Editorial

Lernen von Bruno Taut

Matthias Sauerbruch und Louisa Hutton im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo

Mit der vorliegenden Ausgabe setzen wir die Vorlesungsreihe von ARCH fort, die vor genau 30 Jahren mit den Vorlesungen von Julius Posener begonnen wurde. Im Laufe der Zeit folgten weitere Ausgaben mit ähnlichem Charakter, so z.B. die Reith Lectures von Richard Rogers oder die Architekturen des Schaums von Peter Sloterdijk, die es uns erlaubten, in einer längeren, zusammenhängenden Argumentation grundsätzliche Fragen und Themen der Architektur zu behandeln. Vor drei Jahren haben wir die Reihe mit den Berliner Vorlesungen von Oswald Mathias Ungers aus den 1960er Jahren weitergeführt.
Die Architekturlehre, die Bruno Taut (1880-1938) 1935-36 im japanischen Exil in einer ersten Version als Architekturüberlegungen aufgezeichnet und 1937 nach der Übersiedlung in die Türkei für seine geplanten Vorlesungen an der Kunstakademie in Istanbul ausgearbeitet hatte, knüpft daran an. In Zusammenarbeit mit Manfred Speidel, der als Herausgeber des schriftstellerischen Gesamtwerkes von Bruno Taut seit vielen Jahren Tauts Schriften wissenschaftlich erforscht, haben wir die Manuskriptversionen aufgearbeitet und die Bildauswahl neu recherchiert, die Taut noch kurz vor seinem Tod für die erste, posthum in Türkisch erschienenen Ausgabe eigenhändig zusammengestellt hatte. (Zur genauen Entstehungsgeschichte der Schriften siehe das ausführliche Nachwort von Manfred Speidel am Ende dieses Heftes.)
Zwar erschien die deutsche Fassung der Architekturlehre bereits 1977 mit dem modischen und irreführenden Untertitel Grundlagen, Theorie und Kritik aus der Sicht eines sozialistischen Architekten, jedoch ohne das besondere Bildkonzept Tauts, das als eigenständiger visueller „Diskurs“ die Argumentation des Textes ergänzt und um eine „architektonische“ Dimension erweitert. In diesem Sinne erscheint hier die Architekturlehre als bebildertes Lehrbuch zum ersten Mal in der von Taut konzipierten Weise auf Deutsch. Zur leichteren Lesbarkeit haben wir Zwischenüberschriften, Fußnoten und ein Glossar eingefügt. Die Erstveröffentlichung der Architekturüberlegungen, der Urfassung der Architekturlehre, kann als gesonderte Beilage zu dieser Ausgabe erworben werden. Die Sonderbeilage enthält außerdem den Text Wie kann eine gute Architektur entstehen, eine für sowjetische Architekten geschriebene Kurzfassung der zentralen Thesen der Architekturüberlegungen.

Die Architekturlehre ist Tauts theoretisches Vermächtnis, ein persönliches Fazit aus 25 Jahren architektonischen Wirkens, das eng mit der Geschichte des Berliner Siedlungsbaus verbunden war. Mit diesem Heft wollen wir einerseits die Aufnahme der Berliner Siedlungen Bruno Tauts in die Liste des UNESCO-Welterbes würdigen, andererseits die theoretische Fundierung seines Werkes vorstellen und zur Diskussion stellen. Denn gleich vier der sechs von der UNESCO im Juli 2008 ausgezeichneten Siedlungen zählen zu Tauts Hauptwerk: die Siedlung Schillerpark (1924-30), die Gartenstadt Falkenberg (Treptow, 1913-16), die Hufeisensiedlung Britz (Neukölln, 1925-30) und die Wohnstadt Carl Legien (Prenzlauer Berg, 1928-30); die drei letztgenannten Siedlungen stechen insbesondere durch ihre ungewöhnliche Farbgebung hervor. Eine weitere Siedlung Tauts, die Onkel-Tom-Siedlung in Berlin-Zehlendorf (1926-32) wurde nicht in die Liste aufgenommen, ist jedoch nicht minder bemerkenswert. Die Fotografin Laura Padget hat sich eingehend mit diesen Siedlungen beschäftigt und für diese Ausgabe eine einfühlsame Bildserie erarbeitet, die die Alltagstauglichkeit und Gebrauchsfähigkeit dieser stadträumlichen und architektonischen Anlagen in einer neuen Deutlichkeit vor Augen führt.

Die Siedlungen und die Architekturlehre verdeutlichen, dass Tauts Verständnis der Moderne lebenspraktisch orientiert ist, was sich nicht nur in der besonderen Bedeutung von Farben in seiner Architektur ausdrückt. Mit dem Konzept der „Proportion“ erweiterte er den Architekturbegriff einerseits im Hinblick auf eine ausgewogene Relation zwischen allen beim Entstehen eines Bauwerkes wirkenden Faktoren, die auch die Aspekte von Klima, technischer Ausstattung, konstruktiver Lösung, Kosten, Ausführung und nicht zuletzt die Nutzung umfassen. Andererseits bezieht Taut das Konzept aber auch auf die soziale Vision, die in seinen Siedlungsanlagen als baulich-gesellschaftliches Gefüge immer wieder manifest wird und bis heute wirksam ist.

Tatsächlich sind viele Überlegungen Tauts auch nach über 70 Jahren von erfrischender Aktualität. Tauts Kommentar zur Rolle der Technik im Verhältnis von Klima und Architektur hat auch in Zeiten der Nachhaltigkeitsdebatte seine Gültigkeit nicht verloren: „Die meisten der zahllosen Spielarten von technischen Hilfsmitteln, die die Messen und die Architekturzeitschriften füllen, beweisen als bloße Hilfsmittel, dass die heutige Architektur ihre Proportion zum Klima nicht gefunden hat.“

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was können wir heute von Taut lernen? Unser Interesse ist es, die Architekturlehre nicht nur als historisches Dokument zu veröffentlichen, sondern die Aktualität ihrer zentralen Fragestellungen zu diskutieren. Um von der theoretischen Ebene auf die Praxis von heute überzuleiten, haben wir statt eines Editorials ein Gespräch mit Louisa Hutton und Matthias Sauerbruch über die Hauptthesen der Architekturlehre in Bezug zu ihrer eigenen Praxis geführt.


Nikolaus Kuhnert: Lassen Sie uns beim offensichtlichsten Punkt anfangen: Bruno Taut ist vor allem für seine farbige Architektur berühmt. Sie sind ebenso mit Ihrer polychromen Architektur bekannt geworden. Gibt es in Ihrer Arbeit eine Verbindung zu den Farbvorstellungen von Taut?

Matthias Sauerbruch: Die Frage wird uns immer wieder gestellt, mal auf Bruno Taut bezogen, mal auf Johannes Itten, mal auf Le Corbusier. Und die Antwort ist eigentlich immer wieder dieselbe: dass wir uns zwar mit deren Arbeiten im Sinne von Vorbildern und Präzedenzfällen auseinandersetzen, aber keine wissenschaftliche Analyse gegebener Farbsysteme oder Farblehren mit dem Zweck der eigenen Anwendung betreiben. Insofern kann man uns eine gewisse Nähe zur unorthodoxen und atmosphärischen Verwendung der Farbe bei Taut unterstellen, viel eher als zu den fixierten Farbsystemen Ittens oder Le Corbusiers.

Louisa Hutton: Tauts Siedlungen wie z.B. Falkenberg besitzen doch immer noch eine unglaubliche Frische. Zufällig waren wir gestern in der Siedlung Onkel Toms Hütte und waren wieder ganz hingerissen. Wenn Sie dort die Straße entlangfahren, entfalten sich rhythmisch die gegenüberliegenden, unterschiedlichen Farbstimmungen – eine fantastische Wirkung.

Anh-Linh Ngo: Seit wann arbeiten Sie bewusst mit Farben?

Matthias Sauerbruch: Das Thema hat sich eher unbewusst entwickelt. Wir haben nicht eines Tages entschieden, von nun an nur noch farbige Häuser zu machen. Das Interesse an Farbe kam schon während unseres Studiums und bei unseren Projekten in London Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre auf und war zum Teil aus der Notwendigkeit geboren, mit kleinen Budgets große architektonische Wirkungen zu erzielen. Dabei haben wir Farbe als ein Medium entdeckt, das kleine Räume zum Fließen und zum Schwingen zu bringen vermag.

Louisa Hutton: Dieses Prinzip haben wir nicht nur bei den frühen Umbauprojekten L-House (1990) und H-House (1995) oder später auch beim N-House (1999) angewendet, sondern auch bald auf den städtischen Maßstab übertragen, wie zum Beispiel beim GSW-Gebäude in Berlin (1990-1999). Ich glaube, dass diese rote Wand die Kochstraße auch atmosphärisch komplett verändert hat. Vorher war es eine absolut deprimierende Ecke. Die Ausstrahlung der farbigen Fassade hat dem Ort eine neue Identität gegeben. Und so ist die Farbe dann ein Thema geworden, das uns nicht mehr verlassen hat.

Anh-Linh Ngo: Es fällt auf, dass Sie auf mindestens drei unterschiedliche Ebenen mit Farbe arbeiten: zum einen außen zugunsten der stadträumlichen Wirkung der Fassade wie beim GSW-Gebäude, zum anderen innen, um architektonisch-räumliche Effekte zu erzielen wie bei den erwähnten Umbauprojekten …

Nikolaus Kuhnert: … während der dritte Aspekt Ihre Darstellungstechnik betrifft. Ein frühes Beispiel, an das ich mich erinnere, ist der Masterplan für die Heinrich-Heine-Straße (1993). Die Farbigkeit unterscheidet dabei bestimmte Orte und organisiert den Stadtplan, wobei die Farbtupfer und die Linienzeichnung sich nie überlappen, sondern immer leicht versetzt sind.

Matthias Sauerbruch: Diese grafische Technik haben wir entwickelt, als wir begannen, größere Wettbewerbe zu machen. Einer der ersten, an dem wir teilgenommen haben, war der für das Tokio Forum 1989. Es war völlig verrückt, zu zweit dieses riesige Konferenzzentrum bearbeiten zu wollen, aber zum Glück hat uns eine Menge von Studenten geholfen.
Zu den Abgabeleistungen gehörten selbstverständlich auch Perspektiven. Zu der Zeit gab es so gut wie noch keine Computerrenderings, üblich waren Handskizzen, Aquarelle oder irgendwelche hochgezwirbelten Illustrationen. Wir wollten uns dieser Konvention widersetzen und haben nach Wegen gesucht, die Zeichnung als Zeichnung lesbar zu lassen. Wir wollten zeigen, dass es nicht darum geht, eine perfekte Illusion herzustellen, die man sowieso nicht herstellen kann, oder eine Realität zu simulieren. Vielmehr sollte die Übersetzung der Realität in eine Zeichnung in einer Art und Weise geschehen, dass dieser Akt transparent bleibt. Es soll erkennbar bleiben, dass wir hier eine Zeichnung vor uns haben, die eine Übersetzungsleistung erfordert.

Anh-Linh Ngo: Interessanterweise äußert sich Taut im Kapitel „Qualität“ ähnlich zur Rolle von technischen Zeichnungen und „flotten“ Perspektiven:
„Heute besteht etwa die Meinung, dass der Architekt um so begabter ist, je mehr er das zu errichtende Gebäude in einem Bilde naturgetreu aufmalen kann. […]. Sie müssen für solche Bildchen die Formen aus Vorbildern entnehmen, greifen dem Prozess des Bauens vor, bei dem die Formenschönheit erst aus der sorgfältigen Durcharbeitung der realen Dinge, der Technik, Konstruktion, Funktion, der Behandlung der Materialien, der Beachtung des Klimas usw. ergibt. […] Der Dilettantismus ist um so größer und führt um so mehr zum Kitsch, mit je größerer Naturtreue solche Perspektiven gezeichnet und gemalt werden.“
Man könnte fast meinen, Taut hätte sich über die Computerrenderings von heute geäußert.

Louisa Hutton: Diesen Aspekt fanden wir auch sehr interessant. Taut kommt immer wieder darauf zu sprechen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Konzept und gebauter Wirklichkeit, zwischen Zeichnung und sinnlicher Qualität. Für ihn spielt die Wahrnehmung eine große Rolle, weswegen er betont, dass die Übersetzung der Zeichnung in Architektur ein sinnlicher Akt ist, der aus starren Linien Kurven und Perspektiven macht und dem man in der Zeichnung nicht vorgreifen kann.
Aus ähnlichen Motiven haben wir beim Wettbewerb für das Tokyo Forum angefangen, mit Linien und Farbe zu experimentieren und sie voneinander zu trennen, so dass die Linie nicht mehr als Kontur für die Farbe funktioniert, sondern die Farbe ein Eigengewicht bekommt.

Matthias Sauerbruch: Beim Masterplan für die Heinrich-Heine-Straße, den Sie angeführt haben, wollten wir eher eine bestimmte Lesart von Stadt visualisieren. Im Speziellen haben wir versucht, die sehr unterschiedlichen Fragmente, die wir dort vorfanden, aus der Kontinuität des Stadtzusammenhangs herauszulösen und als eine Art von Puzzle zu sehen. Diese Interpretation haben wir durch Farbflächen grafisch umzusetzen versucht.
Diesen Effekt der Auflösung eines Zusammenhangs kann man aber auch auf Architektur und Stadträume übertragen. Durch unterschiedliche Farb- und Helligkeitswerte, durch den Kontrast zwischen verschiedenen Farben usw. kann man räumliche Situationen hinterfragen, die Wahrnehmung irritieren und den Raum zum Schwingen bringen.
So gesehen handelt es sich nicht um drei völlig unterschiedliche Ansätze bei der Verwendung von Farbe, sondern um ein Prinzip, das wir auf unterschiedlichen Maßstabsebenen anwenden: im Stadtraum, in der Architektur und auf der Zeichnung.

Nikolaus Kuhnert: Gibt es darüber hinaus noch andere Aspekte?

Matthias Sauerbruch: In einem Fall haben wir Farbe in Bezug auf eine gegebene Corporate Identity eingesetzt, das war beim Entwurf für die ADAC-Zentrale in München, deren Fertigstellung für 2011 geplant ist. Hier haben wir mit Gelbtönen das prägnante Erscheinungsbild des ADAC aufgegriffen. Und beim Photonikzentrum in Berlin (1998), einem Licht-Forschungszentrum, spielt das Farbspektrum der Fassade auch auf die Funktion an. Farbe hat in unserer Arbeit somit neben dem räumlich-atmosphärischen auch einen kommunikativen Aspekt.

Louisa Hutton: Wobei ich denke, dass das Atmosphärische sich nicht rein auf die visuelle, sondern vielmehr auf die körperliche Wahrnehmung bezieht. Bereits wenn man um das Photonikzentrum herumgeht, bekommt man ein Gefühl für die Tiefe der Fassade. Da es recht eng umbaut ist, bewegt man sich immer relativ dicht entlang der kurvigen Außenfassade und bekommt die Ansicht nie vollständig ins Blickfeld. Dadurch entwickelt man eine sehr körperliche Beziehung zum Gebäude, nicht nur weil man die Bewegung der Gebäudehülle nachvollzieht, sondern vor allem auch wegen der Farbwirkung.

Nikolaus Kuhnert: Man kann feststellen, dass Farbe im Laufe Ihrer Entwicklung zu einem Element geworden ist, das unter städtebaulichen und kommunikativen Gesichtspunkten auf die Fassade konzentriert wird.

Louisa Hutton: Nicht nur: in Sheffield haben wir kürzlich ein Universitätsgebäude gebaut. Es ist sowohl außen als auch innen farbig und hat kaum weiße Wände. Dort, wo wir Weiß eingesetzt haben, geschah das sehr bewusst, beispielsweise an Stellen, die gegenüber Fensteröffnungen liegen und das Tageslicht reflektieren sollen. Man könnte sagen, dass wir bei diesem Gebäude Weiß so eingesetzt haben, wie andere Farbe verwenden würden, also nur in bewussten Ausnahmefällen. Für uns ist das eine neue Erfahrung, ein neuer Aspekt.

Anh-Linh Ngo: Am Anfang der Architekturlehre heißt es: „Die Architektur arbeitet grundsätzlich nicht auf die Wirkung der Farben hin. Die Farbe steht keineswegs an den Anfängen der Architektur, sondern höchstens an ihrem Ende.“ Diese Aussage kann uns weiterhelfen, um die unterschiedlichen Ebenen der Farbkonzeption in Ihrer Architektur zu hinterfragen und zu klären.

Matthias Sauerbruch: Wir sind auch über diese Aussage gestolpert, vor allem weil Taut in der Architekturlehre sonst so gut wie nichts über Farbe schreibt. Den Affekt, den er zweifelsohne in seiner Architektur beabsichtigt haben muss, in der Farbe vielleicht als Symbol für eine populäre Kultur oder als Ausdruck der Genossenschaftsbewegungen steht – all das erwähnt er mit keinem Wort. Als hätte es keine Bedeutung. Als gäbe es keine Kommunikationsabsicht.

Anh-Linh Ngo: Taut argumentiert hier nicht gegen Affekte oder Effekte. Vielmehr spricht er sich gegen eine vordergründige, dekorative Farbwirkung aus, um zu betonen, dass Architektur auf architektonische und nicht auf malerische Effekte hinarbeiten sollte. Die Frage lautet also: zu welchem Zweck, also zu welchem Ende wird Farbe eingesetzt.
Ein gutes Beispiel ist Tauts eigenes Wohnhaus, wo er den Wänden und Decken ganz bestimmte Farben zugeordnet hat, deren räumliche Wirkung auf das sich ändernde Tageslicht berechnet ist. In der Siedlung Onkel Toms Hütte wiederum wurde Farbe stadträumlich eingesetzt. Sie haben eingangs von der Farbwirkung der gegenüberliegenden Häuserzeilen berichtet. Auch hier waren die Farben auf die Wirkung des Sonnenstands berechnet, die Westseite hat eine andere Farbe als die Ostseite. Der Farbeinsatz bei Taut hatte immer eine räumliche Dimension. Gerade hierin sehen wir eine sehr große Parallele zu Ihrer Praxis.

Louisa Hutton: Das sehen wir genauso. Aber es ist dennoch erstaunlich, dass er das Thema Farbe mehr oder weniger fast ausspart.

Nikolaus Kuhnert: Es ist vielleicht verwunderlich, dass Taut sich in der Architekturlehre auf die zentrale These konzentriert: „Architektur ist die Kunst der Proportion.“ Julius Posener übersetzt das mit „Angemessenheit“. Was das heißen könnte, beschreibt er anhand einer Stelle aus der Architekturlehre, in der Taut seine Arbeitsweise schildert: Wenn die Pläne für die Siedlungen durch das Büro der GEHAG nach objektiven Kriterien fertiggestellt waren, nahm er sie nachts mit nach Hause und fing an, darüber zu sinnieren, bis sich das Rationale des Plans in ein Gefühl auflöst. Von diesem Gefühl geleitet fängt er an, die Anlage, die Details zu verschieben und zueinander in Beziehung zu setzen (s. Posener, S. 30 ff.). Dieses Angemessene nennt Taut „Proportion“ und meint etwas, das sich nicht mehr auf objektive Kriterien wie Technik, Konstruktion oder Funktion reduzieren lässt. Es geht um das, was der Architekt aus den objektiven Bedingungen macht.
Gehen Sie nicht in ähnlichem Sinne vor? Sie verweisen zum Beispiel in Ihren Erläuterungen zur Keramikfassade der Sammlung Brandhorst auf den Schallschutz, auf die energetischen Aspekte – also auf objektive Bedingungen. Aber warum dann dieses Farbspiel? Ist das nicht die Ebene, auf der Sie analog zu Taut beginnen, an der „Proportion“ zu arbeiten?

Matthias Sauerbruch: Der Begriff der Proportion hat hier auf zwei unterschiedlichen Ebenen eine Rolle gespielt. Die eine ist, wenn man so will, die der klassischen Proportionierung – das heißt, wie gliedere ich eine große, ungegliederte Baumasse. Wir haben dies durch eine Unterteilung in drei Farbfamilien – hell, mittel und dunkel – erreicht. Das ist ein rein proportionaler Effekt. Es ist ein bisschen so wie bei den Fensterprofilen von Taut, die in unterschiedlichen Farben gestrichen sind, um sie in drei schmale Zonen aufzulösen und dadurch filigraner erscheinen zu lassen.

Louisa Hutton: Darüber hinaus haben wir mit der polychromen Oberfläche einerseits versucht, die Assoziation an ein Museum hervorzurufen, damit man nicht gleichgültig an dem Gebäude vorbeigeht und denkt: noch ein Wohnhaus, noch ein Bürohaus. Andererseits haben wir durch die Schichtung unterschiedlicher Farbebenen einen Effekt erzeugt, der auch durch die Überlagerung des unregelmäßigen Schattenwurfs der Keramikstäbe auf die dahinter liegende gefaltete Blechverkleidung hervorgerufen wird. In der Summe entsteht das merkwürdige Phänomen, dass man sich nicht so sicher ist, wo das Haus anfängt und wo es aufhört.

Anh-Linh Ngo: Eine Art von Moiré-Effekt? Jörg Gleiter berichtete uns davon, dass der Autofokus seiner Kamera Schwierigkeiten hatte, beim Fotografieren des Gebäudes scharfzustellen.

Matthias Sauerbruch: Es ist eigentlich mehr als ein Moiré-Effekt. Hier wird Farbe zur Materialität – wir würden diese Oberfläche als eine Art von besonderem Material sehen. Unseres Erachtens ist die Farbe ein architektonische Mittel. Sie dient nicht nur der Proportionierung des Baukörpers und der Angemessenheit des Verhältnisses der Bauteile zueinander, sondern sind eigentlich bewusst auf Affekte hin ausgelegt.

Anh-Linh Ngo: Es ist sehr aufschlussreich, dass Sie das Verhältnis von Farbe und Materialität selbst aufgebracht haben. Im Kapitel über die Technik analysiert Taut sehr ausführlich die griechische Architektur und kommt dabei auch auf das Problem der Polychromie in Bezug zum Material zu sprechen: „Und diesen Marmor überzogen die Griechen mit deckenden Farben, mit Gelb, Rot und Ultramarin. War das – nach heutigen Begriffen – nicht ein schreiendes Unrecht gegen das Material?“
Ohne auf Sempers Bekleidungstheorie und dessen Thesen zur Polychromie einzugehen, bietet Taut eine einfache Antwort: „Die Griechen hielten aber die richtige ästhetische Wirkung in ihrer klaren Luft und Sonne für wichtiger; in ihr hat der Naturmarmor Leichenblässe […]. Die künstlerische Idee stand über dem Material.“

Louisa Hutton: Es ist eine sehr schöne Stelle. Hier ist Tauts Argumentation absolut luzide.

Anh-Linh Ngo: Vor allem, weil diese Stelle in einer konzentrierten Form deutlich macht, welchen Stellenwert Farbe und Material für ihn haben: Sie sind der künstlerischen Idee untergeordnet. Demnach war die griechische Architektur auf das vorherrschende Licht, auf das Klima und die beabsichtigte künstlerische und architektonische Wirkung hin konzipiert, so dass die Griechen Farbe wie ein notwendiges Material verwendet haben.
Hier sehe ich eine sehr große Übereinstimmung zu Ihren Ausführungen. Können Sie anhand Ihrer Arbeit beschreiben, wie Sie entwerfen, von welcher künstlerischen Idee Sie sich leiten lassen?

Nikolaus Kuhnert: Vielleicht können Sie es noch einmal konkret am Beispiel der Sammlung Brandhorst erläutern. Die erste Frage betrifft das Farbkonzept: Wie kommt es zustande, arbeiten Sie dabei mit einem Künstler zusammen?

Louisa Hutton: Nein, das machen wir alles selbst.

Matthias Sauerbruch: Der Ausgangspunkt war der Wettbewerbsentwurf, für den wir eine bedruckte Glasfassade vor einem farbigen Hintergrund entwickelt hatten. Aus der Distanz sollte sich die Vordergrund- mit der Hintergrundfarbe vermischen und einen Ton ergeben, der dann wieder auseinanderfällt, wenn man sich nähert. Diese erste Idee ließ sich aufgrund der Schallschutzanforderungen nicht verwirklichen. Dann haben wir nach Alternativen zum Glas gesucht und dabei unter anderem mit verschiedenen Metallen experimentiert, zum Beispiel mit einbrennlackiertem Aluminium und einem emaillierten Stahl. Wir haben 1:1-Muster von der Fassade gebaut, um die Wirkung zu überprüfen.

Louisa Hutton: Wir haben sie im Hof aufgestellt, um die beabsichtigte Wirkung aus großer Entfernung überprüfen zu können.

Matthias Sauerbruch: Zufälligerweise bekamen wir in dieser Phase Besuch von Vertretern der Firma NBK, die wir schon vom GSW-Projekt her kennen, wo wir gemeinsam die Keramikverkleidung für den Flachbau entwickelt haben. Nachdem wir ihnen unser Problem erläutert haben, sind sie mit dem Versprechen abgefahren: „Da machen wir mal was für euch.“ Und tatsächlich: Vier Wochen später bekamen wir eine Ladung farbiger Keramikstäbe. Sie entsprachen zwar farblich noch nicht unseren Vorstellungen, waren aber interessant genug, dass wir beschlossen, in die Richtung weiterzuarbeiten. Damit begann eine intensive Material- und Farbrecherche.

Louisa Hutton: Die Zusammenarbeit mit NBK war sehr intensiv. In einem recht langwierigen Trial-and-Error-Prozess, der fast zwei Jahre dauerte, haben wir anhand von NCS-Farbmustern oder handbemalten Farbproben versucht, die richtigen Farbtöne für die Glasuren zu produzieren. Es war jedoch sehr schwierig, den NCS-Ton genau zu treffen. In 80 bis 90 Prozent der Fälle ging es daneben. Aber die „fehlerhaften“, unerwarteten Farben haben uns wiederum auf neue Ideen gebracht.
Wichtig war auch, dass wir den Herstellungsprozess verstehen lernten. Als wir begriffen haben, dass nicht nur die Glasurfarbe, sondern auch die Farbe des Tons, der sogenannte Scherben, aus der die Keramikstäbe produziert werden, eine große Bedeutung für die Farbwirkung nach dem Brennvorgang hat, haben wir diesen Effekt bewusst eingesetzt. Wir haben schließlich Scherben in vier verschiedenen Farbtönungen benutzt: zwei unterschiedliche Rottöne, Weiß und Gelb. In Kombination mit einer transparenten Glasur, konnten wir einen besonderen Farbeffekt erzielen. So scheint bei den hellen Glasurfarben wie Hellblau das Rot des verwendeten Tons durch, wodurch die Farben sich vermischen und einen eigenen Farbton ergeben, der eine gewisse Transparenz und Tiefe besitzt.

Nikolaus Kuhnert: Wie haben Sie die Farbfamilien entwickelt? Geschieht das digital?

Matthias Sauerbruch: Wir haben anfänglich versucht, diese Farbkombinationen mit Hilfe von Grafikprogrammen zu entwickeln, aber das war schier unmöglich.

Louisa Hutton: Ein zusätzliches Problem war, dass die Metallabdeckung hinter den Keramikstäben gefaltet ist, was sich in der Ansicht nicht darstellen lässt, weil man die Schatten nicht hinbekommt. Daher haben wir letztendlich DIN-A4-große Ausschnittsmodelle von den Fassadenideen gemacht, um die verschiedenen Farbüberlagerungen auszuprobieren.

Matthias Sauerbruch: Auch als wir eine Gesamtansicht zeichnen wollten, um die Verteilung der Farben zu kontrollieren, wurde uns klar, dass das nicht geht. Wir mussten am Ende ein Fassadenmodell bauen, das ungefähr vier Meter lang ist und ca. 10.000 Stäbe enthielt. Das Modell haben unsere Mitarbeiter zusammen mit der Modellbaufirma Werk5 so entwickelt, dass die Stäbe mittels eines Clipmechanismus abnehmbar waren. So konnten wir die Farbzusammenstellung am Modell ausprobieren, einzelne Stäbe abnehmen, um sie umzufärben oder auszutauschen. Das haben wir so lange gemacht, bis wir mit der Wirkung zufrieden waren.

Louisa Hutton: Beim Zeichnen der Ausführungspläne hat uns die Erfahrung, die wir durch das Modell gemacht haben, sehr geholfen. Dadurch konnten wir am Ende die wolkige Farbanordnung dann doch am Computer bestimmen.

Anh-Linh Ngo: Interessanterweise hat Oliver Godow, unser Fotograf, viele Farben, die Sie verwendet haben, in der Umgebung der Türkenstraße wieder gefunden, als er die Gegend für ein Kunstprojekt fotografiert hat. Lassen Sie sich bei der Farbwahl von der Umgebung inspirieren?

Matthias Sauerbruch: Nicht in dem Sinne, dass wir die Umgebung gezielt nach deren Farbzusammensetzung analysieren. Das geschieht eher unbewusst.

Louisa Hutton: Es fällt aber auf, dass ein gewisser Beige-Ockerton in der Umgebung sehr dominant ist. Wenn man von der Theresienstraße in Richtung des Kopfbaus blickt, verschwindet das Gebäude in den Sandfarben des davor stehenden Hauses. Diese Neutralität war es, die wir erzielen wollten. Die Idee, die Farben ineinander verschmelzen zu lassen, funktioniert hier auch aufgrund der städtebaulichen Position so gut, weil man sich sonst nicht wirklich weit von dem Gebäude entfernen kann. Wir hatten für den Kopfbau intuitiv ein helles Grau assoziiert, das aus Rot- und Grüntönen zusammengestellt ist. Dunkle Farben wie Braun, Schwarz oder Dunkelgrau hätten da nicht funktioniert. Wir haben unsere Auswahl immer wieder getestet, zuletzt mit 1:1-Mock-ups. Diese Muster hatten jedoch nur die Größe von ein paar Quadratmeter, was über den Gesamteindruck wenig aussagt. Ganz am Ende mussten wir uns auf unsere Intuition verlassen, dass es funktionieren würde.

Nikolaus Kuhnert: Farbe hat bei Ihnen eine materielle Qualität. Sie ist das zentrale Gestaltungsmittel. Wenn man ein anderes Projekt betrachtet, zum Beispiel das Null-Energie-Bürogebäude in Kopenhagen, dann hat man zunächst den Eindruck eines technischen Gerätes, einer Apparatur. Das spezifisch Architektonische erhält das Projekt dadurch, dass Sie dieses Gerät bearbeiten, u.a. mit Farbe.

Matthias Sauerbruch: Das ist ganz klar der Fall. Wir haben eine ganze Reihe von Bürogebäuden, bei denen die Außenhaut eine funktionale Dimension hat: sie funktioniert als Klimaschnittstelle mit der ganzen technischen Ausstattung wie Belüftungstechnik, Schall- und Sonnenschutz etc. Die Fassade wird dadurch das Hauptgestaltungsmerkmal. Dabei spielt Farbe eine wesentliche Rolle bei der Art und Weise, wie die Fläche aufgelöst wird oder wie sie eine gewisse Tiefe herstellt; sie hilft auch dabei, Fassaden, die Volumetrie oder sonstige städtebauliche, kontextuelle Elemente und Phänomene zueinander ins Verhältnis zu setzen.

Nikolaus Kuhnert: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Wahl der Farbtöne und der Funktion der Fassade im Hinblick auf energetische Fragen?

Matthias Sauerbruch: Die Wahl der Farbe ist bis zu einem gewissen Grad tatsächlich von diesen Überlegungen beeinflusst, insofern dass wir nur in Ausnahmefällen unter einen gewissen Dunkelheitswert gehen können, weil sich die Fassade sonst zu stark aufwärmen würde. Manchmal kann das aber gewollt sein, zum Beispiel bei Konvektionsfassaden, um ein Temperaturdifferential für den Auftrieb herzustellen. Dann ist es nützlich, wenn die Wärme im Zwischenraum gefangen wird. Aber in den meisten Fällen möchte man die Wärme eigentlich loswerden. Das heißt also, dass wir innerhalb bestimmter Grenzen entweder helle oder dunkle Farbtöne einsetzen müssen, damit das ganze funktioniert. Die Farbskala allerdings, also ob man nun Rot oder Gelb oder welche Farbe auch immer einsetzt, hat meistens eher etwas mit dem Kontext zu tun – entweder mit dem gebautem Kontext oder dem natürlichen Kontext wie dem Himmel beispielsweise. Beim GSW-Gebäude hat die Farbe etwas mit den Dächern der Umgebung zu tun, aber das Rot haben wir auch wegen seiner guten Kontrastwirkung sowohl gegen einen blauen als auch grauen Himmel gewählt.

Louisa Hutton: Ähnlich zu Taut hatten wir die Fassade auch je nach Himmelsrichtung unterschiedlich behandelt. Beim GSW-Gebäude haben wir uns auf die Westfassade konzentriert, wo wir das Licht der Nachmittagssonne mit einem intensiven Orange-Rot auffangen wollten.

Nikolaus Kuhnert: Bewegen wir uns damit in Richtung einer ökologischen Ästhetik?

Matthias Sauerbruch: Das ist ein Thema, das uns sehr interessiert, wir geben zur Zeit ein Studio in Harvard mit dem Titel „The Language of Sustainability“. Wir meinen, dass das Thema der Nachhaltigkeit ein so wichtiges Thema ist, dass wir es in irgendeiner Art und Weise auch in der Alltagsästhetik reflektieren und nachvollziehbar machen sollten.
Der Philosoph Gernot Böhme hat in einem Aufsatz über das Thema Atmosphäre, der auch in der ARCH Ausgabe über Atmosphären erschienen ist (ARCH 178, Anm. d. Red.), die sehr einleuchtende These aufgestellt, dass sich Nachhaltigkeit bzw. die ganze ökologische Bewegung letztlich um unser Wohlbefinden und das zukünftiger Generationen drehe. Daher sei Wohlbefinden das Maß aller Dinge. So gesehen müsste die sinnliche Dimension oder sinnliche Stimulation eigentlich ein Schlüsselthema sein für nachhaltiges Bauen oder nachhaltige Räume oder nachhaltigen Umgang mit diesen Problemen.

Louisa Hutton: Für uns bietet Farbe einen Zugang zu dieser Frage, weil die Leute immer unmittelbar und emotional darauf reagieren. Wenn ein Haus farbig ist, dann entwickeln die Menschen eine ziemlich direkte Beziehung dazu, was man nicht von jedem architektonischen Mittel behaupten kann. Die meisten können mit den von Architekten vorgebrachten ästhetischen Theorien und ihrer Umsetzung nicht viel anfangen.

Matthias Sauerbruch: Daher versuchen einige Architekten das Problem zu umgehen, indem sie mit „Altbewährtem“ Vertrautheit suggerieren wollen. Es gibt im Augenblick eine starke Tendenz, Nachhaltigkeit und nachhaltige Konzepte mit allem zu verbinden, was alt aussieht.

Nikolaus: Eine konservative Tendenz …

Matthias Sauerbruch: … die naturstein-verkleidet daher kommt, um den Eindruck zu erwecken, als stünde das Gebäude schon seit 1912 da und müsste insofern per se nachhaltig sein. Demgegenüber sehen wir eher eine Notwendigkeit, den Paradigmenwechsel, der in allen Bereichen dringend ansteht, auch zum Ausdruck zu bringen. Konkret meinen wir, dass in der ökologischen Krise – wie in allen Krisen – auch ein großes Potential steckt, insbesondere für die Architektur.

Louisa Hutton: Im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte sehen wir übrigens auch starke Parallelen zur Diskussion, die Taut im Hinblick auf die Rolle des Ingenieurs führt. Taut schreibt, dass selbst wenn dieser Technik, Konstruktion und Funktion zufrieden gelöst habe, ergebe das noch keine Architektur – etwas, was nur ein Architekt leisten kann. Auch wenn ich denke, dass er mit den Ingenieuren zu hart ins Gericht geht und die Bedeutung des Architekten wohl etwas übertreibt …

Matthias Sauerbruch: … trifft das voll auf die Nachhaltigkeitsdebatte zu.

Louisa Hutton: Absolut, denn in der ökologischen Diskussion versucht jeder, die Dinge quantifizierbar zu machen und das ist für uns einfach nicht genug. Das ist lediglich der Ausgangspunkt für einen langwierigen Prozess, an dessen Ende ein architektonischer Ausdruck gefunden werden soll.

Anh-Linh Ngo: Das ist, wenn Sie so wollen, hundertprozentig Taut. Mit dem Proportionsbegriff argumentiert er genau gegen diese Art der Verabsolutierung bestimmter objektiver Kriterien und für eine architektonische Denkweise. Gerade heute angesichts der Nachhaltigkeitsdebatte ist die Architektur mehr denn je in Gefahr, als reine Apparatur gesehen zu werden.

Matthias Sauerbruch: Ich habe dennoch gewisse Schwierigkeiten mit Tauts unklaren Begrifflichkeiten, insbesondere die der Proportion. Wenn wir in seinem Schema bleiben, so würde ich beispielsweise unsere Funktionsfassaden eher unter dem Thema Konstruktion als unter Technik abhandeln. Denn Technik betrifft im Grunde genommen die konkreten Gebäudetechnologien wie die Haustechnik, auf die sich ja die ganze deutsche Bauindustrie im Augenblick stürzt. Konstruktion hingegen wäre der Versuch, diese Technik in Architektur zu verwandeln. Zum Beispiel, indem wir der Konvektionsfassade des GSW-Gebäudes eine Tiefe und Variabilität gegeben haben, entsteht in der Gesamtkonzeption Architektur. Taut würde das wahrscheinlich wieder unter „Proportion“ zusammenfassen, wobei ich finde, dass er unter dem Begriff zuviel subsumiert, wodurch er sehr unscharf wird.

Louisa Hutton: Ich denke, dass wir ein ganz anderes Verständnis für das Wort „Proportion“ haben als Taut es benutzt. Was Taut damit meint, ist die Fähigkeit des Architekten, mit seiner Intuition als Künstler etwas Objektives in Architektur zu verwandeln.

Matthias Sauerbruch: Wenn man so will, handelt es sich letztlich um eine durch den Filter des Individuums gegangene Reflexion der natürlichen Umwelt. Letztlich setzt er auf ein entsprechend sensibilisiertes Subjekt, ohne das keine Architektur entstehen kann. Das ist das glatte Gegenteil der parametrischen Denkweise und des parametrischen Entwerfens von heute, wo man versucht, den Entwurf zu automatisieren.

Anh-Linh Ngo: Sie haben Recht, aber ich würde diesen Widerspruch etwas relativieren. Schließlich fordert Taut das angemessene Ins-Verhältnis-Setzen aller objektivierbaren sowie nicht-objektivierbaren Aspekte der Architektur. Gerade in diesem relationalen Ansatz erkenne ich jedoch eine gewisse Parallele zur parametrischen Entwurfspraxis von heute, die nichts anderes ist als der Versuch, der Komplexität der Bauaufgabe Herr zu werden, indem alle fassbaren Parameter miteinander in Beziehung gesetzt – oder um es mit Taut zu sagen: in Proportion zueinander gebracht werden. Den Widerspruch sehe ich eher in der nach wie vor ungeklärten Frage: Was geschieht mit den nicht parametrisierbaren Aspekten?

Matthias Sauerbruch: Ich glaube, sie lassen sich auch nicht objektiv klären, weil das jenes ominöse Gefühl betrifft, das Taut einfordert.

Nikolaus Kuhnert: Wenn man das „Problem Taut“ in den Griff zu kriegen versucht, ist es unerlässlich, seinen Hintergrund zu berücksichtigen. In seinem Buch „Die neue Baukunst in Europa und Amerika“ von 1929 beschreibt Taut Architektur als „die Kunst des schönen Gebrauchs“. Das entspricht seine Arbeit und seine Haltung in den 20er Jahren. Er emigriert 1933 nach Japan, dann 1936 in die Türkei, kann in den letzten Jahren noch einmal in der Türkei bauen und versucht in der Zwischenzeit eine Architekturlehre zu entwerfen, die das fassen soll, was wir bereits mehrfach diskutiert haben, nämlich das subjektive Moment der Architektur. Wenn man dieses Moment als Ausdruck der eigentlichen Tätigkeit des Architekten begreift, dann lässt sich diese Tätigkeit nicht auf das rein Objektive reduzieren. Als Architekt müssen Sie die objektiven Vorgaben des Ingenieurs in Architektur übersetzen. Tauts Aussage: „Architektur ist die Kunst der Proportion“ ist so gesehen ein Vorschlag, dieses „subjektive Element“ zu fassen. Vielleicht kann man es als den Versuch ansehen, einen Architekturdiskurs zu entwickeln, der das wieder zur Sprache bringt, was die Architekten sich abgewöhnt haben zu tun, nämlich darüber zu reden, was sie eigentlich machen.

Anh-Linh Ngo: Insofern ist Tauts zentrale Frage „Was ist Architektur?“ nicht in einem klassisch essentialistischen Sinne zu verstehen, sondern als Aufruf an die Architekten, Rechenschaft über ihre Arbeit und ihre Arbeitsweise abzulegen, um die inhaltliche Leerstelle zu füllen, die die Moderne hinterlassen hat, indem sie die objektive Seite der Architektur einseitig betonte. Der Architekturtheoretiker Antoine Picon hat diese Leerstelle einmal mit einem sehr eindrücklichen Bild verglichen: Der moderne Architekt operiere wie der Wächter eines Panoptikums, der von einem leeren Zentrum aus die Peripherie zu kontrollieren versuche.

Matthias Sauerbruch: Das ist ein sehr passendes Bild für die Tatsache, dass es uns Architekten kaum gelingt, in der Öffentlichkeit unsere Anliegen zu artikulieren, weil es keiner richtig versteht. Das hat teilweise damit zu tun, dass sich durch diese Objektivierungstendenz ein Fachchinesisch entwickelt hat, aber teilweise auch, dass uns eigentlich die Worte fehlen …

Anh-Linh Ngo: … oder um es mit Picon zu sagen, dass das inhaltliche Zentrum leer ist.

Nikolaus Kuhnert: Manfred Speidel spricht in seinem Nachwort folgerichtig von einem Paradigmenwechsel in Tauts Argumention: nach der Betonung der gesellschaftlichen Bedeutung von Architektur in seiner utopischen Phase und der pragmatischen Hervorhebung der Zweckmäßigkeit der Architektur während seiner erfolgreichen Bautätigkeit in Berlin versucht Taut nun seine Argumentation einen Schritt weiterzuentwickeln. Ich würde das als einen Versuch ansehen, die subjektive Seite der Architektur zu fassen – als einen Versuch, die Frage zu beantworten, was Architektur ausmacht. Denn wenn wir über Architektur sprechen, dann müssen wir über die subjektive Seite sprechen. Objektiv ist immer alles klar.

Matthias Sauerbruch: Architekten haben es sich angewöhnt, subjektive Überlegungen hinter den objektiven zu verschleiern. Einfach weil wir erfahrungsgemäß mit den subjektiven nicht besonders weit kommen. Es kommt natürlich darauf an, mit wem man es zu tun hat, aber bei vielen Bauherren ist man viel schneller am Ziel, wenn man rational argumentiert und beispielsweise für eine Lösung plädiert, weil sie preiswerter ist, als wenn man sagt, die Proportion stimmt jetzt besser. Dann würden alle sagen: „Spinnt der? Das ist mein Geld!“
Aber es beschleicht mich auch der Verdacht, dass Tauts immer wiederkehrender Begriff der Proportion, der alles durchzieht, letztlich das Problem auch nur umkreist und er es jedem einzelnen überlässt, die unterschiedlichen Bedeutungsebenen zu erfassen.

Anh-Linh Ngo: Im Grunde setzt er ein Proportionsgefühl voraus, das man auch auf die Grundbegriffe der Architektur – Technik, Konstruktion und Funktion – übertragen muss. Die Architekturlehre lässt sich im Wesentlichen auf die Grundaussage reduzieren: Architektur entsteht dann, wenn wir diese drei Grundbedingungen der Architektur in Proportion gebracht haben. Konkret heißt das: Die Proportion der Technik liegt in der Angemessenheit von Klima und Architektur, die der Konstruktion in der Einheit von Rationalität und sinnlicher Form und die der Funktion in der Elastizität des Gebrauchs.

Louisa Hutton: So gesehen ist dieses Verständnis von Proportion aktueller denn je. Besonders in der Nachhaltigkeitsdebatte müssen wir wieder ein angemessenes Grundverhältnis zum Klima finden.

Matthias Sauerbruch: Seine Elastizität wäre in der Nachhaltigkeitsdebatte der Begriff des „loose fit“.

Louisa Hutton: Wobei ich denke, dass man dabei die Atmosphäre nicht vergessen sollte, denn darüber spricht er auch – oder ich lese das zumindest zwischen den Zeilen heraus. Die Räume müssen Andeutungen für das Bewohnen geben und zugleich auf zwanzig verschiedene Arten bewohnt werden können. Insofern denke ich, dass „loose fit“ in gewisser Weise zu technisch klingt.

Anh-Linh Ngo: Taut benutzt hier den Begriff „Spielraum“. Die Realität biete immer Spielräume, und seien sie noch so klein, mit denen man experimentieren, die man ausnutzen, ausreizen kann, damit etwas entsteht, das mehr ist als das Ergebnis einer Formel oder einer Gleichung.

Nikolaus Kuhnert: Auf Ihre Fassaden bezogen hieße das, dass sie sich nicht rein aus den Überlegungen des Belüftungsingenieurs ergeben, sondern dass Sie das, was jener als technische Voraussetzung entwickelt hat, noch in Architektur übersetzen müssen.

Matthias Sauerbruch: Spielraum ist ein sehr passender und gleichzeitig zeitloser Begriff, mit dem wir auch heute operieren können.

Anh-Linh Ngo: Das Gespräch mit Ihnen ist für uns auch ein Test, um zu erörtern, was man heute von Taut lernen kann. Wie kann ein zeitgenössisches Architekturbüro heute mit den Begriffen oder mit den Fragestellungen von Taut arbeiten oder kann man überhaupt etwas damit anfangen?

Matthias Sauerbruch: Ich denke, für heutige Verhältnisse vertritt Taut eine relativ unangepasste These, weil er im Grunde genommen die Figur des Architekten als Vermittler zwischen den objektiven Anforderungen und den rationalen Bedingungen der Architekturproduktion einerseits und der eigentlichen Architektur andererseits sieht.
Ich finde seine Grundüberlegungen unheimlich relevant. Viele Dinge sind absolut à point, zum Beispiel das Klima-Thema. Gerade Angemessenheit ist im Rahmen der Nachhaltigkeitsdiskussion ein absolut zentraler Begriff. Denn wenn es darum geht, Kriterien zu entwickeln – unter der Maßgabe, dass wir Verbrauch und CO2-Emissionen reduzieren müssen –, dann geht es auch darum, worauf wir verzichten können. In dem Zusammenhang ist ein Begriff wie Angemessenheit oder „Proportion“ im Verhältnis zur gegenwärtigen Architekturproduktion sehr kritisch und absolut radikal.

Inhalt

02 Rekonstruktion der Moderne
Lenart, Christina

06 Zeitung: Architektur als Universalwissenschaft
Janson, Alban

09 Zeitung: ARCH kooperiert mit IBA Hamburg
Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh

10 Zeitung: Schwellenerfahrung
Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh

11 Zeitung: Schwellen, architektonische und andere
Kockelkorn, Anne

12 Zeitung: Der schöne Gebrauch
Rudhof, Bettina

14 Editorial
Lernen von Bruno Taut
Sauerbruch, Matthias / Hutton, Louisa / Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh

30 Bruno Taut
Posener, Julius

Bruno Taut: Architekturlehre
36 Kapitel 1: Was ist Architektur?
46 Kapitel 2: Die Proportion
64 Kapitel 3: Technik
82 Kapitel 4: Konstruktion
110 Kapitel 5: Funktion
134 Kapitel 6: Qualität
148 Kapitel 7: Beziehungen zur Gesellschaft und zu den anderen Künsten

160 Nachwort: Was ist Architektur?
Speidel, Manfred

166 Glossar
Arch

Beilage: Architekturüberlegungen
Taut, Bruno

Beilage: Wie kann eine gute Architektur entstehen?
Taut, Bruno

Rekonstruktion der Moderne

(SUBTITLE) Die Balassa Villa von János Beutum

Die Debatten über die Legitimität der Rekonstruktion historischer Gebäude werden in Deutschland nach wie vor heftig und hoch emotionalisiert geführt. In Ungarn gibt es solche scharfe Auseinandersetzungen nicht. Zerstörung geschah oft durch Vernachlässigung auf Grund fehlender Wertschätzung des architektonischen Erbes. Daher muss die Frage der Rekonstruktion dort in einen anderen Kontext gestellt werden, denn sie ist wichtiger Bestandteil einer kritischen Geschichtsaufarbeitung.

90 Jahre Bauhaus geben Anlass, die kollektive Geschichtsschreibung und das architektonische Erbe dieser einflussreichen Schule neu zu hinterfragen. So auch den wechselseitigen Einfluss zwischen der Architekturlehre des Bauhauses und den osteuropäischen Bewegungen der Moderne.

In diesem Kontext kommt die Rekonstruktion der Balassa Villa in der Fodor utca, einer Straße in einer Villengegend Budapests, einer Wiederentdeckung gleich. Die Architekten Ákos Pfemeter, Margaréta Mészáros und Ágoston Szőke von Pfemeter and Partners stellten nach intensiver Recherche das Einfamilienhaus nach den Originalplänen in seinem ursprünglichen Zustand von 1935 wieder her.

Von dem ungarischen Architekten János Beutum entworfen und von Ferenc Somló ausgeführt, zählt das Gebäude zu den Pionieren einer neuen Ära ungarischer Baukunst. Ende der 20er Jahre kehrten viele Architekten, die ihr Studium am Bauhaus oder an anderen westeuropäischen Architekturschulen absolviert hatten, nach Ungarn zurück und brachten die Ideen und die Lehre der Moderne ins Land. Wichtige Vertreter des Bauhauses in Ungarn waren Lajos Kozma, Farkas Molnár, László Lauber, István Nyiri und Jozsef Fisher. Zu internationaler Bekanntheit gelangten Mitglieder des Bauhauses wie László Moholy-Nagy, György Képes oder Marcel Breuer. Das einsetzende Horthy-Regime und die spätere Diktatur eines „sozialen Realismus“ in der Architektur durch die kommunistische Regierung zwang viele Architekturschaffende in die Emigration. Beutums berufliche Karriere fand mit der Verstaatlichung seines Architekturbüros nach dem Zweiten Weltkrieg ein Ende.

Die Reihe bedeutender Gebäude der Moderne, die bis in die späten 40er Jahre trotz einer starken nationalistischen und traditionalistischen Bewegung entstanden, muss langsam erst wiederentdeckt werden. Dazu gehört auch die 1932 von 22 Architekten nach dem Vorbild der Werkbundsiedlungen errichtete Wohnhausanlage in der Napraforgó utca in Budapest.

Die Balassa Villa ist ein mehrstöckiger Bau in Hanglage mit einem weiten Blick über die Stadt. Im Untergeschoss sind Garage und Hausmeisterwohnung untergebracht. Im Erdgeschoss erschließt ein vom Vorzimmer ausgehender Treppenaufgang das erste Geschoss. Küche, Esszimmer und das als „Halle“ bezeichnete Wohnzimmer befinden sich im Erdgeschoss. Im ersten Stock sind das Kinderzimmer, Bad und zwei Schlafzimmer untergebracht, die beide Zugang zu der dazwischenliegenden Garderobe haben. Jedes Stockwerk verfügt über einen Außenraum – wahlweise Garten, Terrasse, Balkon oder Dachterrasse.

Die Orientierung der Fenster und Wohnräume richtet sich in Süd-Ost-Richtung zur Stadt. Ausgeprägte Funktionalität wird zum formgebenden Element der Innenräume: Die in Form eines Viertelkreises angelegten Fensterelemente des Wohnzimmers lassen sich beiderseits vollständig in Wandschlitze verschieben, die zugänglich sind, damit die Fenster vom Innenraum aus gereinigt werden können. An der Nordseite bildet dieser Zugang gleichzeitig eine Sitznische. In der ursprünglichen Planung betont der durchgehende und sichtbar belassene, der Wandkrümmung folgende Heizkörper den perspektivischen Effekt ähnlich einem Fischauge. Das Fenster wirkt durch die Krümmung und einen durch ein Wandrelief angedeuteten Rahmen wie ein Panoramagemälde.
Auch die Ecken des Esszimmers und des darüber liegenden Kinderzimmers können mittels einer besonderen Klapp- und Schiebe-Technik der Fenster gänzlich geöffnet werden. Durch die stützenfreie Ausbildung der Ecke umgibt ein Fensterband den Essbereich, das bei geöffnetem Zustand eine intensive Beziehung zum Außenraum herstellt. Die beiden großen Fensteröffnungen des Hauses sind somit nicht wie gewöhnlich als zweidimensionale Ausschnitte der Wandfläche ausgebildet, sondern bilden ihrerseits dreidimensionale, nach außen gestülpte Räume. Diese raffinierten architektonischen Lösungen erzeugen zusammen mit der Zusammenschaltbarkeit von Wohn- und Essbereich über eine Schiebetür die Wahrnehmung eines offenen und unbegrenzten Raumes.

Bereits 1946-52 wurde im Zuge eines ersten Umbaus diese Schiebetür entfernt. Der Wechsel der politischen Regime brachte auch einen Wechsel der Bewohner und substanzielle Änderungen am Haus mit sich. Die ersten Bewohner dürften jüdische Industrielle gewesen sein, nach deren Flucht oder Vertreibung das Haus in der kommunistischen Ära kollektiviert und an Ministerialbeamte vergeben wurde – der erste Umbau findet statt. Nach 1989 stand das Haus erneut zum Verkauf. Neben weiteren aufwendigen Änderungen ersetzte man in den 1990er Jahren das Flachdach durch ein Giebeldach. Erst mit einem weiteren Besitzerwechsel vor drei Jahren erfolgte letztes Jahr der Rückbau. Die Architekten Pfemeter, Mészáros und Szőke setzten es sich zum Ziel, das Haus möglichst den ursprünglichen Plänen getreu rückzubauen, gleichzeitig jedoch auch auf den Wunsch der Bauherren einzugehen. So erweiterten sie den Ausgang auf die Dachterrasse um einen Aufenthaltsraum.

Auch andere Gebäude János Beutums wurden umgebaut, abgerissen oder warten noch auf eine Wiederentdeckung. 1991 wurde ebenfalls eines seiner Werke baulichen Veränderungen unterzogen. In das von ihm zusammen mit Pál Rákos 1934 umgebaute und eingerichtete Kaffeehaus Savoy am Budapester Oktogon zog das erste ungarische Fast-Food Restaurant der amerikanischen Kette Burger King ein.


[Christina Lenart ist Architektin. Als Stipendiatin des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur arbeitete sie in der ARCH+ Redaktion mit. Hier schreibt sie über die Wiederentdeckung des Werkes ihres Großvaters János Beutum.]

ARCH+, Di., 2009.10.20

20. Oktober 2009 Christina Lenart

Bruno Taut

(SUBTITLE) Eine Rede zu seinem fünfzigsten Todestag

Vor genau dreißig Jahren, im Dezember 1979, erschien der erste Vorlesungszyklus von Julius Posener zur modernen Architektur als ARCH Heft Nummer 48. Bis 1983 erschienen insgesamt fünf Ausgaben, die, später als Posener-Schuber zusammengefaßt, Generationen von Architekturstudenten und Architekten das Grundwissen über die Geschichte der modernen Architektur vermittelt haben. Als Referenz an die Anfänge der ARCH Vorlesungsreihe, die mit Bruno Tauts „Architekturlehre“ ihre Fortsetzung findet, sei hier ein kurzer Auszug aus Poseners Rede zum fünfzigsten Todestag von Taut abgedruckt, nicht zuletzt deshalb, weil sich Posener als einer der wenigen Theoretiker mit der „Architekturlehre“ von Taut auseinandergesetzt hat. Manfred Speidel widmet ihr in seinem Nachwort am Ende der Ausgabe eine ausführliche Analyse.

Bruno Taut ist vor fünfzig Jahren gestorben, zu Weihnachten 1938. Er war noch keine sechzig Jahre alt. Er starb in Istanbul, wohin die Emigration ihn schließlich verschlagen hatte. Die Hauptorte seiner Tätigkeit waren Berlin, Magdeburg, wieder Berlin, Tokio, Istanbul. Eine Zeitlang hat er auch versucht, in Sowjet-Rußland zu arbeiten. Zufällig habe ich ihn am Tage nach einer Rückkehr von dort in seinem Berliner Büro in der Linkstraße gesehen: er wirkte verstört.

In Rußland war er auf eine Art des Widerstandes gestoßen, welche über seine Vorstellung ging: auf ein Trägheitsmoment, wenn man den Mangel an Organisation mit diesem Worte bezeichnen darf. Es machte ihn buchstäblich wild. Diese Erfahrung hat ihm bestätigt, daß er in einem Lande arbeiten mußte, in dem man beides versteht: die Organisation der Bauaufgabe und die Freiheit dessen, der plant. Ob das Deutschland heute ist, weiß ich nicht. Damals war es Deutschland; weshalb Bruno Taut 1933 gezögert hat, wegzugehen.

Freunde mußten ihn erst darauf aufmerksam machen, daß er im Dritten Reich persona non grata sein würde. Dieses Zögern darf uns nicht wundern: Gropius ist bis in die späten dreißiger Jahre geblieben, Mies desgleichen. Architekten, die in den zwanziger Jahren in Deutschland eine neue Architektur geschaffen hatten, haben sich nicht leicht von Deutschland getrennt. Poelzig ist sozusagen auf gepackten Koffern gestorben. Auch er sollte in die Türkei gehen, aber er konnte sich dazu nicht bringen. Taut ist 1933 fortgegangen. Das ist bemerkenswert, nicht, wie ungern er gegangen ist. Er ging nach Japan. Manfred Speidel[01] hat vor nicht langer Zeit festgestellt, daß er 600 Entwürfe für Möbel und andere Hausgegenstände in Japan gemacht hat. Er hat sie nicht als einer gemacht, der die Resultate eines produktiven Lebens in ein fremdes Land mitbringt; was Bruno Taut in Japan gemacht hat, setzt sich mit Japan auseinander, ist für Japan gedacht. Er hat sich sogleich mit der neuen Architektur in Japan beschäftigt – und mit der japanischen Tradition. Er hat uns darüber nach Paris einen Aufsatz geschickt: „Traditionelle und neue Architektur in Japan“.

Uns, das war die Zeitschrift L’Architecture d’Aujourd’hui, an der ich damals gearbeitet habe.[02] Sicher hätte er diese neuen Erfahrungen lieber in Deutschland mitgeteilt. Nun schickte er, der Emigrant, sie einem Emigranten, und so blieben sie gewissermaßen in Deutschland; genauer, in der Internationale des emigrierten Deutschland. Japan war ihm eine Bereicherung. Man stelle sich das vor: Bruno Taut hatte ein umfangreiches Werk als Architekt und als Planer geschaffen. Gemeinsam mit seinem Freunde und Landsmann Martin Wagner – beide kamen aus Königsberg –, der seit 1926 Stadtbaurat in Berlin war, des ganzen Berlin, welches erst seit 1920 besteht, hatte Bruno Taut Planung und Bau der großen Siedlungen am Berliner Stadtrand vorangetrieben, mehr als irgendeiner der anderen Architekten, welche an der Planung und am Bau dieser Siedlungen teilgenommen hatten. Das geschah in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. [...] Zur Zeit seiner Emigration war er weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt. Und dann kommt es zu einem Neubeginn in Japan. Das ist nicht das gleiche wie die amerikanische Erfahrung später emigrierter Architekten wie Mies und Gropius; es ist auch nicht das gleiche wie die Versuche jüdischer Architekten in Palästina, sich als Europäer mit einem Lande auseinanderzusetzen, welches sie als das ihre ansehen wollten. Tauts Schicksal und seine Reaktion auf dieses Schicksal stehen allein.

Auch in Japan begegneten dem Architekten, der aus Europa kam, Versuche einer neuen Architektur, welche von der europäischen Moderne beeinflußt waren. Wichtiger war für Taut die Begegnung mit Zeugen einer traditionellen Architektur, einer bis in alle Einzelheiten festgelegten Konstruktion aus Holz, welche er in der kaiserlichen Villa in Katsura für sich entdeckt hat – und für uns –, und in dem Ise-Tempel, der seit alten Zeiten immer wieder in der ursprünglichen Gestalt neu konstruiert wird. Das war nicht eine Architektur, welche der Vergangenheit angehörte; sie lebte weiter, ebenso wie die Form der Tee-Zeremonie und gewisse Formen der Bedienung weiterleben.

Auch konnte man die Elemente von Katsura in den hölzernen Häusern japanischer Dörfer wiederfinden. Bruno Taut kam als ein Lernender. Gleichzeitig hat er versucht, zwischen Katsura und der neuen Architektur in Europa, an deren Entstehen er selbst beteiligt war, Beziehungen herzustellen. In seiner posthum veröffentlichten „Architekturlehre“, von der wir Genaueres später sagen wollen, findet er die Prinzipien der neuen Architektur durch Katsura bestätigt; gleichzeitig prüft er diese Prinzipien an Katsura und erweitert sie, ja, man kann sagen, daß er sie verwandelt hat. Er war Bruno Taut, einer, der in einem neuen Lande die Augen weit offenhielt und bereit war, selbst ein Neuer zu werden. [...]

Für Bruno Taut wurde Katsura ein klassisches Gebäude. Eines jener Gebäude, in denen Architektur sich manifestiert; und es sollte nicht das letzte bleiben, denn er ist ja von Japan nach der Türkei weitergezogen, und dort hat er wieder die Augen weit geöffnet, und die Moscheen des Sinan den Bauten hinzugefügt, in denen Architektur sich manifestiert; besonders die Süleymaniye in Istanbul.

Wieder geht er zu der im Lande eigenen Architektur. Er spricht nur wenig von der Hagia Sophia, der byzantinischen Kirche. Diese war vom Standpunkt der türkischen Architektur eine Vorstufe. Der türkische Raum wird erst durch Sinan verwirklicht, etwa tausend Jahre nach der Hagia Sophia. Man fragt sich, welche Gebäude er diesem Universum hinzugefügt hätte, wäre er weitergewandert. Aber er ist in Istanbul gestorben. Das war seine letzte Erfahrung, aber man kann das beinahe einen Zufall nennen. [...]

Taut hat sich in seinem posthumen Werk, der „Architekturlehre“, über seine Art zu komponieren ausgesprochen. [...]
„Man muß manchmal warten, man muß auch die Kraft zum Warten haben, trotzdem man zur raschen Fertigstellung gedrängt wird. Man muß warten, bis das, was bisher Schema war, beginnt, sich mit Leben zu füllen, bis man aufhört zu denken und tatsächlich nur fühlt.

Alles Ähnliche, was bisher gebaut ist, hat man bis dahin überdacht; jetzt gelangt man dazu, die besonderen neuen Voraussetzungen wie ein neues Leben vor sich zu sehen, es wächst ganz unklar im Gefühl das, was man die „Idee“ nennt. Das Gefühl ist wie ein Filter; es hält nur die Erfahrungen und das Wissen fest, das für diese neue Aufgabe zu gebrauchen ist. Dann beginnt schließlich die Hand zu zeichnen, beinahe automatisch oder bewußtlos. Der Kopf ist ausgeschaltet. Die Hand zeichnet abstrakte Linien auf das Papier, sie teilt die Straßen ein, die Baublöcke, die Häuser; sie gliedert das erste Schema so, daß die Einteilung der ganzen Sache harmonisch wird.“[03] [...]

Die Stelle aus der „Architekturlehre“ [...] bezieht sich [...] auf die Arbeit mit der GEHAG, in deren Büro der Ortsplan „wissenschaftlich“ schlüssig ausgearbeitet worden war. Taut nimmt diese Pläne nach Hause und unterwirft sie der Formung durch das Unbewußte. Er beschreibt in der „Architekturlehre“ auch, wie er auf ähnliche Art mit den Fassadenzeichnungen verfahren ist; daß ein Fenster auch dann noch an der richtigen Stelle sitzt, wenn es ein wenig verschoben wird, nicht, weil der neue Ort „wissenschaftlich“ noch besser wäre.

Die Genauigkeit, die er wissenschaftlich nennt – man könnte sie ebensogut funktional nennen –, genügt ihm nicht, ja, er will sagen, daß sie nicht nur ihm nicht genüge: sie genügt überhaupt nicht. Aus der korrekten Lösung der Gleichung muß etwas anderes gemacht werden, nicht, damit das daraus werde, was man Kunst nennt – oder Architektur –, sondern damit es bewohnbar werde: bewohnbar nicht in dem Sinne, daß die Küche funktioniert, das Wohnzimmer, das Kinderzimmer, die natürliche Beleuchtung etc.: das alles gehört zur Lösung der Gleichung. Wenn alles das funktioniert, meinte Taut, sei das gleichwohl noch nicht bewohnbar; um es bewohnbar zu machen – den Ort und das Haus –, müsse man es in Proportion bringen. Das Kapitel der „Architekturlehre“, in dem Taut von dieser Umwandlung durchs Unbewußte spricht, überschreibt er „Die Proportion“.

Nun ist der Architekt daran gewöhnt, dieses Wort Proportion in einem anderen Sinne zu gebrauchen. Die Männer der Renaissance haben es so gebraucht – und Le Corbusier. Ihnen war Proportion eine Maßbeziehung, sie mag arithmetisch sein wie die Angaben, welche Vitruv uns aus der späten Antike übermittelt hat, oder geometrisch wie das, was Le Corbusier dann „tracés régulateurs“ genannt hat: das ist die geometrische Grundfigur, welcher alle Teile einer architektonischen Komposition sich einzufügen haben. Bruno Taut setzt sich in der „Architekturlehre“ mit dieser Auffassung – und besonders mit Le Corbusier – auseinander. Er spricht davon, daß man solche Maßbeziehungen oder geometrischen Figuren auf die Fläche angewendet habe und stellt fest:
„Das gibt schon äußerst schwierige Entscheidungen, welche Punkte man als Maßteilungen anzusehen hat, ob man vertikale und horizontale Flächen gleich wichtig nehmen soll, ob nicht Wände mit Fenstern und Türen anders zu bewerten sind als glatte Wände, mit denen sie zusammenstoßen. Dann kommt das Licht dazu. Die Verschiedenheit des Materials, auch die Farbe, gibt Wänden, Decken und Fußböden einen sehr verschiedenartigen Charakter.“ Und weiter:
„Alle starren Regeln aber zerbricht das Tageslicht, die Sonne, der bedeckte Himmel, seine verschiedene Qualität je nach den Längen- und Breitengraden eines Ortes; kurz, die Kette der Voraussetzungen für eine systematische Architekturästhetik ist unendlich. Man möge am Parthenon oder gotischen Dom solange [...] studieren, so viel man will. Aber alle Regeln, die man da entdecken wird, werden zusammen etwa wie diejenigen einer Sprache sein, die immerfort durch Ausnahmen unterbrochen werden.“[04]

Diese Bemerkungen sind dem entgegengesetzt, was Le Corbusier über den „Modulor“ gesagt hat; und schon seiner frühen Bemerkung in „Vers une Architecture“, an die ich nur eben erinnern will:
„Il est une chose qui nous ravit, c’est la mesure.“[05]
Und allem, was er dann über das Lösen der Gleichung sagt. All dies, da es in der Fläche bleibt, da es auch die Front des Parthenon, welche keine Fläche ist – und die des gotischen Domes, die es wohl noch weniger ist, auf die Fläche zurückführt, scheint Taut irrelevant. Es ist beinahe eine Trotzhandlung, wenn nun er das Wort Proportion anders gebraucht. Blicken wir noch einmal in die „Architekturlehre“.

Er spricht von den Änderungen, die er in den wissenschaftlich genauen Plänen der GEHAG vorgenommen hat.
„Was im ersten Vorgang gemacht war, nämlich die guten Proportionen des Lageplans, das ist in der Wirklichkeit, wenn die Siedlung gebaut ist, nicht direkt zu sehen. Aber die Leute, die dort wohnen oder da spazieren gehen, fühlen bewußt, daß das Ganze harmonisch geordnet ist.“[06]

Man sieht, wie schwer sich Taut das Leben macht: dieses „fühlen bewußt“ steht hier als eine Abschwächung der allzu bestimmten Behauptung, daß die „Proportionen“ des Lageplans nicht direkt zu sehen seien. So ganz auffällig sind sie schon deshalb nicht, weil sie in Tauts späten Siedlungen (etwa „Onkel Tom“) als Abweichungen von einem im Grunde schematischen Plan in Erscheinung treten. Sie erscheinen allerdings nicht sogleich. Aber die Tatsache, daß sie durchaus sichtbar sind, mag Taut zu jenem merkwürdigen Wort veranlasst haben, daß die Leute „bewußt fühlen“. Aber hören wir ihn weiter: „Der Bau muß zweckmäßig sein, und doch erwartet jeder vom Architekten mehr als die banale Nützlichkeit seiner Bauten. Er erwartet, daß ein Neubau nicht nur benutzbar ist, sondern daß er auch ein besseres und schöneres Leben ermöglicht. In der Praxis bedeutet das, daß der Architekt mit seiner Arbeit für die Proportion bereits beim Programm für einen Neubau zu beginnen hat, ehe er überhaupt zeichnet.“ [...]

Der Ort der möglichen Veränderung, die zur Proportion führt, ist das, was Taut den Spielraum nennt: „Die Realität läßt also immer einen Spielraum offen. Es tut nichts zur Sache, wie groß dieser Spielraum ist. Auf alle Fälle liegt in ihm der eigentliche Punkt, an dem die Proportion ihr Leben beginnt.“[06]

Bruno Taut, der in einer Zeit gewirkt hat, welche von verschiedenen Theorien und Definitionen der Architektur beherrscht war, einer neuen Architektur, hält es am Ende in der „Architekturlehre“ für notwendig, sich mit ihnen allen auseinanderzusetzen. Le Corbusier wird genannt; ebenso könnte Häring genannt werden, welcher die Meinung vertrat, daß die lebendige Form sich aus der genauen Befolgung der Aufgabe „ergebe“, und Gropius, welcher das Heil von einer Industrialisierung des Bauvorganges erwartete und noch andere. Taut hat nachträglich seinen Zugang zur Architektur gegen alle diese Abstraktionen bekräftigt; und er tat es, indem er immer wieder auf die Vielfalt hinwies, welche einem gebauten Gegenstande innewohnt, welcher konkret ist, da er körperlich unter der Sonne und den Wolken steht – hier und am Äquator – und da er immer mit dem Menschen zu tun hat, er sei nun was er sei. Dies ist das Ergebnis eines Lebens der Utopie und der Produktion bis 1933 und der produktiven Beobachtung in zwei Ländern nach 1933. Das Ergebnis, die „Architekturlehre“, ist keineswegs gut geschrieben. Le Corbusier hat besser geschrieben, Häring auch. Aber diese nicht sehr gut geschriebene „Architekturlehre“ macht es dem Leser plausibel, warum Bruno Tauts Siedlungsbauten uns jeden Tag aufs neue ansprechen, während so vieles von dem, was andere in den zwanziger Jahren gebaut haben, in die eigene Zeit zurückzusinken scheint.

Sehen wir die Probe aufs Exempel an […]. Nehmen wir „Onkel Tom“ und dort wieder den jüngsten Teil, nördlich der Argentinischen Allee.

Im Grunde ist der Plan des Teiles dieser Siedlung, den wir näher ansehen wollen, schematisch, man kann ihn klassizistisch nennen; die Nord-Süd-Straßen treffen jedesmal auf eine Lücke in der Bebauung der südlichen Straße; aber Taut hat es so eingerichtet, daß sie nicht auf diese Lücke zu treffen scheinen: es wirkt eher wie ein Zufall. Er hat auch von Süden her niedrige Mauern in die nach Norden gehende Straße gezogen; aber diese hören nach einer Weile auf: sie leiten nur in die Straße ein. Hierfür aber sind sie unentbehrlich. Tritt in einer Nord-Süd-Straße ein Gebäude vor, so wird das niemals auf der anderen Straßenseite wiederholt. Das würde einen Tor-Effekt ergeben; die Straße würde dadurch in verschiedene Räume geteilt. Erscheint ein Vorsprung auf der anderen Straßenseite, so wird er an einer anderen Stelle stehen.

Man ist in der Tat wieder beim Akazienplatz, nicht aber bei dem Gesamtplan der Siedlung Falkenberg. Dieser war reich gegliedert, man wäre durch eine Vielzahl verschiedener Räume gegangen. „Onkel Tom“ ist im Grunde einfach geplant; aber die Mittel der Planung sind sehr entschieden eingesetzt. Die Wirkung der breiten Avenue, welche vom Untergrundbahnhof „Onkel Tom“ nach Süden führt und an deren beiden Seiten zweigeschossige Häuser mit Wohnungen stehen, in verschiedenem Abstand von der Straße und von sehr verschiedener Form: auf der einen Seite flächig, auf der anderen gegliedert, ist eine der eindrucksvollsten Straßen, welche dieses Jahrhundert geschaffen hat.

Auch die Farbe wird nun anders behandelt: nicht mehr als eine provozierende Absichtserklärung: das war sie in Falkenberg und noch in Magdeburg; die Farbe wird systematisch in das Erscheinungsbild der Siedlung eingebracht. In den Nord-Süd-Straßen des Nordteils von „Onkel Tom“ ist die nach Westen gerichtete Seite der Straße rot, die nach Osten gerichtete grün gefärbt. Das ist der Gesamtanstrich, aber die Farbe wird in Einzelheiten differenziert.

Das geht bis in die Färbung der festen und der beweglichen Fensterrahmen. […]
Da wir von Einzelheiten dieser Siedlung sprechen, müssen wir die Fenster erwähnen. Diese Fenster, nicht mehr klein unterteilt wie in den Häusern vor 1914 – aber auch noch nicht ohne jede Teilung, wie man gegenwärtig Fenster macht […]: diese Fenster, logisch unterteilt, überzeugen heute noch […]. Die Fenster sind recht eigentlich das, was diesen Fronten Sinn, Leben, Form gibt: Proportion, im Tautschen Sinne. Die Fronten sind wohl das Beste, was Taut uns hinterlassen hat. Dem Bauhaus-Formalismus stehen sie fern. Jede Hausfront ist mit Fenstern und Eingangstüren „geschmückt“, welche nicht utilitär sind, nicht „funktionalistisch“, sondern „in Proportion“. Je öfter man sie sieht, um so besser werden sie in den Augen des Beschauers. Es ist leider wahr, daß keine ebensogute häusliche Architektur seitdem entstanden ist. Und es ist – wieder leider – ebensowahr, daß wir diese nicht wiederholen dürfen: sie gehört einer anderen Zeit an. [...]

So weit ist Bruno Taut in seiner Arbeit in Deutschland gekommen, als er unterbrochen wurde. Er war der einzige nicht. Er war auch nicht der einzige Architekt, der versucht hat, einem Lande gerecht zu werden, das ihm neu war. Bruno Taut ist in Japan einer Kultur begegnet, welche gerade in der Architektur Bedeutendstes hervorgebracht hat, und er hat die Erfahrung dieser Baukultur, die eine Hausbaukultur gewesen ist, in sich aufgenommen. Er hat sehr bald den Rang eines Gebäudes wie Katsura erkannt, und er benutzt den Rang dieses Hauses, um die Grundgedanken der modernen Architektur an diesem klassischen Gebäude zu prüfen. Die Grundgedanken, sage ich, die allgemeinsten Begriffe; denn Kristiana Hartmann hat ganz gewiß recht, wenn sie sagt: „Taut hat „seine Moderne“ sozusagen selbst gefunden. Dies mag überspitzt klingen.

Wir sind jedoch der Meinung, daß die Tautsche „Moderne“ kein „Modernismus“ war, keine ängstliche Annäherung oder Anpassung an internationale Übereinstimmungen [...].“[07]

Einige wenige Grundbegriffe also prüft Bruno Taut an dem Palast von Katsura. Diese Prüfung ist der Inhalt seiner posthum veröffentlichten „Architekturlehre“. Katsura spielt dabei eine große Rolle. Taut hätte sich vielleicht auf Katsura, einen Wohnbau, beschränken können. Er hat das, meine ich, darum nicht getan, weil die moderne Architektur dem Bauen, das dem Wohnen gewidmet ist, zwar einen hohen Rang einräumt; sie hat sich indes auch auf Bauten anderer Bestimmung bezogen. Dies ist, meine ich, der Grund, warum Taut eine Reihe von Gebäuden verschiedener Bestimmung – und verschiedener Kulturen – als klassisch akzeptiert. An ihnen, nicht an Katsura allein, prüft er die Leitsätze der modernen Architektur: Technik, Konstruktion, Funktion, nachdem er schon am Anfang seiner Lehre den Begriff der Proportion eingeführt hat, wie er ihn versteht, um imstande zu sein, die Begriffe, auf die die moderne Architektur Wert legt, auf diesen seinen Proportionsbegriff zu beziehen. Es würde zu weit führen, die ganze Prüfung hier nachzuvollziehen; begnügen wir uns damit, der Prüfung des Funktionsbegriffes nachzugehen, welche er vornimmt, indem er diesen Begriff auf Katsura bezieht. Er sagt:
„Die Funktion hat hier den Charakter der totalen Allseitigkeit; ihre Ausstrahlungen und Beziehungen hören nirgends auf. Sie zeigt sich als Nützlichkeit für das praktische Alltagsleben bei den Wohn- und Schlafräumen, dem Bad, der Toilette usw., ebenso als Annehmlichkeit für die Sinne mit schattigen, Wind durchzogenen Räumen, äußerst beruhigendem Licht und einer unerhört raffinierten Kunst, den Garten in den Räumen des Hauses zu genießen.“ Und weiter:
„Darin ist dieser Bau in seinem Prinzip ein vollendetes Vorbild für die moderne Architektur. Er deckt sich vollständig mit seiner Bestimmung und seinen Zwecken, die hier, bei einem Wohngebäude, viel differenzierter sind als bei einem Tempel oder einer Kirche […]“. „Wer sich auch nur ein bißchen das japanische Leben vorstellen kann, wird in Katsura die Funktion genießen, die zur Form geworden ist. Aber die Schönheit wird sich ihm auch dann mitteilen, wenn er sich gar nicht bewußt ist, daß es hier in der Hauptsache die Funktion war, deren sich die Proportion zur Architekturschöpfung bediente. In Katsura kann man wirklich sehen: Was gut funktioniert, sieht gut aus.“[08]

Hier spricht noch der moderne Architekt. […] Aber Taut geht weiter in seinem Argument:
„Bei der Erschaffung eines Bauwerks befindet sich die Funktion in Einheit mit der Proportion. Aber ihre Lebensdauer ist nicht sicher; sie stirbt im Verlauf der Zeiten entweder ganz oder in einigen ihrer Eigenschaften. Die Proportion aber lebt auch ohne sie weiter.“ Und weiter:
„Wenn man also die Funktion ganz und gar von ihrer Ordnung durch die Proportion trennt, so hat sie für den Architekten kein Interesse. Sie wird zur Wissenschaft und kann allein nicht Wirklichkeit werden.“ Das erkennen wir an; aber nun zieht Taut Folgerungen, welche uns wundern. Er sagt:
„Wir befassen uns hier aber mit der Architektur, das heißt der Kunst der Proportion. Infolgedessen kann man [...] ruhig behaupten, daß die alten, engen, trüben und muffigen Häuser wohl den modernen hygienisch, technisch und sozial unterlegen sind. Aber in der weitaus größeren Mehrzahl sind sie architektonisch überlegen und werden es bleiben.“[09]

Ich sagte, diese Folgerung wundere uns, da Taut sie zieht. Unter der Hand nämlich hat der Begriff Proportion hier seinen Sinn geändert: von dem, was dem Menschen angemessen ist, wird er zum Formbegriff in dem Sinne, in dem bereits die Renaissance ihn gebraucht hat. […]

Ich habe aber nicht aus der „Architekturlehre“ zitiert, um Taut, den Autor, ins Unrecht zu setzen. Er hat seine Augen offengehalten. Er hat den Parthenon angesehen und festgestellt, wie falsch jeder Versuch ist, die Projektion dieser Front in eine senkrechte Ebene als Maßstabsstudie zu gebrauchen; da das ja nur eine Projektion ist, während das Gebäude selbst körperlich ist. Er hat auch Katsura so angesehen, als etwas, das man anfassen kann, das Raum ist und Raum schafft, und Körper, und Textur, und Farbe, mit einem Wort als das Lebende, das jeder Begrifflichkeit widersteht. Nur hat er sich gleichzeitig als moderner Architekt, der über die Begrifflichkeit dieser Architektur hinauszugehen wünschte, gedrungen gefühlt, diese Begriffe im einzelnen abzuhandeln. Er ist wieder gedanklich bis zum Extrem gegangen. Räumen wir ein, daß auch die Architekturtheorie, wie eigentlich alles, was er geschrieben hat, problematisch ist. Wir dürfen das einräumen, solange wir uns daran erinnern, daß vieles Extreme, was er gesagt hat – in welcher Richtung nun immer –, sich letzten Endes auf jene Einheit bezieht, die er Proportion genannt hat: das Angemessene im Ganzen und in jeder Einzelheit: die Einheit, die er in verschiedenen Richtungen gesucht hat, und die zu bauen ihm selbst in den späten zwanziger Jahren gelungen ist. […]


Der Text ist ein kurzer Auszug aus der Rede von Julius Posener anläßlich des fünfzigsten Todestages Bruno Tauts im Dezember 1988, erschienen in der Reihe: Anmerkungen zur Zeit, Heft 28, Akademie der Künste, Berlin 1989.


Anmerkungen:
* Anm. d. Red.: Taut starb im Dezember 1938 in Istanbul. Die Rede hielt Julius Posener anläßlich des fünfzigsten Todestages von Taut 1988 an der Akademie der Künste Berlin.

[01] Mitteilung von Manfred Speidel, welcher Tauts Werk in Japan vor kurzem noch einmal gründlich untersucht hat.
[02] Ich habe Bruno Taut gegen 1930 als Korrespondent für Mitteleuropa der damals gegründeten Zeitschrift L’Architecture d’Aujourd’hui kennengelernt. Seit Mai 1933 habe ich dann in der Redaktion in Paris gearbeitet und mit Bruno Taut Kontakt gehalten.
[03] Siehe S. 42 (deutsche Erstausgabe, hrsg. von Goerd Peschken und Tilmann Heinisch, Hamburg/Berlin 1977; türkische Ausgabe: Istanbul 1938; japanische Ausgabe: Tokio 1948)
[04] Siehe S. 48
[05] Le Corbusier, „Vers une Architecture“, Paris 1953, S. 130 (zuerst erschienen 1923)
[06] Siehe S. 43
[07] Kristiana Hartmann, „Bruno Taut“, in: Wolfgang Ribbe/Wolfgang Schäche (Hrsg.), „Baumeister, Architekten, Stadtplaner. Biographien zur baulichen Entwicklung Berlins“, Berlin 1987, S. 419.
[08] Siehe S. 111
[09] Siehe S. 112

ARCH+, Di., 2009.10.20

20. Oktober 2009 Julius Posener



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Taut Bruno

Was ist Architektur?

(SUBTITLE) Bruno Tauts „Architekturlehre“

„Die Architektur ist so tief degradiert, daß es fast nichts bedeutet, ob eines der vielen gebauten Dinge besonders gut ist. Es geht in der Masse des Nichtssagenden, Kalten und Trockenen unter. Es handelt sich heute nicht um eine Architekturepoche, sondern bestenfalls um eine solche, in der man eine spätere Architekturepoche vorbereitet.“

Als Bruno Taut 1937 am Schluß seiner „Architekturlehre“ dieses pessimistische und zugleich vernichtende Fazit über die zeitgenössische Architektur zog, lag seine Berliner Tätigkeit als Architekt fortschrittlichen, genossenschaftlichen Wohnungsbaus bereits sechs Jahre zurück. Während seines Aufenthaltes in der Sowjetunion von April 1932 bis Februar 1933 mußte er feststellen, daß die avantgardistische Architektur mit ihren geometrisch klaren Formen für das russische Klima ungeeignet war und erlebte zudem, daß die Moderne von einem politisch motivierten Historismus mit klassizistisch-barocken Fassaden verdrängt wurde.

Ähnlich erlebte er die neue Bewegung in Japan, wohin er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 emigriert war. Zwar war er tolerant gegenüber den Bemühungen der jüngeren japanischen Architektengeneration, doch fühlte er sich immer wieder berufen, deren unreflektierte Übernahme der westlichen Moderne zu kritisieren. Andererseits unterstützte er sie argumentativ im Kampf gegen den neuen monumentalen „Kaiserlichen-Kronen-Stil“[01], mit dem Japan seinen imperialen Machtanspruch in Asien unterstreichen wollte. Insgesamt verbrachte Taut dreieinhalb Jahre in Japan. Er konnte mit der Ausnahme von zwei kleinen Projekten nicht praktisch als Architekt arbeiten. Daher beschäftigte er sich intensiv mit der japanischen Kultur, war schriftstellerisch tätig und verdiente seinen Lebensunterhalt mit Beratung und schließlich mit Entwürfen für handwerklich herstellbare Gebrauchsgegenstände.

Erst als Taut im November 1936 in die Türkei übersiedelte, konnte er wieder große Bauaufgaben übernehmen. Ihm wurde die Leitung des „Baubüros für Schul- und Universitätsbau“ des Landes übertragen, das im türkischen Unterrichtsministerium angesiedelt war[02].

Insgesamt plante er zehn Projekte für das Ministerium. Baubeginn und -fortschritt von sechs Projekten hatte er noch miterlebt, als er an Weihnachten 1938 im Alter von 58 Jahren plötzlich verstarb. (Abb. Schulbau) Auch sein eigenes Wohnhaus, das er am Bosporus in Ortaköy baute, war nahezu bezugsfertig. (Abb. Wohnhaus Ortaköy)
Die einleitend zitierte pessimistische Beurteilung der zeitgenössischen Weltarchitektur, die ebenso die Entwicklungen in den USA wie im nationalsozialistischen Deutschland mit einschloß, bot für Taut auch einen Anlaß, seine erfolgreichen Berliner Jahre 1924 bis 1931 einer Prüfung zu unterziehen. War die unbedingte Forderung nach der Brauchbarkeit von Architektur, die er 1929 in „Die neue Baukunst in Europa und Amerika“ formuliert hatte, nicht doch sehr einseitig? Er konnte nach seinen Erfahrungen in Rußland, Japan und der Türkei und aus der Distanz der Emigration diese Zeit lediglich als eine Phase des Umbruchs, als Übergang optimistisch beurteilen und folgerte: „Wir leben in einer Zeit, die für die Neuschöpfung einer Kultur typisch ist.“ Taut ahnte nicht, daß vier seiner Berliner Siedlungen einmal als architektonische Hochleistungen bewertet und in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen würden, so wie er seinerseits 1934 in Japan die Bauten der Ise-Schreine, jene regelmäßig neuerrichteten Holzbauten aus dem 7. Jahrhundert, sowie die aus dem 17. Jahrhundert stammende Villa Katsura in Kioto als „architektonisches Weltwunder Japans“ auf seine persönliche „Welterbeliste“ gesetzt hatte.

„Architekturüberlegungen“, 1935–1936, und „Wie kann eine gute Architektur entstehen?“, 1936

Bruno Taut hat zeitlebens schriftstellerisch gearbeitet: um seine Arbeiten und seine Standpunkte zu erläutern, um seine utopischen Visionen zu verbreiten und um die Entwicklung der zeitgenössischen Architektur kritisch zu begleiten. Aber erst in der praxisarmen Zeit im japanischen Exil, in der er sich fortwährend mit den Ergebnissen einer für ihn in vielerlei Hinsicht noch aktuellen, jedoch mit den modernen Lebensformen kollidierenden Tradition auseinandersetzte und mit den japanischen Kollegen diskutierte, deren soziale Stellung weitaus schlechter war als die der europäischen Architekten, schrieb er zum ersten Mal über grundlegende Fragen der Architektur. Dafür unterbrach er sogar die Arbeit an seinem umfassenden Werk „Das japanische Haus und sein Leben“.

Er nannte diese „rein theoretische“ Arbeit „Architekturüberlegungen“. Zwischen dem 2. Dezember 1935 und dem 26. Januar 1936 schrieb er sie – ganz für sich selbst und selbstkritisch – auf 170 Seiten in sieben Kapiteln nieder. Sie wurden bislang nicht veröffentlicht.[03] (Abb. Architekturüberlegungen)
Kurz nachdem er das Buch „Das japanische Haus und sein Leben“ abgeschlossen hatte, faßte er zwischen dem 5. und 12. März 1936 die „Architekturüberlegungen“ unter dem Titel „Wie kann eine gute Architektur entstehen?“ zusammen.[04] Diese kurze und leicht verständliche Fassung war für Architekten in der Sowjetunion konzipiert. Auch wenn der Text sich konkret auf die russische Situation bezieht, ist er so klar im Aufbau und prägnant in seinen Definitionen, daß er auch als Einleitung zur ausführlicheren „Architekturlehre“ gelesen werden kann.

Die Entstehung der „Architekturlehre“ in der Türkei, 1936–1937

Mit der Niederschrift der dritten, ausführlichen Version, der „Architekturlehre“, begann Taut unmittelbar nach seinem Umzug in die Türkei im November 1936. Sie sollte als Lehrbuch seine Vorlesungen an der Kunstakademie in Istanbul begleiten. Dorthin war er als Leiter der Architekturfakultät berufen worden, zugleich erhielt er den Auftrag für die Leitung des Schulbaubüros. Eine Woche nach Tauts Tod erschien Anfang 1939 die „Architekturlehre“ in türkischer Übersetzung unter dem Titel „Mimarî Bilgisi“. Bildauswahl, -größen und -anordnung hatte er noch selbst festgelegt. (Abb. Mimarî Bilgisi)

Tauts Zeitbudget in der Türkei muß von Anfang an angesichts der beiden Aufgabengebiete, Planungsbüro und Hochschulunterricht, sehr knapp gewesen sein. Einerseits ging er mit riesigem Eifer an die architektonischen Planungsarbeiten, die er so lange entbehrt hatte; er konnte auch ehemalige Mitarbeiter aus Berlin für das Büro gewinnen. Andererseits wollte er die Architekturfakultät und ihr Lehrprogramm umstrukturieren. Dafür mußte er neben der inhaltlichen Arbeit vor allem auch Überzeugungsarbeit leisten und die Vorbehalte der Kollegen entkräften.[05]

Daß Taut am 18. Dezember 1936, also bereits einen Monat nach Amtsantritt, dem Akademiedirektor das erste Kapitel („Was ist Architektur?“) seiner „Architekturgedanken oder: Architekturlehre“, so der damalige Titel, vorlegen konnte, und schon am 3. Januar 1937 auch das zweite („Die Proportion“) und dritte Kapitel („Technik“) fertig waren, war nur durch seine Vorarbeiten – die bereits erwähnten, eher persönlich gehaltenen „Architekturüberlegungen“ – möglich.

Trotzdem konnte Taut erst ein halbes Jahr später die Arbeit daran fortsetzen und am 27. August 1937 das letzte Kapitel über die „Beziehungen zur Gesellschaft und zu den anderen Künsten“ fertigstellen.[06] Ob Taut in der Zwischenzeit oder danach Vorlesungen gehalten und dazu das Manuskript verwendet hat, ist seinem Tagebuch „Istanbul Journal“ nicht zu entnehmen. Ein ehemaliger Student, Mehmet Ali Handan, erinnert sich jedoch: „Er las in den Lehrveranstaltungen öfters Abschnitte aus seiner „Architekturlehre“ vor.“[07] Taut benutzte sie vermutlich nicht oder noch nicht für eine durchgehende Vorlesungsreihe.

Tauts Schüler berichten in ihren Erinnerungen, daß Tauts Vorgänger Ernst Egli im Unterricht vor allem Technik und Konstruktion als Kriterien für die Entwurfsarbeit herausgehoben habe. Die daraus entstandene „Trockenheit“ und „Blutleere“ der Entwürfe versuchte Taut zu überwinden, indem er den Studenten Architektur als eine Kunst nahebrachte, in der Technik und Konstruktion „lediglich“ die unabdingbaren Gehilfen seien. Diese Argumentation bildet auch das Hauptthema der „Architekturlehre“. Zudem bezog Taut die konkreten Bedingungen eines Bauwerkes in den Entwurfsunterricht ein: Umgebung, Ort, Klima sowie geschichtlichen Hintergrund. Diese Themen, die ausführlich in der „Architekturlehre“ behandelt werden, stellen die Grundlage für Tauts Akademie-Reform dar, die für die Studenten die konkrete Projektarbeit vorsah. Die „Architekturlehre“ kann als Tauts Versuch angesehen werden, für die kommende Architektur ein kritisches Fundament zu legen. Sie ist die Summe seiner Bauerkenntnis, die durch seine Auslandserfahrung eine globale Perspektive erhält und den problembehafteten Übergang von traditionellen zu modernen Gesellschaften berücksichtigt.

Architektur

Unter den deutschen Architekten der „Moderne“ war der Begriff „Architektur“ durch „Baukunst“ oder durch „Bauen“ ersetzt worden. Mit der Wiedereinführung des klassischen Begriffes ging Taut auf Distanz zum Absolutheitsanspruch des sachlichen „Neuen Bauens“ und schloß, bewußt oder unbewußt, gleichzeitig an den Titel von Le Corbusiers „Vers une Architecture“ von 1923 an, der in der deutschen Übersetzung von 1925 entsprechend „Kommende Baukunst“ hieß. Dieses Buch ist wohl die berühmteste Propagandaschrift der Moderne. Solange Le Corbusier Technik-, Maschinen- und Ingenieurbauten als Vorreiter der neuen Zeit darstellt, stimmt ihm Taut zu. Dort, wo Le Corbusier sie jedoch zu suggestiven Bildern oder zu Form-Symbolen der Moderne erklärt, formuliert Taut scharfe Kritik – das gilt für Wolkenkratzer wie für standardisierte Typen oder für standardisiertes systematisches Bauen um seiner selbst willen. Aber es sind vor allem Le Corbusiers formale Avantgardismen, gegen die Taut sich wendet: die Railings an Balkonen, die Fensterbänder, die an Schiffsbauten erinnern oder das Konzept der Pilotis, das er 1933 beim Schweizer Studentenhaus (1932) in der Cité Universitaire in Paris in der neuesten Version begutachten konnte, als er sich in die Emigration begab. In der „Architekturlehre“ wird dieses Formrepertoire der Moderne auf seinen Sinn hin befragt.

Erstaunlicherweise sind sich Taut und Le Corbusier einig in der Bedeutung von Proportion und Baugeschichte. (Abb. Le Corbusier)
Le Corbusier stellt Produkten des Maschinenzeitalters die Hochleistungen der klassischen Architektur gegenüber – die römischen Großbauten, den Petersdom Michelangelos und das Parthenon, diese „reine Schöpfung des Geistes“ –, und er fordert, die Vereinfachung der Gestalt zugleich mit einer Verfeinerung der Details zu verbinden, sie zu etwas Geistigem und damit zur Architektur zu erheben. Proportion und Profilierung seien die Mittel, die an einem Bauwerk die geheime Beziehung zu kosmisch-göttlichen Gesetzen herstellten. In dieser Denkweise scheinen sich Taut und Le Corbusier erstaunlich nahe zu kommen, auch wenn die Resultate nicht unterschiedlicher sein könnten. Man kann Tauts „Architekturlehre“, vielleicht mehr noch die zuvor in Japan entstandenen „Architekturüberlegungen“ als Kommentar zu und als Abrechnung mit Le Corbusiers „Vers une Architecture“ lesen.

So grundlegend und umfassend Taut den theoretischen Unterricht für die Studenten in Istanbul als Ergänzung zur Projektarbeit wohl gedacht hatte, so bescheiden war der ursprüngliche Titel „Architekturgedanken“, der eine offene, jedenfalls nicht abgeschlossene Debatte zu versprechen schien. Der zweite Titel „Architekturlehre“ verweist deutlicher auf den Unterrichtszweck. Allerdings gliedert den Text nur die Unterteilung in sieben Kapitel – Zwischenüberschriften für die zahlreichen angesprochenen Themen fehlen.

Proportion

Tauts zentraler Begriff für das Wesen und Werden der „Architektur“ über ein bloßes sachliches „Bauen“ hinaus ist die „Proportion“. Er möchte den Begriff umfassend verstanden wissen, was ihn bisweilen sehr abstrakt macht. Die harmonische Teilung und die geometrischen Verhältnisse, die übliche Bedeutung von „Proportion“ also spielt dabei nicht die Hauptrolle – sie wird aber als Grundlage für die Fähigkeit eines Baumeisters verstanden, auch allgemeiner die Verhältnisse der Dinge zueinander als harmonisch oder nicht harmonisch empfinden zu können. Der von Taut erweiterte Begriff Proportion meint den harmonischen und sichtbar gewordenen Zusammenhang aller Teile eines Bauwerkes und seiner Beziehungen zur Umgebung, schließt aber auch Entscheidungen über Programm und Kosten oder allgemeiner über die Stellung des Bauwerkes in der Gesellschaft, seine Angemessenheit mit ein.

In der Proportion sind die erforderlichen sachlichen Aspekte, wie Zweckmäßigkeit und Haltbarkeit, sozusagen aufgehoben; in gewisser Weise sind sie ihr ein-, zumindest nicht übergeordnet. Werden Technik, Konstruktion und Funktion als formgebende Faktoren in den Vordergrund gestellt, wie die verschiedenen Stilrichtungen der Moderne es propagierten, entstehe – so die Einschätzung Tauts – entweder ein fades und „trockenes“ Bauen oder aber eine formalistische Architektur. Der Architekturkritiker Adolf Behne hat bereits 1923 in seinem Buch „Der moderne Zweckbau“ mit „Funktionalismus“, „Rationalismus“ und „Utilitarismus“ die drei „Stile“ des neuen Bauens herausgearbeitet und ihre Einseitigkeit kritisiert, um am Ende für eine Synthese der drei Ansätze zu plädieren. Für Taut waren diese Formgebungen jedoch allesamt Sackgassen, Formalismen, sofern sie als „Stile“ intendiert und fixiert waren, die keine Entwicklungsmöglichkeiten eröffneten. Um Einseitigkeiten entgegenwirken zu können, führt er im vorletzten Kapitel der „Architekturlehre“ den Begriff der „Qualität“ ein, deren Voraussetzung eine beständige und freie Kritik sei. Dabei verstand er „Qualität“ als ein ganzheitliches Phänomen wie die „Proportion“, das wie diese im engeren wissenschaftlichen Sinne weder faß- oder noch lehrbar sei. Man könne sich ihr nur mit negativer, d.h. ausschließender Kritik annähern. Waren für Tauts Architekturvisionen der 1920er Jahre die Beziehungen zur Gesellschaft und zu den anderen Künsten noch von vorrangiger Wichtigkeit, treten sie in der „Architekturlehre“ in den Hintergrund und werden erst an letzter Stelle sehr allgemein behandelt.

Damit leitete Taut, der im Laufe seines Lebens mit apodiktischen Texten verschiedenste Extreme ausgelotet hat, einen abermaligen Paradigmenwechsel ein: nachdem er in seiner utopischen Phase vor allem die gesellschaftliche Bedeutung und später, während seiner großen Bauvorhaben in Berlin, die Zweckmäßigkeit von Architektur hervorgehoben hatte, versuchte er nun, ihren synthetischen Charakter mit dem Begriff der Proportion zu fassen.

„Die neue Baukunst in Europa und Amerika“, 1929, oder der reine Zweckbau

Man kann Tauts „Architekturüberlegungen“ von 1935 insofern auch als eine Weiterführung und Überarbeitung seines 1929 erschienenen Werks „Die neue Baukunst in Europa und Amerika“ betrachten, das auf dem Höhepunkt seiner Architektentätigkeit in Berlin entstanden war. (Abb. Neue Baukunst) In jener Zeit hatte er viele Siedlungen und städtische Wohnprojekte mit der GEHAG geplant oder gebaut, ebenso die große Gemeinschaftsschule in Neukölln, eine Versuchsklasse und das Gewerkschaftsgebäude des Verkehrsbundes in Berlin.

„Die neue Baukunst in Europa und Amerika“ zieht eine Bilanz der Architekturentwicklung im Hinblick auf das Dogma der Zweckgebundenheit der Moderne. Ähnlich wie Sigfried Giedion in seinem Buch „Bauen in Frankreich“ (1928), beginnt Taut mit den Errungenschaften und Möglichkeiten von Konstruktionen aus den „neuen“ Materialien Eisen und Eisenbeton. Er zeigt aber auch ausführlich, wie neue Bautypen entstehen aufgrund der veränderten Produktions- und Handelsbeziehungen der industrialisierten Welt, aufgrund wachsender Städte und neuer Wohn- und Lebensformen sowie aus dem Gemeinschaftsgefühl eines idealistischen Sozialismus heraus. Taut interessierten dabei nur am Rande die „modernen“ Stilformen, wie sie Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson nur drei Jahre später, 1932, mit der Ausstellung „The International Style“ und dem gleichnamigen Buch definierten. Für ihn waren sie großenteils vorübergehende „Moden“. Wichtiger erschien ihm als Lösung die Entstehung von wegweisenden Typologien, deren Stil-Zuordnung dabei zunächst zweitrangig war. In dem Buch finden sich daher neben Fotos von den Bauten meist auch die Grundrisse.

Zudem erörtert Taut ausführlich die „Kollektivität“ der neuen Baukunst. In der Breite der Darstellung und angesichts der Menge der vorgestellten Bauten und Entwürfe kann man das Buch als eine Ergänzung zu Gustav Adolf Platz’ „Die Baukunst der neuesten Zeit“ (1927) betrachten. Dieser Band der Propyläen Kunstgeschichte gilt als eine er ersten „aufgeklärten“ Geschichten der neueren Architektur.

In den „Architekturüberlegungen“ und der „Architekturlehre“ nennt Taut die Architekten, die an der Entwicklung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beteiligt waren, nur namentlich. Offensichtlich setzte er beim Leser die Kenntnis der ausführlichen Bebilderung der „Neuen Baukunst“ voraus, vielleicht fehlte in Istanbul aber auch einfach die Möglichkeit für eine umfassende bildliche Darstellung. Bis auf die wichtigsten eigenen Siedlungsbauten und zwei Beispiele der moderaten modernen Architektur in Frankreich – Tony Garniers Rathaus in Boulogne und Auguste Perrets staatliches Möbel-Aufbewahrungsgebäude in Paris – verzichtete Taut auf Abbildungen guter Bauleistungen der vergangenen 15 bis 20 Jahre. Einige Ingenieurbauten, Brücken und vor allem historische Baukunst – der Parthenon, der gotische Dom, die türkische Moschee, die japanische Villa Katsura – dominieren. Es scheint, als wollte Taut, daß sich seine Leser, die Studenten, keine neue Bauten zum Vorbild nähmen, sondern über die universalen, die Geschichte überdauernden Grundsätze der Architektur nachdächten. „Man soll nicht studieren, was die alten Meister machten, sondern was sie suchten“, so zitiert er den größten japanischen Dichter des 17. Jahrhunderts, Basho, im Kapitel „Proportion“.

Vom Zweckbau zur Architektur

In „Die neue Baukunst in Europa und Amerika“ argumentiert Taut, daß die vollständige Zweckerfüllung Einheit und Harmonie garantiere. Architektur sei eine Kunst, deren Inhalt die Brauchbarkeit sei – diese spiegele sich im Bau und auch umgekehrt gebe der Bau dem Gebrauch eine (neue) Ordnung. Das mündet in der griffigen Formel: „Aufgabe der Architektur ist die Schaffung des schönen Gebrauchs.“ Sie wird in den „Architekturüberlegungen“ im Kapitel „Funktion“ vordergründig nur leicht modifiziert: „Für die Proportion ist die Funktion die schöne Brauchbarkeit, der schöne Gebrauch“, heißt es dort.

Oberflächlich gesehen setzt Taut seine Argumentation der „Neuen Baukunst in Europa und Amerika“ fort, aber genaugenommen handelt es sich wie bereits erwähnt um einen Paradigmenwechsel vom „Funktionalismus“ des „Neuen Bauens“ zur Wiedergewinnung der „Architektur“.

In den „Architekturüberlegungen“ und der „Architekturlehre“ dreht Taut die Hierarchie um: Technik, Konstruktion und Funktion sind nur Diener, sie sind lediglich „Voraussetzungen“, die Herrin aber ist die Kunstform, das Agens der Proportion. Das bedeutet, daß jetzt der (künstlerische) Sinn für Zusammenhänge entscheidet, ob ein Zweck überhaupt angemessen ist oder nicht. Taut wurde damit aus Sicht der „Modernen“ von einem „Funktionalisten“ zu einem „Traditionalisten“.

Um Architektur als eigenständiges und vollgültiges Kunstwerk zu „retten“, führt Taut nun einen neuen Schlüsselbegriff in die Definition ein: „Architektur ist die Kunst der Proportion.“ Er spricht dem Menschen sogar einen eigenen Wahrnehmungssinn der „Proportion“ zu. Man könnte ihn dessen künstlerischen Sinn nennen. Mittels der Proportion könnten die Dinge so geformt werden, daß ihre rationalen Voraussetzungen, also Technik, Konstruktion und Funktion, in der sinnlichen Form aufgingen.

Damit trat nun zwischen die 1929 behauptete „direkte Beziehung zwischen Bau und Zweck“ eine menschliche „Institution“, eine Fähigkeit zur harmonischen Synthese, die letztlich ungreifbar, auch unangreifbar bleibt. Dieser Sinn ist weder in der modernen Wahrnehmungspsychologie noch in der Architekturästhetik als solcher verankert. Taut muß sich ihm daher mit vielerlei Umschreibungen annähern, was zum Teil sehr bemüht wirkt. Er benötigt diesen Sinnesbegriff, will er der Architektur glaubhaft nach der 1929 aufgestellten „Brauchbarkeitsthese“ nun wieder die Selbständigkeit eines Kunstwerkes zusprechen, die er ihr zwischen 1914 und 1920 als wichtige Ergänzung zur Zweckwelt des Menschen einmal zugemessen hatte; und er benötigt ihn, wenn er den Wesensbegriff der Architektur allgemeiner als die Theoretiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts oder – gegen die Anschauungen der „Moderne“ – überhaupt noch einmal definieren möchte.

Architektur als autonomes Kunstwerk, 1914–1920

Taut kehrte mit seiner Definition der Architektur als eine autonome Kunst zu jener Position zurück, die er 1914 nach der Realisierung der ersten Gartenstadtsiedlungen Falkenberg bei Berlin und Reform in Magdeburg als „Notwendigkeit“ postuliert hatte: „Bauen wir zusammen an einem großartigen Bauwerk! […] in dem die Architektur wieder in den anderen Künsten aufgeht. […] Dieses Bauwerk braucht keinen praktischen Zweck zu haben. Auch die Architektur kann sich von utilitaristischen Forderungen loslösen.“ In der „Stadtkrone“ (1917) „besang“ er die Herrlichkeit dieser zweckfreien, die Stadt bekrönenden Architektur für eine „interessenlose“ Anschauung. Diese Idee fand 1918 in den Zeichnungen der „Alpinen Architektur“ und 1920 in der „Auflösung der Städte“ in eine ideale Weltgemeinschaft ihren radikalen Ausdruck.

Die „Stadtkrone“ und die „Alpine Architektur“ waren Tauts Versuchsanordnungen für Kants „Streben nach Reinheit“, die es ihm ermöglichten, Architektur als reine Kunstform betrachten zu können, als ein Kunstwerk, das, anders als Plastik und Malerei, den Betrachter bzw. Benutzer selbst ins Ästhetische verwandelt. Er scheint diese Konzeption im Verlaufe der reichen Bautätigkeit der 20er Jahre nicht mehr weiterverfolgt, wenn nicht gar aufgegeben zu haben. Er sprach nicht mehr von ihr, aber sie blieb doch sein „Hintergrund“. (Abb. Alpine Architektur)

In der „Architekturlehre“ wird auch der Skulpturenreichtum indischer Tempelbauten, der für Taut 1917 noch Resultat höchster menschlicher Leistung darstellte, nur noch als eine Sonderform üppiger Dekoration bewertet. Zwar sah er bei der Flucht aus Berlin nach Zürich Anfang März 1933 in der strengsachlichen Architektur der jungen Schweizer Architekten den Erfolg der modernen Bewegung: „Die Qualität und damit auch die architektonische Wirkung entsteht ausschließlich aus der Funktion.“ Das ist als ein Lob auf das „freie Bauen“ in der Schweiz zu verstehen, aber bereits einige Tage später notierte er in seinem Tagebuch, daß „angesichts der Weltkrise“ die Ziele der „Alpinen Architektur“ noch berechtigter erschienen als damals im Jahre 1918, als er angesichts des nicht enden wollenden Krieges mit emphatischen Worten ein Bauen jenseits aller Nützlichkeit gefordert habe. Im Anblick der Berge rief er sich nun die damalige Euphorie wieder ins Gedächtnis: „Die funktionelle Architektur für Alltagszwecke ist richtig, aber sie muß sich als Selbstzweck totlaufen und braucht deshalb ihren großen Hintergrund.“[15] Der „große Hintergrund“ ist Tauts Weltbild, dem er durch zweckfreie architektonische Kunstwerke einmal Gestalt gegeben hatte. Das lustvolle Architektur-Wollen, das in der „Stadtkrone“ 1917 eine Konzeption fand und in der „Alpinen Architektur“ künstlerisch ihren Höhepunkt erfuhr, wird in den „Architekturüberlegungen“ 1935 nicht mehr erwähnt.

Das Wesen der Architektur

Tauts „Architekturüberlegungen“ und die „Architekturlehre“ sind jedoch auch der Versuch, eine Antwort zu finden auf die Frage: „Was ist Architektur?“[16]
Welchen Zweck verfolgt diese Frage nach dem Wesen der Architektur?
Im Grunde begibt sich Taut damit auf das klassische Gebiet der Architekturtheorie, die die Architektur als eine eigenständige Kunst mit eigenen Gesetzmäßigkeiten zu etablieren sucht, um sie gegen die „freien“ Künste wie Plastik und Malerei abzugrenzen. Die Architektur, gemeinhin als eine „dienende“, weil zweckgebundene Kunst angesehen, wird – unter Verweis auf die gotische Kathedrale und das Zusammenspiel der Künste im späten Barock – in der Argumentation häufig zur Mutter der Künste erklärt. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und den spektakulären Bauten der Ingenieure hatte sich der Berufsstand der Architekten auch gegen diese abzugrenzen und zu behaupten. Zu diesem Zweck wurde die Kantsche Forderung nach einer „Schönheit als Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ bemüht. Ein Gebäude könne nur Kunst sein, wenn es keinem wie immer gearteten Zweck diene.

Um die Selbständigkeit und Reinheit der Kunstform Architektur beweisen zu können, mußten nur ihr zugehörende Merkmale definiert und diese nur innerhalb ihrer eigenen Medien geschaffen werden. Das schien mit der Einführung des Raumes als ästhetisches Objekt der Architektur möglich.[17]

Taut folgt einerseits dieser Tradition und definiert Architektur im Kantschen Sinne als „reine“ und eigenständige Kunst, für die der Architekt zuständig sei, andererseits versucht er den „Raum“ als Schlüsselmerkmal zu umgehen, der ihm zu abstrakt und zu eng erscheint. Stattdessen stellt er die Form in den Mittelpunkt, fordert aber beim Formbildungsprozeß „Elastizität“ – im Kapitel „Proportion“ zeigt er die Metamorphose eines Zeppelin bei einer Erdumrundung, die ihn einmal schmaler, einmal dicker aussehen lässt. Dadurch will er eine „Lebendigkeit“ der Gestalt sowie eine Befreiung aus der Starre der systematisierenden und trockenen Form erreichen, die die industrielle Produktion und ökonomische Forderungen mit sich zu bringen scheinen. Der Begriff der „Proportion“ soll Taut diese „Lebendigkeit“ garantieren: das Aufgehen der unterschiedlichen Zwecke in einem Beziehungsgeflecht, das Formen ermöglicht, bei denen die Zwecke zwar ablesbar bleiben, aber sich nicht gegenseitig verdrängen. Er spricht davon, „in der Form die Funktion genießen“ zu können. Die Definition des Begriffs der „Proportion“ bleibt offen.

Arbeit an der Proportion

Wir haben bereits über den Begriff der Proportion in der „Architekturlehre“ gesprochen und dabei festgestellt, daß Taut den Begriff in seinem umfangreichen Schriftwerk so gut wie nie verwendet. Auch als er nach den „Architekturüberlegungen“ sein Buch „Das japanische Haus und sein Leben“ fortsetzte und im Abschlußkapitel „Das Bleibende“ als Höhepunkt den Besuch und die Analyse der Villa Katsura schildert, verwendet er seinen neuen Hauptbegriff „Proportion“ nur für die schlichten Ankleideräume des Kaisers, die, ohne jeglichen Zierrat, ein Zeichen der „Feinheit des Geschmacks“ darstellten, die „ausschließlich aus den unübertrefflichen edlen Proportionen“ spreche.

Wenn Taut nun auf den ersten Seiten der „Architekturlehre“ Architektur als die „Kunst der Proportion“ definiert, so stellt er seinen Beitrag in die Reihe der klassischen Architekturtheorien seit Vitruv und setzt mit seinen Überschriften die Vitruvsche Triade „Festigkeit“, „Bequemlichkeit“ und „Anmut“ fort, wobei er „Anmut“ durch „Proportion“ ersetzt und die anderen beiden durch die in seiner Zeit üblichen Begriffe „Konstruktion“ und „Funktion“, erweitert durch „Technik“. In diesem Rahmen versucht Taut eine Art Gesamtbetrachtung der Weltarchitektur, indem er bedeutende Bauwerke der Vergangenheit den drei Begriffen zuordnet und zeigt, wie sie im Rahmen ihres „Pensums“[18] erst über die Wirkmacht der Proportion zu Architektur werden: demzufolge entsteht die griechische und japanische Architektur aus der Technik, die Gotik und die türkische Baukunst aus der Konstruktion und die Villa Katsura aus der Funktion. Anschließend erörtert er das Thema von Achse und Symmetrie, zu denen auch optische Korrekturen gehören. Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet er kritisch die gesamte neuere Baukunst.

Im Laufe des Textes bemüht Taut den Begriff „Proportion“ allerdings zeitweise so häufig, daß er zu einer Hülse zu werden droht. Wichtiger ist jedoch, wie er die Arbeit des Architekten bestimmen wird, über die er 1929 noch lapidar sagt: „Ursache zu guter Architektur kann heute nur die Arbeit sein“, und: „Zum Kern gelangt man nicht durch das Gefühl oder (die) Begeisterung, nur durch strengste Arbeit.“[19] Diese rein verstandesorientierte Herangehensweise modifiziert er im entscheidenden 2. Kapitel der „Architekturlehre“ über die Proportion („Architekturüberlegungen“: 3. Kapitel). Demnach leistet der Verstand nur die erste Stufe der Entwurfsarbeit. Der Kopf muß selbstverständlich zuerst ganz sachlich arbeiten; er muß alle Voraussetzungen praktischer Natur verarbeiten und zunächst zu einem Schema kommen. Für Tauts Berliner Siedlungen und Wohnbauten hatte dies das Büro der GEHAG vorbereitet. Das sachliche Ergebnis vor Augen, konzentriert der Architekt schließlich sein Gefühl auf die Sache. Das geschieht am besten nachts. Und schließlich – nach einer Zeit des geduldigen Wartens und Betrachtens – gibt der Kopf die Hand frei, und das Gefühl haucht dem Schema „Leben“ ein. Die Arbeit an der „Proportion“, der zweite kreative Prozeß, beginnt dort, wo die Realität Spielräume zuläßt. Der Kopf ist nun ausgeschaltet. In diesem Zustand modifiziert und bereichert Taut die Anordnungen im Lageplan, er gestaltet die Außenräume, die „wohnlich“ und individuell sein sollen, und bezieht in diesen Prozeß auch die Gliederung der Fassaden mit ein. Diese ist für ihn vor allem bei dem neuen Massenwohnungsbau wichtig, wo Standards verlangt werden und die Gefahr besteht, daß sich gleiche Haustypen und Hausformen aneinanderreihen und stumpfsinnig wiederholen. Er ist davon überzeugt, daß erst, wenn er alles Schematische mittels des künstlerischen, vom Kopf frei gegebenen Gefühls hinter sich lasse, ein Kunstwerk entstehen und auch „ein besseres und schöneres Leben ermöglicht“ werden könne.[20]

In der Arbeit an der Proportion ist auch die Arbeit am Sinn der eingesetzten Mittel und Formen enthalten. Das hat Taut bereits 1929 in der „Neuen Baukunst in Europa und Amerika“ formuliert, in der er von „Taktfragen“ der Architekten spricht. Er meint damit die Angemessenheit des Aufwandes, deren Fehlen er bemängelt, wenn er die einseitige Betonung einer Funktion, wie der Hygiene, oder das unvernünftige Beharren auf einer „Lieblingskonstruktion“ kritisiert. „Jedes Einzelne wie das Ganze erhält seine Form aus dem Sinn, den es hat. Sinnlos ist alles dies, wenn es nicht zu gebrauchen ist oder wenn seine Wirkung nicht im Verhältnis zu seinen Kosten steht.“[21] Dieser Sinn- oder Verhältnisbezug fließt nun zusammen mit der künstlerischen Leistung in den Überbegriff der „Proportion“ ein.

1934, nach seinem zweiten Besuch in der Katsura Villa in Kioto, zeichnete Taut mit dem Pinsel 28 analytische Bilder von Bau- und Gartenanlage. Auf das Bild 14, in der Mitte der Folge, schrieb er seine neue Formel mit großen roten Buchstaben: „KUNST IST SINN“, und kleiner: „In der größten Einfachheit liegt die größte Kunst.“ Das folgende Blatt verweist darauf, daß es dafür eines überragenden Künstlers bedarf. Wie Goethe vor dem Straßburger Münster den Baumeister Erwin von Steinbach pries, so lobt Taut den vermuteten Erbauer von Katsura: Kobori Masakasu von Enshu: „Wir bewundern Dein Bauen: letzte notwendigste Einfachheit, Bescheidenheit und deshalb Freiheit.“ In der Türkei fand Taut in Sinan den genialen Baumeister der Moscheen und nannte ihn den „türkischen Kobori Enshu“. Die drei Großen der Weltarchitektur in der „Architekturlehre“ sind Steinbach (Gotik), Kobori Enshu (Japan, 17. Jahrhundert) und Sinan (Osmanisches Reich, 16. Jahrhundert). Taut schließt damit die großen Baumeister der italienischen Renaissance – Brunelleschi, den er sich noch 1915 zum Namenspatron machte, oder Michelangelo, den Le Corbusier an höchste Stelle setzte – zumindest namentlich aus.
Ich denke, daß die Architekturerfahrungen auf seiner Flucht von Deutschland nach Japan Tauts Denken nachhaltig beeinflußt haben. Erst das Erlebnis des Parthenons und die Bewunderung der von den Bauformen der Antike befreiten Moscheen Istanbuls, vor allem aber die Entdeckung der japanischen Architektur und die sorgfältige Analyse der Villa Katsura ließen in ihm die Idee – vielleicht muss man es auch den Mut nennen – reifen, einen Paradigmenwechsel im Architekturverständnis einzuleiten und die Architektur als Kunst der Proportion zu verstehen. Mit dieser Volte gelingt es Taut, darzulegen, wie die sachlichen Voraussetzungen des Bauens einerseits erfüllt und andererseits als sinnliche Erscheinung aufgehoben werden können. Das Konzept erlaubt es ihm auch, seine eigene Arbeit über drei Jahrzehnte hinweg theoretisch zu fassen.

Der Begriff der Relativität

Tauts Abneigung, in der Proportion nur eine technische Anleitung zur Herstellung von Harmonie zu sehen, mündet in einem neuen Verständnis von Funktion, die ja das Leitmotiv der modernen, rationalen Architektur war. Aus der zunächst einschränkenden Erkenntnis, die Funktion sei eine relative Größe, die kein langes Leben habe, wird die positive Konzeption, Funktion müsse als eine elastische Größe verstanden werden, die durch einen Reichtum an Beziehungen oder Zusammenhängen gekennzeichnet sei.

Fragen wir nach der Herkunft des Relativität-Konzeptes, so finden wir bei Taut eine frühe Beschäftigung mit dem bescheidenen „Buch vom Tee“ von Kakuzo Okakura, den Taut 1923 in Vorträgen zitierte, wohl um die Uneinheitlichkeit und Offenheit seiner eigenen Magdeburger Entwürfe zu erklären: „Der dynamische Charakter der taoistischen und zennistischen Philosophie legte das Hauptgewicht auf den Prozeß, durch den die Vollkommenheit erreicht werden sollte, und nicht auf die Vollkommenheit selbst. Das wahrhaft Schöne ließ sich nur von dem entdecken, der denkend das Unvollendete vollendete. Die Kraft des Lebens und der Kunst lag in ihren Möglichkeiten zu wachsen […]. Uniformität im Entwurf galt verhängnisvoll für die Frische der Phantasie.“[22]

Taut gebrauchte damals jedoch noch nicht den Begriff, mit dem Okakura den philosophischen Hintergrund dieser Ästhetik kennzeichnete: die Idee der Relativität. „Die Gegenwart ist die sich bewegende Unendlichkeit, die legitime Sphäre des Relativen“, und weiter: „Das taoistisch Absolute war das Relative.“ Und schließlich: Taoismus sei „Kult der Relativität.“[23] Erst bei der genauen Analyse der Villa Katsura im Jahre 1934 fragt Taut: „Wie soll man eine solche Architektur benennen?“, und er antwortet: „Es ist ein Stil der Beziehungen, sozusagen seine gebaute Relativität.“[24]

In den „Architekturüberlegungen“ wie in der „Architekturlehre“ ist Relativität die Voraussetzung für die „Proportion der Funktion“. Im Kapitel „Funktion“ erreicht Taut mit der Konzeption der Relativität den Höhepunkt seiner Argumentation. Damit glaubte er einen Weg in die Zukunft gefunden zu haben, ohne die Vergangenheit verleugnen zu müssen. Er hat dabei auch den engeren Begriff der „Tradition“, das Erstarren von einmal in der Entwicklung berechtigten Formen, in den offeneren der „Kontinuität“ überführt. Relativität liefert aber keine leere Großform, die beliebig gefüllt werden kann. Vielmehr erfordert sie die Anstrengung zu einer Formwerdung, in der sich der Reichtum der Beziehungen als „schöner Gebrauch“ manifestiert.


Anmerkungen:

[01] teikan-yô-shiki oder teikan-heigô-shiki („Stil mit aufgesetzter Krone“, „Krone“ bezieht sich auf die Dachform traditioneller Tempel- oder Palastarchitektur). S. Arata Isozaki, „Japanness in Architecture“, Cambridge, Mass. 2006, S. 10.
[02] Der „Schul- und Universitätsbau“ war Teil eines von Kemal Atatürk initiierten Programms zur Modernisierung des Landes. Manfred Speidel, „Natürlichkeit und Freiheit. Bruno Tauts Bauten in der Türkei“, in: Bir Başkentin Oluşumu, „Ankara 1923–1950“, Ankara 1993, S. 60–65; ders., „Bruno Taut. Wirken und Wirkung“, in: Milli Reasürans T.A.Ş. (Hrsg.), „Für Atatürk gedacht. Zwei Werke: Katafalk und Anıtkabir. Zwei Architekten: Bruno Taut und Emin Onat“, Istanbul 1997, S. 54–67; Bernd Nicolai, „Mo-derne und Exil. Deutschsprachige Architekten in der Türkei 1925–1955“, Berlin 1998.
[03] Die „Architekturüberlegungen“ werden im Anhang dieser Ausgabe erstmals abgedruckt.
[04] Der Text wird im Anhang dieser Ausgabe ebenfalls erstmals abgedruckt.
[05] S. Anm. 2
[06] Das vierte Kapitel „Konstruktion“ entstand vom 1. bis 11. Juli 1937, das fünfte über die „Funktion“ vom 18. bis 25. Juli, das sechste über „Qualität“ vom 5. bis 10. August. Dem Text hätte sicherlich noch eine abschließende, systematisierende Bearbeitung gutgetan, beispielsweise Umstellungen von Abschnitten, Tilgungen von Wiederholungen oder Einführung von Zwischentiteln. Letzteres wurde in dieser Ausgabe vorgenommen.
[07] Ömer Gülsen, „Erinnerungen an Bruno Taut“, in: Bauwelt, Jg. 75 (1984), H. 39, 19.10.1984, S. 1675 ff.
[08] Tauts „Architekturgedanken“ wurden von seiner Frau nach Diktat niedergeschrieben. Viele Leerstellen hat Taut später eigenhändig gefüllt oder über mehrere Seiten hin ergänzt.
[09] Das Buch erschien erst 1926 in München.
[10] Bruno Taut, „Die neue Baukunst in Europa und Amerika“, Stuttgart 1929, Reprint (2. Auflage) Stutt-gart 1979. Im Auftrag der englischen Zeitschrift „The Studio“ geschrieben, hieß der englische Titel „Modern Architecture“.
[11] Die GEHAG, Gemeinnützige Heimstätten Spar- und Bau-Aktiengesellschaft, wurde am 14. April 1924 gegründet. Sie war das Mittelglied eines dreistufigen Verbundes gewerkschaftlicher, genossen-schaftlicher Einrichtungen, die Martin Wagner (1885–1957) seit 1919 aufbaute. Die GEHAG vermittelte zwischen örtlichen, der Arbeiterbewegung nahestehenden Genossenschaften und der DEWOG, der Deutschen Wohnungsfürsorge Aktien-Gesellschaft. Die GEHAG war ein Baubetreuungsunternehmen, das Planung, Baudurchführung und Finanzierung für die Siedlungen ihrer Mitglieder übernahm. Wagner gehörte dem Vorstand an, Taut wurde ihr Chefarchitekt und stand dem Planungsbüro vor.
[12] In der englischen Ausgabe fehlen sie gänzlich.
[13] Vittorio M. Lampugnani, „Die Geschichte der Geschichte der „Modernen Bewegung“ in der Architek-tur 1925–1941: eine kritische Übersicht“, in: V. M. Lampugnani, Romana Schneider (Hrsg.), „Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit“, Stuttgart 1994, S. 272–295. Tauts Buch ist zwar abgebildet, allerdings ohne Kommentar.
[14] Taut standen offensichtlich nur wenige Zeitschriften zur Verfügung. Er bezog wohl die L’Architecture d’Aujourd’hui aus Paris, für die er unter Julius Poseners Herausgeberschaft 1935 „Neues Bauen in Japan“ veröffentlichte. Zwei Staatsbauten der Nationalsozialisten, das Olympiastadion in Berlin und ein Detail des Reichsparteitags-Stadions in Nürnberg, sowie eine Heimatstil-Wandmalerei stehen für die negativen Beispiele der Gegenwart.
[15] Vgl. Kritik von Martin Wagner in: Bernd Nicolai, Anm. 2, S. 147.
[16] Auch in diesem Punkt scheinen sich Taut und Le Corbusier recht nahe zu kommen. Le Corbusier spricht in seiner „Kommenden Baukunst“ von der „Spur eines unbestimmbaren Absoluten, das im Urgrund unseres Seins eingeboren ruht.“ Freilich besteht der Unterschied, daß für Le Corbusier diese „eingeborene Achse“ Teil der Natur ist, die sich in der Wissenschaft, insbesondere der Mathematik manifestiert. (Siehe Le Corbusier, „Kommende Baukunst“, Stuttgart 1925, S. 171 ff.) Bei Taut jedoch steht der Beziehungsreichtum zwischen Mensch und Architektur im Mittelpunkt. Erst mit dem Auge werde dieses Verhältnis denkend wahrgenommen: „das Auge denkt“.
[17] Tagebuch „Bis Japan“, in: Bruno Taut, „Ex Oriente Lux“, hrsg. von Manfred Speidel, Berlin 2007, S. 185–220.
[18] Kari Jormakka widmet der Wesensfrage in seinem Buch „Geschichte der Architekturtheorie“, Wien 2003, ein eigenes Kapitel, S. 169 ff. Überzeugend wird die Frage von August Schmarsow bereits 1894 in „Das Wesen der architektonischen Schöpfung“ und erschöpfend von Hermann Sörgel 1921 in „Architektur-Ästhetik“ beantwortet: Architektur sei die Kunst des Raumes. Jürgen Joedicke widmet ihr mit dem Buch „Raum und Form in der Architektur“, Stuttgart 1985, ein anschauliches und analytisch vollkommenes Werk. Texte finden sich in: Fritz Neumeyer, „Quellentexte zur Architekturtheorie“, München 2002, S. 318 ff. und 384 ff.
[19] Jormakka argumentiert zu Recht: Wäre „Raum“ das ausschließliche Wesensmerkmal der Architek-tur, müßten große Werke, wie der Parthenon, wegfallen. Die Gleichsetzung des architektonischen Wesens mit dem „objektiven“ Raum schließe viele Bauwerke der Geschichte aus, eine Gleichsetzung mit „erfahrenem“ Raum sei jedoch zu offen, da letztendlich auch Kleidung, Zelt oder Auto mit einbezogen werden müßten. Zudem seien Künstler wie Moholy-Nagy in den 1920er Jahren bereits aus dem engen Raumkonzept ausgebrochen und hätten in ihren Entwürfen Raum als „Beziehungssystem“ und „dynamisches Kräfteverhältnis“ propagiert.
[20] Ein Begriff von Hugo Häring. Vgl. Hugo Häring, „neues bauen“, 1946, in: ders., „Schriften, Entwürfe, Bauten“, hrsg. von Heinrich Lauterbach und Jürgen Joedicke, Stuttgart 1964, S. 51 ff.
[21] „Die neue Baukunst in Europa und Amerika“, Anm. 14, S. 54 und 59.
[22] Vgl. Julius Posener in diesem Heft. Siehe auch ders., „Vorlesungen zur Geschichte der neuen Ar-chitektur“, 1979/1980, Arch 48, „Großsiedlungen“, und Arch 53, Kapitel 11: „Bruno Taut I – Vor 1914“. Posener sieht die Erweiterung des Begriffes „Proportion“ sehr skeptisch, auch deshalb, weil sie, an Stelle der rational erscheinenden geometrischen Regulationen, nun das „konzentrierte Gefühl“ einführen müsse. Die „absichtslose“ Absichtlichkeit der wie gewachsen erscheinenden Siedlungsabschnitte, diese den Bewohnern vorgesetzte Kunstform, kann er, trotz der durchgängig positiven Aus-sagen der Bewohner, nicht voll akzeptieren in einer Zeit, in der Bewohnerbeteiligung das A und O der Planung war.
[23] „Die neue Baukunst in Europa und Amerika“, Anm. 14, S. 50.
[24] Kakuzo Okakura, „Das Buch vom Tee“, Inselbücherei Nr. 274, ab 1919, S. 50.
[25] Okakura, „Das Buch vom Tee“, s. Anm. 23, S. 28, 31, 35.
[26] Bruno Taut, „Das architektonische Weltwunder Japans“, in: Bruno Taut, „Ich liebe die japanische Kultur“, hrsg. von Manfred Speidel, Berlin 2003, S. 99.

ARCH+, Di., 2009.10.20

20. Oktober 2009 Manfred Speidel

Glossar - Personen- und Sachverzeichnis

Taut hat in der Architekturlehre als auch in den Architekturüberlegungen Erläuterungen zu zeitgenössischen Personen und Bauwerken nicht für nötig befunden. Ein Grund dafür könnte sein, daß er viele von ihnen in seinem bekannten Buch „Die neue Baukunst in Europa und Amerika“ von 1929 ausführlich behandelt hat. Zum Vergleich sind die Abbildungsnummern der „Neuen Baukunst“ in eckigen Klammern angegeben.

Ashbee, Charles Robert (1863–1942), Architekt und Designer, Sozialreformer; entwickelte aus der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung, die auf William Morris und John Ruskin zurückgeht, Ansätze für ein Industriedesign. Seine Land- und Stadthäuser stellen mit klaren und dekorfreien Formen eine auf das Wesentliche reduzierte, traditionelle Baukunst dar. Er war Vorbild für Hermann Muthesius, der ihm einen wichtigen Platz in seinem Werk „Das englische Haus“ (1904–05) einräumte. [14]

Bashô, Matsuo (1644–94), japanischer Dichter; vervollkommnete die Kunst des Haiku, des Kurzgedichtes aus 5–7–5 Silben. Berühmtestes Werk ist sein poetisches Tagebuch „oku no hoso michi“ (1694), englisch: „The Narrow Road to the Deep North and Other Travel Sketches“, hrsg. v. Nobuyuki Yuasa, Penguin Books 1966.

Behrens, Peter (1868–1940), Maler, Architekt, Designer. Sein einflußreichstes Werk entstand während seiner Tätigkeit als künstlerischer Beirat der AEG Berlin (1907–14): Turbinenhalle der AEG (1909), Kleinmotorenfabrik (1911), Design von Lampen und Elektrogeräten, Wohn- und Ausstellungsbauten. Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe gingen bei ihm in die Lehre, mit Le Corbusier arbeitete er zusammen. Lit.: Tilmann Buddensieg (Hrsg.), „Industriekultur, Peter Behrens und die AEG 1907–1914“, Berlin 1979. [27]

Berlage, Hendrik Petrus (1856–1934), holländischer Architekt. Reform der eklektizistischen Baustile hin zu einer konstruktiven und rationalen Baukunst. Hauptwerk: Die Börse in Amsterdam (1896–1903). Politisch links-liberal, förderte und beteiligte er im Rahmen seiner städtebaulichen Planung Amsterdam-Süd die jungen „Expressionisten“ Michel de Klerk, Piet Kramer u.a. Lit.: Manfred Bock, „Anfänge einer neuen Architektur“, ’s-Gravenhage/Wiesbaden 1983. [38]

Bonatz, Paul (1877–1956), Architekt, ab 1908 Professor an der TH Stuttgart als Nachfolger von Theodor Fischer. Entwickelte einen reduzierten Historismus mit monumentalen Ausdrucksformen. Hauptwerk: Hauptbahnhof in Stuttgart (1911–28). In den späten 20er Jahren Tendenzen zur Moderne: Hotel Graf Zeppelin, Stuttgart. Ab 1938 schuf er u.a. monumentale Brücken für die Reichsautobahnen. Lit.: Norbert Bongartz, Peter Dübbers, Frank Werner, „Paul Bonatz 1877–1956“, Stuttgart 1977.

École des Beaux-Arts, seit 1823 Bezeichnung der französischen Kunstakademien. Im Paris des 19. Jahrhunderts war sie die führende Ausbildungsstätte für Architektur. Sie vertrat eine neobarocke Architektursprache, deren Merkmale Symmetrie und historistische Bauformen waren. Lit.: Donald Drew Egbert, „The Beaux-Arts Tradition in French Architecture“, Princeton 1980.

Eiffel, Alexandre Gustave (1832–1923), französischer Ingenieur und Unternehmer. Sein berühmtestes Werk ist der nach ihm benannte Eiffelturm in Paris, der für die Weltausstellung 1889 erbaut wurde. Mit 300 Metern war er bis 1930 das höchste Bauwerk der Welt. Eisen war das alleinige gestalterische Material. An der Stahlkonstruktion der Freiheitsstatue in New York (1885) war er ebenfalls beteiligt. Lit.: Henri Loyrette, „Gustave Eiffel, Ein Ingenieur und sein Werk“, Stuttgart 1985. [15]

Fischer von Erlach, Johann Bernhard (1656–1723), führender Barockarchitekt in Österreich. Ab 1704 Wiener Hofarchitekt. Sein Meisterwerk wurde die Karlskirche in Wien (begonnen 1716). Erbauer der Wiener Hofbibliothek, heute Nationalbibliothek in der Wiener Hofburg, begonnen 1723 und vollendet 1726 von seinem Sohn Josef Emanuel Fischer.

Freyssinet, Eugène (1879–1962), französischer Ingenieur, bedeutend vor allem durch seine Spannbeton-Konstruktionen. Für die Luftschiffhalle in Orly bei Paris (1916) entwarf er eine gefaltete, schlank dimensionierte Eisenbetontonne in der Form einer Parabel. 1928 reichte er ein Patent zur Vorspannung von bewehrtem Beton ein, das 1930 erteilt wurde. Lit.: Jupp Grote, Bernard Marrey, „Freyssinet, der Spannbeton und Europa“, Paris 2000.

Garnier, Tony (1869–1954), französischer Architekt. Als Prix de Rome-Stipendiat entwarf er die „Cité Industrielle“, eine selbständige Industriestadt für 35.000 Einwohner mit Bauten in Eisenbeton, und publizierte sie 1917 in Paris. Ab 1905 eigenes Büro in Lyon, wo er die großen Projekte wie Viehmarkt, Krankenhaus und Sportstadion im Sinne seiner „Cité Industrielle“ verwirklichen konnte. Lit.: „Tony Garnier. L’œuvre complète“, Ausstellungskatalog, Paris 1989. [34]

Gropius, Walter (1883–1969), Architekt, Gründer des Bauhauses in Weimar (1919) und Dessau (1925). Nach unterbrochenem Studium arbeitete er 1909 bei Peter Behrens, 1910–25 gemeinsames Büro mit Adolf Meyer. Bedeutend für sein Œuvre sind die Faguswerke in Alfeld an der Leine (1911–14) sowie das Bauhausgebäude in Dessau (1925–26). Lit.: Reginald R. Isaacs, „Walter Gropius. Der Mensch und sein Werk“, Berlin 1983–1984. [24, 27, 199]

Haeckel, Ernst (1834–1919), Professor für vergleichende Anatomie und Zoologie in Jena, Naturphilosoph. Meeresbiologische Forschungsreisen führten zu Arbeiten über Radiolaren, Schwämme und Medusen, die er unter ästhetischen Gesichtspunkten zeichnete und publizierte: „Kunstformen der Natur“ (1899–1904). Sie hatten Einfluß auf Künstler des Jugendstils. Unermüdlicher Kämpfer für den Darwinismus. Begründung einer monistischen (atheistischen) Weltanschauung.

Hagia Sophia, Konstantinopel (heute Istanbul), erbaut von Anthemios von Tralles und Isidor von Milet (532–537), nach einem Erdbeben 557 mit höherer Kuppelkonstruktion erneuert, Durchmesser 31,5 Meter.

Haussmann, Baron George Eugène (1809–91), ab 1853 Präfekt unter Napoleon III. Umgestaltung des Pariser Stadtbildes mittels Straßendurchbrüchen, die ein System von Boulevards bilden und sternförmig in runden Plätzen zusammentreffen. Mit den Durchbrüchen entstand auch die 7- bis 8-geschossige Straßenbebauung mit den charakteristischen Mansarddächern, die das Straßenbild der Stadt prägen. Lit.: Howard Saalman, „Haussmann, Paris Transformed“, New York 1971.

Holl, Elias (1573–1646), Renaissancebaumeister. Nach einem Italienaufenthalt wurde er 1602 Stadtbaumeister in Augsburg. Viele öffentliche Bauten, darunter Schulen und Spital. Bedeutendstes Bauwerk ist das Rathaus (1615–20), einfach und streng gestaltet mit gleichmäßigem Fensterraster, aber je nach Funktion in unterschiedlichen Größen symmetrisch zusammengefaßt. Lit.: Bernd Roeck, „Elias Holl, 1573–1646. Architekt einer europäischen Stadt“, Regensburg 1985.

Horeau, Hector (1801–72), französischer Architekt, bekannt für die Lithographien seiner Ägyptenreise (erschienen 1841). Seine Vorschläge zur Verwendung von Eisenkonstruktionen im Monumentalbau fanden Eingang in seinen Siegerentwurf für den Wettbewerb (1850) zur Weltausstellung in London, dessen Dach aus Glas und Wände aus Platten von Porzellan, Terrakotta und farbigem Glas bestehen sollten. Realisiert wurde jedoch Joseph Paxtons Kristallpalast (1851).

Ise-Schreine, Mie Präfektur, Japan. Shinto-Heiligtum bestehend aus „antikem“ Kultspeicher und Nebenbauten. Alle Bauten einschließlich der 120 „Nebenschreine“ werden alle 20 Jahre neu errichtet. Erste dokumentierte Erneuerung 690 n. Chr. Im Inneren (Naiku) Schrein wird die Sonnengöttin Amaterasu verehrt, die als mythologische Ahnengöttin des japanischen Kaisers angesehen wird. Lit.: Kenzo Tange, Noboru Kawagoe, „Ise: Prototype of Japanese Architecture“, Cambridge, Mass. 1965.

Katsura-Palast, bei Kioto, Japan. Kaiserliche Wohnbauten und Teepavillons mit Landschaftsgarten, in drei Abschnitten 1617, 1642–45 und 1658–63 erbaut. Stilistische Merkmale führten zur Zuschreibung an den Fürst und Teemeister Kobori Enshu. Die „Entdeckung“ durch Bruno Taut 1934 machte dieses „architektonische Weltwunder Japans“ weltberühmt. Lit.: Arata Isozaki, Osamu Sato, Yasuhiro Ishimoto, „Katsura, Raum und Form“, Stuttgart/Zürich 1987; Arata Isozaki, Virginia Ponciroli (Hrsg.), „Katsura: The Imperial Villa“, Mailand 2007.

Le Corbusier, eigentlich Charles-Édouard Jeanneret (1887–1965), Architekt und Maler. Ab 1918 in Paris; begründete mit Amédée Ozenfant den sog. Purismus. Ab 1920 Herausgabe der Zeitschrift „L’Esprit Nouveau“, in der seine programmatischen Texte erschienen, die später die Basis seines einflußreichen Buches „Vers une architecture“ bildeten. Von 1920 bis zu seinem Tode die dominierende Persönlichkeit der modernen Architektur. Lit.: Willy Boesiger (Hrsg.), „Le Corbusier, Œuvre Complète, 1910–1965“, Zürich, bis 1965. [51, 186, 203]

Lunatscharski, Anatoli W. (1875–1933), russischer Politiker und Schriftsteller. Nach seiner Rückkehr aus westeuropäischer Emigration war er 1917–29 Leiter des Volkskommissariats für Erziehungswesen in der USSR und förderte die Vielseitigkeit der Kunst- und Architekturströmungen. Persönliche Bekanntschaft mit Bruno Taut; besuchte dessen Siedlungen in Berlin. Lit.: Barbara Kreis (Hrsg.), „Bruno Taut. Moskauer Briefe 1932–1933. Schönheit, Sachlichkeit und Sozialismus“, Berlin 2006.

Mackintosh, Charles Rennie (1868–1928), englischer Architekt und Designer; bildete zusammen mit Margaret und Frances MacDonald sowie James Herbert McNair die bekannte Jugendstil-Künstlergruppe „The Four“. Bedeutendstes Werk ist die Glasgow School of Art (1897–99 und 1907–09), eine Art dreidimensionales Ornament. Das Design zeigt Parallelen zu den Wiener Werkstätten, aber auch zu Frank Lloyd Wright. Lit.: Alan Crawford, „Charles Rennie Mackintosh“, London 1995. [14, 16, 17]

Mendelsohn, Erich (1887–1953), Architekt, prägte den Begriff der „dynamischen Funktion“ für seine vom Eisenbeton angeregten plastisch-organischen Architekturvisionen (1917/18). Der Einsteinturm in Potsdam (1919–21) wurde jedoch gemauert. Seine zahlreichen Fabriken, Geschäfts- und Warenhäuser suggerieren mit ihrer fließenden Linienführung, ihren Eckausbildungen und ihrer rhythmischen Gliederung Bewegung. Mendelsohn emigrierte 1933 (London, Palästina, ab 1941 USA). Lit.: Regina Stephan (Hrsg.), „Erich Mendelsohn. Gebaute Welten. Arbeiten für Europa, Palästina und Amerika“, Stuttgart 1998. [124, 127]

Messel, Alfred (1853–1909), Architekt. Bedeutendster Bau war das im Krieg zerstörte Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz in Berlin (1896–1997, 1904–05), dessen oft kopierte Fassade eine kraftvolle, an Gotik erinnernde Bauskulptur bildete. Messel war kein Neuerer, wurde aber von den Zeitgenossen für die Ausdruckskraft seiner „Architektur der Großstadt“ bewundert. Lit.: Julius Posener, „Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelms II.“, München 1979. [18]

Mies van der Rohe, Ludwig (1888–1969), einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Er entwickelte in den 20er Jahren die grundlegenden Bauformen einer Materialästhetik der modernen Architektur. Höhepunkt war der deutsche Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona (1929). Mies emigrierte 1938 in die USA. Mit den Bauten des IIT in Chicago, z.B. der Crown Hall (1956), zahlreichen Wohn- und Bürohochhäusern wie dem Seagram Building in New York (1958) sowie der Neuen Nationalgalerie in Berlin (1962–68) gewann er dem sichtbaren Stahlskelett eine moderne Klassizität ab. Lit.: Jean-Louis Cohen, „Ludwig Mies van der Rohe“, Basel/Berlin/Boston 1995. [120, 153, 171, 218]

Newton, William Godfrey (1885–1949), englischer Architekt, Professor für Architektur an der Royal College of Art; Sohn des einflußreichen Architekten Ernest Newton, dessen zahlreiche Wohnbauten Hermann Muthesius in sein Buch „Das englische Haus“ (1904–05) aufnahm.

Östberg, Ragnar (1866–1945), schwedischer Architekt. Ruhm erlangte er mit dem Bau des Rathauses von Stockholm (1909–23), das durch vereinfachende Bauformen zwischen Historismus und 20. Jahrhundert vermittelt, dabei mit malerischem Turm und großflächigen Ziegelmauern schwedische Atmosphäre ausstrahlt. Ähnlich wie Berlages Börse in Amsterdam wurde es als Meisterwerk geschätzt. Lit.: Elias Cornell, „Ragnar Östberg – en svensk arkitekt“, Stockholm 1972.

Ostendorf, Friedrich (1871–1915), Architekt und Theoretiker. Er entwickelte eine Entwurfslehre der Raumästhetik mit klaren Raumfolgen und eindeutigen Symmetrien, dargelegt in den unvollendeten „Sechs Büchern vom Bauen“ (Berlin 1913–22), die eine Gegenposition zu den funktionalen Differenzierungen der englischen Landhäuser bildete, die Hermann Muthesius propagierte. Lit.: Werner Oechslin, „„Entwerfen heißt die einfachste Erscheinungsform zu finden.„ Mißverständnisse zum Zeitlosen, Historischen, Modernen und Klassischen bei Friedrich Ostendorf“, in: Vittorio M. Lampugnani u. Romana Schneider (Hrsg.): „Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition“, Stuttgart 1992, S. 29–53.

Osthaus, Karl Ernst (1874–1921), Mäzen, Sammler; gründete in Hagen, Westfalen, das Museum Folkwang, das 1902 von Henry van de Velde ausgebaut wurde. Privat und als Vorstandsmitglied des Deutschen Werkbundes förderte er u.a. van de Velde, Richard Riemerschmid, Bruno Taut, Peter Behrens, Walter Gropius und Mathieu Lauweriks. Die Planung einer reform-pädagogischen Folkwangschule in Hohenhagen (1919–20), mit der Taut betraut wurde, konnte er nicht vollenden. Lit.: Herta Hesse-Frielinghaus u.a., „Karl Ernst Osthaus, Leben und Werk“, Recklinghausen 1971.

Oud, Jakobus Johannes Pieter (1890–1963), holländischer Architekt. 1917 Mitbegründer der Künstlerbewegung und Zeitschrift „De Stijl“. Von 1918–33 Stadtarchitekt im Wohnungsbauamt der Stadt Rotterdam: u.a. Wohnblöcke in Spangen (1919–20), Siedlungen in Hoek van Holland (1924–-27) und De Kiefhoek (1925–29), die sich durch eine sorgfältige Durchgestaltung der Alltagseinrichtungen auszeichnen. Lit.: Günther Stamm, „J. J. P. Oud, Bauten und Projekte 1906 bis 1963“, Mainz/Berlin 1984. [41, 42, 138, 158, 159]

Palladio, Andrea (1508–80), italienischer Architekt. Entwickelte eine Villen-Typologie, die Elemente antiker Tempelarchitektur wie Säulenportikus, Symmetrie und harmonische Proportionen auf Wohnhäuser überträgt. Im Veneto schuf er zahlreiche Villen, die einem humanistischen Ideal folgen, u.a. Villa Rotonda (ab 1550). Bedeutende Kirchen in Venedig: San Giorgio Maggiore (1566) und Il Redentore (1576). Lit.: „Vier Bücher zur Architektur“, 1570, deutsch: hrsg. v. Andreas Beyer und Ulrich Schütte, Zürich/München 1984.

Parthenon, Tempel der Athene auf der Athener Akropolis, 447–438 v. Chr. von Iktinos erbaut. Lit.: Manolis Korres, „Die klassische Architektur und der Parthenon“, in: Antikensammlung der SMPK Berlin (Hrsg), „Die griechische Klassik – Idee oder Wirklichkeit“, Mainz 2002, S. 364–373.

Perret, Auguste (1874–1954), französischer Architekt. Perrets Bauten blieben trotz des Einsatzes von Eisenbeton einem klassizistischen Formenrepertoire aus kannelierten Säulen, Andeutungen von Kapitellen und Gesimsen treu: Apartmenthaus in der Rue Franklin (1903), Garage in der Rue de Ponthieu (1906–07), Kirche Notre-Dame in Le Raincy (1922–23), Hôtel de Mobilier National in Paris (1934–36), Musée des Travaux Publics (1936–48). Lit.: Roberto Gargiani, „Auguste Perret 1874–1954, teoria e opere“, Mailand 1993. [98, 217, 221]

Pöppelmann, Matthäus Daniel (1662–1736), seit 1705 Landbaumeister Augusts des Starken; Erbauer des Dresdener Zwinger (1711–22), einem Meisterwerk des Rokoko. Die erfolgreiche Zusammenarbeit von Bildhauer und Architekt ergab eine prachtvolle, geschlossene Wirkung der ganzen Anlage, die allerdings nicht vollendet wurde. 1944 zerstört, wurde der Zwinger nach dem 2. Weltkrieg wiederaufgebaut. Lit.: Hermann Heckmann, „M. D. Pöppelmann (1662–1736), Leben und Werk“, München/Berlin 1972.

R.I.B.A., Abkürzung für Royal Institute of British Architects, entspricht in etwa den deutschen Architektenkammern.

Scheerbart, Paul (1863–1915), Dichter phantastischer Literatur, wirkte u.a. im Kreis der Berliner Expressionisten um Herwarth Walden und dessen Zeitschrift „Der Sturm“. Seine Orientphantasien und Texte über Glasarchitektur beflügelten die Visionen von Architekten und Künstlern um Bruno Taut. Er dichtete für den Kölner Glaspavillon von Taut (1914) launige Reime. Tauts Buch „Alpine Architektur“ verdankt seine Anregungen Scheerbart. Lit.: Mechthild Rausch, „ Paul Scheerbart, 70 Trillionen Weltgrüsse. Eine Biographie in Briefen 1889–1915“, Berlin 1990.

Schinkel, Karl Friedrich (1781–1841), bedeutendster deutscher Architekt des frühen 19. Jahrhunderts. Ab 1815 im Dienst des preußischen Staatsbauamts. Sein streng klassizistischer Stil veranschaulicht mit architektonischen Mitteln die Trennung von tragenden und füllenden Bauteilen: u.a. in Berlin die Neue Wache (1816), das Schauspielhaus (1818–21), das Alte Museum (1822–28) und die Bauakademie (1831–36). Wichtigstes theoretisches Werk sind die Skizzen und Texte zu einem architektonischen Lehrbuch. Lit.: Goerd Peschken, „Das architektonische Lehrbuch“, Band 14 der Reihe: „Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk“, Berlin 1979. [7]

Schmitz, Bruno (1858–1916), Architekt; Erbauer zahlreicher Nationaldenkmäler der wilhelminischen Zeit, so auf dem Kyffhäuser (1896), an der Porta Westfalica (1896), am Deutschen Eck in Koblenz (1897) sowie des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig (1898–1913). Für den Wettbewerb Hauptstadt Groß-Berlin (1910) entwickelte er mit Otto Blum und Havestadt & Contag die Vision einer monumentalen Stadt. Lit.: Julius Posener, „Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelms II.“, München 1979, Kapitel „Wilhelminismus“, S. 81–105.

Scott, Baillie M. H. (1865–1945), englischer Architekt, spezialisiert auf Wohnhäuser. Er gewann den Wettbewerb „Das Haus für einen Kunstfreund“, den Alexander Koch, Herausgeber der Zeitschrift „Innendekoration“, 1901 in Darmstadt ausschrieb. Beteiligt hatten sich auch Charles Rennie Mackintosh. 1912 wurde sein Buch „Häuser und Gärten“ bei Wasmuth in Berlin verlegt, in dem er anhand eigener Häuser einfache und wohnliche Räume demonstriert.

Semper, Gottfried (1803–1879), Architekt und Theoretiker; wurde mit seiner Publikation über die Polychromie der antiken Architektur (1834) sowie dem Bau der Dresdener Oper (1838–41) und der Gemäldegalerie im Zwinger (1857–54) bekannt. Wegen seiner Beteiligung am Dresdener Maiaufstand 1949 floh er über Paris nach London. 1855–71 lehrte er am neugegründeten Polytechnikum in Zürich (heute ETH), dessen Hauptgebäude (1858–64) er entwarf. 1871–76 Arbeit am Kaiserforum in Wien. Nach seiner materialistischen Theorie der Stile entstehen Ornamente und Bauformen aus den Techniken der Bearbeitung und Übertragung auf andere Materialien. So entwickelten sich aus der Verkleidung der Konstruktion die sekundären Elemente wie Fassaden, Putz oder Schmuck (Bekleidungstheorie). Hauptschrift: „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“, 1860–63. Lit.: Winfried Nerdinger, Werner Oechslin, „Gottfried Semper 1803–1879, Architektur und Wissenschaft“, Zürich/München 2003.

Sesshû Tôyô (1420–1506), japanischer Maler von Landschaften in Tusche. Lebte 1467–69 in China, wo er die Malerei der Song- und der Ming-Dynastie studierte. Sein berühmtestes Tuschebild im Stil des Ming-Meisters Yujian, „Haboku Landschaft“ (1495), suggeriert mit abstrakten, dynamischen Pinselklecksen und -strichen Klippen, Bäume und Häuser. Zu seinem Repertoire gehörten auch fein ausgemalte Szenenbilder.

Sinan (1489?–1588), bedeutendster osmanischer Architekt; erbaute über 300 Moscheen, Schulen, Krankenhäuser, Bäder, Brücken und Paläste. Die Hagia Sophia in Konstantinopel (heute Istanbul) diente ihm als Vorbild für die Entwicklung der Kuppelmoschee: u.a. Süleyman-Moschee in Istanbul (1550–67), Sultan Selim Moschee in Edirne (1569–75). Lit.: Ernst Egli, „Sinan, der Baumeister osmanischer Glanzzeit“, Zürich/Stuttgart 1954 (1974); Wolfgang Voigt (Hrsg.), „Die Moschee von Sinan. Sinan’s Mosque“, Tübingen/Berlin 2008.

Sullivan, Louis Henry (1856–1924), amerikanischer Architekt; Pionier der Chicagoer Schule, die aus den konstruktiven Bedingungen des Stahlskelettes und den funktionalen Anforderungen an ein Hochhaus die sachliche Form zu gewinnen suchte. Seine theoretischen Betrachtungen in „The Tall Office Building Artistically Considered“ (1896) kulminierten in der Formel: „Die Form folgt der Funktion“. Lit.: Sherman Paul, „Louis H. Sullivan. Ein amerikanischer Architekt und Denker“, Bauwelt Fundamente 5, Berlin 1965. [35, 37]

Ueno, Isaburo (1892–1972), japanischer Architekt. 1922 Weiterstudium der Baukonstruktion in Berlin, ab 1924 an der Universität in Wien, anschließend Arbeit im Architekturbüro von Josef Hoffmann. 1925 Rückkehr nach Japan. 1927 Mitbegründer des „Internationalen Architektenbundes in Japan“. Ab 1929 Mitherausgeber der Zeitschrift „Arkitekturo Internacia“, dem Organ des Verbandes. Ueno wurde nach Tauts Weggang aus Japan 1936 dessen Nachfolger im Kogeisho (Werkstatt für kunstgewerbliche Gegenstände) in Takasaki.

Unwin, Raymond (1863–1940), englischer Architekt; Planer und Erbauer der Gartenstädte Letchworth (ab 1903) und Hampstead (1905–14). Sein Ziel war es, einen Bezug zur Landschaft herzustellen sowie das „Gefühl einer lokalen Gebietsgemeinschaft“ mittels einer Ortsmitte, dem Civic Center, hervorzurufen. Sein theoretisches Hauptwerk ist „Town Planning in Practice“ (London 1909, deutsch: „Grundlagen des Städtebaus“, Berlin 1910). Lit.: Mervyn Miller, „Raymond Unwin. Garden Cities and Town Planning“, Leicester 1992.

Uragami, Gyokudô (1745–1820), japanischer Maler, Musiker und Dichter, entstammt einer Samurai-Familie. Um 1790 begann er mit Tusche Landschaften im Stil der Literati zu malen. Überlagerungen von grauer und schwarzer Tusche, von verwaschenen Flächen und scharfen Strichen, ausgefüllt von Linien und Punkten, kennzeichnen die Berglandschaften. Erst im 20. Jahrhundert fanden seine Bilder gebührende Anerkennung. Unter den Bewunderern war auch Bruno Taut.

Van de Velde, Henry (1863–1957), belgischer Architekt und Designer. Ursprünglich Maler, entwarf er als Autodidakt 1895 sein Wohnhaus Bloemenwerf in Uccle bei Brüssel und die gesamte Innenausstattung. Sein organisches Linienornament in der Treppenhalle des Folkwang-Museums (siehe Osthaus) wurde eine Ikone des Jugendstils. Ab 1902 mit der Gründung und Leitung einer Kunstgewerbeschule in Weimar betraut, für die er die Bauten der Kunstschule (1904–11) und die Kunstgewerbeschule (1905–06) entwarf. 1919 ging daraus unter der Leitung von Walter Gropius das Bauhaus hervor. Beim Werkbundstreit 1914 trat van de Velde für die Individualität der Kunst und gegen Hermann Muthesius’ Thesen zur Typenbildung und Industrialisierung ein. Spätwerk: Museum Kröller-Müller in Otterlo (1936–53). Lit.: Henry van de Velde, „Geschichte meines Lebens“, München/Zürich 1986; Klaus-Jürgen Sembach, „Henry van de Velde“, Stuttgart 1989. [26]

Viollet-Le-Duc, Eugène Emanuel (1814–79), französischer Architekt und Theoretiker, einflußreicher Forscher und Restaurator der französischen Romanik und Gotik. Sah in der Gotik eine rationale Bauweise, die aus dem Skelett der Rippen und den membranartigen Füllungen der Gewölbe bestehe. Dieses konstruktive Prinzip übertrug er auf die Eisenskelettkonstruktion seiner Zeit. Veröffentlichungen: „Entretiens sur l’architecture“ (1863/72). Seine theoretischen Überlegungen beeinflußten Antonio Gaudí. Lit.: Bruno Foucart u.a. (Hrsg.), „Viollet-Le-Duc“, Ausstellungskatalog, Galeries nationales du Grand Palais, Paris 1980.

Vitruv (Vitruvius Pollio) (ca. 84 v. Chr.), römischer Architekt und Ingenieur, Verfasser der „Zehn Bücher über Architektur“ (ab ca. 33 v. Chr.), einer Sammlung des technischen und ästhetischen Wissens über die Baukunst seiner Zeit und der griechischen Antike. Deren Wiederentdeckung (Gianfrancesco Poggio Bracciolini) und Drucklegung 1486 in Rom hatte eine nachhaltige Wirkung auf die italienische Renaissance. Lit.: Günther Fischer, „Vitruv NEU oder Was ist Architektur?“, Bauwelt Fundamente 141, Basel/Berlin/Boston 2008.

Wagner, Otto (1841–1918), österreichischer Architekt. Als künstlerischer Beirat beim Bau der Wiener Stadtbahn entstanden bis 1900 zahlreiche Stationsgebäude, Brücken und Viadukte nach seinen Plänen, u.a. das Stationsgebäude am Karlsplatz mit einer eleganten Eisenkonstruktion und Jugendstilornamenten. Beim Wiener Postsparkassenamt (1903–06) wird die sichtbare Montage der dünnen Natursteinplatten zum Fassadenornament (s. Semper: Bekleidungstheorie). Als Lehrer an der Wiener Akademie (1894–1915) war Wagner der einflußreichste Künstler in der Donaumonarchie. Werk: Otto Wagner, „Moderne Architektur. Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiete“, Wien 1896. Lit.: Otto Antonia Graf, „Otto Wagner, Das Werk des Architekten“, Wien/Köln/Graz 1985. [19, 20]

Wesnin, Alexander Alexandrowitsch (1883–1959), russischer Maler, Bühnenbildner, Architekt; Leitfigur des „russischen Konstruktivismus“, Professor an der WChUTEMAS. 1926–30 Mitherausgeber der Zeitschrift „Sovremennaja Architektura“ („Zeitgenössische Architektur“). Werke: Arbeiterklub- und Theaterhäuser, Warenhaus MOSTORG (1927), Dnjepr-Kraftwerk (1927–32). Wettbewerbsarbeiten: u.a. Palast der Arbeit, Sowjetpalast, Gebäude des Volkskommissariats für Schwerindustrie. Lit.: Selim O Chan-Magomedow, „Alexander Wesnin und der Konstruktivismus“, Stuttgart 1987. [46, 214]

Wright, Frank Lloyd (1867–1959), amerikanischer Architekt; 1888–93 bei Louis Sullivan. In Oak Park und River Forest, Chicago, entwickelte er bis 1910 Einfamilienhäuser für den Mittleren Westen, die er „Prairie Houses“ nannte, u.a. Robie House (1908–10). Während seines Europa-Aufenthaltes 1910 publizierte er bei Wasmuth in Berlin das Mappenwerk „Ausgeführte Bauten und Entwürfe von Frank Lloyd Wright“ (1910/11), das nachhaltigen Einfluß auf deutsche und niederländische Architekten haben sollte. Ab 1911 Aufbau seines Wohnhauses samt landwirtschaftlichem Betrieb in Taliesin, Spring Green, Wisconsin. Sein bekanntestes Meisterwerk: Haus Kaufmann (Fallingwater), Bear Run, Pennsylvania (1934–37). Lit.: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser (Hrsg.), „Frank Lloyd Wright“, Köln 1994. [36, 37, 174]

Yoshida, Tetsuro (1894–1956), japanischer Architekt. Er vertrat eine „moderate“ Moderne, die ihre Vorbilder in Paul Bonatz und Ragnar Östberg sah: Hauptpostämter in Tokio (1929–30) und Osaka (1939). Yoshida war gleichermaßen in der traditionellen japanischen Architektur versiert: Haus Baba in Tokio (1928). Er half Bruno Taut bei der Detaillierung der Gesellschaftsräume der Hyuga Villa in Atami (1935). Veröffentlichungen im Wasmuth Verlag: „Das japanische Wohnhaus“ (1935, 2. Aufl. 1954), „Japanische Architektur“ (1952), „Der japanische Garten“ (1957).

Zeppelin, Ferdinand Graf von (1838–1917), Begründer des Starr-Luftschiffes mit Ganzmetallgerüst. 1898 gründete er eine eigene „AG zur Förderung der Luftschiffe“ und errichtete bei Friedrichshafen am Bodensee eine schwimmende Halle als Zeppelinwerft. Das erste Luftschiff startete am 2.7.1900, insgesamt wurden etwa 100 gebaut. 1909 gründete er zusammen mit Maybach in Friedrichshafen eine Fabrik zur Herstellung von Motoren für Luftschiffe. Am 19.8.1929 landete Zeppelin in Japan.

ARCH+, Di., 2009.10.20

20. Oktober 2009 Bruno Taut

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