Editorial

Zur Wechselwirkung von Material, Struktur, Umwelt

Kann man Architektur neu denken – nicht als einen Wechsel des Erscheinungsbildes, sondern von den maßgeblichen Parametern des Entstehens und Verhaltens von Gebäuden her, also von Grund auf? Und was wären die Ansatzpunkte dafür, an welchen Vorbildern könnte man sich orientieren?

ARCH+ 188 unternimmt diesen Versuch. Es ist, wie der Titel schon sagt, ein programmatisches Heft, ein Anfang auf dem Weg zu einer Architektur des Performativen.
Vorbild ist der integrierte Prozess der Form- und Materialwerdung natürlicher Systeme. Im Zentrum der Forschung und der vorgestellten Fallstudien stehen Materialsysteme, die in Wechselwirkung mit der Umwelt stehen und auf konstruktive, funktionale und performative Anforderungen eingehen können. Materialsysteme werden über Strukturen und die Möglichkeiten ihrer Differenzierung definiert, sie eröffnen für Architekten ein neues entwerferisches Potenzial, da sie auf einer neuen Maßstabsebene zwischen dem Mikromaßstab des Materials und dem Makromaßstab des Gebäudes angesiedelt sind.

Begleitend zur Ausgabe 188 lobt ARCH+ den Wettbewerb „Simple Systems – Complex Capacities“ aus. Der Wettbewerb soll für eine breitere Diskussion und eine experimentelle Weiterentwicklung des vorgestellten Konzepts sorgen.

Inhalt

04 Anpassungen
Kraft, Sabine

05 ARCH+ Ausblick: Simple Systems - Complex Capacities
Arch

06 ARCH+ Rückblick: Die schwarzen Seiten von Bruno Schindler
Schindler, Bruno

16 Am Anfang...einer neuen Architektur des Performativen*
Hensel, Michael / Menges, Achim

18 betr.: Material und Struktur: Form- und Materialwerdung
Hensel, Michael / Menges, Achim

26 betr.: Raum und Umwelt: Gebaute Umwelt und heterogener (Lebens-)raum
Hensel, Michael / Menges, Achim

31 betr.: Theorierahmen: Performance als Forschungs- und Entwurfskonzept
Hensel, Michael / Menges, Achim

38 Materialsysteme 01: Von der universellen zur performativen Komponente
Hensel, Michael / Menges, Achim

40 Poröse Ziegelgefüge
Sunguroglu, Defne

42 Vektor- und flächenaktive Struktur
Lee, Dae Sung

44 Reaktive Flächenstruktur
Reichert, Steffen

46 Materialsysteme 02: Verformungen
Hensel, Michael / Menges, Achim

48 Streifenmorphologien
Coll I Capdevila, Daniel

50 Endloslaminate
Jaeschke, Aleksandra

52 Adaptive Gleichteilstrukturen
Kellner, Joseph / Newton, David

54 Wandelbare Gitterschalen
Felipe, Sylvia / Truco, Jordi

56 Materialsysteme 03: Gradientensysteme
Hensel, Michael / Menges, Achim

58 Honigwabenstrukturen
Kudless, Andrew

60 Makro-Faserstrukturen
Doumpioti, Christina

62 Gewirkeverbund
Reinhardt, Nico

64 Poröse Guss-Strukturen
Sanchiz Garin, Gabriel

66 Materialsysteme 04: Membranen
Hensel, Michael / Menges, Achim

68 Membranelemente
Toet, Rene

69 Membranschichten
Fujii, Kazutaka

70 Membranen und Seilnetze
Sideris, Pavlos / OCEAN

72 Kinetische Membranen
Baselmans, Jaap

73 AA Membranprojekt
Hensel, Michael / Menges, Achim

76 Materialsysteme 05: Aggregate
Hensel, Michael / Menges, Achim

78 Aggregat natürlicher Partikel
Takahashi, Gen / Fallaha, Hani

80 Aggregat gefertigter Partikel 01
Matsuda, Eiichi

82 Aggregat gefertigter Partikel 02
Hawkins, Anne / Newell, Catie

88 betr.: Tragwerksindividuen: Strukturelle Vielfalt
Bollinger, Klaus / Grohmann, Manfred / Tessmann, Oliver

92 betr.: Fertigungstechniken: Die Mittel der Zeit
Schindler, Christoph

96 betr.: Assoziative Geometrie: Die Werkzeugmacher
SmartGeometry Group / Becker, Mirco

99 betr.: Biomimetik: Grenzüberschreitungen Architektur - Biologie
Vincent, Julian / Menges, Achim / Hensel, Michael

102 betr.: Monomaterialien: Rapid Manufacturing
Soar, Rupert / Menges, Achim

108 Baufokus: Licht und Energie
Mende, Julia von / Korwan, Daniel

Anpassungen

Klimatische Veränderungen haben den Menschen immer große Anpassungsleistungen abverlangt. Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 11.500 Jahren führten Temperaturschwankungen um auch nur wenige Grad zu dramatischen Veränderungen der Lebensbedingungen, in deren Folge ganze Landstriche aufgegeben und neue Wege der Subsistenzsicherung gefunden werden mussten. In prähistorischer Zeit zeigte sich dies besonders deutlich im Wechsel vom nomadischen Dasein in den Wüstenrandgebieten zu einer Besiedlung der Flusslandschaften.[1] Letztlich erzeugte dieser Anpassungsdruck einen gewaltigen Schub in der kulturellen Entwicklung und brachte die frühen solaragrarischen Hochkulturen hervor. Auch die kleine Eiszeit ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die sich bis ins 19. Jahrhundert erstreckte und den Übergang in die Neuzeit markiert, ist in ihren Auswirkungen kaum zu überschätzen. Die Hungersnöte, die sie mit sich brachte, waren einer der Auslöser der französischen Revolution, und die Energiekrise des 18. Jahrhunderts, eine Folge der Holzverknappung, forcierte die Erschließung der fossilen Brennstoffe, eine der zentralen Voraussetzungen für die industrielle Revolution.

Beschäftigt man sich mit der aktuellen Klima-Energie-Problematik, so stimmt der Blick in die Zukunft nicht sonderlich hoffungsfroh – nicht wegen des Klimawandels oder irgendwelcher Endzeitszenarien. Niemand kann bisher die Auswirkungen der klimatischen Veränderungen genau benennen und gegenüber Prognosen ist eine gewisse Skepsis angebracht. Anlass zur Besorgnis gibt die Frage, inwieweit wir auf die anstehenden Anpassungsleistungen vorbereitet sind, oder uns auch nur bewusst ist, dass sie gewaltig sein müssen. Davon zumindest kann man mit Sicherheit ausgehen. Fast alle Faktoren, auf denen unsere heutige Lebensweise beruht, kulminieren krisenhaft mit dem Klimawandel. Wir haben die Fehler des Industrialisierungsprozesses als Zwerge in die Welt entlassen, zurückgekehrt sind sie als Riesen – und diese Fehler müssen offenbar im weltweiten Aufholen der Industrialisierung stets erneut durchlaufen werden. Ein Ende des irreversiblen Verbrauchs von Umwelt und Ressourcen ist kaum absehbar.

Vor diesem Hintergrund war die Arbeit an Heft 184 Architektur im Klimawandel von einem wachsenden Unbehagen begleitet, einem Unbehagen, dass sich irritierenderweise gegen im Einzelnen durchaus sinnvoll erscheinende Maßnahmen der Energieeinsparung und CO2-Reduzierung zu richten schien. Diese Maßnahmen beschreiben jedoch zusammengenommen eine Strategie, die im Wesentlichen auf Effizienzsteigerung beruht. Effizienzsteigerung ist eine Form der Optimierung; das Bestehende wird in seinen Voraussetzungen nicht hinterfragt, sondern allenfalls modifiziert. Eine solche Strategie lässt sich relativ kurzfristig umsetzen, ist jedoch in ihrer Reichweite zwangsläufig begrenzt. Warum also nicht das Eine tun und das Andere nicht lassen. Das Andere bedeutet, Wege aus der Sackgasse jenseits eingefahrener Gleise suchen, über Lösungen von Grund auf nachdenken, weiterführende Fragen aufwerfen, Aufgaben neu definieren. Und damit sind wir bei der vorliegenden Ausgabe.

Auch Form Follows Performance ist vor dem Hintergrund des Klimawandels zu lesen. Beide Hefte sind sich einig in der Unterscheidung zwischen Effizienz und Effektivität, betrachten Architektur bzw. Gebautes von der Kategorie des Verhaltens her und sehen in der Performance von Gebäuden nicht nur eine Funktion von Energiekennzahlen, sondern der sinnlichen Wahrnehmung in ihrer Gänze. Hier aber endet die Ähnlichkeit. Während „Architektur im Klimawandel“ sich auf der Suche nach einer überzeugenden Integration von Raum- und Klimakonzept einen Weg durch das Dickicht der aktuellen Fachspezifik und des überbordenden Spezialistentums bahnt, wird von den Autoren von „Form Follows Performance“, Michael Hensel und Achim Menges, ein eigenes Konzept für genau diese Integration vorgestellt. Dieses Konzept entstand in der Verschränkung von Forschung und Lehre, wobei dem Entwurf ein zentraler methodischer Stellenwert zukommt. Womit haben wir es zu tun? Genau genommen ist es eine Vision, was Architektur sein könnte oder besser: wie sie beschaffen sein sollte, deren grundsätzliche Machbarkeit im Entwurfsprozess mehrfach experimentell getestet wurde. Der Ausgangsgedanke ist ein denkbar einfacher: Die Evolution natürlicher Sys-teme erfolgt in Anpassung an die jeweiligen Umweltanforderungen. Anpassung bedeutet Spezialisierung, sprich Ausdifferenzierung. Diesem Vorgang verdanken wir die unendliche Vielfalt der Arten. Die Menschen gehören z.B. zu der Gruppe der Tetrapoden, der Vierfüßer. Jeder erkennt in den Flügeln des Vogels oder den Flossen des Wals die eigenen Arme, in den Krallen der Raubtiere oder den Hufen der Wiederkäuer die eigenen Finger bzw. Zehen wieder, dazu braucht es keine komplizierten Theorien.

Evolutionäres Entwerfen ist seit rund 15 Jahren, seit dem Aufkommen der Blobs, en vogue. Es dient meist der Erweiterung des formalen Arsenals der Architektur. Die Frage, wie ein Gebäude evolutionär in Anpassung an die äußeren Umstände entstehen kann, wurde nie gestellt. Ganz sicher entsteht es nicht, indem der Computer mit Hilfe genetischer Algorithmen beliebige Formen evolviert, deren Auswahl durch pseudorationale Evaluierungskriterien oder das willkürliche Einfrieren des Prozesses erfolgt, wie Eisenman es einmal erläuterte, und die dann für ihre Materialisierung eines Heers an Spezialisten und Technikern bedürfen. Das hier vorgestellte Konzept grenzt sich entschieden von diesem Missverständnis des biologischen Vorbilds ab. In der Natur gibt es die platonische Trennung zwischen der Form und dem Stoff, aus dem die Form besteht, nicht. Das Hervortreiben von Formen entsteht im Prozess ihrer Materialisierung. Hier beginnt die eigentliche Innovation und hier liegt der Ansatzpunkt für eine in ihre Umwelt eingepasste Architektur, deren Performance aus dem Wechselspiel zwischen äußeren Faktoren und Form gewordener Materialität resultiert.

Nach der ersten Euphorie über die Entschlüsselung des genetischen Codes zeigte sich sehr bald, dass damit noch nicht viel gewonnen ist, solange wir die komplexen physiologischen Prozesse der Umsetzung der Codes nicht nachvollziehen können. Die Natur verfolgt keinen Blaupausendeterminismus, das würde die Entstehung von Neuem in der Anpassung an spezifische Umwelten ausschließen. Im Schlüsselbegriff des Materialsystems, den Hensel und Menges geprägt haben, ist die Simulation solcher physiologischen Prozesse in vereinfachter Form enthalten. Materialsysteme bedeuten einen Maßstabssprung vom Organismus bzw. dem Gebäude auf die Ebene von Strukturen. Natürliche Systeme gewinnen ihre Leistungsfähigkeit, sprich Performance, unter anderem aus der internen Differenzierung von Strukturen. Auch Strukturen sind nichts anderes als im Hinblick auf spezifische Umweltanforderungen Form gewordene Materialität. Dieser Zusammenhang von Form- und Materialwerdung lässt sich auf allen Maßstabsebenen verfolgen, aber Strukturen bieten einen guten Ansatzpunkt für die Übersetzung des Differenzierungsprozesses natürlicher Systeme in die Architektur – und darum vor allem geht es im Konzept von Hensel und Menges. In der strukturellen Differenzierung der raumbildenden Begrenzungen von Gebäuden könnte das neue performative Potenzial von Architektur liegen. Dabei ist weder die direkte Nachahmung eines biologischen Vorbilds noch eine Quasi-Lebendigkeit von Architektur gemeint. Auch das wären fatale Missverständnisse. Die Forschung an diesem Konzept bewegt sich auf einer proto-architektonischen Ebene. Klassische Gebäudeentwürfe stehen noch aus. In dem Sinne handelt es sich wirklich um eine Vision. Es wurde eingangs von den Anpassungsleistungen gesprochen, die der Klimawandel einfordern wird. Was könnte passender sein, als das Nachdenken über eine Architektur, die im Zusammenspiel mit der Umwelt ihre Qualitäten entfaltet?

Ausblick: Mit dem Wettbewerb „Simple Systems, Complex Capacities“ wollen wir, die Redaktion und die Autoren, für eine breitere Diskussion des vorgestellten Konzepts sorgen, und natürlich erhoffen wir uns auch eine Weiterentwicklung dieses Konzepts und Anregungen, die vielleicht von ganz anderer Seite kommen. Außerdem: Zurzeit scheint fast alles losgelöst von den jeweiligen Inhalten Design zu werden bis dahin, dass Design alles ist. Das Konzept von Hensel und Menges steht dieser Haltung diametral entgegen: In der Natur gibt es kein Design, außer für die Anhänger des Creationismus.

Rückblick: Die schwarzen Seiten wurden von Bruno Schindler in ARCH eingeführt. Sie dienten der Untergliederung des Heftes und übernahmen die Aufgabe des kritischen Blicks. Von daher sind sie in einem spezifischen Kontext entstanden, aber ihre Besonderheit: die Argumentation mit Bildern hebt sie auch über diesen Kontext hinaus. Der Reprint zeigt eine typische Auswahl:?Zwei der vier Doppelseiten sind eher „fachspezifisch“, sie lassen sich in Beziehung zu der vorliegenden Ausgabe setzen, während die anderen zwei sich Themen des Abendlands widmen, die wie ein falscher Fünfziger immer wiederkehren.

[1] Vgl. Eitel, Bernhard. Wüstenränder. Brennpunkte der Entwicklung, in: Spektrum der Wissenschaft 5, 2008, S. 70 ff

ARCH+, Mo., 2008.07.28

28. Juli 2008 Sabine Kraft

Am Anfang einer neuen Architektur des Performativen

(SUBTITLE) Architektur befindet sich an einem Wendepunkt.

Nie zuvor standen Architekten im Zeitraum weniger Jahre so umfassende, neue technologische Möglichkeiten zur Verfügung, die alle Teilbereiche des Entwerfens, Planens und Bauens betreffen. Nie zuvor sahen sich Architekten einer Situation gegenüber, die – nicht nur aufgrund des Klimawandels – ihren Aufgabenbereich so grundsätzlich in Frage stellt.

In der derzeitigen Architekturdiskussion und -produktion äußert sich dies durch zwei Phänomene, die sich im gegenseitigen Aufschaukeln gleichsam neutralisieren: Die Überforderung mit den Möglichkeiten neuer, digitaler Formfindungsmethoden und computergestützter Herstellungsverfahren auch in der Architektur kulminiert in einem gestalterischen Befreiungsschlag von materialspezifischen, konstruktiven und herstellungsbedingten Zwängen, der reflexartig die Auseinandersetzung mit einem neuen Formenkanon zur Priorität erhoben hat. Die grundlegenden Eigenschaften herkömmlicher Entwurfsmethoden und -ziele werden im wörtlichen Sinne nur oberflächlich in Frage stellt. Dies gilt auch für die hilflosen Versuche, der zeitgenössischen, objekt-fetischisierenden Architektur den Deckmantel des Ökologischen überzustülpen, der zwar alle technischen Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung des Objekts ausreizt, aber die entscheidende Frage der Relation zwischen architektonischem Objekt, menschlichem Subjekt und gebauter Umwelt weitgehend außer Acht lässt. Während das technologische Potenzial die Grenzen des Machbaren stets aufs Neue sprengt, stagniert die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Zweck und Ziel dieser Entwicklungen. Hinter der doppelt gekrümmten Fassade zeitgenössischer Architektur hat sich wenig Grundsätzliches verändert.

Nie zuvor war eine kritische Betrachtung und grundlegende Revision unserer tradierten Vorstellungen und festgefahrenen Definitionen von Architektur und Bauen so notwendig wie heute. Nie zuvor waren die Chancen einer solchen Infragestellung aufgrund eben jenes technologischen Fortschritts so günstig wie heute.

Wenn wir die Potenziale des Rechners nicht im Abstreifen aller formalen und konstruktiven Constraints sehen, sondern das computerbasierte Arbeiten als die Möglichkeit begreifen, eine enge Schnittstelle zwischen dem virtuellen und dem realen Raum zu schaffen, wenn wir die Beschaffenheit der materiellen Welt nicht als zu überwindend betrachten, sondern in ihren Logiken und Zwängen neue Wege erschließen, dann bedarf es einer Entwurfsmethodik, welche die tradierte Hierarchie von Form und Konstruktion durch einen Prozess integraler Formgenerierung und Materialisierung ersetzt. Wenn wir den Rechner nicht nur als besseres Zeichenwerkzeug benutzen, sondern die Herstellungs- und Fügungslogiken direkt an der Schnittstelle von CAD/CAM-Technologien einbetten, können wir jene Konstruktionsmethoden hinter uns lassen, die sich auf das Auswählen und Verteilen von Norm- und Gleichteilen im Raum beschränken. Wenn wir die Anpassung an Umweltbedingungen nicht als nachgeordnetes Optimierungsverfahren begreifen, sondern durch kontinuierliche Rückkopplung und analytische Verfahren in einen generativen Entwurfsprozess einbetten, wird die Modulierung von Raumklima, Licht, Schall zum integralen Bestandteil der Umweltgestaltung. Performance ist keine Frage der Anwendung von Lehrbuchprinzipien, sondern der räumlichen Differenzierung.

Nie zuvor hatten wir eine so große Chance, Architektur jenseits des Irrglaubens an eine totale räumliche und klimatische Kontrolle in der performativen Wechselwirkung von Material, Struktur und Umwelt zu entfalten. Nie zuvor hatten wir so gute Voraussetzungen, Architektur jenseits des repräsentativen Selbstzwecks tektonischer Objekte als differenzierte und reichhaltige Lebensräume zu konzipieren.

Nie zuvor hatten wir das technologische Potenzial, den Menschen und seine Umwelt in den Mittelpunkt einer alternativen Vorstellung von Nachhaltigkeit zu stellen. Woran es fehlt, ist ein intellektuelles Verständnis dieser ungeahnten Möglichkeiten und entsprechende, alternative Entwurfsansätze. Dies ist Ziel und Zweck dieser Ausgabe.

Nie zuvor war die Erforschung und Entwicklung solcher Entwurfsansätze so relevant wie heute, denn nie zuvor wurde auf unserem Planeten mehr gebaut.

ARCH+, So., 2008.07.27

27. Juli 2008 Michael Hensel, Achim Menges

Reaktive Flächenstruktur

Jedes Material steht in Wechselwirkung mit der es umgebenden Umwelt. In der Architektur bekannt ist vor allem die Längenausdehnung, also die Veränderungen der Abmessungen eines Stoffes bei Temperaturwechseln, und das Schwinden bzw. Schwellen bei Schwankungen des Feuchteanteils. Im Architekturentwurf, in Planung und Konstruktion wird meist versucht, dieses dem Material inhärente Verhalten weitmöglichst zu eliminieren oder durch entsprechende Toleranzbereiche abzufangen. Die spezifische Reaktion eines Materials auf wechselnde Umwelteinflüsse bietet jedoch die Chance, dieses Verhalten einem alternativen, auf Materialsystemen beruhenden Entwurfsansatz zugrundezulegen.

Das Ziel des Forschungsprojekts von Steffen Reichert ist die Entwicklung einer selbsttragenden Haut, die ihre Porosität und Luftdurchlässigkeit der relativen Luftfeuchtigkeit selbsttätig anpassen kann, ohne hierfür zusätzliche mechanische oder elektronische Hilfsmittel zu benötigen. Das reaktive Verhalten wird durch Schwankungen der Luftfeuchtigkeit ausgelöst, die den Feuchteanteil eines hygroskopischen Materials beeinflusst und durch Schwinden bzw. Schwellen die Geometrie eines Bauteils ändern kann. Die Formveränderung eines solchen Elements kann dann in einem größeren System strategisch für die Anpassung an spezifische funktionale und performative Anforderungen genutzt werden. Ein Beispiel für solch reaktive Systeme in der Natur sind Fichtenzapfen, die sich noch wiederholt öffnen und schließen, auch nachdem sie vom Baum gefallen sind. Das hygroskopische Zellmaterial an der Unterseite der Schuppen des Zapfens nimmt bei steigender Luftfeuchtigkeit Flüssigkeit auf und schwillt an. Durch diese Längendehnung der Unterseite krümmt sich die Schuppe, öffnet den Zapfen und gibt den Samen frei, der jetzt auf günstigen, feuchten Nährboden fällt. Die Bewegung der Schuppen ist voll reversibel; sie weisen, wie eingehende Tests gezeigt haben, auch nach zahlreichen Öffnungs- und Schließzyklen keine Materialermüdung auf.
Das Verständnis und die Instrumentalisierung einer solch komplexen Dynamik der Wechselwirkungen aus Umwelteinflüssen, Materialeigenschaften und Systemverhalten bildet die Grundlage des hier vorgestellten Projekts. Die ersten Experimente betrachteten zunächst das Verhalten einfacher Furnierverbund-Elemente. Deren Formveränderung bei zunehmender Luftfeuchtigkeit und die dafür benötigte Reaktionszeit wurden in Abhängigkeit zu den wichtigsten Kennwerten wie Faserausrichtung, Adsorptionsfähigkeit und das Verhältnis aus Länge, Breite und Schichtstärke des Elements untersucht. Die Erkenntnisse dieser Versuchsreihe mündeten in der Definition einer Komponente, von der die Entwicklung eines Gesamtsystems ausgeht. Diese Komponente besteht aus zwei funktionalen Bereichen, einer tragenden Unterkonstruktion und zwei flüssigkeitsempfindlichen Furnierelementen. Um planare Verbindungsflächen sowohl zu den angrenzenden Komponenten als auch für die Furnierelemente ausbilden zu können, besteht die Unterkonstruktion aus einer Faltstruktur mit ebenen Deckflächen und Flanken. Diese Faltstruktur kann an einem Stück aus einem Plattenmaterial ausgeschnitten und auf- bzw. zusammengefaltet werden, d.h. Zusammenbau und Herstellung basieren auf einem ebenen Schnittmuster. Die erforderlichen geometrischen Eigenschaften der Strukturkanten wurden in einem auf assoziativer Geometrie aufbauenden parametrischen Modell verankert, das eine hohe Variationsbandbreite der Komponentengestalt zulässt. Die Schnittmuster des zweiten wichtigen Bestandteils jeder Komponente, der zwei dreieckigen Furnierelemente, sind ebenfalls in Abhängigkeit zur Faserrichtung in diesem parametrischen Modell definiert, da die Längenveränderung bei Zunahme des Feuchtegehalts hauptsächlich parallel zur Faserrichtung erfolgt.

Die Komponente kann sich bei starken Feuchtigkeitsschwankungen innerhalb von weniger als 20 Sekunden öffnen, wobei die Wasseraufnahme zu einer Krümmung des Furniers führt und dadurch eine Öffnung zwischen der Unterkonstruktion und den Elementen freigegeben wird. Diese Veränderung der lokalen Porosität und Luftdurchlässigkeit des Systems erfolgt in direkter Wechselwirkung mit den jeweiligen mikroklimatischen Bedingungen, die Komponente vereint in einem einfachen Furnierelement die Funktionen von Feuchtigkeitssensor, Stellmotor und Stellklappe. Die unmittelbare lokale Reaktionsfähigkeit jeder einzelnen Komponente wird Teil eines emergenten Klimamodulationssystems.

Auch die geometrische Definition der aus einer Vielzahl von Komponenten bestehenden Gesamtform spielt für die Wechselwirkung aus System und Umwelt eine wichtige Rolle. So hat die Kurvatur der Fläche nicht nur Einfluss auf deren Tragverhalten, sondern auch auf die Ausrichtung und Lage der Elemente im Feuchtigkeit zu- bzw. abführenden Luftstrom. Um die kritische Relation einzelner Komponenten, deren Lage im Gesamtsystem und der sie umgebenden mikro- und makrothermodynamischen Gegebenheiten im Entwurfsprozess besser fassen zu können, wurde die Gesamtform mathematisch definiert. Dies ermöglicht eine rechnergestützte Evolution des parametrischen Systems in direkter Rückkopplung mit dem thermodynamischen Simulationsverhalten einzelner Elemente und der Gesamtstruktur. Das so entstandene Materialsystem besteht aus 600 Komponenten, die aufgrund ihrer Lage und Funktion in der Gesamtstruktur alle geometrisch unterschiedlich sind, aber auf derselben Logik basieren. Die direkt aus dem parametrischen Modell auszulesenden Schnittmuster, Herstellungs- und Konstruktionsdaten erlaubten es, einen vollmaßstäblichen, funktionstüchtigen Prototyp anzufertigen. Wird dieser Schwankungen der Luftfeuchtigkeit ausgesetzt, beginnen die Furnierverbundelemente durch ihre Formveränderung die Luftdurchlässigkeit der Struktur zu verändern, die zugleich Tragwerk und reaktive Haut ist. Diese übergeordnete Integration von Form, Struktur und Material erlaubt eine direkte und differenzierte Anpassung an Umwelteinflüsse, ohne die Notwendigkeit zusätzlicher elektronischer oder mechanischer Kontrollelemente.

[Projekt von: Steffen Reichert
Projektbetreuung und Text: Achim Menges]

ARCH+, So., 2008.07.27

27. Juli 2008 Achim Menges

Honigwabenstrukturen

Das Projekt von Andrew Kudless beruht auf der Hypothese, dass sich durch eine algorithmische Formgenerierung, die aus den Logiken und Einschränkungen der Materialisierung abgeleitet ist, die morphologische Vielfältigkeit und performative Kapazität eines industriell gefertigten Systems erheblich steigern lässt. Ein Beispiel für solche regelmäßigen, industriell hergestellten Systeme sind die variantenreich erhältlichen Honigwabenstrukturen, die vielfach Verwendung finden. Aufgrund der produktionsbedingten Einschränkungen und der einheitlichen Zellgröße sind jedoch nur planare, einfach gekrümmte oder gleichmäßig doppelt gekrümmte Oberflächen umsetzbar. Ziel dieses Projekts ist es, eine Herstellungsstrategie, ein daraus hergeleitetes Entwurfswerkzeug zusammen mit dem entsprechenden Materialsystem zu entwickeln, das im Gegensatz zu den bereits existierenden Honigwabenstrukturen verschiedene Zellformen, -größen, -tiefen und -ausrichtungen zulässt und durch verschiedene Dichte und Durchlässigkeitsgrade eine anpassungsfähige, performative Kapazität erzielt.
Als zweites will das Projekt demonstrieren, dass mit einer integralen Methodik der Form- und Materialwerdung die Differenzierung der lokalen Zellgeometrie und des Gesamtsystems mit einfachen Herstellungsverfahren und herkömmlichen Materialen möglich ist, und nicht von exotischen Fertigungsverfahren und Hightech-Materialen abhängt. Die zusätzliche Leistungsfähigkeit solch komplexerer Produktionsmittel könnte dann in weiteren Entwicklungsschritten einem ursprünglich einfachen Systems graduell eingebettet werden.

Entsprechend wurde als Ausgangspunkt des Projekts ein denkbar einfaches, sechs- eckiges Element aus zwei jeweils viermal gefalteten Pappstreifen gewählt. Die hexagonale Honigwabenzelle besteht dabei nicht aus einem sie beschreibenden Element, sondern ergibt sich aus zwei streifenartigen Bauteilen, die sich aus Plattenmaterial mit einem zweidimensionalen Schneideverfahren fertigen lassen. Um die maßgeblichen Charakteristika dieser Form der Herstellung und das Differenzierungspotenzial des daraus entstehenden Systems für einen rechnergestützten Generierungsprozess erfassen zu können, wurde zunächst eine Vielzahl von Experimenten durchgeführt. Diese sich reziprok beeinflussenden, analogen und digitalen Tests wurden in mehreren Schritten fortentwickelt: durch den laufenden Transfer der digital erzeugten, dreidimensionalen Systemgeometrie in zweidimensionale Schnittmuster, den Zuschnitt der Materialstreifen und der Konstruktion dreidimensionaler Modelle sowie dem Einbetten der dabei gewonnenen Erkenntnisse in das Rechnermodell.

Das Hauptaugenmerk der Untersuchungen lag auf der wechselseitigen Beziehung zwischen der Gesamtform und der Zellstruktur, auf den spezifischen Materialeigenschaften, wie z.B. dem maximalen Faltwinkel der Pappe, und darauf, die Einschränkungen eines zweidimensionalen Schneideverfahrens parametrisch zu erfassen. Daraufhin wurden diese wechselseitigen Beziehungen in einem algorithmischen Verfahren zusammengefasst, das eine Honigwabenstruktur in mehreren Schritten erzeugt. Hierbei kann die Formgenerierung durch material- oder herstellungsbedingte Kennwerte variiert und durch geometrische Parameter differenziert werden.

Dieser generative Prozess zur Definition und Herstellung einer Zellstruktur wurde an einem vollmaßstäblichen Prototyp getestet, der durch die Raumgegebenheiten, das erforderlichen Tragverhalten, das zu verwendende Material und das in der Fertigung eingesetzte Laserschneidgerät definiert ist. Die eigentliche Zellstruktur der acht Meter langen Konstruktion definiert dabei der Algorithmus als geknickte, sich überlappende Streifenelemente, deren Schnittmuster automatisch abgewickelt, gekennzeichnet und auf dem virtuellen Schneidefeld des Lasers angeordnet werden. Die Größe des zu verwendenden Laserschneidgerätes und die damit einhergehende Längeneinschränkung der Streifenelemente wird bereits in der Formgenerierung des Systems berücksichtigt. Dies führt dazu, dass die Gesamtstruktur aus mehreren Segmenten besteht, die vorgefertigt und vor Ort zusammengesetzt werden.

Der fertige Prototyp besteht aus recycelter Pappe, ist jedoch aufgrund der genauen geometrischen Definition und zweier Zellschichten mit gegenläufiger Zellausrichtung, welche die typische Scherung unterbinden, ausgesprochen tragfähig und kostengünstig. Darüber hinaus belegt der Prototyp, dass durch das aus einem integrierenden Formgenerierungs- und Materialisierungsansatz hervorgehende algorithmische Entwurfswerkzeug es tatsächlich ermöglicht, ein neuartiges Wabensystem zu generieren und zu produzieren. Mit diesem Wabensystem können sowohl die lokale Morphologie wie Größe, Tiefe und Ausrichtung der Zellen als auch die Gesamtform differenziert werden. Es entstehen je unterschiedliche Stabilitäts-, Dichte- und Durchlässigkeitsgrade des Systems, die mit unterschiedlichen räumlichen und performativen Anforderungen korrespondieren.

Der Prototyp demonstriert auch, dass die Fortentwicklung und Differenzierung bestehender Systeme nicht notwendigerweise einen hochtechnologischen Ansatz mit neuartigen Produktionsmethoden und Materialien erfordert. Sowohl das hier zur Verwendung gekommene Material, nämlich einfache Pappe, als auch das Herstellungsverfahren, das ja lediglich aus Schneiden und Falten besteht, sind relativ herkömmlich. Die Neuartigkeit ergibt sich nicht aus diesen singulären Aspekten, sondern aus der Entwurfsmethodik, die die Formwerdung und Materialisierung zusammenführt.

[Projekt von: Andrew Kudless
Projektbetreuung und Text: Michael Hensel, Achim Menges mit Michael Weinstock]

ARCH+, So., 2008.07.27

27. Juli 2008 Achim Menges, Michael Hensel

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