Editorial

Es macht Freude, sich in Österreich auf die Spuren zeitgenössischer Architektur zu begeben. In Wien scheinen zwei Generationen von «Baumeistern» zu wetteifern mit ihrer gloriosen Tradition, mit dem eleganten Stil von Otto Wagner, Joseph Maria Olbrich oder Josef Hoffmann, aber auch den Gedanken von Adolf Loos, dem «Architekten der tabula rasa», wie ihn Karl Kraus 1910 nannte.

Hans Hollein, Adolf Krischanitz und Otto Kapfinger sowie Luigi Blau widmen sich mit ihren Laden-Umbauten einer Wiener Spezialität... Schon Loos hat Läden gebaut. Luigi Blau geht so weit, in einem Grabmal für den verstorbenen Freund einen Loos-Ausspruch von 1910 zu beherzigen: «Wenn wir im walde einen hügel finden, sechs schuh lang und drei schuh breit, mit der schaufei pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist architektur.» Historisches Bewusstsein steht auch hinter Hermann Czechs Haus M.: für die einen banal, für die anderen Belebung einer verloren geglaubten Tradition. - Für mich hat das kleine Haus in Schwechat in der Architektur-Debatte den Stellenwert, den vor Jahren Reichlin und Reinharts Casa Tonini in Toricella hatte. Sie war Auslöser einer neuen «philologischen» Auseinandersetzung mit Architektur.

Rückbesinnung, Umwertung, das schliesst in Österreich die Technologie der Gegenwart nicht aus. Das ist den ORF-Studios von Gustav Peichl anzusehen: auf den ersten Blick super-technoide Denkmäler, auf den zweiten immer noch glitzrige Apparate, aber doch augenzwinkernd vorgesetzt, Panzerkreuzer-Paraphrasen. Und Holzbauers Bregenzer Parlament ist auch nicht nur monumental. Der Architekt sucht nach einem möglichen Ausdruck von Repräsentation und Würde.

Die Stimmung ist gut in Österreich. Es gibt einen Dialog zwischen Praxis, Lehre und Theorie. Manche, die bauen, schreiben übers Bauen. Das gilt für Czech und Kapfinger. Manche, die bauen, sind Lehrer an Architektur-Hochschulen: Hollein, Peichl, Holzbauer...
Bei der Vorbereitung dieses Heftes ist mir aufgefallen, dass die neue Architektur in Österreich allenthalben zu reden gibt. Die italienische Viertel Jahresschrift «Lotus» hat 1981 die Nummer 29 Wien gewidmet. Die Berliner «Bauwelt» besprach in ihrer Ausgabe vom 9. Oktober 1981 Wiener Wohnungsbauten von Ottokar Uhl, Josef Krawina und Friedensreich Hundertwasser. Das österreichische «bauforum» liess in seinem Heft 85 von 1981 Friedrich Kurrent zu Wort kommen. Das italienische «domus» behandelte im November-Heft von 81 unter dem Titel «Austrian new Wave», die Grazer Schule, die «Neuen Wilden» des Bauens. Schliesslich wird die Schweizer «archithese» noch dieses Jahr herauskommen mit einer Österreich-Ausgabe, die den «Regionalen» aus Vorarlberg viel Platz einräumt.

Die Österreich-Welle im Blätterwald machte mich frei auszuwählen. Statt eines Katalogs liegt also zum Jahresbeginn wieder eine Doppelnummer vor, die sich da und dort der Subjektivität nicht scheut. Ulrike Jehle-Schulte Strathaus

Inhalt

Forum
03 Editorial
04 Kunst «Vom Spiegel und von den Scherben», «Zürich und Max Bill»
07 Buchbesprechung Tagtäglich

Standpunkt
08 Wiener Läden | Otto Kapfinger

Hauptthema
14 Eine Nabelschau österreichischer Architektur | Dietmar Steiner
20 Haus M., Schwechat von Hermann Czech
24 Pfarrkirche Unternberg/Lungau, Volksbank Velden von Heinz Tesar
28 Vier Arbeiten: Portal Geschäft Baumgartner, Teehaus, Wohnturm in vier Ebenen, Doppelwohnhaus von Luigi Blau
33 Reisebüro Kuoni, Haus Nagiller, Haus Hiermanseder von Adolf Krischanitz, Otto Kapfinger
41 Bundesamtsgebäude Wien I von Günther Wawrik
44 Studioserie ORF, Erdfunkstelle Aflenz von Gustav Peichl
56 Ganztagsschule Köhlergasse, Österreichische Verkehrsbüros, Deutsches Energiezentrum Essen von Hans Hollein
66 Neuropsychisches Institut, Haus Daneu von Boris Podrecca
71 Wien - Komplexität und Verhinderung | Hermann Czech

Chronik
73 Ausstellungskalender
74 Tagung
77 Fachmessen, Kurse
78 Puppenhaus-Wettbewerb
81 Auszeichnungen, Interieur 82, neue Bücher
82 Buchbesprechungen
85 Seminar, Internationaler Wettbewerb
86 Entschiedene Wettbewerbe
90 Wettbewerbskalender
93 Neue Wettbewerbe, Firmennachrichten
98 Hilsa
104 Bibliografie Steiner
106 Resumes / Summaries

Reisebüro Kuoni

Das Äussere: Die vorhandene Struktur von Mauern und Öffnungen wurde erhalten bzw. wiederhergestellt und das Geschäftsportal als Glashaut davorgesetzt. Die Flächenteilung der Glashaut wiederholt symmetrisch die Gliederung des Mauerwerks. Da dieses aber das gegebene Feld asymmetrisch unterteilt, ergibt sich eine leichte Verschiebung zwischen dem Rhythmus der Wandgliederung und der linienförmigen Teilung der Glashaut, wodurch der Akt des nachträglichen Hinzufügens noch verdeutlicht wird. Auch die Schrift über dem Glasfeld ist etwas Hinzugefügtes, sie kommt von vorne (der vorgestellten Glasschicht) nach hinten zur Wand und lehnt sich dort nur punktweise an. Die Kante des mittleren Mauerpfeilers ist an der Eingangsseite bis in die Höhe des Türsturzes abgerundet. Rundung und Kerbe leiten zur dritten Schicht, dem inneren Glasraster. Die in der vordersten Fläche angestrebte Achsialität wird durch die seitliche Lage des Eingangs wieder stark zurückgenommen. Im Zwischenraum der Fassadenchichtung bildet die horizontale Bewegung des Schliessgitters das physische Äquivalent dieser zweifachen «Verschiebung».

Bildhaftes Pendant zum konkreten Eingang links ist die Auslagenöffnung rechts, das «Tor zur Welt», zur inszenierten Tourismuswirklichkeit. Ein quadratischer Sockel trägt den Globus, beides aus gefärbtem Stuckmarmor. Die Formkonstanz der Kugel bringt im Rahmenwerk der Portalvitrine auch den ruhenden, plastischen Schwerpunkt.

Das Innere: Das Konzept der Kundenbetreuung, die individuelle persönliche Beratung, sollte in der Gestaltung der Tische zum Ausdruck kommen. Die üblichen Schalterborde wurden deshalb zu separierten Schalterinseln abgewandelt. Instrumenteller und repräsentativer Teil sind klar definiert.

Als Paraphrase zur Messingpalme, die zur Dekoration von Reisebüros und Geschäften in Wien derzeit mehr oder weniger gekonnt, in jedem Fall inflationär eingesetzt wird, steht hier ein Paar dünner Messingstelen. Sie vereinen drei konkrete Gebrauchswerte und bringen darüber hinaus - ohne direkte bildliche Darstellung - auch Beziehungen zu formal-kulturellen Inhalten. Dem in den blauen «Himmel» des Tonnengewölbes weisenden Stengel entspringen drei Elemente: die nach unten zeigenden Lampen - sie bringen Licht ohne Schirm anstelle des Schirms schattenspendender Blätter; die kleinen Kleiderhaken - Knöpfe anstelle von Knospen; der Ring des Schirmständers - mit seinen Speichen und Knöpfen in dere Nähe eines Schiffsteuerrades. Die punktförmigen Leuchten sind montiert aus handelsüblichen Teilen: Fassung, Schirmrosette und Spiralfeder sind auf abgekantetes, verchromtes Blech geschraubt. Durch Variation der Knickung des Blechstreifens ergeben sich drei verschiedene Lampenstellungen. Über dem Lamperiehorizont bilden die Spiegel ein Abteil «illusionärer» Raumfenster, das durchgebrochene «echte» Fenster ist durchgestrichen.

Im hinteren Büroraum wurden mit Trennwänden die Bereiche für Teeküche, Cafe-Nische, Waschnische und WC geschaffen. Die schräge Abdeckung des WC-Waschraums wiederholt im privatesten Teil die Schriftschräge des Eingangsportals. Der ganze Charakter dieses Einbaus bezieht sich auf die Holzverschläge von Schuppen, Salettl und Badehütten, enthält u.a. damit wieder den Gedanken des Hinzugefügten und des Provisorischen unter freiem Himmel. An den Arbeitstischen sind gestreifte Kunststoffplatten von Pirelli/Fiat verarbeitet - eine Entwicklung aus den 50er Jahren für Wandverkleidungen in Motorbooten und Autobussen... Im natürlich belichteten Verkaufsraum erzeugen Holz und Messing eine «natürliche», einheitliche FärbStimmung. Im vorwiegend künstlich belichteten Büroraum herrscht eine aufgefächerte Skala von «künstlichen» Farbtönen durch Lackierung und Kunststoffbeschichtungen. Naturholz ist hier nur mehr sparsam für besondere Elemente verwendet.

Die Grundhaltung im Wiener Ladenbau war lange die Introversion, das Ausgrenzen der Strasse, der Hausfassade und des Gegenübers - das Ablösen vom Vorhandenen und In-sich-selbst-«Entwickeln». Im Reisebüro besteht die Grundhaltung im Einlassen des Aussen und im Sich-Einlassen mit dem Vorhandenen, in der schrittweisen Schichtung von aussen nach innen, im subtilen Reagieren auch auf das Gegenüber. Es geht uns nicht um das Möblieren mit Bildern, nicht um die geschickte Vereinzelung von metaphorischen Objektpartikeln, deren Zwischenräume und Brüche chic wieder geglättet werden. Es geht uns darum, die verschiedenen Schichten (physisch und metaphorisch) eines Entwurfs nicht oberflächlich zu verschieifen, sondern durch mehrfache Überlagerung zu verdecken und zu vertiefen, die Aura von Formen nicht auszuspielen und zu strapazieren, sondern zu brechen.

werk, bauen + wohnen, So., 1982.01.10

10. Januar 1982 Adolf Krischanitz, Otto Kapfinger



verknüpfte Bauwerke
Reisebüro Kuoni

Haus M., Schwechat

Die Landschaft im Südosten Wiens ist - im Gegensatz zum hügeligen Westen - eben und gleichförmig. Das Grundstück liegt in einer noch weitgehend einheitlichen Siedlung der 40er Jahre. Es grenzt an eine Geländestufe mit einer fast 12 m hohen grasbewachsenen Böschung, auf deren Krone sich eine Baumreihe befindet. Sie bildet die einzige nichtbebaute Aussichtsseite. Die konische Form des Doppelgrundstücks schafft eine perspektivische Längsachse zur Böschung hin, auf die der Hausgrundriss durch eine leichte Verdrehung des Ostteils eingeht.

werk, bauen + wohnen, So., 1982.01.10

10. Januar 1982 Hermann Czech



verknüpfte Bauwerke
Haus M.

4 | 3 | 2 | 1