Editorial

Die grünen Seiten Istanbuls

Die Türkei war schon immer ein besonderer Bezugspunkt für deutsche Architekten. So hat Bruno Taut immer wieder die Bedeutung des Orients für die Erneuerung der Moderne beschworen, die in seinen Augen einem trockenen Rationalismus verfallen war.[1]

Dieser ideelle Bezugspunkt wurde während der Zeit des Nationalsozialismus zu einem konkreten Fluchtpunkt für eine ganze Generation von Architekten, Stadtplanern, Künstlern und Wissenschaftlern, die vom NS-Regime verfolgt wurden und in Istanbul und Ankara Schutz und Arbeit fanden: Architekten wie Bruno Taut, Margarete Schütte-Lihotzky oder Paul Bonatz, der Musiker Paul Hindemith, der Politiker Ernst Reuter, um nur einige zu nennen. Sie haben bei der Modernisierung des Landes mitgewirkt, die Staatsgründer Kemal Atatürk der Türkei nach 1923 verordnet hatte. Vor allem halfen diese „Universitätsemigranten“ mit bei der Umsetzung der Bildungsreform von 1933, die ein wichtiger Baustein der Modernisierungspolitik Atatürks war.[2]

Das Ergebnis dieser verordneten Modernisierung wirkt bis heute nach und bestimmt ein labiles Verhältnis zwischen Tradition und Moderne, nationalistischem Säkularismus und religiösem Konservatismus, latentem Autoritarismus und Demokratie. Aber auch die Sonderrolle der Türkei im islamischen Kontext ist diesem Ausgangspunkt zu verdanken: Der islamische Fundamentalismus konnte hier nie wirklich Fuß fassen. Interessanterweise werden gerade die politischen Defizite der Vergangenheit, zu denen eine vom Militär gelenkte Demokratie und ein tief sitzender Nationalismus gehören, gegenwärtig von einer islamisch-konservativen Bewegung vorsichtig behoben. Das Faszinierende an dieser Entwicklung ist, dass diese Reformen weniger aus ideologischen als vielmehr aus pragmatisch-merkantilen Erwägungen heraus erfolgen. Sei es die moderate Stärkung der Bürgerrechte im Rahmen der europäischen Annäherung, sei es die vorsichtige Anerkennung der kurdischen Minderheit oder die gerade begonnene Aussöhnungspolitik gegenüber Armenien, das alles geschieht vornehmlich mit dem Ziel, den politischen und ökonomischen Handlungsspielraum der Türkei als strategische Mittelmacht an der Grenze zwischen Europa und den Krisenherden des Nahen Ostens zu vergrößern.

Grün – die Farbe des Islam

Es ist also nicht übertrieben, von einer Zeitenwende zu sprechen, trotz aller noch bestehenden eklatanten Defizite bei den Freiheitsrechten, wie der Fortschrittsbericht der EU-Kommission zum Beitrittsprozess der Türkei soeben wieder gezeigt hat. Die Partei, die die skizzierten Entwicklungen vorantreibt, ist die islamisch-konservative AKP des Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan. Deren Parteistrategen wollen sie als konservative Partei etablieren, die für ein „calvinistisches“ Verständnis des Islams steht: fromm, stockkonservativ – und zugleich fleißig und geschäftstüchtig. In dieser Symbiose von gottgefälliger harter Arbeit und gottgefälligem harten Profit komme eine protestantische Arbeitsethik zum Vorschein, wie Forscher von der „European Stability Initiative“ (ESI, Berlin/Istanbul) in ihrer Studie „Umbruch und Konservatismus in Zentralanatolien“ von 2005 festgestellt haben. Sie kommen darin zu dem Schluss, „dass wirtschaftlicher Erfolg und soziale Entwicklung ein Milieu geschaffen haben, in dem Islam und Moderne gütlich nebeneinander bestehen.“[3]

Die „stille islamische Reformation“ (ESI) geht mit politischen und sozio-ökonomischen Reformen einher, deren Tragweite weit über die Sphäre der Politik hinausreicht. In Bezug auf die Stadtentwicklungspolitik beschworen die AKP und deren Vorgängerparteien ursprünglich das Ideal der „muslimischen Stadt“. Wie diese aussehen sollte, beschreibt der Soziologe Cihan Tuğal in seinem Beitrag „Istanbul wird grün“, dessen Titel wir für diese Ausgabe übernommen haben: Sie ist „ausgerichtet auf eine zentrale Moschee, umgeben von Märkten, Schulen und Kulturzentren. Hauptmerkmale sollten architektonische Bescheidenheit und Einklang mit der Natur sein; Planung und Entwicklung sollten die historische Textur der Stadt berücksichtigen.“ (Vgl. Tuğal, S. 28)

Grün – die Farbe des Geldes

Statt für Bescheidenheit und Berücksichtigung der historischen Textur der Stadt steht die regierende AKP jedoch seit geraumer Zeit für eine radikale Stadtentwicklungspolitik, deren Ziel es ist, Istanbul stärker für das globale Kapital zu öffnen. Das Kapital, mit dessen Hilfe Istanbul zu einem geostrategisch wichtigen Wirtschaftsstandort ausgebaut werden soll, hat nicht nur die grüne Farbe des „Greenback“, wie die Leitwährung US-Dollar umgangssprachlich genannt wird. Grün ist das Kapital auch durch so genanntes „Green Money“, das nach dem 11. September 2001 verstärkt nach Istanbul strömte, weil die Golfstaaten des Nahen Ostens teilweise ihre Anlagen aus Amerika abzogen und Istanbul ein lukratives Geschäft verspricht.

Diese Entwicklung wirkt sich unmittelbar in der Stadtentwicklungspolitik aus und wird durch die Tatsache verstärkt, dass in der Regierungszeit der AKP die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKİ zu einer alles umschlingenden Immobilienkrake umgebaut wurde, die massiv in den Bodenmarkt eingreift und verantwortlich ist für eine Unzahl von spekulativen Stadterneuerungsprojekten, die ganze Stadtviertel ausradieren (siehe Atayurt/ Çavdar, S. 56, Uçar, S. 62 und İslam, S. 90). Diesen Schwenk hin zu einer profitorientierten Stadtpolitik hat Erdoğan bereits in seiner Zeit als Bürgermeister von Istanbul Ende der 1990er Jahre vollzogen, als er „das islamische Erbe der Stadt eher dazu [nutzte], weltweites Kapital und Tourismus anzulocken als eine islamische Republik darauf zu gründen. Dieser Prozess verstärkte sich 2002 noch, als die ehemaligen Islamisten den Bau von Wolkenkratzern im neuen Finanzzentrum der Stadt vorantrieben. […] Mit diesem neuen Ansatz starben der Gleichheitsgedanke und die populistische Unterstützung der Landbesetzer durch die frühen islamistischen Vordenker.“ (Tuğal)

Grün – die Farbe der Zugänglichkeit

Diese Entwicklung verweist auf den dritten Aspekt, den wir mit dem vieldeutigen Titel „Istanbul wird grün“ verdeutlichen wollen. Die Integration der oppositionellen islamisch/islamistischen Bewegung in die säkulare, marktwirtschaftlich orientierte Politik der Türkei hat nämlich auch deren Charakter stark verändert. War ihr Aufstieg mit dem populistischen Eintreten für die Armen und Marginalisierten der Gesellschaft verbunden, so hat sie sich in Anpassung an die Machtstrukturen immer stärker den wirtschaftlich aufstrebenden Schichten zugewendet und in letzter Konsequenz eine Art „Islam mit neoliberalem Antlitz“ (Tuğal) geschaffen.

Dies wird besonders in der Stadterneuerungspolitik der AKP deutlich, die zunehmend zu Gunsten der kapitalstarken neuen Mittelschichten ausgerichtet ist, während Benachteiligte und Gecekondu-Bewohner die Lasten dieses Stadtumbaus zu tragen haben, indem sie stadträumlich marginalisiert, sprich in die Peripherie gedrängt werden (siehe Erdoğan Yıldız, S. 100, İslam, S. 90). Für Tuğal sind dies stadträumliche Auswirkungen dessen, was er „die passive Revolution der Türkei“ genannt hat: „die Herausforderungen des Islam mit den Energien der atlantischen Marktwirtschaft zu binden.“[4]

Aber damit ist auch eine negative Entwicklung verbunden, die die Solidarität mit Benachteiligten der Gesellschaft untergräbt. Denn das „Recht auf die Stadt“ hängt verstärkt von den eigenen Geldmitteln ab, was sich im Boom von Gated Communities, Luxussanierungen ganzer Viertel oder in einem touristisch gefärbten Geschichtsbild niederschlägt.

Grün – die Farbe der Natur

Ein anderes Zeichen für die zunehmende globale Ausrichtung der Stadtökonomie Istanbuls, deren Erfolg mehr denn je von der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ abhängig ist, ist der Bedeutungszuwachs von ikonischer Architektur und bildhafter Stadtplanung. Nicht zuletzt durch den UIA Kongress in Istanbul im Jahre 2005 hat die Stadt die Werbewirksamkeit der internationalen Stars der Architekturszene für sich entdeckt. Seitdem findet kaum einer der seltenen Wettbewerbe ohne Beteiligung von Stararchitekten statt (siehe Dündaralp, S. 98). Dass Architektur als Marketingtool eingesetzt werden kann, hat spätestens seit Frank Gehrys Guggenheim Museum in Bilbao wohl jeder Bürgermeister verstanden. Neu ist allerdings, dass „Ökologie als Planungsgestus“, wie Şevin Yıldız in ihrem Beitrag beschreibt, als Marketinginstrument und Argumentationshilfe der spekulativen Stadterneuerungspolitik zum Einsatz kommt (siehe Yıldız, S. 100). Die Ökologie gerät hier in Gefahr, zur Bemäntelung einer Gentrifizierungspolitik benutzt zu werden, die in letzter Konsequenz den benachteiligten Bewohnern das Recht auf Stadt entzieht. Zugang zu den Segnungen der Verbesserungen haben dann nur noch diejenigen, die es sich leisten können. Daher sollten „Naturschutzanliegen nicht der Grund sein, Diskussionen verstummen zu lassen und keine weiteren Fragen zum Charakter der Umgestaltung mehr zu erlauben – etwa nach den Nutznießern der wiedergewonnenen Ökologie“ (Yıldız).

Besonders hier zeigt sich, dass die unterschiedlichen Aspekte, die wir in diesem Heft ansprechen, miteinander verwoben sind und nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, oder um beim Bild „Istanbul wird grün“ zu bleiben: es sind lediglich unterschiedliche Schattierungen von Grün. Die profitorientierte Stadtpolitik einer islamischen Partei, die auf das globale Kapital und ein zahlungskräftiges Klientel schielt, das sich mehr und mehr in Gated Communities abschottet (siehe Rieniets, S. 70) und dabei die Ökologie als Planungsgestus benutzt, schließt die ansässigen Bewohner der unteren Schichten aus der Stadt aus.

Grün – die Farbe der Hoffnung

Bei aller berechtigten Kritik gibt es natürlich auch viele hoffnungsvolle Entwicklungen. Es scheint, als ob die „passive Revolution der Türkei“ am Ende eine Gesellschaft hervorbringen wird, die ihre islamische Tradition mit den rechtstaatlichen und demokratischen Prinzipien der Moderne in Übereinstimmung bringt und als Rollenmodell für den gesamten Nahen Osten fungieren kann. Auch wenn es noch ein langer Weg ist, so ruhen die Hoffnungen der EU darauf, die Türkei über den Prozess der europäischen Annäherung und Integration auf Dauer auf diesem Weg begleiten zu können. Ironischerweise ist außer der islamisch-konservativen AKP weit und breit keine andere politische Kraft sichtbar, die diesen Weg zu gehen bereit wäre und die auf diesem Weg die türkische Gesellschaft einzubeziehen vermag. Es verwundert jedoch nicht, dass es ausgerechnet eine religiös ausgerichtete Partei ist, welche die schwierige Aufgabe übernimmt, die autoritären Überbleibsel der Vergangenheit zu überwinden, die u.a. in der unerbittlichen Bekämpfung der kulturellen Identität der Kurden und der Leugnung des Völkermords an den Armeniern zum Ausdruck kamen. Denn ein Kennzeichen des Autoritarismus ist es, dass ihm eine klare Ideologie und damit eine emotionale Bindung der Bevölkerung an das System fehlt. Daher greifen autoritäre Systeme notgedrungen auf Werte wie Patriotismus, Nationalismus, technokratische Modernisierung und Ordnung zurück, während sie Pluralismus mit Unordnung und Instabilität gleichsetzen. Es bleibt zu hoffen, dass die religiöse Verwurzelung der AKP ihr den Weg zu einer Überwindung des übersteigerten Nationalismus mit den bekannten Folgen eröffnet, ein Weg, der den kemalistisch-säkularen Parteien bisher versperrt geblieben ist, da ihnen sonst das autoritäre Wertesystem abhanden kommen würde.

Die Hoffnung in die Zukunft ist aber auch verbunden mit einer jungen Generation, die weltoffen und hellwach ist und in ihrem Streben kaum zu unterscheiden ist von der jungen Generation anderer Länder. So endet das Heft denn auch mit den Hoffnungsträgern der Architekturszene in Istanbul. In kurzen Gesprächen haben Pelin Tan und Şevin Yıldız, die mit uns als Gastredakteurinnen das Heft konzipiert haben, Porträts exemplarischer Büros erstellt und deren Arbeitsweisen dokumentiert. Fern vom Anspruch der Vollständigkeit zeigen die Porträts lediglich einen kleinen Ausschnitt der dynamischen Entwicklung eines Berufsfeldes, deren Protagonisten nicht selten über große Auslandserfahrung verfügen. Sei es durch Studium oder Praxisaufenthalte im Ausland, diese Erfahrungen bereichern die inhaltliche Basis der Architekturdebatte und machen sie zugleich anschlussfähig an die internationale Entwicklung.

Nicht zufällig schließt die Porträtreihe mit dem Studio Superpool, das Selva Gürdoğan und Gregers Tang Thomsen 2006 in Istanbul gegründet haben, nachdem sie sich bei OMA (Rem Koolhaas) in Rotterdam und New York kennengelernt haben. So steht Superpool als eines der interessantesten Teams nicht nur für eine neue konzeptuelle Tendenz in der türkischen Architektur. Mit dem Team ist vielmehr auch die Hoffnung verknüpft, dass Tradition und Moderne in Zukunft keine antagonistischen Kategorien mehr darstellen, sondern lediglich die beiden Pole einer pluralistischen Gesellschaft.[5]

Nuray Karakurt, Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo


Fußnoten:
[01] Vgl. Manfred Speidel (Hg.), Bruno Taut. Ex Oriente Lux, Berlin 2007.
[02] Unter ihnen war Bruno Taut, der 1936 aus dem japanischen Exil nach Istanbul übersiedelte. Neben zahlreichen Bauprojekten ist die „Architekturlehre“, die ARCH soeben in der originalen Fassung herausgebracht hat, Tauts Vermächtnis dieser Schaffensperiode kurz vor seinem Tod. Vgl. ARCH 194 „Bruno Taut. Architekturlehre“, Oktober 2009.
[03] Islamische Calvinisten. Umbruch und Konservatismus in Zentralanatolien, www.esiweb.org/pdf/esi_document_id_71.pdf, S. 2 [letzter Zugriff 10. Oktober 09].
[04] Cihan Tuğal, Nato’s Islamists. In: New Left Review 44 (März/April 2007).
[05] Als gläubige Muslima, die ihr Haar bedeckt, hätte Selva Gürdoğan nach den geltenden türkischen Gesetzen gar nicht an einer staatlichen Hochschule studieren können. Wie sie weichen deshalb viele junge Türkinnen ins Ausland aus. In Selva Gürdoğans Fall war es die Sci-Arc in Kalifornien, USA. In ihrer Biografie kommt somit der ungelöste Zwiespalt zwischen Tradition und verordnete Moderne in der Türkei zum Ausdruck.

Inhalt

02 Brutiful
Brandlhuber, Arno / Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh

14 Kulturagenten
Hirsch, Nikolaus / Misselwitz, Philipp / Oda Projesi

17 Self Service City: Istanbul
Esen, Orhan / Lanz, Stephan

17 Becoming Istanbul
Bartels, Olaf

17 Istanbul aus der Vogelperspektive
Derviş, Pelin

17 On the Edges of Paradise
Gruber, Ernst

18 Architektur als politisch-militärische Plastik
Kamleithner, Christa

21 INURA Konferenz in Istanbul
Beyer, Elke

22 Ideology in Transparency
Eylers, Eva / Sousa, Emanuel de / Wooller, Kirk

23 Vorwort
Tan, Pelin / Yıldız, Şevin

24 Editorial
Karakurt, Nuray / Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh

26 Grün: die Farbe des Islam
Arch

28 Istanbul wird grün
Tuğal, Cihan

34 Viel Veränderung, wenig Wandel
Tanju, Bülent

38 Istanbul Manifacturacilar Carsisi - IMC
Tekeli, Doğan / Sisa, Sami

42 Soyal Sigortalar Kompleksi - SSK
Eldem, Sedad Hakkı

46 Atatürk Kültür Merkezi – AKM
Tabanlıoğlu, Hayati

50 Siedlung und Mahalle
Akcan, Esra

54 Grün: die Farbe des Geldes
Arch

56 Die Gecekondus als politische Bewährungsprobe
Atayurt, Ulus / Çavdar, Ayşe

62 TOKİstan
Uçar, Ertuğ

65 Kampf um Gülsuyu-Gülensu
Yıldız, Erdoğan

66 Apartkondu – oder warum ich Howard Roark hasse und den Müteahhit liebe
Yeğenoğlu, Hüsnü

70 Festung Istanbul
Rieniets, Tim

76 Grün: die Farbe der Zugänglichkeit
Arch

78 Wandel der Öffentlichkeit
Güner, Deniz

82 Mapping Istanbul
Derviş, Pelin

90 Der Block als innerstädtische Gated Community
Islam, Tolga

92 Neue Landschaften
Tan, Pelin / Yıldız, Şevin

96 Grün: die Farbe der Natur
Arch

98 Ausbruch aus dem Gefängnis
Dündaralp, Bogachan

100 Ökologie als Planungsgestus
Yıldız, Şevin

100 Llewelyn Davies Yeang*
Yeang, Ken

102 Kengo Kuma & Associates
Kuma, Kengo

104 MVRDV
MVRDV

106 Parametrismus
Schumacher, Patrik

114 Grün: die Farbe der Hoffnung
Arch

116 Auf der Suche nach einer zeitgenössischen türkischen Architektur
Kanıpak, Ömer

118 EAA
Arch

118 Teğet Architekten
Arch

124 ddrlp
Arch

128 GB Architecture
Arch

132 TUSPA
Arch

136 SUPERPOOL
Arch

142 Zeitleiste
Arch

150 Die Stadt der Akteure
Hirschbichler, Michael / Buschor, Michael

Apartkondu – oder warum ich Howard Roark hasse und den Müteahhit liebe [1]

Der „Müteahhit“ ist einer der wichtigsten und zugleich fragwürdigsten Akteure in der heutigen Istanbuler Baupraxis. Er finanziert und wickelt jede Art von Bauvorhaben für seine Kunden ab, kennt sich aus im unkontrollierbaren Bau-Dschungel und weiß, wie man die geltenden Baugesetze und bürokratischen Hindernisse umgeht. Er trifft schnelle und eigenständige Entscheidungen – nicht unbedingt im Sinne guter Architektur, aber stets auf sein finanzielles Wohlergehen bedacht.

Istanbul 1987. Beim Aufräumen der Wohnung meines verstorbenen Vaters finde ich in einer der Schubladen seines Schreibtisches mehrere Skizzen, die er irgendwann auf dem dünnen Briefpapier eines „Rotary“-Hotels in Genf gezeichnet haben muss. Ich sehe den Grundriss eines Grundstücks mit einer eigenartigen Kontur, den Schnitt eines Appartementgebäudes und Entwürfe für verschiedene Wohnungstypen.

Unter den Skizzen liegt eine Eigentumsurkunde, aus der deutlich wird, dass er 1958 ein 2.522 Quadratmeter großes Grundstück in Fulya Mahallesi im Stadtteil Şişli zusammen mit einem Freund erworben hat. Links oben auf der Urkunde klebt ein kleines Schwarzweißfoto von ihm – ich sehe in das Gesicht eines optimistischen jungen Mannes. Mit dem eleganten Sakko, den mit Pomade nach hinten gekämmten Haaren und seinem festen Blick erinnert er mich augenblicklich an den idealistischen Architekten Howard Roark, gespielt von Gary Cooper, in dem Film The Fountainhead (USA 1949). Die Vorstellung, ein Grundstück in Istanbul geerbt zu haben, erregt mich. In Gedanken sehe ich mich schon auf der Dachterrasse eines von mir entworfenen Gebäudes stehen und die großartige Istanbuler Stadtlandschaft genießen.

Die tanzenden Autos

1988. Bei meinem ersten Besuch in Fulya kommt die Ernüchterung schnell. Das Gebiet in Hanglage ist unübersichtlich und zerklüftet, ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wo das Grundstück genau liegt. Der obere Bereich des abschüssigen Terrains ist mit Erde aufgefüllt und dient als Parkplatz. Neben der Einfahrt steht auf einem verrosteten Schild in großen Buchstaben „GÜVEN-OTOPARK“. Hier übergeben Besitzer ihre Autos an junge Männer, die sie mit äußerster Präzision, rasend schnell und so kompakt wie möglich nebeneinander parken. Das zeitgleiche Manövrieren mit mehreren Autos auf engstem Raum sieht aus wie ein Ballett, aber mit tanzenden Autos. Ich bilde mir ein, einige Ähnlichkeit zwischen den Konturen des Parkplatzes und denen des Grundstücks zu erkennen, frage einen der Fahrer nach dem Betreiber und werde zu einer schäbigen Bude geführt, wo hinter einem Schreibtisch ein kahler Fettsack mit einem Schnurrbart so groß wie eine Schuhbürste sitzt. Ohne Umschweife behaupte ich, dass sein Parkplatz sich auf meinem Grundstück befände und er es auf absehbare Zeit räumen müsste, außer wenn er mir nachweisen könnte, dass das Grundstück doch ihm gehört.

Erst hinterher habe ich begriffen, dass meine Herangehensweise absurd, ja gefährlich war. In den stark verdichteten Stadtteilen des Istanbuler Zentrums sind Parkplätze absolute Mangelware und daher big business und außerordentlich attraktiv. In Istanbul gibt es eine sehr aktive und gut organisierte Parkplatzmafia, die leerstehende Grundstücke mietet oder besetzt, um sie als Parkplätze zu betreiben, meistens mit Wissen der Stadtverwaltung und der Polizei. Diese Leute sind nicht zimperlich und warten sicher nicht auf einen Architekten, der sie mit abenteuerlichen Behauptungen konfrontiert.

Die Qualität der Gecekondus

Das steile Gelände direkt unterhalb des Parkplatzes besteht aus einer verwilderten Landschaft mit dichten Sträuchern, hohen Pappeln und stinkendem Hausmüll, durchzogen von schmalen Trampelpfaden, die zu kleinen einstöckigen Häusern, so genannten Gecekondus, im unteren Teil des Geländes führen. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat deren Bewohner nach Istanbul gebracht, wie mir Engin, einer von ihnen, der mich zum Tee einlädt, erklärt. Engin führt mich durch sein Haus, das aus zwei kleinen Zimmern besteht. Das eine Zimmer wird tagsüber als Wohnküche benutzt, abends wird hier für die Kinder die Couch ausgeklappt und zum Schlafen werden Matratzen auf den Boden gelegt. In dem zweiten Zimmer stehen dicht nebeneinander drei Einzelbetten, einige Kleiderschränke und Koffer in allen Größen, als wäre ein Umzug nur eine Sache von Minuten. Strom wird direkt von der städtischen Elektrizitätsleitung abgezapft, was die vielen in der Luft hängenden Kabel, die die Häuser mit den entlang der Straße stehenden Strommasten verbinden, verraten. Obwohl auf Andermanns Grundstück gebaut und daher illegal, sind die Häuser inzwischen durch die Stadtverwaltung an die öffentliche Kanalisation angeschlossen. Das Ganze erinnert mich eher an eine primitiven Eigenbau-Version der suburbanen Gartenstadt als an Wohnen unter menschenunwürdigen Umständen, wie man es mit diesen sogenannten Slum-Vierteln oft assoziiert.

Informalität ohne Chaos

Was mich am meisten fasziniert ist die Tatsache, dass das Fehlen „professioneller Planung“ hier mit Sicherheit nicht zu chaotischen Zuständen geführt hat. Obwohl die Häuser nicht nach einem vorab entwickelten Bebauungsplan angeordnet, gebaut und erschlossen wurden, lassen sich an dem Entstandenen durchaus die Eigenschaften einer „natürlichen“ Raumorganisation ablesen.

Gleichzeitig wird mir aber deutlich, dass ich, wenn diese Häuser wirklich auf dem Grundstück stehen, das ich suche, mit großen Problemen rechnen kann, wenn ich hier bauen wollte. Der Eigentümer eines Grundstücks zu sein, auf dem die Mafia eine Goldgrube von einem Parkplatz betreibt, erscheint mir aber genauso wenig verlockend. In einer solchen Situation liegt es nahe, einen Rechtsanwalt einzuschalten. Nur ist ein Prozess um ein Grundstück in Istanbul eine äußerst schwierige, wenn nicht völlig aussichtslose Sache. Neben der Tatsache, dass ein Gerichtsverfahren mindestens einige Jahre dauert, bedeutet ein positives Urteil noch lange nicht, dass es auch umgesetzt werden kann. Im Prinzip will niemand sich die Finger an den Gecekondus oder an der Grundstücksmafia verbrennen.

Der Komisyoncu

1990. Ich mache die Bekanntschaft von Guy Bavends, einem der letzten Istanbuler Kosmopoliten alter Schule. Der gepflegte Herr ist von französischer Abstammung und bei unserem ersten Treffen sicher schon fünfundsiebzig Jahre jung. Ein Mann, der die Damen mit Handkuss begrüßt, ein immer perfekt gekleideter sympathischer Opportunist und der charmanteste Lügner, den ich je kennen gelernt habe.

Bavend ist einer der typischen Akteure des Istanbuler Bautheaters. In der Schweiz als Architekt ausgebildet, aber de facto jemand, der gute Beziehungen hat, ein Komisyoncu (Vermittler), der weiß wo, wann und in welchem Ton man „wichtige“ und „einflussreiche“ Personen anspricht und sich hierfür gut bezahlen lässt. Ohne den geringsten Zweifel behauptet er, für mich den passenden Bauunternehmer finden zu können. Im Laufe der Zeit wird mir zunehmend deutlich, dass Bavend ein sehr galanter Parasit ist, der vom Schweiß und Geld anderer lebt, aber einem trotzdem immer das Gefühl vermittelt, unentbehrlich zu sein, was ich von Architekten, jedenfalls in Istanbul, nicht behaupten kann.

Inzwischen wurde das Gelände durch Beamte vom Katasteramt eingemessen und zur Erleichterung aller Beteiligten befindet sich mein Grundstück ziemlich genau zwischen dem Mafiaparkplatz und den Gecekondus. Ich selbst bin auch nicht untätig und entwerfe entsprechend dem geltenden Bebauungsplan für Fulya ein fünfgeschossiges Appartementgebäude mit einer kleinen Garage für elf Autos. Mein architektonisches Ego treibt mich, hier ein interessantes Gebäude zu bauen. Ein Juwel in einer halbrunden Form, die wie eine Hand den großen gemeinschaftlichen Garten mit den hochgewachsenen Pappeln einrahmen soll. Während ich mir so meine kleine Utopie ausdenke, fühle ich Roarks strengen, skeptischen Blick in meinem Nacken brennen.

Der erste Müteahhit

1994. Bavend kommt mit einer frohen Botschaft. Ein „Müteahhit“[2] (Projektentwickler, Bauunternehmer) zeigt Interesse. Bei unserem ersten Treffen lerne ich gleich die ganze Familie Tetikçi kennen. Der ältere Bruder ist der Geschäftsführer der Firma, die eigentlich mit thermischen Maschinen und Straßenbau handelt. „Wir investieren auch in Häuser, Tourismus, Leder- und Teppichhandel, wir sind sehr flexibel“, antwortet der ältere Tetikçi auf meine Frage nach der baulichen Kompetenz der Firma. Die Tetikçis sind ein prima Beispiel für diese wichtigste Komponente im Istanbuler Baugeschäft.

Eigentlich lässt sich Müteahhit nicht übersetzen, da ein solcher viel mehr ist als ein einfacher Bauunternehmer. Er hat ein intuitives Gespür für Geschäft und Handel, unterhält ein kafkaesk labyrinthisches Netzwerk mit Beamten vom Stadtplanungsamt, Politikern im Stadtparlament und Polizeibeamten und er hat zumindest „sehr gute“ Verbindungen zur Mafia, wenn er nicht selbst dazu gehört. Er kann äußerst schnell und unkonventionell auf Veränderungen des Marktes reagieren und weiß selbstverständlich genau, wie der Kunde wohnen möchte. Er kann lügen, ohne jemals rot zu werden und tut dies keineswegs, weil er ein geborener Lügner ist, sondern nur, weil das Geschäft und seine Professionalität es erfordern.

Jemand wird in der Regel nicht Müteahhit, weil er Interesse am Bauen hat, sondern weil das Bauen im Vergleich zu sonstigen ökonomischen Aktivitäten einen viel höheren Gewinn erbringt. Ist darum der Müteahhit skrupellos, wie behauptet wird?
Ja, weil er eine yap-sat-kaç (bauen-verkaufen-abhauen) Mentalität kultiviert, in welcher der schnelle persönliche Gewinn die alles bestimmende Triebfeder ist. Ja, weil er zeigt, dass das Recht immer manipulierbar ist und derjenige, der sich trotz alledem noch daran hält, ein Dummkopf. Ja, weil er deutlich macht, dass egozentrisches Plündern städtischer Ressourcen und das Umgehen öffentlicher Regeln und Gesetze sich für ihn persönlich immer lohnt.

Nein, weil ohne ihn Istanbul niemals die Form angenommen hätte, die es inzwischen hat. Der Müteahhit ist, ohne diesem Ziel jemals bewusst nachgestrebt zu haben, der wahre Stadtplaner, derjenige, der dafür gesorgt hat, dass in der Stadt für Millionen von Migranten genügend Wohnraum in allen Preisklassen entstanden ist. Er ist derjenige, der dafür gesorgt hat, dass das Gecekondu-Proletariat zum Nulltarif Besitzer städtischer Appartements geworden ist. Wenn es stimmt, dass der ökonomische Fortschritt Istanbuls in den letzten zwanzig Jahren hauptsächlich mit der Wertsteigerung der städtischen Grundstücke und (illegal-informellen) Bauaktivitäten zu tun hat, dann ist der Müteahhit der unermüdliche Motor dieses Prozesses. Nach dem Erdbeben von 1999 ist der Müteahhit überhaupt der größte Sündenbock und Prügelknabe geworden für alles, was im Istanbuler Baugeschäft faul und korrupt ist. Dies ist äußerst scheinheilig, denn er konnte nur deswegen so erfolgreich sein, weil sehr viele bei „seiner“ Plünderung mitgewirkt und mitprofitiert haben: Grundstücksbesitzer, Politiker, Beamte, Handwerker, die Bauarbeiter und die gesamte Bauindustrie. Roark würde ihn mit Sicherheit verachten, aber der Müteahhit verkörpert durchaus den wahren „Geist“ von Istanbul.

Die Baugenehmigung

1996. Für einen sich selbst respektierenden Müteahhit gibt eine Baugenehmigung nicht an, was die Behörde zulässt, sondern die untere Grenze dessen, was auf einem Grundstück möglicherweise gebaut werden könnte. Ihm geht es hauptsächlich darum, diese Grenzen soweit wie möglich zu überschreiten, um so den Gewinn zu maximieren. Das Gebäude erweitern, ein oder zwei Stockwerke hinzufügen und die Abstandsnormen nicht einhalten sind nur einige Beispiele dafür, wie man die Baugenehmigung ausdehnen und aufblasen kann. Weil im Prinzip alle Beteiligten die Bauregeln missbrauchen, kann dieser Vorgang als durchaus demokratisch bezeichnet werden. Sogar die städtischen Beamten profitieren von diesem System, da sowohl der Erhalt der Baugenehmigung als auch alle Änderungen, die im Nachhinein erfolgen, abgekauft werden müssen. Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint das Bauen eines Appartementgebäudes, das von der ursprünglichen Genehmigung abweicht, für alle Beteiligten finanziell notwendig, vernünftig und sinnvoll. Eigentlicher und wirklicher Verlierer in diesem Spiel ist die städtische Ökologie, die in der persönlichen Wahrnehmung aller Beteiligten aber absolut keinen Wert darstellt. Wer aber denkt dann überhaupt noch an die Stadt als Ganzes, würde Roark zu Recht fragen.

Die Baugrube

1997. Nach einem Jahr voller für mich nicht nachvollziehbarer Verhandlungen mit der städtischen Behörde liegt die Baugenehmigung auf dem Schreibtisch des Müteahhit. Besonders stolz ist er auf die Tatsache, dass es ihm gelungen ist, eine zweistöckige Tiefgarage von 3.600 Quadratmetern genehmigt bekommen zu haben, womit die Grundfläche der Tiefgarage inzwischen größer ist als die aller Appartements zusammen. Nach Mitteilung dieser frohen Nachricht und dem flotten Ausheben einer enormen Baugrube ohne Dammwände, die die Nachbarhäuser und die Straße entlang dem Grundstück vor dem Abrutschen sichern würden, bekommen die Tetikçis unerwartet finanzielle Probleme und alle Bauaktivitäten werden gestoppt. Die ausgehobene Baugrube wird zu einem mit Schlamm und Regenwasser gefüllten Krater, in dem Kinder aus der Nachbarschaft lange Zeit ihre Spielzeugboote fahren lassen und Fliegen gemütlich ihre Eier ausbrüten.

Der nächste Müteahhit

1998. In dieser ausweglosen Situation interveniert Bavend. Der Müteahhit, der auf dem Nachbargrundstück, das bei meinem ersten Besuch noch Parkplatz war, ein siebenstöckiges Bürogebäude gebaut hat (obwohl der Bebauungsplan nur Gebäude mit fünf Stockwerken und einer Wohnfunktion zulässt), möchte das Projekt übernehmen. Kömüryapı, so heißt der neue Bauunternehmer, ist neben seinen Bauaktivitäten auch im Devisenhandel aktiv. Nach dem obligatorischen Besuch beim Notar fangen die Bautätigkeiten zügig an. Als ich nach längerer Abwesenheit die Baustelle wieder aufsuche, ist die erste Hälfte der Tiefgarage schon gebaut, was mich sehr freut. Zugleich glaube ich, das Opfer einer optischen Täuschung zu sein, da nach mehrmaligem Zählen die Garage nicht aus zwei, sondern nunmehr fünf Geschossen besteht und außerdem die gesamte Grundstücksfläche von 2.522 Quadratmetern in Beschlag nimmt. Dies wäre doch viel wirtschaftlicher, ist die Erklärung von Kömüryapı und die Behörde würde sicher auch damit einverstanden sein, da in diesem Gebiet ein großer Mangel an Parkplätzen bestünde. Ich müsse mir wirklich keine Sorgen machen. Meine inzwischen reichlich strapazierte Architektenwelt stürzt irreparabel zusammen, ich sehe deutlich, dass mein Entwurf auf die tatsächliche Entwicklung absolut keinen Einfluss hat. Ich bin verzweifelt und spüre, wie sehr Roark mich jetzt verachtet. Nach langen Gewissenskonflikten beschließe ich, mich auf das offene Spiel der Kräfte einzulassen.

Das Gebäude

1999. „Überdecktes Parken 24 STUNDEN geöffnet“ steht auf dem großen Spanntuch direkt über der Einfahrt. Nach der Anzahl der abgestellten Autos zu beurteilen, gehen die Geschäfte äußerst gut. Meine Befürchtung, der Müteahhit könnte sich auch schon mit der Garage zufrieden geben und den Rest einfach nicht mehr bauen, erweisen sich jedoch als unbegründet.

Ein räumliches Problem, für das unter „normalen“ Umständen wochenlange architektonische und statische Umplanung erforderlich wäre, wird mit einer Skizze auf dem Deckel einer Pizzaschachtel auf der Stelle gelöst. Worum geht es? Auf dem Nachbargrundstück hat Kömüryapı sein Bürogebäude direkt auf die Grundstücksgrenze gebaut, ohne den offiziell erforderlichen Abstand einzuhalten. Daher muss der Appartementblock mit seiner ganzen Achse verschoben werden, will man den Bewohnern auf der Stirnseite des Gebäudes noch die Möglichkeit geben, ihre Fenster zu öffnen. Die halbrunde Form des Gebäudes wird mit einigen Strichen in eine S-Form verändert. Die Schnelligkeit dieser Umplanung ist eindrucksvoll, ja schwindelerregend, aber zugleich äußerst bedenklich. Auch die abgetreppte, dem Gefälle des Geländes folgende Kontur des Gebäudes steht der Wirtschaftlichkeit im Wege und wird aufgegeben, so dass es jetzt wegen seiner Monumentalität durch Anwohner die „Chinesische Mauer“ genannt wird.

Geht der Müteahhit hier nicht zu weit? Durchaus nicht, denn inzwischen stehen überall Wohngebäude vergleichbarer Größe so dicht nebeneinander, dass die schmalen und dunklen Zwischenräume unheimlichen Schluchten gleichen, die mich an die finstere Unterwelt in Fritz Langs Film Metropolis erinnern.

High Noon

Der zügige Verlauf der Realisierung endet abrupt mit einer blutigen Abrechnung. Der Partner von Kömüryapı und eigentliche Finanzierer des Gebäudes erschießt nur eine Viertelstunde nach einer Besprechung mit mir auf der Baustelle einen Schuldner, wird festgenommen und verschwindet für einige Jahre im Gefängnis. Der Geldstrom versiegt und ebenso alle Bauaktivitäten. Das Erdbeben von 1999 und die Wirtschaftkrise von 2000 geben dem gesamten Istanbuler Wohnungsmarkt den Rest. Während die „Tiefgarage“ weiter lukrativ genutzt wird, entwickelt sich das von außen verputzte und angestrichene Betonkasko langsam zu einer Ruine. Die zur Anlockung potentieller Käufer perfekt eingerichtete Musterwohnung, die der Müteahhit nebenbei als Büro benutzt, macht einen surrealistischen Eindruck inmitten der dunklen Treppenhäuser, leeren Aufzugsschächte, klemmenden Türen, kaputten Schalungen und herumliegenden Leitungsrohre.

Sogar Bavend hat sich davongemacht und kann „uns“ in dieser Situation nicht mehr helfen, er ist völlig unerwartet verstorben. Aufgrund des immensen Überangebots an Wohnungen in Istanbul, die doch keiner bezahlen kann, sieht sich der Müteahhit keineswegs aufgefordert, nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Seine Einschätzung kann ich zwar nachvollziehen, aber noch nicht akzeptieren. Ich befürchte, dass das Projekt, nachdem es sich erst zu einem architektonischen Desaster entwickelt hat, jetzt auch zur finanziellen Katastrophe wird und der Gedanke, Mitbesitzer einer immensen Bauruine zu sein, treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Roarks unerbittlicher Griff um meinen Hals wird unerträglich.
Ein Gespräch mit einem Rechtsanwalt macht mir deutlich, dass ich eine Lösung zusammen „mit“ dem Müteahhit suchen muss, da ein Rechtsstreit extrem teuer und sein Ergebnis unsicher sein würde. Ein Prozess würde unseren „gemeinsamen“ finanziellen Interessen nur schaden, weil dabei der Unterschied zwischen der Baugenehmigung und dem tatsächlich Gebauten offenbar werden würde und alleine das Bereinigen dieses Problems ein Vermögen kosten würde. Er schlägt vor, vorläufig abzuwarten bis der Istanbuler Wohnungsmarkt sich erholt hat.

Inzwischen hebt sich das leere Appartementgebäude wie ein Geisterschiff ab gegen den Hintergrund des Panoramas von Fulya. Völlig verlassen ist es jedoch keineswegs. Der Müteahhit hat seinem langjährigen Fahrer ein Appartement überschrieben, das dieser ausgebaut hat und mit seiner Familie bewohnt. Die Wohnung wird mit einem Ofen geheizt, dessen Kaminrohr trotzig aus einem verbretterten Element in der vor sich hin erodierenden Fassade herausragt. Mit dem Anschluss an die öffentliche Stromversorgung und Kanalisation hat sich in meinen Augen der Übergang vom Gecekondu-Zeitalter in die Apartkondu-Phase endgültig vollzogen. Roark, als Ikone für Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit und architektonische Reinheit hat in Istanbul versagt, die neuen Helden sind die korrupten, bauernschlauen Müteahhit. Sie bauen Istanbul.
Verdienen sie nicht endlich ein Denkmal?

Gewidmet Monsieur Guy Bavend, dem charmantesten Meisterlügner, dem ich je begegnet bin.
Die Namen der Bauunternehmer sind geändert.


Fußnoten:
[01] Zuerst erschienen in: Self Service City: Istanbul, hrsg. von Orhan Esen und Stephan Lanz, Berlin 2005. Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Autors.
[02] Das vom arabischen „taahhüt“ („das Versprechen“) stammende Wort „Müteahhit“ („derjenige, der etwas verspricht“, in diesem Falle: die vertragsgerechte Vollendung eines Bauauftrags) wurde durch die Istanbuler Praxis des Bauens in Zeiten der Migration durch eine volkstümliche neutürkische Wortschöpfung, „yapsatçı“ („derjenige, der baut und verkauft“) ersetzt. Die Änderung der Bezeichnung verweist unter anderem auf die Änderung der Rolle. In den 2000er Jahren jedoch zeichnen sich langsam die Konturen einer endgültigen semantischen Trennung beider Begriffe ab: Nunmehr bezeichnet das Wort Müteahhit einen Agenten aus den Reihen des größeren Kapitals, der wieder im klassischen Sinne für (zahlungskräftige) Kunden, gewöhnlich auch für Gemeinden oder staatliche Bauherren (Groß-)Bauprojekte durchführt, während der lediglich im Wohnungsbaubereich eigenständig tätige, aggressivere Kleinkapitalist als „yapsatçı“ bezeichnet wird.

ARCH+, Fr., 2009.11.20

20. November 2009 Hüsnü Yeğenoğlu

Neue Landschaften

(SUBTITLE) Die Meydan Shopping Mall von FOA in Ümraniye

Ümraniye reflektiert auf räumlicher Ebene die Komplexität urbaner, sozialer und wirtschaftlicher Dynamiken, die das Stadtbild bis heute maßgeblich prägen. In dieses lose, aus Fragmenten zusammenwachsende Vorstadtszenario setzt Foreign Office Architects (FOA) mit der Meydan Shopping Mall eine neue Mitte. Im Zentrum stehen dabei nicht die kommerziellen Aktivitäten. Vielmehr schafft diese neue Architektur einen fließenden, öffentlichen Landschaftsraum und einen Treffpunkt für alle Bewohner.

Der Stadtteil Ümraniye liegt auf der anatolischen Seite Istanbuls, gleich hinter dem Hauptzentrum Üsküdar. Das Areal kann als ein städtischer Versuchsraum angesehen werden, der die Bedeutung, Entwicklung und Veränderung Istanbuls seit den 1950er Jahren offenbart. Damals begann sich das Gebiet industriell zu entwickeln und Arbeitssuchende aus Anatolien erschlossen die Region nordöstlich des am Bosporus gelegenen Stadtteils Üsküdar mit Gecekondu-Strukturen. Später wurde die Hauptverkehrsader – die Autobahn E5 –ausgebaut und an die zweite Bosporus Brücke angeschlossen. In der Folge siedelten sich zu beiden Seiten der Autobahn unterschiedliche soziale Schichten an. Die kleinen Dörfer aus Zeiten des Osmanischen Reiches wuchsen so zu einem Zusammenschluss mehrerer Wohnviertel mit gemischten Bevölkerungsgruppen.

In Ümraniye lassen sich verschiedene Stufen dieses Transformationsprozesses ablesen, die auf eine räumlich-wirtschaftliche Vernetzung zurückzuführen sind. Mit dem Wandel von landwirtschaftlicher Mikroproduktion hin zu einer postfordistischen städtischen Wirtschaft veränderte sich die Bevölkerungsstruktur durch den Migrantenzustrom aus Anatolien. Sema Eder beschreibt Ümraniye als einen Ort, an dem Einheimische und Neuankömmlinge schon immer im Konflikt standen.[1] Es bildeten sich viele ideologische, ethnische und religiöse Identitäten heraus, die mit einer räumlichen Fragmentierungen einherging.

Es gibt in Ümraniye sowohl Entwicklungen, die zu einer Ausweitung des Post-Gecekondu-Phänomens führen, als auch eine rege Bautätigkeit von Apartmenthochhäusern und Gated Communities. Inmitten dieser heterogenen Situation definiert die Meydan Shopping Mall einen neuen städtebaulichen Knotenpunkt. Sie liegt nahe einer der großen alten Nachbarschaften Ümraniyes und direkt neben einer neu entstandenen Gated Community unweit der Autobahn E5, die zur Fatih Sultan Mehmet Brücke über den Bosporus führt. Das Einzugsgebiet reicht durch die gute Anbindung auch weit in den anatolischen Teil Istanbuls. Hier treffen unterschiedliche soziale und ökonomische Klassen aufeinander.

Ähnlich wie das 2002 von FOA errichtete Yokohama Terminals steht auch die Meydan Shopping Mall in einer dialektischen Beziehung zur Landschaft und der Umgebung. Die Architekten entwerfen eine aufgeschnittene, entfaltete „Box“, deren Ebenen und Wegeverbindungen zum Teil aus dem Umfeld entwickelt wurde. Allerdings ist es schwer abzuschätzen, wie sich die bauliche Umgebung zukünftig entwickeln wird. Dortige Wohnungsbauprojekte lassen sich durch ihren stark inselartigen Charakter schwer in ein größeres Bebauungsszenario integrieren. Gerade durch das Fehlen eines größeren städtischen Kontextes übernimmt die Meydan Shopping Mall hier die Funktion eines öffentlichen Platzes und Treffpunkts.

FOA zeigen mit ihrem Entwurf eine neue Herangehensweise an die Bauaufgabe. Das Büro entwickelt eine ganz eigene Morphologie, ein Netz aus ineinandergreifenden Wegen und Straßen, das sich in der Tektonik des Daches widerspiegelt. Sie entscheiden sich damit gegen die Formensprache einer introvertierten Mall, wie sie sonst in Istanbul zu finden sind. Die Landschaftsmetapher wird zum wesentlichen gestalterischen Element dieser sorgfältig ausformulierten Architektur. Als fließenden Landschaftsraum mit einer erlebnisreichen Abfolge differenzierter Räume vermittelt sie zwischen dem vorgegebenen Raumprogramm und der formalen Abgrenzung gegenüber der Autobahn. Dieses Projekt bietet eine überraschende Lösung für eine generische Situation, die außer städtischer Infrastruktur nur wenige Bezugspunkte hat.


Fußnoten:
[01] Sema Erder, İstanbul’a bir kent kondu Ümraniye, Istanbul 1996.

ARCH+, Fr., 2009.11.20

20. November 2009 Pelin Tan, Şevin Yıldız

Superpool – Selva Gürdoğan, Gregers Tang Thomsen

Sie haben in den letzten Jahren an vielen Kartierungsprojekten in Istanbul mitgewirkt. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Arbeit in Bezug auf die soziale, ökonomische und demographische Struktur der Stadt hervorheben?

Unser erstes selbstinitiiertes Projekt war die Erarbeitung einer Dolmuş- und Minibuskarte von Istanbul. Als wir gerade nach Istanbul gekommen waren, wollte mein Büropartner Gregers Tang Thomsen die Stadt zunächst an Hand von Karten verstehen lernen. Das Fehlen jeglicher Karten für öffentliche Verkehrsmittel erschwerte ihm jedoch die Erkundung der Stadt. Aus dieser Notwendigkeit heraus haben wir uns entschieden, selbst Karten zu erarbeiten. Auch wenn die Daten zu allen Dolmuş und Minibuslinien existieren, sind diese der Allgemeinheit nicht zugänglich. Und selbst wenn sie verfügbar wären, so könnte man sie vermutlich kaum lesen. Wir haben die Daten gesammelt, indem wir selbst die jeweiligen Minibusse nahmen und deren Routen aufzeichneten. Das war wesentlich einfacher, als eine Erlaubnis zur Einsicht in offizielles Kartenmaterial zu bekommen.
Im Anschluss begannen wir als Teil der Ausstellung „Becoming Istanbul“ mit der Garanti Galerie ein äußerst ehrgeiziges Kartierungsprojekt. Es beinhaltet etwa 70 Karten, die über verschiedene Transportnetze, Bevölkerungsdichte, Bildungsniveau oder die Verteilung von öffentlichen Einrichtungen etc. informieren (siehe Karten in diesem Heft). Wir haben die Daten wiederum selbst recherchiert, diesmal unter Mitwirkung von Experten wie dem Geografen Murat Güvenç oder dem Verkehrsexperten Haluk Gerçek und vielen Praktikanten.
Wichtiger als die spezifischen Schlüsse, die man aus den Karten ziehen kann, erscheint es uns jedoch, den 14 Millionen Einwohnern Istanbuls ein allgemeines Verständnis ihrer Stadt zu vermitteln, um den Menschen zu helfen, das scheinbar nicht fassbare Chaos zu visualisieren, zu verstehen und sich anzueignen. Unser Ziel ist es, zu zeigen, dass die Stadt und ihre Probleme nicht grenzenlos sind, sondern dass für Probleme, wenn sie erst einmal benannt sind, auch Lösungen entwickelt werden können.

Auf welche Schwierigkeiten stößt ein junges Büro in Istanbul in der Praxis?

Ein junges Büro hat es überall schwer, vielleicht mit Ausnahme der europäischen Länder, in denen Regierungen staatliche Beihilfen gewähren. Unsere Erfahrung in den USA hat gezeigt, dass dort eine Unternehmenskultur vorherrscht, in der man weniger erfahrene Büros nur zögerlich Vertrauen schenkt. In der Türkei hat das Fehlen dieser Unternehmenskultur Vor- und Nachteil zugleich. Der Vorteil liegt darin, dass an der Spitze der meisten Unternehmen Self-made-Männer und -Frauen stehen, die eine gewisse Sympathie für Unerfahrenheit hegen, weil sie auch einmal so angefangen haben. Man kann dadurch leichter ein persönliches Vertrauen aufbauen. In den USA dagegen werden Unternehmen häufig von Vorständen geleitet, die vorzugsweise nach etablierten Büros suchen, da sie das Risiko scheuen. Andererseits kann dieses Fehlen an Unternehmenskultur aber zu einem Mangel an Professionalität und organisatorischen Fähigkeiten führen. Wir sehen uns oft in der Situation, dass gerade die Ungeduld des Kunden die größte Herausforderung für den termin- und finanzgerechten Abschluss eines Projekts darstellt. Zudem fehlt es in Istanbul an einem guten kritischen Diskurs und couragierten Kollegen, aber wir sind davon überzeugt, dass sich das bald ändern wird.

Sie haben beide Ihre Ausbildung im Ausland genossen und erste Berufserfahrungen bei OMA gesammelt. Welchen Einfluss hat diese Erfahrung auf Ihre berufliche Praxis in Istanbul?

Sowohl während unseres Studiums als auch bei OMA herrschte eine sehr ausgeprägte experimentelle Studiokultur. Die wichtigste Lehre, die wir aus der Erfahrung bei OMA ziehen konnten, war die konzeptuelle Offenheit. Für jedes Entwurfsproblem mussten wir so viele Optionen wie möglich entwickeln. Ein neues Projekt beginnt damit, dass ein Team von drei bis fünf Personen für einige Wochen Entwurfsvorschläge erarbeiteten. Dabei wird erwartet, dass sich jeder Einzelne in den Prozess einbringt. Auf jede Fragestellung gab es somit mindestens 20 bis 30 verschiedene Antworten. Da so viele Ideen vorgebracht werden, hat es den befreienden Effekt, dass man keine Angst mehr hat, auch vermeintlich verrückte, dumme oder hässliche Ideen einzubringen. Der Druck ist raus, sobald man das Gebäude nicht mehr in einem Rutsch entwerfen muss. Oft werden Praktikanten mit der Aufgabe betraut, Ideen für das allgemeine Konzept eines Gebäudes zu entwickeln, da sie in Bezug auf Architektur weniger vorgefasste Meinungen haben. In Diskussionen mit Rem Koolhaas wird dann aus all diesen Ideen eine Geschichte entwickelt – es ist eine Art redaktionelle Tätigkeit, für die Koolhaas ein ausgeprägtes Talent besitzt. Dadurch wird der Entwurfsprozess sehr transparent.
In der Hinsicht war OMA eine gute Schule, wir haben viel gelernt.

Inwieweit beeinflussen Ihrer Meinung nach internationale Büros die derzeitige Stadtentwicklung in Istanbul? Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Zusammenhang gemacht?

Bis zu einem bestimmten Grad bringt internationale Architektur höhere Standards und Erwartungen mit sich, was eine prima Sache ist. Dennoch ist es enttäuschend, wenn typisch amerikanische Corporate-Architecture zur guten Architektur hochstilisiert wird. Gerade in Istanbul haben Architekten und Designer eine urbane und soziale Verantwortung. Deshalb sollte gute Architektur die Lebensqualität der Menschen auf möglichst vielen Ebenen verbessern. Ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür ist das Meydan-Projekt von FOA in Ümraniye (siehe FOA in diesem Heft). Unabhängig davon, ob dieses Projekt im Detail gut ist oder nicht, so ist es unserer Meinung nach ein äußerst erfolgreiches Projekt – in dem Sinne, dass es gelungen ist, mit einer Shopping Mall, die normalerweise eine in sich geschlossene kommerzielle Box ist, einen aktiven urbanen Raum zu schaffen.

Sie wurden als eines von fünf Büros zur Teilnahme am Urban Age Workshop ausgewählt. In dem dabei entstandenen Projekt befassen Sie sich mit städtischen Freiräumen. Welchen Ansatz und welches Anliegen haben Sie dabei verfolgt?

Charakteristisch für osmanische und türkische Städte ist eine komplexe Abfolge nachbarschaftlicher, religiöser und wirtschaftlicher Räume, die verschiedene Grade an Öffentlichkeit schaffen. Ein lebhaftes Treiben auf den Straßen bestimmt den Charakter der Stadt, in der sich häusliche, kommerzielle und Freizeitaktivitäten in einer natürlichen Art und Weise auf den Außenraum hinaus ausdehnen. Entfernt man sich weiter von den aktiven kommerziellen Zentren, zeigen die Straßen einen immer privateren Charakter.
Als sich die Stadt immer mehr verdichtete, wurden allerdings kaum zusätzliche öffentliche Räume vorgesehen. Freiräume sind heute vor allem durch den Fahrzeugverkehr geprägt. Um Istanbuls öffentliche Räume aufzuwerten, glauben wir, dass es wichtig ist, bei den Freiräumen im Wohnumfeld zu beginnen. Das Einführen einer Verkehrshierarchie und einer Infrastruktur für den ruhenden Verkehr kann neue Freiraumkonzepte ermöglichen. Wenn parkende Fahrzeuge von den Straßen verschwinden, wird fast 50 Prozent der Stadtfläche als Raum für neue Nutzungen frei. Dieser Ansatz lässt sich durch eine Hybridisierung von Parkstrukturen und kommerziellen Nutzungen realisieren.

ARCH+, Fr., 2009.11.20

20. November 2009 Pelin Tan, Şevin Yıldız

Die Stadt der Akteure

(SUBTITLE) Der informelle Transformationsprozess der Gecekondus

Die Türkei erlebte im 20. Jahrhundert einen Modernisierungsprozess, der zu einer umfassenden Veränderung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Struktur führte. Industrialisierung, Modernisierung, Verwestlichung und städtisches Wachstum gingen Hand in Hand. Die anhaltenden Migrationsbewegungen von ländlichen Gebieten in die größeren Städte gelten als Schlüsselfaktor dieser Entwicklung. Sie führten zur Herausbildung der „Gecekondus“ (türkisch: über Nacht errichtet), einer neuen Siedlungstypologie, die als Manifestation der tief greifenden Veränderungsprozesse entstand. Sie kann als informelles Gegenmodell zur planmäßigen Stadt gelesen werden. Die Quantität und Geschwindigkeit der Ausbreitung dieser Typologie veränderte die Struktur und das Erscheinungsbild der größeren türkischen Städte, insbesondere Istanbuls, so stark, dass vielerorts von einer Art Neugründung gesprochen wird.[1]

Das Gecekondu aus der Sicht einer dynamischen Stadtplanung

Betrachtet man die Evolution der Gecekondus, die aus einem Wechselspiel urbaner, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Prozesse hervorgingen (siehe den Beitrag von Ulus Atayurt/Ayse Çavdar in diesem Heft), fällt die Abwesenheit einer kontrollierenden und planenden Instanz auf. Dies ist sicherlich mit der Quantität und Geschwindigkeit der Migrationsströme zu erklären, die sowohl die bestehende Stadtstruktur als auch ihre planenden Behörden überforderte. Der Umgang mit den Gecekondus ist paradigmatisch. Eine vorausschauende Planung musste zwangsweise einem pragmatischen Reagieren weichen, das sich mehr mit den Folgen der Entwicklung auseinandersetzte als mit deren Ursachen. Mit wenigen wichtigen lenkenden Eingriffen wurde das Phänomen Gecekondu ohne Generalpläne und Großkapital aus eigenem Antrieb und mit wenigen Ressourcen umgesetzt. Gerade der – unfreiwillige – Verzicht auf vorgefasste Gestaltungssatzungen und das Zurückgreifen auf einen prozess- und lenkungsorientierten stadtplanerischen Umgang, der die Chancen eines partiellen Eingreifens in die komplexen Prozesse eines offenen Stadtsystems nutzt, ermöglichten diese dynamische Stadtplanung.

Masse und Geschwindigkeit als kritische Faktoren

Aufgrund der Masse und der Geschwindigkeit der Entwicklung wurden die konventionellen Planungsorgane ausgeschaltet. Für die Entstehung und Weiterentwicklung des Gecekondu als Manifestation einer selbstorganisierten Stadtproduktion ist eine Mindestanzahl von interagierenden Akteuren notwendig. Die zur Herausbildung informeller selbstorganisierender Stadtstrukturen notwendige Masse wird aus der Anzahl der Akteure, dem Grad der Aktivität dieser Akteure und dem Grad der Interaktion zwischen den Akteuren bestimmt. Wird diese kritische Masse unterschritten, kommt es zwar zu bestimmten lokalen Handlungsergebnissen, diese bilden jedoch keine dauerhaften globalen Strukturen und Ordnungsmuster heraus.[2] Zur Kategorie der Masse tritt die Dimension der Geschwindigkeit. Erst aufgrund der Geschwindigkeit entgleitet den Behörden die Kontrolle, so dass die Stadt zur unmittelbaren und weitgehend unkontrollierten Materialisierung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Prozesse wird.

Planung durch Lenkung immaterieller Prozesse

Das Ausmaß und die Geschwindigkeit der informellen Besiedlung führten dazu, dass die konventionellen Planungspraktiken nicht mehr griffen und auf wenige kontrollierende und steuernde Eingriffe beschränkt werden mussten. Der Staat reagierte anfänglich mit Verboten und Zerstörungsaktionen. Das 1966 verabschiedete Gesetz 775 zur Regelung der besetzten Siedlungen sah eine Mischung aus Verboten informeller Siedlungen und der Bereitstellung von Unterkünften für evakuierte Bewohner vor.[3] Nachträgliche Gesetzesrevisionen ermöglichten nun Legalisierungen und Nachrüstungen der bestehenden Gebiete mit verbesserter Infrastruktur. Die wesentlichen planerischen Eingriffe waren die Politisierung der Gecekondus, die sich so zur kollektiven gesellschaftspolitisch relevanten Herausforderung formierten, sowie deren Legalisierung und die Verbesserung der baulichen und infrastrukturellen Substanz. Der planerische Umgang führte in dem Moment zu Erfolgen, in dem die beschränkte Sichtweise auf die unerwünschten physisch-materiellen Resultate der informellen Besiedelung zugunsten einer zunehmenden Akzeptanz der dahinter stehenden komplexen menschlichen Faktoren wich.

Die Stadt der Akteure

Das Gecekondu ist eine Form der Urbanisierung, die maßgeblich auf der Aktivität ihrer Erbauer und Bewohner beruht. Die sozial und wirtschaftlich prekäre Situation der Gecekondu-Siedler bildet dabei die Grundlage, während die Verbesserung dieser Situation die treibende Kraft einer groß angelegten Entwicklung von der ärmlichen Übergangsbehausung zur quasi-formellen Stadt darstellt. Das soziologische Profil der Bewohner ist hierbei von großer Bedeutung. Es entsteht ein neuer sozialer Typ, eine Mischform aus Land- und Stadtbewohner, der durch dörfliche Sozialstrukturen und Wertvorstellungen geprägt ist, die von neuen städtischen Verhaltensmustern und kulturellen Zügen überformt werden. Die Gecekondu-Phase der türkischen Gesellschaftsentwicklung führt zu einer gewissen kulturellen, politischen und religiösen Homogenisierung. Das Gecekondu entstand in einem Zwischenraum zwischen ländlichen Zwängen und städtischen Freiheiten und Möglichkeiten, das durch geschicktes Verhandeln und Agieren zu einer erfolgreichen informell-formellen Stadttypologie ausformuliert werden konnte.

Gecekondu als dynamische Form

Das Gecekondu entstand als individueller und kollektiver Lösungsansatz, der auf die Mängel eines Systems reagierte, das nicht in der Lage war, die grundlegenden Bedürfnisse nach Unterkunft und Arbeit einer im Zuge der Urbanisierung entstandenen Gesellschaft zu befriedigen. Zu seinen Schlüsseleigenschaften zählt die Anpassung an die Bedürfnisse der Bewohner und an die von außen gesetzten Grenzen und Restriktionen. Es unterlag einem anhaltenden Konstruktions- und Transformationsprozess, wurde mit dem sozialen Aufstieg vieler Bewohner modifiziert und mit steigenden Qualitätsanforderungen erweitert. Die Bewohner wiederum durchlebten die Stadien vom Dorfbewohner zum informellen städtischen Siedler, zum politischen Akteur, zum wirtschaftlich handelnden Akteur des Immobilienmarktes und letztendlich zum Stadtbewohner.[4] Gecekondus können als Übergangsgebiete der Modernisierung gesehen werden, die sich auf alternativen Wegen der formellen Stadt annäherten und sich mit dieser verbanden. Das Gecekondu stellt eine neue Form der türkischen Großstadt dar, das über weite Strecken seiner Entwicklung eine Hybridform zwischen Stadt und Land, zwischen Moderne und Tradition bildet.


Fußnoten:
[01] Etwa 50% aller Häuser Istanbuls konnten im Jahr 1995 der Gecekondu-Typologie zugerechnet werden. Quelle: Josef Leitman/Deniz Bahoroğlu, Informal Rules using institutional economics to understand service provision in Turkey’s spontaneous settlements, in: Journal of Development Studies 5 (1998).
[02] Hierfür könnte man die Entwicklung der Slums ab ca 2002 anführen. Unter anderem aufgrund mangelnder Interaktion und fehlendem sozialen Zusammenhalt unter den Siedlern erfahren diese in absehbarer Zeit keine positive Transformation.
[03] Für eine genauere Darstellung der Entwicklung der sich mit Gecekondus beschäftigenden Gesetzeslage siehe Özsoy Akşen, Gecekondu biçimlenme süreci ve etkenlerinin analizi, Phil. Diss. Istanbul Technical University 1983.
[04] Im Zuge dieser Metamorphose wird dem Islam eine vermittelnde und ausgleichende Rolle zugeschrieben, etwa bei Kemal H. Karpat: The Genesis of the Gecekondu: Rural Migration and Urbanization, in: European Journal of Turkish Studies, 2004.

ARCH+, Fr., 2009.11.20

20. November 2009 Michael Buschor, Michael Hirschbichler

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