jo Coenen & Co. Architects mit AgenceTer), besteht die Bauausstellung in der Bauausstellung aus vier thematisch organisierten Baufeldern, die zusammen mit weiteren Neubauten wie den Schauhallen der igs 2013, dem Neubau eines Schwimmbades oder dem Gebäude der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt von Sauerbruch Hutton die neue Wilhelmsburger Mitte bilden werden. Unter dem Gesichtspunkt einer sozial und energetisch nachhaltigen Architektur wurden die vier Themenbereiche für die Modellvorhaben nach dem Prinzip der berühmten Case Study Houses festgelegt: Smart Price Houses, Smart Material Houses, Hybrid Houses und Water Houses. Um die Verfahren vorzubereiten, wurden im Vorfeld internationale Workshops zu den einzelnen Themenfeldern durchgeführt, deren Ergebnisse in die Ausschreibung der Modellvorhaben einflossen. Die daran anschließenden Grundstücksvergabeverfahren mit integriertem Wettbewerb dokumentieren wir in dieser Ausgabe. Nach guter Tradition von ARCH werden sie thematisch kontextualisiert und damit zugleich die theoretischen Vorarbeiten der beiden Workshops, Smart Materials/Smart Technologies und Smart Price, die ARCH im Rahmen der Bauausstellung in der Bauausstellung inhaltlich organisiert hat, in die Ausgabe eingearbeitet.

Die Gliederung des Hefts

Als übergreifendes Thema haben wir die Frage nach dem Haus der Zukunft gewählt. Dieses soll die Auseinandersetzung mit den vorgestellten Arbeiten der vier Wettbewerbe leiten und zugleich eine Diskussion wieder in Gang bringen, die 1956 durch das „House of the Future“ der britischen Architekten Alison und Peter Smithson eröffnet wurde und heute angesichts neuer Wohn- und Lebensformen (Hybrid Houses), neuer Fertigungstechniken (Smart Price) und neuer Materialen (Smart Materials/Smart Technologies) dringlicher denn je geworden ist.

Beatriz Colomina eröffnet das Thema des Hefts mit einem historischen Beitrag über das „House of the Future“, während die anschließenden Beiträge den vier Verfahren zugeordnet sind. Ein einleitender Aufsatz führt jeweils in die Thematik ein, gefolgt von einer Auswahl an exemplarischen Wettbewerbsbeiträgen. Die Projekte werden um theoretische Positionsbestimmungen einzelner Wettbewerbsteilnehmer und historische Einordnungen erweitert. Abgerundet wird die Ausgabe durch eine Übersicht aller Wettbewerbsteilnehmer und Verfahrensabläufe.

Smart Typologies

Wie lässt sich die Bandbreite der vorgestellten Arbeiten zusammenfassend darstellen? Lassen sich die Vielzahl von Freiheitsspielräumen und Bedürfniswelten der heutigen Gesellschaft überhaupt in eine architektonisch-städtebauliche Ordnung bannen? Wie kann man Wandel, ob nun demografisch-gesellschaftlich oder klimatisch, jenseits der metaphorischen Ebene nicht nur zum Ausdruck bringen, sondern auch in der Realität umsetzen? In der „Politischen Soziologie“ von Niklas Luhmann finden wir einen Hinweis, wie moderne Gesellschaften mit Wandel umgehen: Die Stabilität einer vom stetigen Wandel bedrohten Ordnung wie die moderne Gesellschaft wird, so Martin Bauers knappe Zusammenfassung der Luhmannschen Grundthese, „paradoxerweise dadurch gewährleistet, dass sich das Arrangement der Verfahren und Institutionen auf einen Wandel in Permanenz einstellt.“

Für die Architektur heißt das, dass wir neue Typologien brauchen, die mit dem Wandel der Funktionen, des Energieflusses, der Nutzung umgehen können oder ihn ermöglichen. Schon jetzt lässt sich die These aufstellen, dass die Haustypologie der Zukunft sich auf einen „Wandel in Permanenz“ einstellen muss, um als System Stabilität zu erreichen. Sieht man sich die Projekte in dieser Ausgabe an, fällt auf, dass sie mit unterschiedlichem Fokus, mal mehr räumlich, mal mehr programmatisch, mal mehr energetisch, an genau einer solchen Typologie des Hausbaus arbeiten, die den stetigen Wandel internalisiert hat. Was dazu auffällt, ist dass viele Ansätze nicht neu sind, sondern eine entscheidende Weiterentwicklung architekturhistorischer Positionen darstellen, sei es in Fragen der Vorfertigung, der Raumkonfiguration oder des Programms. Es geht dabei um die Vorwegnahme einer neuen Typologie, einer smart typology, die das Haus am Kreuzungspunkt verschiedener Dezentralisierungsprozesse sieht.

Das Haus der Zukunft: ein Ergebnis von Dezentralisierungsprozessen
Diese Dezentralisierungsprozesse gehen zum einen von der Stadt als Körperschaft aus. Für sie übernimmt die Architektur Aufgaben, die durch das Outsourcing kommunaler Leistungen und den technischen Fortschritt entstanden sind. Sie betreffen:
– Die Dezentralisierung sozialer Infrastrukturen wie Kindererziehung, Altenbetreuung u.a. Zwar gelingt es bisher erst alternativen Wohnformen wie Baugruppen durch Schaffung von Kommunikationsräumen (halb-öffentliche Treppenhäuser, gemeinschaftlich benutzbare Terrassen, wechselseitig nutzbare Gästewohnungen u.a.) die gesellschaftlich gewollte Tendenz zum schlanken Staat aufzugreifen und durch Entwicklung eines neuen Kommunitarismus zu konterkarieren. Obwohl beide Tendenzen noch höchst umstritten sind, zeichnet sich mit ihnen ein neues Verhältnis von selbst- und gemeinschaftlich genutzten Räumen ab mit Auswirkungen auf die räumliche Organisation des Hauses.

– Die Dezentralisierung materieller Infrastrukturen, wie Be- und Entwässerung (Wasserkreisläufe, Abwärmenutzung), Stromerzeugung, Heizung (Geothermie, Kraft-Wärme-Kopplung), Be- und Entlüftung etc. Durch den technischen Fortschritt sind diese bisher kommunalen Leistungen dezentralisierbar und damit auch durch die Haustechnik ausführbar geworden. Das Haus wird dadurch selbst zum Bioreaktor, Kraftwerk und zum Akteur in rückgekoppelten Netzwerken. Das hat Auswirkungen auf die technische Ausstattung und vermittelt auch auf die räumliche Organisation.

Die Dezentralisierungsprozesse betreffen aber nicht nur das Verhältnis von Stadt und Architektur, sondern auch die Architektur selbst. Hierbei handelt es sich um die Dezentralisierung der hausinternen Energieerzeugung und damit um die Hausorganisation selbst. Sie betrifft das Haus im Kern. Bisher wurde das Haus von diesem Kern, der Feuerstelle, her gedacht. In diesem Sinne waren alle Haustypologien ein Reflex auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe. Mit dem Klimawandel, respektive den Konzepten, die ihm gerecht zu werden versuchen, wie demjenigen von selbst geernteter Anergie und zugeführter Exergie, beginnt nun auch diese Basis aller Hausorganisation zu versiegen. An die Stelle fossiler Brennstoffe treten erneuerbare, an die Stelle einer Feuerstelle tritt die Vervielfältigung der „Feuerstelle“ in der Form, dass die (Gebäude-)Hülle zum Aufnahme- und Trägermedium von Energie wird. Anders ausgedrückt: die Hülle ersetzt den Kern.

Mit dieser These ist aber keinesfalls die Wiederbelebung einer architekturtheoretischen Diskussion des 19. Jahrhunderts gemeint, die ebenfalls um diese Begriffe stritt. Bezweckt wurde damals durch Klärung dessen, was das Wesen der Architektur ausmache, die Grenzen der Disziplin soweit abzustecken, dass sie erlauben, die technischen Fortschritte in der Materialforschung (Eisen, Stahl, Glas) und Baukonstruktion (zugbeanspruchte Konstruktionen) aus dem Korpus der Disziplin auszugrenzen. Heute umschreibt Hülle wiederum Materialfortschritte (Smart Materials, Smart Technologies) und im konkreten Fall der diskutierten Projekte die zentrale Bedeutung der dezentralen Infrastruktursysteme des Hauses: der Strom- und Wasserkreisläufe, der Systeme der Abwärmenutzung etc. Bei Projekten wie dem Cellophane House von KieranTimberlake, dem Soft House Projekt und Soft House IBA Hamburg von Kennedy & Violich Architecture und dem Smart Treefrog von SPLITTERWERK sind Infrastruktur und Hülle so miteinander verwoben, dass es schwer fällt, ihre energie-technische Funktion von ihrer architektur-räumlichen noch zu trennen, sprich die Netze von der Architektur. Sie bedingen sich gegenseitig, aber sie agieren in unterschiedlichen Dimensionen: im Netz oder Raum.

Die Fassade als Energie-Generator und Licht-Raum-Modulator

Die Fassade gewinnt durch diese Entwicklungen entschieden an Bedeutung. Sie wird zum Energie-Generator und Licht-Raum-Modulator im Sinne von László Moholy-Nagy. Als Energie-Generator ist sie das zentrale Element des Energieaustauschs zwischen Innen und Außen, das den Durchfluss von Energie- und Stoffströmen regelt. Als Licht-Raum-Modulator ist sie das zentrale Element der Raumbildung, das durch Lichtsteuerung die Räume „programmiert“, je nachdem welche Licht- bzw. Energie- und Stoffflüsse sie zulässt (die Frage des Durchflusses ist sowohl eine räumliche als auch energetische).

Gleichgültig, wie hochaufgerüstet man sich die Fassade vorstellt, umgibt sie einen Innenraum, der, je nachdem welches Quantum an Licht (oder Energie) der Licht-Raum-Generator der Fassade durchlässt, poly-funktional und in der Nutzung hybrid ist. Diesen Innenraum bezeichnen Sheila Kennedy und Veit Kugel als rekonfigurierbar, um ihn vom freien Grundriss der klassischen Moderne abzusetzen, der als neutraler Raum unterschiedliche Nutzungen in derselben Raumkonstellation zuließ, während der rekonfigurierbare Raum durch seine Wandelbarkeit verschiedene Nutzungen zu spezifischen Zeiten und in spezifischen Raumkonstellation ermöglicht. Wobei der Akzent auf der Verflüssigung des Raums und der Beweglichkeit der Raumkonstellationen liegt.

Das Haus der Zukunft: ein Hybrid aus Stadt und Architektur, Netz und Raum

Wir sind heute mit einer Typologie konfrontiert, die netzartig und räumlich ist, gattungsunspezifisch und allseits anwendbar. Da die Stadt durch Dezentralisierung der Infrastruktursysteme in das Haus eingreift, muss sich das Haus so organisieren, dass es diese städtischen Leistungen übernehmen kann. Davon betroffen ist vornehmlich die Haustechnik, während die räumlichen Auswirkungen noch unklar sind. Tendenzen zur Fassade als Energie-Generator weisen aber darauf hin, dass diese Auswirkungen gravierender sein können als man es sich heute vorstellen kann. Sie gehen in Richtung einer smart typology, die es erlaubt, nicht nur Energieerzeugung, sondern auch ihre Speicherung zu dezentralisieren. Damit bieten sich grundsätzliche Alternativen zur bisherigen Energieversorgung.

Die neuen Allianzen zwischen Energieversorgern und Automobilindustrie können hier Signalwirkung auch für die Bauindustrie haben.

Räumlich zeichnet sich diese Typologie durch die wechselseitige Beziehung zwischen Raum und Hüll(fläch)e aus, wobei der Raum flüssig, rekonfigurierbar, im besten Sinne nur noch eine Projektionsfläche von Programmen jeder Art ist, während die Hülle einschließlich der hauseigenen Infrastruktursysteme als Hybrid aus Energie-Generator und Licht-Raum-Modulator fungiert. Dies thematisieren die formal extrem unterschiedlichen Arbeiten von SPLITTERWERK und Philippe Rahm. Diese wechselseitige Abhängigkeit von Raum und Hülle erlaubt darüber hinaus, dass diese Typologie nicht spezifisch für eine bestimmte Gattung ist. Die Frage, ob es sich nun um einen Wohn- oder Gewerbebau handelt, erübrigt sich bei diesem Hybrid aus Stadt und Architektur, Energie-Generator und Licht-Raum-Modulator. Damit ergeben sich neue Akzente und neue Aufgaben. Ein besonderer Fingerzeig ist das Projekt Convective Air von Philippe Rahm. Es setzt an ebendiesem Punkt an, wenn auch auf Low-Tech-Ebene, mit dem Versuch, das Haus nach verschiedenen Klimazonen zu organisieren und den einzelnen Räumen bestimmte Klimata zuzuordnen und ihnen so eine neue Art von atmosphärischen Charakteren zu geben – sprich: ein klima-atmosphärisches Interieur zu schaffen.


Diese Ausgabe dokumentiert die Modellvorhaben der IBA Hamburg im Rahmen der Bauausstellung in der Bauausstellung. Wir danken Uli Hellweg, Christian Roedel und David Oberthür für die vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo, Uli Hellweg

Inhalt

02 Hejduks Kreuzberger Wohnturm vorerst gerettet
Ngo, Anh-Linh

02 Das Wissen der Architektur
Meister, Anna-Maria

03 In Memoriam Colin Ward (1924-2010)
Müller, Andreas

03 METROPOLE:
Berkes, Christian

04 Wendepunkt(e) im Bauen
Escher, Cornelia

06 Haus K von Peter Grundmann
Grundmann, Peter

10 Editorial: Haus der Zukunft *
Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh / Hellweg, Uli

12 Unverbrauchte Luft
Colomina, Beatriz

20 Smart Price Houses
Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh / Berkes, Christian / Gruber, Ernst / Lenart, Christina / Opel, Nicole

26 Home Delivery
Bergdoll, Barry

34 Automatisierung und Robotik im Bauen
Bock, Thomas / Lauer, Willi Viktor / Linner, Thomas / Eibisch, Nora

40 Location Orientation Manipulator
Lauer, Willi Viktor / Bock, Thomas

42 Die digitale Materialität der Architektur
Gramazio, Fabio / Kohler, Matthias

44 Structural Oscillation House
Gramazio & Kohler

50 Sunken House, London, 2007
Adjaye Associates

52 Asem-Pa Prototype House, New Orleans (USA), 2007
Adjaye Associates

54 CSH - Case Study Hamburg
Adjaye Associates

56 Woodcube® – Smart Price in Holz
IfuH - Institut für urbanen Holzbau

58 Urbaner Holzbau
Kaden Klingbeil Architekten

59 Case Study #1 Hamburg
Fusi & Ammann Architekten

60 Gegenkulturen des Wohnens
Fitz, Angelika

66 Wohnwerkstatt Wilhelmsburg
x architekten

68 Siedeln im Grundbau
BeL

72 Smart Material Houses
Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh / Berkes, Christian / Gruber, Ernst / Lenart, Christina / Opel, Nicole

78 Neue Materialien, neue Praxismodelle
Kennedy, Sheila / Kugel, Veit

80 Soft House IBA Hamburg
Kennedy & Violich Architecture

86 Tragende Wärmedämmung
Barkow Leibinger Architekten

92 Sommer-Winter-Haus
Behnisch Architekten

94 The Smart Treefrog
SPLITTERWERK

98 Das Re-Konfigurierbare Tragwerk des Smart Treefrog
Ruppert, Simon / Bollinger, Klaus / Grohmann, Manfred

100 CO2-neutrales Plus-Energie-Haus
Sobek, Werner

102 Präzise in der Architektur
Rahm, Philippe

106 Smart Air – Convective Building
Philippe Rahm Architectes

112 Hybrid Houses
Uhlig, Günther

122 Hausanbau
Medina Warmburg, Joaquín

128 4-Richtungsmodul
Brandlhuber, Arno / NiehüserS

134 Hybride Erschließung
Bieling und Partner Architekten

138 Nucleous Walls
querkraft architekten

142 Landschaftspodest - igs Zentrum
NÄGELIARCHITEKTEN

144 Water Houses
Escher, Cornelia

149 Quartier H2O – Leben auf dem Wasser
Schenk Waiblinger Architekten / Hochtief Construction AG

149 Wassertürme und Reetfassaden
Architektur Martin Hecht / imetas property services GmbH

154 „Smart & Local“
AC Plan

154 Green House
eins:eins architekten

154 Beyond Darwin’s Dip
FARO Architekten

154 Aeropure House - Das gesunde Haus
GRAFT

154 Solar Layer House
Peter Olbert Architekten

154 Smart ist grün
zillerplus Architekten und Stadtplaner

154 Loft & Home
03 Architekten

154 modular-mobile-system
m2r architecture

155 Erläuterungen zu den Verfahren
ARCH

156 Baufokus: Materialkunde
Wurm, Jan / Guariento, Nicolò

Smart Price Houses

(SUBTITLE) Strategien für kostengünstiges Bauen im innerstädtischen Kontext

Unter „Smart Price“ werden Strategien für ein kostengünstiges Bauen verstanden. Sie setzen die Vorteile von Produktionstechniken wie Fertigbau, Systembau, Vorfertigung, Automatisation und Mass Customization oder von alternativen Bau- und Finanzierungsstrategien wie Selbstbau und Baugruppen intelligent ein, um eine preisgünstige innerstädtische Stadthaustypologie zu entwickeln, die es auch mittleren und unteren Einkommensschichten ermöglicht, sich innerstädtischen Wohnraum als Eigentum oder zur Miete zu leisten. Der folgende Text umreißt thesenhaft die Ziele eines „Smart Price“ und entwirft in diesem Zusammenhang ein neues Raumkonzept.

Was ist ein „Smart Price“?

Die Strategie des Smart Price zielt darauf ab, bei aller finanziellen Ersparnis eine ästhetisch anspruchsvolle und zeitgemäße Architektur zu schaffen. Unter zeitgemäß wird dabei nicht nur die architektonische Ausdrucksweise der Bauten verstanden, sondern auch ihre Reaktion auf gesellschaftlich relevante Fragestellungen der Ökologie, Nachhaltigkeit, Energie- und Ressourcenschonung sowie Veränderung sozialer Muster des Zusammenlebens.
Die IBA Hamburg greift mit ihrem Wettbewerb „Smart Price House“ diese Thematik auf und fragt nach den planerischen und architektonischen, produktionstechnischen und baukonstruktiven sowie ökonomischen und sozialen Strategien für kostengünstiges Bauen in der Stadt.

Case Study Houses

Im Rahmen eines internationalen Fachworkshop, den die IBA Hamburg in Kooperation mit ARCH im Sommer 2009 durchführte, haben führende Experten aus Architekur, Städtebau, Forschung, Bauwirtschaft und Bauindustrie die Möglichkeiten kostengünstigen Bauens erörtert und zukunftsfähige Perspektiven aufgezeigt. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurden für die anschließenden Grundstücksausschreibungen mit eingebetteten Wettbewerbsverfahren zur Realisierung des Modellvorhabens zwölf interdisziplinäre Teams aus einer großen Anzahl von Bewerbungen ausgewählt, die sich zum Teil auf sehr unterschiedliche Weise der Thematik des kostengünstigen Bauens annähern. Nach einer Entwurfsphase hat das Auswahlgremium im März 2010 sechs der abgegebenen Arbeiten für innovativ und realisierungswürdig befunden. Den ersten Rang belegten die Arbeiten von Adjaye Associates (London), Fusi & Ammann Architekten (Hamburg) sowie des Berliner Instituts für urbanen Holzbau (IfuH). Adjaye Associates und IfuH machen sich die „Modellierbarkeit“ und Flexibilität einer Massivholzbauweise zu Nutze und bedienen mit individuell zusammenschaltbaren Modulen und Grundrissoptionen eine breite Nutzerschicht. Fusi & Ammann entwerfen für den Fertighaushersteller Schwörer Haus KG ein Stadthaus mit Loftwohnungen, das ebenfalls auf einem modularen System – hier aus industriell vorgefertigten Elementen – basiert. Den experimentellen Ansatz des Kölner Büros BeL Sozietät für Architektur und des Linzer Büros x architekten würdigte die Jury mit einem Sonderrang. Beide Projekte basieren auf partizipativen Ansätzen und dem Selbstbaugedanken und ermöglichen zukünftigen Nutzern, das Gebäude sukzessive zu bebauen und nach ihren Bedürfnissen zu modifizieren. Beide Projekte konkurrieren um die mögliche Realisierung auf einem der Baufelder. Nach einer Überarbeitungsphase soll eines der beiden Projekte ebenfalls zur Realisierung empfohlen werden. Als Nachrücker wurde der Entwurf des Berliner Büros Kaden & Klingbeil ausgewählt, der einen modularisierten Holzskelettbau konzipiert, der Kostenersparnis durch einen hohen Anteil an Eigenleistung ermöglicht.

Strategien für kostengünstiges Bauen

Bei der Frage nach den Bedingungen und Perspektiven des Wohnens und Lebens, die Aspekte der Nachhaltigkeit und der Kosteneinsparung berücksichtigen, lassen sich zwei oftmals gegensätzliche Tendenzen ablesen:

a) Suffizienz:
Lebensstile werden grundsätzlich überdacht und verändert bzw. neue Verhaltensweisen erprobt und praktiziert. Dies kann einhergehen mit der Forderung, überkommene Standards zugunsten nachhaltiger Handlungsmuster aufzugeben.

Die Ansprüche an raumklimatische Bedingungen in Mitteleuropa sind in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Die meisten Nutzer fordern eine über das ganze Jahr gleichbleibende Temperatur von 22 bis 27 Grad Celsius in allen Räumen, was in Anbetracht der ebenfalls gestiegenen Flächenansprüche die Energiekosten entscheidend in die Höhe treibt. Im Vergleich dazu war es früher üblich, nur einen Aufenthaltsraum auf einer bestimmten Temperatur zu halten – in den Mittelmeerländern ist es noch heute so. Daher muss beim Thema kostengünstiges Bauen auch die Frage diskutiert werden, inwieweit unsere heutigen Komfort-Ansprüche überzogen sind. Die Bereitschaft der Nutzer, auf den einmal gewonnenen Komfort zu verzichten, ist jedoch gering. Interessanterweise beschäftigt sich Philippe Rahm im Rahmen des Modellvorhabens „Smart Material Houses“ mit genau diesem Thema und leitet daraus ein neues Architekturkonzept ab (siehe dazu den Beitrag zu den Smart Material Houses).

b) Effizienz:
Bei gesteigerter Energie-, Material- und Kosteneffizienz soll der gewohnte Lebensstandard beibehalten oder sogar erhöht werden können. Dies fordert eine intensive Auseinandersetzung mit dem aktuellen Stand der Technik.

Ein wiederkehrendes Beispiel für Energie-, Material- und Kosteneffizienz stellt die Anwendung von Holzmassivbau dar. In allen vier Modellvorhaben der IBA war dies eine bevorzugte Bauart. Der Einsatz von Holz erzielt eine Effizienzsteigerung, da der Holzbau im direkten Vergleich zum Massivbau nicht generell teurer ist, gleichzeitig jedoch eine bessere CO2-Bilanz besitzt. Die CO2 bindende Eigenschaft von Holz wirkt sich positiv auf die Stoffzyklusbetrachtung eines Gebäudes aus.

Der Kostenaspekt darf daher nicht auf die reinen Erstellungskosten reduziert werden, sondern muss den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes berücksichtigen. In dem Sinne wird die Auseinandersetzung mit Rohstoffgewinnung, Produktion, Betrieb, Abbau und Recycling Teil des Entwurfskonzeptes und der Kostenbilanz. Die Zukunftsaufgabe wird darin bestehen, den eventuell dadurch entstehenden Mehraufwand soweit zu reduzieren bzw. gering zu halten, dass nachhaltiges Bauen kein Luxusgut ist und sich verbreiten kann.

Im Folgenden werden drei unterschiedliche, jedoch auch miteinander kombinierbare Strategien kostengünstigen Bauens vorgestellt. Sie geben einen exemplarischen Überblick über die derzeit virulenten Fragestellungen im Wohnhausbau und zeichnen darüber hinaus Entwicklungslinien einer intelligenten Architektur nach, die auf die gesellschaftlichen Anforderungen reagiert und kostenbewusst ist.

I. Soziale Strategien

Baugruppen/Baugemeinschaften
Partizipative Planungsstrategien, die informelles und individuelles Handeln ermöglichen, gewinnen an Bedeutung. Eine Form sind gemeinschaftliche Wohnprojekte, die mittleren und unteren Einkommensschichten Wohneigentum in der Stadt ermöglichen. Das kommunitäre Wohnen zeichnet sich durch Prinzipien der Selbst- und Mitbestimmung in Bezug auf den eigenen Wohnraum und das Wohnumfeld aus, deren Organisationsstruktur die Gruppe ist. Baugruppen und Baugemeinschaften können im Prozess der Eigentumsbildung dadurch Kosten einsparen, dass sie durch Selbstorganisation nicht die übliche Gewinne an Investoren und Projektentwickler abtreten müssen.

Die Kommunen können diesen Prozess unterstützen, indem sie eigene Grundstücke zum Verkehrswert und nicht, wie sonst üblich, zum Höchstpreis an die Bewerber veräußern. Neben der politischen Unterstützung bestimmt ein hohes zivilgesellschaftliches Engagement wesentlich den Erfolg solcher Strategien.

Derartige Wohnprojekte zeichnen sich nicht nur durch ihre sozialen Aspekte aus, sondern fördern meist auch ein ökologisches Planen, Bauen und Leben. Zudem begünstigen partizipative Strategien sowie ein umfassendes „Community Design“ auch die Realisierung wohnungsübergreifender Stadtbausteine. So tragen viele Baugruppen dazu bei, Kommunikationsräume zu schaffen, Dienstleistungen wie Kinder- und Altenpflege anzubieten und Tauschbörsen einzurichten. Dieses kommunitäre Handeln weist über die Selbstversorgungsmotive hinaus und greift in die städtische Infrastruktur ein (vgl. Günther Uhlig in ARCH 103 und ARCH 176/177). Dieser Aspekt sollte als wichtiges Merkmal einer neuen Stadthaustypologie verstanden werden, die im Gegensatz zu den investorenorientierten, solitären Townhouses ein tatsächliches städtisches Potenzial entfalten.

Das 2008 fertiggestellte Wohnhaus e3 von Kaden Klingbeil Architekten in Berlin gilt als Pilotprojekt des innerstädtischen Holzbaus (Abb. e3). Es wurde als Baugruppenprojekt entwickelt. Dadurch konnte ein hohes Maß an individueller Mitbestimmung in Fragen der Gestaltung, im Bezug auf ökologische Aspekte und die finanzielle Modellierung des Vorhabens gewährleistet werden. Durch die gemeinsame Projektentwicklung konnten Aspekte des kollektiven Wohnens revitalisiert werden. Die halb-öffentlichen Terrassen und der außenliegende Treppenhausbereich sind Beispiele für eine Integration urbaner Funktionen in und mit dem Projekt und geben dem Gebäude eine städtische Bedeutung. In Abstimmung mit Feuerwehr und Bauprüfern konnten sieben statt der baurechtlich vorgesehenen fünf Geschosse im Holzskelettbau durchgesetzt werden. Die hölzernen Bauteile sind in eine nicht brennbare „Kapselung“ aus Gips eingekleidet, um die erforderliche Brandschutzklasse F90 zu erreichen.

Das Ziel des Baugruppenprojektes ten in one der Architekten Roedig Schop in der Anklamer Straße in Berlin-Mitte war es, die individuellen Vorstellungen der zehn Bauherren in den Gestaltungsprozess einfließen zu lassen und darüber eine hohe Zufriedenheit und eine funktionierende Nachbarschaft zu erzeugen.

Partizipation wurde – nachdem bestimmte „Spielregeln“ und Termine für Entscheidungen festgelegt waren – ein wichtiges Element der Planung. Der Dachbereich wurde als offener Gemeinschaftsbereich mit einer Terrasse von über 100 qm gestaltet. Zusätzlich befindet sich hier eine Gästewohnung, die von allen Parteien mitgenutzt werden kann. Der Dachbereich nähert sich somit in seiner Funktion einem erweiterten Stadtraum an. Die individuellen Wohnformen erweisen sich als nachhaltig, weil offene und wandelbare Grundrisse die persönliche Aneignung begünstigen oder auch Zusammenlegungen von Wohnungen und damit die Anpassung an sich verändernde Bedingungen ermöglichen.

Selbstbau
Das begrenzte finanzielle Budget der Bauherren, hohe Grundstückspreise und die oftmals fehlende Flexibilität ausführender Firmen können individuelle Bauprojekte verhindern. „Selbstbau ist eine Möglichkeit“, so Peter Grundmann, „um sich diesen Zwängen zu entziehen“ und gleichzeitig den architektonischen Spielraum zu erweitern. „Es kann aber auch ein Weg sein, sich sozialen Ausgrenzungstendenzen und ästhetischen Homogenisierungen zu widersetzen.“ Dabei schränkt Grundmann ein, dass sich Selbstbau nicht auf alle Bauvorhaben oder Baugewerke anwenden lässt. Selbstbau sei vielmehr die Chance zu einem „Ausscheren aus den Gesetzen des Marktes“, um der Architektur Einzigartigkeit, Kontextualität und Performativität zurückzugeben (vgl. den Beitrag von Peter Grundmann in dieser Ausgabe).

Die Projekte Haus Weiler und Haus Neiling entsprechen diesen Vorstellungen. In einer individuellen Architektursprache realisierte Peter Grundmann hier großzügige, frei organisierte Grundrisse in einem angemessenen finanziellen Rahmen. Da der Grundstückspreis zu einem nicht unerheblichen Teil die Baukosten eines Projektes bestimmt, greift Grundmann in einem weiteren Projekt, Haus Neumann, auf eine ungewöhnliche Lage für dieses Stadthaus zurück – eine Baulücke zwischen zwei mehrgeschossigen Plattenbauten. Den Rohbau lässt der Architekt normalerweise von Fachfirmen ausführen, während er einen großen Teil des Ausbaus in Eigenleistung erbringt, wodurch sich besonders viel Geld einsparen lässt (Abb. Haus Neumann).

Thesen
- Gemeinschaftliche oder selbstbestimmte Bauprojekte bieten durch die Umgehung von Investoren, hohes Eigenengagement und soziale Integration der Planungsbeteiligten die Möglichkeit zu kostengünstigem und gleichzeitig nachhaltigem Bauen.

- Partizipative Strategien sowie ein umfassendes „Community Design“ tragen zur Realisierung wohnungsübergreifender Stadtbausteine bei. Dieses kommunitäre Handeln weist über die Selbstversorgungsmotive hinaus und greift in die städtische Infrastruktur ein. Baugruppen werden dadurch zu Akteuren im sozialen Netzwerk der Stadt.

II. Fertigungstechnische Strategien – Von der Vorfertigung zur Mass Customization

Barry Bergdoll, Kurator der Ausstellung Home Delivery am Museum of Modern Art (MoMA) in New York, sieht in der Mass Customization die Zukunft der industriellen Vorfertigung. In der Geschichte des Bauens gehen Veränderungen oder Neuerungen meist mit großen gesellschaftlichen Umwälzungen einher. So entstanden zum Beispiel die ersten fabrikmäßig gefertigten Gebäude und Bauelemente im frühen 19. Jahrhundert in Zusammenhang mit dem rapiden Technologieschub in Amerika, Frankreich und England.

Ähnliche Technologieschübe stellen heute für den Entwurf das parametrische Design und für die Bauausführung die CNC-Technologien dar. Sie tragen der Tendenz zur Individualisierung des Wohnens Rechnung und können dabei helfen, auf den gesellschaftlichen Wandel in der Familienstruktur, in den Geschlechterverhältnissen und im Verhältnis zwischen den Generationen zu reagieren.

„Die CNC-Techniken für die Architektur zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Möglichkeit bieten, den Entwurf innerhalb der Fabrikations- und Bauprozesse strategisch neu zu positionieren, so dass sich das, was Architekten tatsächlich produzieren – nämlich Zeichnungen –, von lockeren Gebäudedarstellungen zu ungemein präzisen Sets von Instruktionen und Daten verschiebt, welche die Herstellungsprozesse als Teil der koordinierten und integrierten Deskription eines Bauwerks steuern.“ (vgl. den Beitrag von Barry Bergdoll in dieser Ausgabe)

Diese technische Entwicklung führt letztlich zur Überwindung der seit der Renaissance herrschenden Differenz zwischen Entwerfen und Bauen (vgl. Mario Carpo in ARCH 186/87). Dadurch eröffnet der parametrische Entwurf jenseits bloßer Formspielereien Optimierungspotenziale bezüglich der Energie-, Material- und Kosteneffizienz und bezüglich neuartiger Nutzungsperspektiven.

Die Architekten Gramazio & Kohler verbinden in ihrer Lehre und Praxis digitale Entwurfs- und Fertigungstechnologien mit einem neuen Verständnis von Materialität, das sie „digitale Materialität“ nennen. Damit ist gemeint, dass das Material durch die enge Verknüpfung von CAD und CNC digital „informiert“ werden kann. Das Bauwerk ist dadurch bereits vor Produktionsbeginn mittels eines digitalen, parametrischen Modells definiert, sodass die Daten ohne weiteren Übersetzungsaufwand von der Maschine oder dem Roboter verarbeitet werden können.

Ein Beispiel für diesen Ansatz ist die geschwungene Ziegelwand Pike Loop (siehe dazu den Beitrag von Gramazio & Kohler in dieser Ausgabe). Sie wurde von einem Industrieroboter produziert, wie er beispielsweise auch in der Autoindustrie zum Einsatz kommt. Durch Automatisierungsprozesse können heute hochkomplexe Bauelemente, die früher nur durch kostenintensive handwerkliche Arbeit erreicht werden konnten, hergestellt werden. Paradoxerweise ermöglicht die Digitalisierung damit wieder handwerkliche und materielle Qualitäten (wenngleich verrichtet von Maschinen), die zuvor nur durch kostenintensive Handarbeit zu erreichen waren. Es eröffnet sich so die Möglichkeit zur Individualisierung des Gebäudes, wobei optimierte Produktionsabläufe dabei helfen, die Kosten zu senken. Insgesamt eröffnet sich die Möglichkeit, Konstruktion und Entwurf wieder enger zu verknüpfen, wie dies auch von Barry Bergdoll gefordert wird.

Thesen
- Durch die CNC-Technologie verändert sich die Bedeutung der architektonischen Zeichnung von der bloßen Repräsentation eines Gebäudes zu einem präzisen Datenset an Instruktionen und Informationen, die den Produktionsprozess gestalten.

- Diese technische Entwicklung führt zur Überwindung der seit der Renaissance herrschenden Differenz zwischen Entwerfen und Bauen. Dadurch eröffnet der parametrische Entwurf jenseits bloßer Formspielereien Optimierungspotenziale bezüglich der Energie-, Material- und Kosteneffizienz sowie der der Produktionsabläufe und Nutzungsperspektiven.

III. Räumlich-organisatorische Strategien

Auf der räumlichen und organisatorischen Ebene lassen sich zwei Tendenzen hervorheben, die beide um Kosteneffizienz bemüht sind: ein Maximum an Raumangebot oder ein Minimum an Raumverbrauch.

Maximales Raumangebot bei minimaler technischer Ausstattung
Bei diesem Ansatz führt die Verwendung von preiswerten standardmäßigen Materialien und Systemen zur Kostenersparnis (Low-Tech-Ansatz). Der Verlust an Wohnkomfort wird durch intelligente architektonische Lösungen und ein Mehr an Raum und Nutzungsoptionen kompensiert.

Lacaton & Vassal Architectes verwenden für das Haus Latapie preiswerte Baumaterialien (Abb. Haus Latapie). Eine zweite Hülle aus transparentem Polykarbonat, ein gängiges Material für serielle Gewächshäuser, umhüllt das Haus und erweitert es um das doppelte Volumen. Wenige feste Wände und viele zu öffnende Elemente in der Außenhaut bieten den Bewohnern Freiheiten bei der Aneignung und Benutzung des Wohnhauses. Durch das großzügige Raumangebot ist es auch möglich, verschiedene Aktivitäten saisonal zu verlagern.

Lacaton & Vassal plädieren für die Suffizienzstrategie (siehe Punkt 1). Sie stellen dabei die Maxime in Frage, wonach sich die technische Ausstattung der Räume an den kältesten bzw. wärmsten Tagen im Jahr ausrichten solle. Ihr flexibler und großzügiger Raumplan ermöglicht es stattdessen, sich in kälteren Zeiten in bestimmte Bereiche des Hauses zurückzuziehen und an warmen Tagen das Haus bis in den Garten hinaus zu erweitern. Auch Behnisch Architekten wählen einen vergleichbaren Ansatz für ihren Wettbewebsbeitrag und unterscheiden zwischen einem Sommer- und einem Winterhaus (siehe Behnisch in dieser Ausgabe). Nach einem ähnlichen Prinzip hat man im Mittelalter im Hinterhof eines Wohnhauses häufig Kemenaten aus Stein errichtet. Da Bauen mit Stein sehr teuer war, konzentrierte sich das Leben in den Wintermonaten in diesem Raum, der als einziger beheizt werden konnte und die Wärme speicherte. Auch das Projekt von Lacaton & Vassal Architectes in Mulhouse weist ähnliche klimatische Überlegungen auf. Der Sockel besteht aus Beton, während der zweite Stock ein Gewächshaus ist.

Minimaler Raumverbrauch bei maximaler technischer Ausstattung
Die Gegenstrategie dazu liegt in einem Minimum an Raumverbrauch, was durch eine funktionale Determination bei Verwendung hochwertiger aber in der Menge reduzierter Materialien/Technologien (High-Tech-Ansatz) erreicht wird. Der minimale Raum wird durch eine äußerst effiziente Raumorganisation kompensiert. Urbild dieses Ansatzes ist die Mönchszelle, wie sie Le Corbusier ein Leben lang, bis zur petite cabane, beschäftigte.

Das Konzept des Minimums an Raumverbrauch vertritt Richard Horden mit seinem 7 qm großen Micro Compact Home (Abb. Micro Compact Home). Die Zielgruppe für den „high performance“ Wohnwürfel sind Singles mit mobilen Arbeits- und Lebensstilen. Horden spricht sich gegen eine Anhäufung von Eigentum (Möbel und ähnliches) im digitalen Zeitalter aus und nennt als neuen Luxus Mobilität. Um auf so engem Raum leben zu können, ist die gesamte Einrichtung bis ins Detail einschließlich aller Bewegungsabläufe vorgegeben. Die eingesetzten Materialien und Technologien sind hochwertig, um den Materialeinsatz minimieren zu können.

Zwischen den beiden Extremen der Maxima- und Minima-Strategie lässt sich das Projekt System 3 von Oskar Leo Kaufmann und Albert Rüf einordnen (Abb. System 3). Diese größtenteils vorfabrizierte Wohneinheit wurde im Zuge der Home Delivery Ausstellung des MoMA in New York vorgestellt. Kaufmann und Rüf unterscheiden zwischen dem „serving space“ und dem „naked space“. Ersterer ist eine komplett vorfabrizierte Einheit, die den „naked space“ mit den Funktionsräumen Küche, Bad, Waschraum, Erschließung und mit der Infrastruktur wie Strom, Internet; Heizung, Kühlung, Lüftung versorgt. Während die Versorgungseinheit aus rostfreiem Stahl vorgefertigt wird, setzt sich der „naked space“ aus CNC-gefrästen, flachen Holzplatten zusammen. Die Möblierung ist nicht Teil des Entwurfs und kann vom Benutzer, anders als bei Richard Hordens Micro Compact Home, individuell ausgesucht werden. System 3 setzt beim „serving space“ auf serielle Vorfabrikation und beim „naked space“ auf Mass Customization mit größeren Wahlfreiheiten für den Benutzer.

Thesen
- Die Verwendung von preiswerten standardisierten Materialien und Systemen führt zur Kostenersparnis (Low-Tech-Ansatz). Der Verlust an Wohnkomfort wird durch intelligente architektonische Lösungen und ein Maximum an Raum und Nutzungsoptionen kompensiert.

- Ein minimaler Raumverbrauch wird durch eine funktionale Determination bei gleichzeitiger Verwendung hochwertiger, aber in der Menge reduzierter Materialien/Technologien erreicht (High-Tech-Ansatz). Der minimale Raum wird durch effiziente Raumorganisation kompensiert.

Architektonische Auswirkungen auf Smart Price Houses

Kostengünstiges Bauen erfordert die geschickte Kombination der genannten sozialen, fertigungstechnischen und räumlichen Strategien. Jede Strategie schöpft andere Möglichkeiten der Kostenersparnis aus. Soziale Strategien bieten alternative Finanzierungsmethoden und die Möglichkeiten der baulichen Selbsthilfe. Gleichzeitig sorgt Partizipation für eine demokratisch legitimierte Planung und damit für eine nachhaltige Investition. Die Tendenz zur Individualisierung des Wohnbaus ist sowohl bei den sozialen als auch den fertigungstechnischen Strategien die wesentliche Grundlage.

Die neuen Produktionstechniken bringen mit der Mass Customization von Wohneinheiten ein neues Raumkonzept hervor, das sich zwischen den Extremen der Maxima- und Minima-Strategie verorten lässt. Die Maxima-Strategie integriert die Tendenz zur Individualisierung des Wohnens durch ein Mehr an Raum und an Wahloptionen. Demgegenüber begrenzt die Minima-Strategie durch funktionale Determination die Optionen und reduziert den Raum auf sein Minimum. Die technische Ausstattung spielt jeweils eine andere Rolle. Bei der Maxima-Strategie wird sie auf ein Minimum eingeengt, während sie bei der Minima-Strategie auf ein Maximum ausgeweitet wird.

Die Tendenz zur Individualisierung des Wohnens wird kompensiert durch die gegenläufige Tendenz zum Kommunitarismus. Freiräume wie Terrassen oder andere Nutzungseinheiten werden der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Es zeichnet sich damit ein neuer städtischer Haustypus ab.

Der Text basiert auf der Auswertung des internationalen Workshops „Smart Price Houses“, den die IBA Hamburg in Kooperation mit ARCH im Sommer 2009 in Hamburg durchgeführt hat. Führende Experten aus Architekur, Städtebau, Forschung, Bauwirtschaft und Bauindustrie versammelten sich, um die Möglichkeiten kostengünstigen Bauens zu erörtern und zukunftsfähige Perspektiven aufzuzeigen. Wir danken allen, die dazu beigetragen haben. Das vollständige Programm und Videomitschnitte sind auf www.archplus.net abrufbar.

ARCH+, So., 2010.05.30

30. Mai 2010 ARCH+ Verlag GmbH

Gegenkulturen des Wohnens

„Im Augenblick gibt es nur wenige Subkulturen, die freiwillig einen Architekten aufsuchen“ , hält Denise Scott Brown 1971 in „Learning from Pop“ fest. Sie verbindet mit dieser Beobachtung ihre Kritik, dass Architekten und Stadtplaner den Wandel der Gesellschaft in den 1960er Jahren versäumt hätten und den Einfluss der Populärkultur auf die gebaute Realität ausblenden oder sogar bewusst zurückdrängen. So wurden laut Scott Brown die Wünsche der Nutzer an den Wohnbau längst nicht mehr in den Ateliers der Architekten antizipiert, sondern in den Werbeagenturen der Madison Avenue produziert. Massenmediale Bilder wechselten aus dem Hintergrund von Fernsehserien und Werbespots in den Vordergrund des Baugeschehens und kommerzielle Bauunternehmer verstanden diesen Imagetransfer besser als die von Scott Brown geschmähten „Künstlerarchitekten“: „Kein vernünftiger Bauunternehmer würde verkünden: Ich baue für Menschen. Er baut für einen Markt, für eine Gruppe von Menschen, die durch ihr Einkommen und Alter, ihre Familienstruktur und ihren Lebensstil definiert ist. Vororte wie Levittown, Erlebnisparks, Stadthäuser im georgianischen Stil entstehen genau so, wie jemand die Bedürfnisse bestimmter Gruppen einschätzt, die ihren Markt bilden. Die Stadt kann als Ansammlung der gebauten Artefakte einer Gruppe von Subkulturen aufgefasst werden.“ Und diese Subkulturen glaubten nicht daran, dass Architekten ihre persönlichen Wohnvorstellungen beflügeln könnten, so Scott Browns Befund Anfang der 1970er Jahre.

Die Verwendung des Begriffs „Subkultur“ für den kleinbürgerlichen Wohntraum in den US-amerikanischen Vororten oder für die georgianischen Stadthäuser als gebaute Symbole der Vermögenden mutet aus heutiger Sicht befremdend an, versteht man unter Subkulturen heute vor allem im alltagssprachlichen Gebrauch ausgegrenzte und revoltierende Gruppen sowie kulturelle und ethnische Außenseiter. Ihren Ausgang nahm diese Bewertung in den frühen Untersuchungen der britischen Cultural Studies in den 1960er Jahren, die den Begriff auf klassenspezifische Jugendkulturen wie Mods oder Rocker anwandten. Es handelte sich hierbei um die Weiterentwicklung eines Begriffs, der in den 1940er Jahren erstmals in der US-amerikanischen Soziologie aufgetaucht war, als Bezeichnung für ethnische Gruppierungen, die sich vom Wertekanon der weißen Mittelschicht bewusst abgrenzten – in der Regel nicht mit revoltierenden oder emanzipatorischen Absichten, sondern bedacht auf die Bewahrung traditioneller Ordnungssysteme, nicht unähnlich jenen Gemeinschaften, die heute gerne als Parallelgesellschaften bezeichnet werden. Um das politische Moment in der Beschreibung von Akteursgruppen, die sich von der Herrschaftskultur abgrenzen, zu betonen, wurde der Begriff der Subkultur in den Cultural Studies mittlerweile vom Begriff der „Gegenkultur“ abgelöst. Denn durch das Prisma der Cultural Studies betrachtet stellt sich Kultur immer als ein Feld von Machtbeziehungen dar. Und Macht impliziert Widerstand in Form von Gegenkultur, so eine an Michel Foucault orientierte Annahme der Cultural Studies. In Anbetracht dieser Begriffsgeschichte wird es plausibel, dass Denise Scott Brown den amerikanischen Traum von Levittown und Co als Subkultur bezeichnet und damit den populären Mainstream provokativ als Gegenkultur des Wohnens markiert, nämlich als Gegenkultur zur Herrschaftskultur der Architekturbüros, auf deren Dienste die Subkulturen gerne verzichten.

Folgt man dieser Spur, stößt man noch heute auf eine doppelte Barriere für Architekten, die sich für Innovationen im Geschosswohnbau interessieren: Einerseits zeigt der Mainstream des Wohnbaugeschehens eine hohe Beratungsresistenz gegenüber neuen Ideen und anderseits halten Gegenkulturen Architekten für verzichtbar. Ob es im ersten Falle die Bauträger und Investoren sind oder die Nutzer, die auf konventionellen Typologien beharren, darüber lässt sich trefflich streiten. Erstaunlicher ist aber das zweite Phänomen, nämlich dass Gegenkulturen so selten die Zusammenarbeit mit Architekten suchen, um gemeinsam alternative Wohnkulturen zu entwickeln. Die Wohnvarianten der jeweiligen „Revolutionäre“ aus den letzten Jahrzehnten sind überschaubar und schaffen – bis auf wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel die bekannte Sargfabrik und Miss Sargfabrik in Wien – eher durch wechselnde Dekorationen als durch räumliche Revolutionen Distinktion. Soziale und kulturelle Gegenbewegungen nutzen gezielt massenkulturelle Artikulationsformen wie Musik, Mode oder Design und bringen beachtliches Erweiterungspotential in diese Disziplinen.

Und Architektur ist bekanntlich eine der primären und machtvollsten Formen der Massenkommunikation. Wo aber finden sich Architekturentwürfe als Bestandteil von Gegenkulturen? Wo finden sich Konstellationen für gegenkulturelle Wohnlabors?

„Das Establishment kann erst vom Pop lernen, wenn er in der Akademie hängt“ , so Denise Scott Brown Anfang der 1970er Jahre. Dort sind die Gegenkulturen mit den Cultural Studies längst angekommen. Die akademische Etablierung des Gegenkulturellen hat zwar die Berührungspunkte mit der architektonischen Entwurfspraxis nach wie vor nicht wirklich vertieft – was auf Gegenseitigkeit zu beruhen scheint, denn auch die Cultural Studies sehen neugebaute Architektur kaum als Feld für emanzipatorische Artikulationen – , aber in der Stadterneuerung sind gegenkulturelle Strategien gern gesehene Gäste. Und wie jeder gute Gast beanspruchen sie ihren Gastgeber nur temporär. Mit dem Dispositiv der temporären Intervention sind Praktiken einer differentiellen Raumproduktion , wie sie von Henri Lefebvre und den Situationisten in den 1950er und 1960er Jahren gefordert wurden, in den Mainstream der Stadterneuerung vorgedrungen. Die Verbindung von Stadterneuerung und flüchtigen, performativen Interventionen im Stadtraum ist anhaltend beliebt – sowohl bei Stadtverwaltungen als auch bei privaten Investoren: Leerstehende Immobilien werden temporär bespielt, Bewohner zur Mitgestaltung eingeladen, Festivals machen den Stadtraum zum Erlebnisraum. Kunst-im-öffentlichen-Raum wird zu einem wichtigen Medium im Konglomerat der Inszenierungen von Stadt. Das steht in Zusammenhang mit dem Befund, dass Städte zusehends wie Ausstellungen funktionieren. Ähnlich wie im Museum hat sich dabei der Ausstellungsbegriff von einem frontalen, objektzentrierten zu einem interaktiven, erlebnisorientierten gewandelt. Kurzweilige, öffentlichkeitswirksame Aktionen mischen sich mit langwierigen Planungsprozessen. Zurecht wird zunehmend kritisch diskutiert, ob das Gros dieser schon fast inflationären Projekte noch einen Konnex zu Lefebvres Vision einer neuen urbanen Praxis aufweist, in der künstlerisches Handeln als utopisches Relais zwischen dem „abstraktem Raum“ kapitalistischer Repräsentation und dem „sozialen Raum“ als alltäglichem Gebrauchswert eine differentielle räumliche Praxis produzieren soll. Denn selbst performative Strategien, die sich auf situationistische Traditionen berufen, können im Kontext der postfordistischen Stadt marketing- und dienstleistungsorientierte Verwertungszusammenhänge unterstützen. Prozesshaftigkeit und Temporalität kann zur Flexibilität werden, die neoliberalen Anforderungsprofilen und Verwertungslogiken geradezu entgegenkommt.

Für Internationale Bauausstellungen gehören temporäre Interventionen inzwischen zum Standardrepertoire. In der niederländischen Satellitenstadt Hoogvliet wurde eine geplante Bauausstellung auf Vorschlag von Felix Rottenberg und den Crimson Architectural Historians sogar durch eine Serie von temporären Projekten ersetzt. „Anstatt den für die IBA-Hoogvliet budgetierten 6 Millionen Euro im Jahr – gedacht auf 10 Jahre – und einem fixen Mitarbeiterstab von 30 bis 40 Leuten schlugen wir eine kleine operationale Einheit für 5 Jahre, mit einem Zehntel des Budgets vor“ , so Wouter Vanstiphout von den Crimson Architectural Historians. Er verweist damit auf ein Argument, das viele Kommunen und Investoren lockt: maximale mediale Aufmerksamkeit mit verhältnismäßig geringem finanziellen Einsatz. Die zwischen 2001 und 2007 unter dem Titel „WiMBY! (Welcome into My BackYard!)” durchgeführte „alternative Bauaustellung“ hatte allerdings Schwierigkeiten damit, nachhaltige Rückkoppelungen zwischen ihren temporären Interventionen und den gleichzeitig – unabhängig davon – munter vorangehenden großräumigen baulichen Umgestaltungen in Hoogvliet herzustellen. Es gab keine strukturelle Begleitung, um eine Kommunikation auf Augenhöhe mit den zwei Wohnbaugesellschaften, die das Baugeschehen dominierten, zu ermöglichen. „Was wir sicher nicht wollten, war ein Teil der Kosmetik für dieses unglaubliche Projekt zu werden“, so Vanstiphout. „Wir wollten ein eigenes Projekt sein, eine eigene Agenda vorgeben. ... Wir wollten autonom sein, aber gleichzeitig wollten wir echte Projekte realisieren. Wir haben uns dafür entschieden, keine Projekte zu machen, die nur aus kritischen Statements bestehen.“ Spätestens diese Erfahrungen zeigen, dass es an der Zeit wäre, eine engere Verschränkung von temporären und baulichen Maßnahmen zu versuchen, trotz Ängsten vor Verwertungslogiken auf der einen und Bedenken bezüglich der erzielbaren Nachhaltigkeit auf der anderen Seite. Die IBA Hamburg könnte in ihren Wohnbau-Wettbewerben einer solchen Transversalität die Tür einen Spalt breit geöffnet haben.

Temporäre Strategien und Wohnbau – wie geht das zusammen? Ist doch das Wohnen wie kaum ein anderes Feld der Architektur von großem Beharrungsvermögen gekennzeichnet, von Gewohnheiten stabilisiert, von vertrauten Bildern dominiert, in denen sich, wie bereits bei Denise Scott Brown beschrieben, persönliche und massenmediale Erfahrungen verschränken. Nicht nur die einzelnen Teil-, Sub- oder Gegenkulturen – heute auch Lebensstilgruppen genannt – halten an gewohnten Typologien fest, die in den Brandingprozessen des Themenwohnens oft nur in ihren bildhaften Oberflächen variiert werden. Selbst Architekturstudierende müssen auf weite Umwege geführt werden, um das gelernte Wohnen zu überschreiten, wie der Architekt Micheal Rieper aus seinen Lehrerfahrungen am Wohnbauinstitut der TU Wien zu berichten weiß. Unter anderem deshalb forderte er gemeinsam mit seinen Kollegen Peter Fattinger und Veronika Orso eine Gruppe von Studierenden auf, im Rahmen der Intervention „add On. 20 Höhenmeter“ Wohneinheiten für artists in residence in einer temporären Gerüststruktur auf einem öffentlichen Platz zu entwerfen und 1:1 zu bauen.

Für das Projekt „add On“ wurde im Sommer 2005 ein Cluster aus Gerüstbauteilen und containerähnlichen Bauelementen vertikal im Zentrum des kleinen Wallensteinplatzes im bis dahin nicht für sein Kulturangebot bekannten 20.Wiener Bezirk gestapelt. Der Platz war nur wenige Monate zuvor unter Zuhilfenahme von EU-Geldern für strukturschwache Stadtteile komplett neugestaltet worden. Das nun errichtete seltsam anarchische Ensemble war zugleich Bühne und Tribüne, Landschaft und „Hochhaus“ und mitunter auch Erregungsanlass für einzelne Anrainer, die gerade erst vom Baulärm befreit worden waren. Zahlreiche internationale Künstler wurden eingeladen, eigene Arbeiten vor Ort zu entwickeln. Populärkulturelle Motive wie „Werkskantine“, „Schrebergarten“, „Panoramacafe“ oder „Wohnwagen“ boten einerseits sechs Wochen lang reale Infrastruktur für die temporären Bewohner und für Besucher, andererseits führten sie zitathaft mögliche Gleichzeitigkeiten und Überschneidungen von Lebensbereichen wie Wohnen, Arbeit, Konsum, Unterhaltung und Erholung im öffentlichen Raum vor. Der Intervention gelang, was die aufwendige bauliche Umgestaltung nicht geschafft hatte, dem Platz öffentliches Leben einzuhauchen, sowohl auf lokaler Ebene, zum Beispiel als die attraktivere Variante eines „Jugendzentrums“ als auch überregional, indem die gut kuratierte Bespielung den Wallensteinplatz als künstlerischen Hotspot auf das gesamtstädtische Radar brachte.

Mit dem Folgeprojekt „Bellevue. Das Gelbe Haus“ , das 2009 im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Linz stattfand, bauten Fattinger, Orso und Rieper ihre Expertise für die Sichtbarmachung der Unfertigkeit des Fertigen aus. Schauplatz war ein neuer Landschaftspark auf der Einhausung der Linzer Stadtautobahn, von den lärmgeplagten Anrainern jahrelang ersehnt, nach der Eröffnung mäßig genutzt, schon gar nicht als wirkliches Bindeglied zwischen den bisher getrennten Stadtteilen. Wieder beschränkten sich Fattinger, Orso und Rieper nicht auf das Sichtbarmachen oder die kritische Verdoppelung des Vorhandenen, sondern setzten auf die Anstiftung zur Aneignung. Mit seinem Satteldachzitat, vertraut von den ruralen Typologien der umliegenden Wohnbauten aus der NS-Zeit, und einer blumengeschmückte Aussichtsterrasse auf die Autobahn war das „Gelbe Haus“ von Anfang an populär und andererseits auf symbolischer und sozialer Ebene fremd genug, um Bewegung in den Alltag der Quartiersbewohner zu bringen. Wieder entwickelte sich das Projekt zum beliebten Jugend- und Seniorentreff und gleichzeitig zum Hang-out für die sogenannte kreative Szene, zum unorthodoxen temporären Wohngefüge und zum künstlerischen Off-Space. „Das Gelbe Haus muss bleiben“, forderten viele Anrainer und Fans am Ende eines ereignisreichen Sommers und verkannten damit die Stärken des Ausnahmezustandes, den der Modus des Temporären herstellt: die Möglichkeit rechtliche Hürden zu überwinden und an einem neuralgischen Ort zu bauen, die Gelegenheit symbolisches Vokabular ironisch überzeichnet einzusetzen (während Ironie sich bei permanenten Bauten selten bewährt hat), die Bereitschaft bei Auftraggebern und Besuchern Ungewohntes auszuprobieren, die Einmaligkeit eines dicht gedrängten täglichen Programms und eine Intensität, wie sie nur eine zeitlich begrenzte Vorausgabung hervorbringen kann.

Nicht trotz sondern wegen ihrer Flüchtigkeit sind temporäre Interventionen wirksam. Während klassische Planungsmethoden den Raum des Sozialen, der Konventionen und natürlich auch des Ökonomischen zu einem hohen Grad fortschreiben, arbeiten temporäre Projekte an der Aufhebung von Selbstverständlichkeiten.

Gerade für das starre Feld des Wohnbaus könnte dieses Bewegungsmoment interessant sein. Wohnungen kostengünstig und energieeffizient zu planen und gestalten bleibt wichtig, aber soziale und kulturelle Neuerungen werden dabei kaum entstehen. Eine IBA bildet mit ihrer vorgezeichneten Gemengelage aus temporären Projekten und baulichen Maßnahmen einen geeigneten Rahmen, um auch im Wohnbau experimentelle – oder mit Lefebvre „differentielle“ – Handlungsfelder als Relais zwischen dem „abstraktem Raum“ der Planung und dem „sozialen Raum“ des Alltags einzuschieben. Ein mögliches temporäres Handlungsfeld haben Michael Rieper und x architekten mit der „Wohnwerkstatt“ für ihren Smart Price House-Vorschlag entwickelt. Die Kosten durch Vor- und Serienfertigung, alltägliche Materialen, verminderte Ausbaustandards und Selbstbauanteile zu reduzieren ist für sie nur die halbe Übung, bei der Low-Cost Erfahrungen aus der Bricolage-Ecke und die breite Erfahrung von x architekten im Wohn- und Gewerbebau zusammenwirken sollen. Aber eine IBA sollte mehr wollen und leisten, weshalb sie vorschlagen, die Kostenersparnis als Spielkapital für eine „Wohnwerkstatt“ einzusetzen, bei der während des Baus und der ersten Besiedlung des Geschosswohnbaus in Konventionen des Wohnens interveniert wird – mit künstlerischen, sozialen und wissenschaftlichen Methoden wie sie im Umfeld der IBA reichlich verfügbar sind, zeitlich beschränkt und organisiert über eine non-profit Trägerstruktur. Die Einladung Gegenkulturen des Wohnens zu entwickeln, richtet sich dabei an mindestens zwei Teilkulturen, die beide potentielle Zielgruppen von Smart Price Wohnen sind: sozial Schwache, die sich für solche Modelle interessieren müssen, und kreative Individualisten, die absichtlich und freiwillig einen Geschosswohnbau mit mehr Gestaltungsraum suchen – Überschneidungen nicht ausgeschlossen.

ARCH+, So., 2010.05.30

30. Mai 2010 Angelika Fitz

Sommer-Winter-Haus

Der Entwurf von Behnisch Architekten basiert auf der jahreszeitlichen Differenzierung zwischen einem kompakten, energiesparenden „Winterhaus“ und einem raumgreifenden, offenen „Sommerhaus“. Den Kern bildet das kompakte Winterhaus, das durch auskragende Geschossdecken an der Süd-, Ost- und Westfassade Raumpuffer bietet, die in den wärmeren Jahreszeiten die Wohnbereiche des Winterhauses erweitern und das Gebäude in ein großzügiges, gut belüftetes und lichtdurchflutetes Terrassenhaus verwandeln. Neben den interessanten räumlichen Qualitäten bietet das Konzept eines Winter-Sommer-Hauses vor allem zahlreiche Vorteile in der Optimierung des Energiehaushaltes. Dem kompakten Kern wird eine durchlässige Hülle vorgelagert, die sowohl auf räumlicher als auch auf klimatischer Ebene allmähliche Übergänge schafft.

Das kompakte Winterhaus erfüllt alle Anforderungen eines Passivhausstandards. Die außenliegende Fassade des Sommerhauses ist – bedingt durch eine jahreszeitabhängige Nutzung – in beweglichen einfachverglasten Elementen ausgeführt und kann bei Bedarf in eine offene Terrasse verwandelt werden. Die Auskragungen der Geschossdecken bieten hier eine natürliche Verschattung der Räume. Zusätzlich ist an der außenliegenden Fassade ein Low-E-beschichteter textiler Vorhang als aktiver Sonnenschutz vorgesehen.

Konstruktionselemente in Massivbauweise werden auf ein Minimum reduziert; lediglich Fundamente, Bodenplatte und Erschließungskern werden so ausgeführt. Alle anderen tragenden Elemente sind als vorgefertigte Holzbauelemente ausgebildet. Die offenen Wohnungsgrundrisse können intern über ein mobiles Trennwandsystem, das aus dem neu entwickelten Material „SwissCell“ besteht, zoniert werden.

Neben dem baulichen Fassaden- und Raumklimakonzept, das unter verschiedenen klimatischen Bedingungen für ein ausgeglichenes Raumklima und behagliche Temperaturen sorgt, kommen auch Technologien zum Einsatz, die eine umweltschonende, auf lokalen Ressourcen basierende Energienutzung ermöglichen: Geothermie mit Erdsonden zur Heizung, Kühlung und Lüftung, Solarthermie für Warmwasser, Regen- und Brauchwassernutzung sowie Photovoltaikmodule auf den Dachflächen sorgen für eine CO2-neutrale Energieversorgung der haustechnischen Anlagen.

ARCH+, So., 2010.05.30

30. Mai 2010 ARCH+ Verlag GmbH

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