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20. November 2009Pelin Tan
Şevin Yıldız
ARCH+

Neue Landschaften

Ümraniye reflektiert auf räumlicher Ebene die Komplexität urbaner, sozialer und wirtschaftlicher Dynamiken, die das Stadtbild bis heute maßgeblich prägen. In dieses lose, aus Fragmenten zusammenwachsende Vorstadtszenario setzt Foreign Office Architects (FOA) mit der Meydan Shopping Mall eine neue Mitte. Im Zentrum stehen dabei nicht die kommerziellen Aktivitäten. Vielmehr schafft diese neue Architektur einen fließenden, öffentlichen Landschaftsraum und einen Treffpunkt für alle Bewohner.

Ümraniye reflektiert auf räumlicher Ebene die Komplexität urbaner, sozialer und wirtschaftlicher Dynamiken, die das Stadtbild bis heute maßgeblich prägen. In dieses lose, aus Fragmenten zusammenwachsende Vorstadtszenario setzt Foreign Office Architects (FOA) mit der Meydan Shopping Mall eine neue Mitte. Im Zentrum stehen dabei nicht die kommerziellen Aktivitäten. Vielmehr schafft diese neue Architektur einen fließenden, öffentlichen Landschaftsraum und einen Treffpunkt für alle Bewohner.

Der Stadtteil Ümraniye liegt auf der anatolischen Seite Istanbuls, gleich hinter dem Hauptzentrum Üsküdar. Das Areal kann als ein städtischer Versuchsraum angesehen werden, der die Bedeutung, Entwicklung und Veränderung Istanbuls seit den 1950er Jahren offenbart. Damals begann sich das Gebiet industriell zu entwickeln und Arbeitssuchende aus Anatolien erschlossen die Region nordöstlich des am Bosporus gelegenen Stadtteils Üsküdar mit Gecekondu-Strukturen. Später wurde die Hauptverkehrsader – die Autobahn E5 –ausgebaut und an die zweite Bosporus Brücke angeschlossen. In der Folge siedelten sich zu beiden Seiten der Autobahn unterschiedliche soziale Schichten an. Die kleinen Dörfer aus Zeiten des Osmanischen Reiches wuchsen so zu einem Zusammenschluss mehrerer Wohnviertel mit gemischten Bevölkerungsgruppen.

In Ümraniye lassen sich verschiedene Stufen dieses Transformationsprozesses ablesen, die auf eine räumlich-wirtschaftliche Vernetzung zurückzuführen sind. Mit dem Wandel von landwirtschaftlicher Mikroproduktion hin zu einer postfordistischen städtischen Wirtschaft veränderte sich die Bevölkerungsstruktur durch den Migrantenzustrom aus Anatolien. Sema Eder beschreibt Ümraniye als einen Ort, an dem Einheimische und Neuankömmlinge schon immer im Konflikt standen.[1] Es bildeten sich viele ideologische, ethnische und religiöse Identitäten heraus, die mit einer räumlichen Fragmentierungen einherging.

Es gibt in Ümraniye sowohl Entwicklungen, die zu einer Ausweitung des Post-Gecekondu-Phänomens führen, als auch eine rege Bautätigkeit von Apartmenthochhäusern und Gated Communities. Inmitten dieser heterogenen Situation definiert die Meydan Shopping Mall einen neuen städtebaulichen Knotenpunkt. Sie liegt nahe einer der großen alten Nachbarschaften Ümraniyes und direkt neben einer neu entstandenen Gated Community unweit der Autobahn E5, die zur Fatih Sultan Mehmet Brücke über den Bosporus führt. Das Einzugsgebiet reicht durch die gute Anbindung auch weit in den anatolischen Teil Istanbuls. Hier treffen unterschiedliche soziale und ökonomische Klassen aufeinander.

Ähnlich wie das 2002 von FOA errichtete Yokohama Terminals steht auch die Meydan Shopping Mall in einer dialektischen Beziehung zur Landschaft und der Umgebung. Die Architekten entwerfen eine aufgeschnittene, entfaltete „Box“, deren Ebenen und Wegeverbindungen zum Teil aus dem Umfeld entwickelt wurde. Allerdings ist es schwer abzuschätzen, wie sich die bauliche Umgebung zukünftig entwickeln wird. Dortige Wohnungsbauprojekte lassen sich durch ihren stark inselartigen Charakter schwer in ein größeres Bebauungsszenario integrieren. Gerade durch das Fehlen eines größeren städtischen Kontextes übernimmt die Meydan Shopping Mall hier die Funktion eines öffentlichen Platzes und Treffpunkts.

FOA zeigen mit ihrem Entwurf eine neue Herangehensweise an die Bauaufgabe. Das Büro entwickelt eine ganz eigene Morphologie, ein Netz aus ineinandergreifenden Wegen und Straßen, das sich in der Tektonik des Daches widerspiegelt. Sie entscheiden sich damit gegen die Formensprache einer introvertierten Mall, wie sie sonst in Istanbul zu finden sind. Die Landschaftsmetapher wird zum wesentlichen gestalterischen Element dieser sorgfältig ausformulierten Architektur. Als fließenden Landschaftsraum mit einer erlebnisreichen Abfolge differenzierter Räume vermittelt sie zwischen dem vorgegebenen Raumprogramm und der formalen Abgrenzung gegenüber der Autobahn. Dieses Projekt bietet eine überraschende Lösung für eine generische Situation, die außer städtischer Infrastruktur nur wenige Bezugspunkte hat.


Fußnoten:
[01] Sema Erder, İstanbul’a bir kent kondu Ümraniye, Istanbul 1996.

ARCH+, Fr., 2009.11.20



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ARCH+ 195 Istanbul wird grün

20. November 2009Pelin Tan
Şevin Yıldız
ARCH+

Superpool – Selva Gürdoğan, Gregers Tang Thomsen

Sie haben in den letzten Jahren an vielen Kartierungsprojekten in Istanbul mitgewirkt. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Arbeit in Bezug auf die soziale,...

Sie haben in den letzten Jahren an vielen Kartierungsprojekten in Istanbul mitgewirkt. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Arbeit in Bezug auf die soziale,...

Sie haben in den letzten Jahren an vielen Kartierungsprojekten in Istanbul mitgewirkt. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Arbeit in Bezug auf die soziale, ökonomische und demographische Struktur der Stadt hervorheben?

Unser erstes selbstinitiiertes Projekt war die Erarbeitung einer Dolmuş- und Minibuskarte von Istanbul. Als wir gerade nach Istanbul gekommen waren, wollte mein Büropartner Gregers Tang Thomsen die Stadt zunächst an Hand von Karten verstehen lernen. Das Fehlen jeglicher Karten für öffentliche Verkehrsmittel erschwerte ihm jedoch die Erkundung der Stadt. Aus dieser Notwendigkeit heraus haben wir uns entschieden, selbst Karten zu erarbeiten. Auch wenn die Daten zu allen Dolmuş und Minibuslinien existieren, sind diese der Allgemeinheit nicht zugänglich. Und selbst wenn sie verfügbar wären, so könnte man sie vermutlich kaum lesen. Wir haben die Daten gesammelt, indem wir selbst die jeweiligen Minibusse nahmen und deren Routen aufzeichneten. Das war wesentlich einfacher, als eine Erlaubnis zur Einsicht in offizielles Kartenmaterial zu bekommen.
Im Anschluss begannen wir als Teil der Ausstellung „Becoming Istanbul“ mit der Garanti Galerie ein äußerst ehrgeiziges Kartierungsprojekt. Es beinhaltet etwa 70 Karten, die über verschiedene Transportnetze, Bevölkerungsdichte, Bildungsniveau oder die Verteilung von öffentlichen Einrichtungen etc. informieren (siehe Karten in diesem Heft). Wir haben die Daten wiederum selbst recherchiert, diesmal unter Mitwirkung von Experten wie dem Geografen Murat Güvenç oder dem Verkehrsexperten Haluk Gerçek und vielen Praktikanten.
Wichtiger als die spezifischen Schlüsse, die man aus den Karten ziehen kann, erscheint es uns jedoch, den 14 Millionen Einwohnern Istanbuls ein allgemeines Verständnis ihrer Stadt zu vermitteln, um den Menschen zu helfen, das scheinbar nicht fassbare Chaos zu visualisieren, zu verstehen und sich anzueignen. Unser Ziel ist es, zu zeigen, dass die Stadt und ihre Probleme nicht grenzenlos sind, sondern dass für Probleme, wenn sie erst einmal benannt sind, auch Lösungen entwickelt werden können.

Auf welche Schwierigkeiten stößt ein junges Büro in Istanbul in der Praxis?

Ein junges Büro hat es überall schwer, vielleicht mit Ausnahme der europäischen Länder, in denen Regierungen staatliche Beihilfen gewähren. Unsere Erfahrung in den USA hat gezeigt, dass dort eine Unternehmenskultur vorherrscht, in der man weniger erfahrene Büros nur zögerlich Vertrauen schenkt. In der Türkei hat das Fehlen dieser Unternehmenskultur Vor- und Nachteil zugleich. Der Vorteil liegt darin, dass an der Spitze der meisten Unternehmen Self-made-Männer und -Frauen stehen, die eine gewisse Sympathie für Unerfahrenheit hegen, weil sie auch einmal so angefangen haben. Man kann dadurch leichter ein persönliches Vertrauen aufbauen. In den USA dagegen werden Unternehmen häufig von Vorständen geleitet, die vorzugsweise nach etablierten Büros suchen, da sie das Risiko scheuen. Andererseits kann dieses Fehlen an Unternehmenskultur aber zu einem Mangel an Professionalität und organisatorischen Fähigkeiten führen. Wir sehen uns oft in der Situation, dass gerade die Ungeduld des Kunden die größte Herausforderung für den termin- und finanzgerechten Abschluss eines Projekts darstellt. Zudem fehlt es in Istanbul an einem guten kritischen Diskurs und couragierten Kollegen, aber wir sind davon überzeugt, dass sich das bald ändern wird.

Sie haben beide Ihre Ausbildung im Ausland genossen und erste Berufserfahrungen bei OMA gesammelt. Welchen Einfluss hat diese Erfahrung auf Ihre berufliche Praxis in Istanbul?

Sowohl während unseres Studiums als auch bei OMA herrschte eine sehr ausgeprägte experimentelle Studiokultur. Die wichtigste Lehre, die wir aus der Erfahrung bei OMA ziehen konnten, war die konzeptuelle Offenheit. Für jedes Entwurfsproblem mussten wir so viele Optionen wie möglich entwickeln. Ein neues Projekt beginnt damit, dass ein Team von drei bis fünf Personen für einige Wochen Entwurfsvorschläge erarbeiteten. Dabei wird erwartet, dass sich jeder Einzelne in den Prozess einbringt. Auf jede Fragestellung gab es somit mindestens 20 bis 30 verschiedene Antworten. Da so viele Ideen vorgebracht werden, hat es den befreienden Effekt, dass man keine Angst mehr hat, auch vermeintlich verrückte, dumme oder hässliche Ideen einzubringen. Der Druck ist raus, sobald man das Gebäude nicht mehr in einem Rutsch entwerfen muss. Oft werden Praktikanten mit der Aufgabe betraut, Ideen für das allgemeine Konzept eines Gebäudes zu entwickeln, da sie in Bezug auf Architektur weniger vorgefasste Meinungen haben. In Diskussionen mit Rem Koolhaas wird dann aus all diesen Ideen eine Geschichte entwickelt – es ist eine Art redaktionelle Tätigkeit, für die Koolhaas ein ausgeprägtes Talent besitzt. Dadurch wird der Entwurfsprozess sehr transparent.
In der Hinsicht war OMA eine gute Schule, wir haben viel gelernt.

Inwieweit beeinflussen Ihrer Meinung nach internationale Büros die derzeitige Stadtentwicklung in Istanbul? Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Zusammenhang gemacht?

Bis zu einem bestimmten Grad bringt internationale Architektur höhere Standards und Erwartungen mit sich, was eine prima Sache ist. Dennoch ist es enttäuschend, wenn typisch amerikanische Corporate-Architecture zur guten Architektur hochstilisiert wird. Gerade in Istanbul haben Architekten und Designer eine urbane und soziale Verantwortung. Deshalb sollte gute Architektur die Lebensqualität der Menschen auf möglichst vielen Ebenen verbessern. Ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür ist das Meydan-Projekt von FOA in Ümraniye (siehe FOA in diesem Heft). Unabhängig davon, ob dieses Projekt im Detail gut ist oder nicht, so ist es unserer Meinung nach ein äußerst erfolgreiches Projekt – in dem Sinne, dass es gelungen ist, mit einer Shopping Mall, die normalerweise eine in sich geschlossene kommerzielle Box ist, einen aktiven urbanen Raum zu schaffen.

Sie wurden als eines von fünf Büros zur Teilnahme am Urban Age Workshop ausgewählt. In dem dabei entstandenen Projekt befassen Sie sich mit städtischen Freiräumen. Welchen Ansatz und welches Anliegen haben Sie dabei verfolgt?

Charakteristisch für osmanische und türkische Städte ist eine komplexe Abfolge nachbarschaftlicher, religiöser und wirtschaftlicher Räume, die verschiedene Grade an Öffentlichkeit schaffen. Ein lebhaftes Treiben auf den Straßen bestimmt den Charakter der Stadt, in der sich häusliche, kommerzielle und Freizeitaktivitäten in einer natürlichen Art und Weise auf den Außenraum hinaus ausdehnen. Entfernt man sich weiter von den aktiven kommerziellen Zentren, zeigen die Straßen einen immer privateren Charakter.
Als sich die Stadt immer mehr verdichtete, wurden allerdings kaum zusätzliche öffentliche Räume vorgesehen. Freiräume sind heute vor allem durch den Fahrzeugverkehr geprägt. Um Istanbuls öffentliche Räume aufzuwerten, glauben wir, dass es wichtig ist, bei den Freiräumen im Wohnumfeld zu beginnen. Das Einführen einer Verkehrshierarchie und einer Infrastruktur für den ruhenden Verkehr kann neue Freiraumkonzepte ermöglichen. Wenn parkende Fahrzeuge von den Straßen verschwinden, wird fast 50 Prozent der Stadtfläche als Raum für neue Nutzungen frei. Dieser Ansatz lässt sich durch eine Hybridisierung von Parkstrukturen und kommerziellen Nutzungen realisieren.

ARCH+, Fr., 2009.11.20



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ARCH+ 195 Istanbul wird grün

Presseschau 12

20. November 2009Pelin Tan
Şevin Yıldız
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Neue Landschaften

Ümraniye reflektiert auf räumlicher Ebene die Komplexität urbaner, sozialer und wirtschaftlicher Dynamiken, die das Stadtbild bis heute maßgeblich prägen. In dieses lose, aus Fragmenten zusammenwachsende Vorstadtszenario setzt Foreign Office Architects (FOA) mit der Meydan Shopping Mall eine neue Mitte. Im Zentrum stehen dabei nicht die kommerziellen Aktivitäten. Vielmehr schafft diese neue Architektur einen fließenden, öffentlichen Landschaftsraum und einen Treffpunkt für alle Bewohner.

Ümraniye reflektiert auf räumlicher Ebene die Komplexität urbaner, sozialer und wirtschaftlicher Dynamiken, die das Stadtbild bis heute maßgeblich prägen. In dieses lose, aus Fragmenten zusammenwachsende Vorstadtszenario setzt Foreign Office Architects (FOA) mit der Meydan Shopping Mall eine neue Mitte. Im Zentrum stehen dabei nicht die kommerziellen Aktivitäten. Vielmehr schafft diese neue Architektur einen fließenden, öffentlichen Landschaftsraum und einen Treffpunkt für alle Bewohner.

Der Stadtteil Ümraniye liegt auf der anatolischen Seite Istanbuls, gleich hinter dem Hauptzentrum Üsküdar. Das Areal kann als ein städtischer Versuchsraum angesehen werden, der die Bedeutung, Entwicklung und Veränderung Istanbuls seit den 1950er Jahren offenbart. Damals begann sich das Gebiet industriell zu entwickeln und Arbeitssuchende aus Anatolien erschlossen die Region nordöstlich des am Bosporus gelegenen Stadtteils Üsküdar mit Gecekondu-Strukturen. Später wurde die Hauptverkehrsader – die Autobahn E5 –ausgebaut und an die zweite Bosporus Brücke angeschlossen. In der Folge siedelten sich zu beiden Seiten der Autobahn unterschiedliche soziale Schichten an. Die kleinen Dörfer aus Zeiten des Osmanischen Reiches wuchsen so zu einem Zusammenschluss mehrerer Wohnviertel mit gemischten Bevölkerungsgruppen.

In Ümraniye lassen sich verschiedene Stufen dieses Transformationsprozesses ablesen, die auf eine räumlich-wirtschaftliche Vernetzung zurückzuführen sind. Mit dem Wandel von landwirtschaftlicher Mikroproduktion hin zu einer postfordistischen städtischen Wirtschaft veränderte sich die Bevölkerungsstruktur durch den Migrantenzustrom aus Anatolien. Sema Eder beschreibt Ümraniye als einen Ort, an dem Einheimische und Neuankömmlinge schon immer im Konflikt standen.[1] Es bildeten sich viele ideologische, ethnische und religiöse Identitäten heraus, die mit einer räumlichen Fragmentierungen einherging.

Es gibt in Ümraniye sowohl Entwicklungen, die zu einer Ausweitung des Post-Gecekondu-Phänomens führen, als auch eine rege Bautätigkeit von Apartmenthochhäusern und Gated Communities. Inmitten dieser heterogenen Situation definiert die Meydan Shopping Mall einen neuen städtebaulichen Knotenpunkt. Sie liegt nahe einer der großen alten Nachbarschaften Ümraniyes und direkt neben einer neu entstandenen Gated Community unweit der Autobahn E5, die zur Fatih Sultan Mehmet Brücke über den Bosporus führt. Das Einzugsgebiet reicht durch die gute Anbindung auch weit in den anatolischen Teil Istanbuls. Hier treffen unterschiedliche soziale und ökonomische Klassen aufeinander.

Ähnlich wie das 2002 von FOA errichtete Yokohama Terminals steht auch die Meydan Shopping Mall in einer dialektischen Beziehung zur Landschaft und der Umgebung. Die Architekten entwerfen eine aufgeschnittene, entfaltete „Box“, deren Ebenen und Wegeverbindungen zum Teil aus dem Umfeld entwickelt wurde. Allerdings ist es schwer abzuschätzen, wie sich die bauliche Umgebung zukünftig entwickeln wird. Dortige Wohnungsbauprojekte lassen sich durch ihren stark inselartigen Charakter schwer in ein größeres Bebauungsszenario integrieren. Gerade durch das Fehlen eines größeren städtischen Kontextes übernimmt die Meydan Shopping Mall hier die Funktion eines öffentlichen Platzes und Treffpunkts.

FOA zeigen mit ihrem Entwurf eine neue Herangehensweise an die Bauaufgabe. Das Büro entwickelt eine ganz eigene Morphologie, ein Netz aus ineinandergreifenden Wegen und Straßen, das sich in der Tektonik des Daches widerspiegelt. Sie entscheiden sich damit gegen die Formensprache einer introvertierten Mall, wie sie sonst in Istanbul zu finden sind. Die Landschaftsmetapher wird zum wesentlichen gestalterischen Element dieser sorgfältig ausformulierten Architektur. Als fließenden Landschaftsraum mit einer erlebnisreichen Abfolge differenzierter Räume vermittelt sie zwischen dem vorgegebenen Raumprogramm und der formalen Abgrenzung gegenüber der Autobahn. Dieses Projekt bietet eine überraschende Lösung für eine generische Situation, die außer städtischer Infrastruktur nur wenige Bezugspunkte hat.


Fußnoten:
[01] Sema Erder, İstanbul’a bir kent kondu Ümraniye, Istanbul 1996.

ARCH+, Fr., 2009.11.20



verknüpfte Zeitschriften
ARCH+ 195 Istanbul wird grün

20. November 2009Pelin Tan
Şevin Yıldız
ARCH+

Superpool – Selva Gürdoğan, Gregers Tang Thomsen

Sie haben in den letzten Jahren an vielen Kartierungsprojekten in Istanbul mitgewirkt. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Arbeit in Bezug auf die soziale,...

Sie haben in den letzten Jahren an vielen Kartierungsprojekten in Istanbul mitgewirkt. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Arbeit in Bezug auf die soziale,...

Sie haben in den letzten Jahren an vielen Kartierungsprojekten in Istanbul mitgewirkt. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Arbeit in Bezug auf die soziale, ökonomische und demographische Struktur der Stadt hervorheben?

Unser erstes selbstinitiiertes Projekt war die Erarbeitung einer Dolmuş- und Minibuskarte von Istanbul. Als wir gerade nach Istanbul gekommen waren, wollte mein Büropartner Gregers Tang Thomsen die Stadt zunächst an Hand von Karten verstehen lernen. Das Fehlen jeglicher Karten für öffentliche Verkehrsmittel erschwerte ihm jedoch die Erkundung der Stadt. Aus dieser Notwendigkeit heraus haben wir uns entschieden, selbst Karten zu erarbeiten. Auch wenn die Daten zu allen Dolmuş und Minibuslinien existieren, sind diese der Allgemeinheit nicht zugänglich. Und selbst wenn sie verfügbar wären, so könnte man sie vermutlich kaum lesen. Wir haben die Daten gesammelt, indem wir selbst die jeweiligen Minibusse nahmen und deren Routen aufzeichneten. Das war wesentlich einfacher, als eine Erlaubnis zur Einsicht in offizielles Kartenmaterial zu bekommen.
Im Anschluss begannen wir als Teil der Ausstellung „Becoming Istanbul“ mit der Garanti Galerie ein äußerst ehrgeiziges Kartierungsprojekt. Es beinhaltet etwa 70 Karten, die über verschiedene Transportnetze, Bevölkerungsdichte, Bildungsniveau oder die Verteilung von öffentlichen Einrichtungen etc. informieren (siehe Karten in diesem Heft). Wir haben die Daten wiederum selbst recherchiert, diesmal unter Mitwirkung von Experten wie dem Geografen Murat Güvenç oder dem Verkehrsexperten Haluk Gerçek und vielen Praktikanten.
Wichtiger als die spezifischen Schlüsse, die man aus den Karten ziehen kann, erscheint es uns jedoch, den 14 Millionen Einwohnern Istanbuls ein allgemeines Verständnis ihrer Stadt zu vermitteln, um den Menschen zu helfen, das scheinbar nicht fassbare Chaos zu visualisieren, zu verstehen und sich anzueignen. Unser Ziel ist es, zu zeigen, dass die Stadt und ihre Probleme nicht grenzenlos sind, sondern dass für Probleme, wenn sie erst einmal benannt sind, auch Lösungen entwickelt werden können.

Auf welche Schwierigkeiten stößt ein junges Büro in Istanbul in der Praxis?

Ein junges Büro hat es überall schwer, vielleicht mit Ausnahme der europäischen Länder, in denen Regierungen staatliche Beihilfen gewähren. Unsere Erfahrung in den USA hat gezeigt, dass dort eine Unternehmenskultur vorherrscht, in der man weniger erfahrene Büros nur zögerlich Vertrauen schenkt. In der Türkei hat das Fehlen dieser Unternehmenskultur Vor- und Nachteil zugleich. Der Vorteil liegt darin, dass an der Spitze der meisten Unternehmen Self-made-Männer und -Frauen stehen, die eine gewisse Sympathie für Unerfahrenheit hegen, weil sie auch einmal so angefangen haben. Man kann dadurch leichter ein persönliches Vertrauen aufbauen. In den USA dagegen werden Unternehmen häufig von Vorständen geleitet, die vorzugsweise nach etablierten Büros suchen, da sie das Risiko scheuen. Andererseits kann dieses Fehlen an Unternehmenskultur aber zu einem Mangel an Professionalität und organisatorischen Fähigkeiten führen. Wir sehen uns oft in der Situation, dass gerade die Ungeduld des Kunden die größte Herausforderung für den termin- und finanzgerechten Abschluss eines Projekts darstellt. Zudem fehlt es in Istanbul an einem guten kritischen Diskurs und couragierten Kollegen, aber wir sind davon überzeugt, dass sich das bald ändern wird.

Sie haben beide Ihre Ausbildung im Ausland genossen und erste Berufserfahrungen bei OMA gesammelt. Welchen Einfluss hat diese Erfahrung auf Ihre berufliche Praxis in Istanbul?

Sowohl während unseres Studiums als auch bei OMA herrschte eine sehr ausgeprägte experimentelle Studiokultur. Die wichtigste Lehre, die wir aus der Erfahrung bei OMA ziehen konnten, war die konzeptuelle Offenheit. Für jedes Entwurfsproblem mussten wir so viele Optionen wie möglich entwickeln. Ein neues Projekt beginnt damit, dass ein Team von drei bis fünf Personen für einige Wochen Entwurfsvorschläge erarbeiteten. Dabei wird erwartet, dass sich jeder Einzelne in den Prozess einbringt. Auf jede Fragestellung gab es somit mindestens 20 bis 30 verschiedene Antworten. Da so viele Ideen vorgebracht werden, hat es den befreienden Effekt, dass man keine Angst mehr hat, auch vermeintlich verrückte, dumme oder hässliche Ideen einzubringen. Der Druck ist raus, sobald man das Gebäude nicht mehr in einem Rutsch entwerfen muss. Oft werden Praktikanten mit der Aufgabe betraut, Ideen für das allgemeine Konzept eines Gebäudes zu entwickeln, da sie in Bezug auf Architektur weniger vorgefasste Meinungen haben. In Diskussionen mit Rem Koolhaas wird dann aus all diesen Ideen eine Geschichte entwickelt – es ist eine Art redaktionelle Tätigkeit, für die Koolhaas ein ausgeprägtes Talent besitzt. Dadurch wird der Entwurfsprozess sehr transparent.
In der Hinsicht war OMA eine gute Schule, wir haben viel gelernt.

Inwieweit beeinflussen Ihrer Meinung nach internationale Büros die derzeitige Stadtentwicklung in Istanbul? Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Zusammenhang gemacht?

Bis zu einem bestimmten Grad bringt internationale Architektur höhere Standards und Erwartungen mit sich, was eine prima Sache ist. Dennoch ist es enttäuschend, wenn typisch amerikanische Corporate-Architecture zur guten Architektur hochstilisiert wird. Gerade in Istanbul haben Architekten und Designer eine urbane und soziale Verantwortung. Deshalb sollte gute Architektur die Lebensqualität der Menschen auf möglichst vielen Ebenen verbessern. Ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür ist das Meydan-Projekt von FOA in Ümraniye (siehe FOA in diesem Heft). Unabhängig davon, ob dieses Projekt im Detail gut ist oder nicht, so ist es unserer Meinung nach ein äußerst erfolgreiches Projekt – in dem Sinne, dass es gelungen ist, mit einer Shopping Mall, die normalerweise eine in sich geschlossene kommerzielle Box ist, einen aktiven urbanen Raum zu schaffen.

Sie wurden als eines von fünf Büros zur Teilnahme am Urban Age Workshop ausgewählt. In dem dabei entstandenen Projekt befassen Sie sich mit städtischen Freiräumen. Welchen Ansatz und welches Anliegen haben Sie dabei verfolgt?

Charakteristisch für osmanische und türkische Städte ist eine komplexe Abfolge nachbarschaftlicher, religiöser und wirtschaftlicher Räume, die verschiedene Grade an Öffentlichkeit schaffen. Ein lebhaftes Treiben auf den Straßen bestimmt den Charakter der Stadt, in der sich häusliche, kommerzielle und Freizeitaktivitäten in einer natürlichen Art und Weise auf den Außenraum hinaus ausdehnen. Entfernt man sich weiter von den aktiven kommerziellen Zentren, zeigen die Straßen einen immer privateren Charakter.
Als sich die Stadt immer mehr verdichtete, wurden allerdings kaum zusätzliche öffentliche Räume vorgesehen. Freiräume sind heute vor allem durch den Fahrzeugverkehr geprägt. Um Istanbuls öffentliche Räume aufzuwerten, glauben wir, dass es wichtig ist, bei den Freiräumen im Wohnumfeld zu beginnen. Das Einführen einer Verkehrshierarchie und einer Infrastruktur für den ruhenden Verkehr kann neue Freiraumkonzepte ermöglichen. Wenn parkende Fahrzeuge von den Straßen verschwinden, wird fast 50 Prozent der Stadtfläche als Raum für neue Nutzungen frei. Dieser Ansatz lässt sich durch eine Hybridisierung von Parkstrukturen und kommerziellen Nutzungen realisieren.

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