Editorial

Neulich auf einer Podiumsdiskussion in Berlin. Auf die Frage angesprochen, was der Beitrag der Architektur sein kann in einer von Ungleichheit und Ausgrenzung gekennzeichneten Urbanisierungswelle, die die Welt derzeit radikal transformiert, gipfelte Hans Kollhoffs Antwort in einem wütenden Lamento über die schlechte Steinqualität aus chinesischer Produktion, die den Weltmarkt beherrsche. Nur mit Hilfe einer guten, sprich deutschen und teuren Steinqualität lasse sich die Identität unserer europäischen Stadt retten. Die Borniertheit dieses Gedankenganges wird noch zusätzlich damit auf die Spitze getrieben, dass Kollhoff alle anderen, die sich nicht an die „Wahrheit“ der Architektur halten, im besten Fall „misguided“ oder gleich „stupid“ nannte. Diese Art von Wahrheitsdiskurs drückt eine Geisteshaltung aus, die nicht neu ist, sondern geradezu symptomatisch für ein „Land ohne Avantgarde“, wie Thilo Hilpert seine Auseinandersetzung mit dem Fehlen eines progressiven deutschen Architekturdiskurses seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges polemisch übertitelt hat. Es ist ein Verhaltensmuster, das dafür sorgt, dass seit einiger Zeit kaum vernehmliche architektonische Impulse von Deutschland ausgehen. Mittelmaß und Rückwärtsgewandtheit halten sich die Waage. „Aber dafür können wir Details.“ Und: „Wir sind realistisch.“ Dieser instrumentelle Reflex, verkauft als Qualitätsmerkmal Made in Germany, der jegliches Experiment als nicht kalkulierbares Risiko im Keim erstickt, erschallt regelmäßig als Echo zur Rechtfertigung der faktischen Beschränkungen (und der eigenen Beschränkheit).

Der Witz ist nur, dass Architektur dort anfängt und nicht aufhört, oder wie Jean Baudrillard dies lakonisch formuliert: „Das Abenteuer des Architekten findet in einer geradezu wirklichen Welt statt.“ Wenn Architektur also gerade wegen der Zumutungen der Wirklichkeit mehr sein soll, wenn sie sich nicht „in ihrer Realität, in ihren Prozeduren, Funktionen und Techniken“ erschöpft, dann müssen wir sie „jenseits ihrer Wahrheit als Radikalität ... begreifen“. Damit beantwortet Baudrillard die Frage „Architektur: Wahrheit oder Radikalität?“ zugunsten der Radikalität. Wie aber ist heute, post-68, Radikalität noch denkbar? Ist sie nur noch als religiös-reaktionäre Haltung oder im verklärenden Retro-Look aktuell?

Im Sommer 2007 war Arch zur Teilnahme am Zeitschriftenprojekt der documenta 12 eingeladen. In diesem Rahmen haben wir das Projekt „The Making of Your Magazines“ initiiert, um uns der genannten Frage über den Umweg der Architekturmedien zu nähern. Als zentralen Bestandteil haben wir die Ausstellung von Beatriz Colomina „Die Radikale Architektur der kleinen Zeitschriften 196X-197X“ nach Kassel eingeladen. Die Vergegenwärtigung der Blüte kleiner unabhängiger Zeitschriften in den 1960ern und 1970ern soll den Blick wieder dafür schärfen, was Radikalität im architektonischen Zusammenhang bedeuten kann – jenseits formaler Spielarten. Die im Titel der Ausstellung angesprochene Radikalität meint zweierlei: eine medientechnische Revolution und die „architettura radicale“ – die Revolutionierung des Druckmediums also und eine bestimmte Richtung der Architektur.

Arch hat diesen Rück- und Ausblick dazu genutzt, um anhand eines neuen Designs die inhaltliche Frage auch formal zu beantworten. Die Art Direktion übernahm Mike Meiré, der konzeptionell an die Anfangszeit anknüpfte, was sich auch in der Rückkehr zum im Logo widerspiegelt. Mehr zum Redesign erfahren Sie im Gespräch mit Mike Meiré.

Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo

Inhalt

02 Zeitung
Maasberg, Ute / Prinz, Regina / Kockelkorn, Anne / Schindler, Susanne / Kraft, Sabine / Stillich, Sven / Hagemann, Anke / Harbusch, Gregor / Luce, Martin / Lupin, Margarete von / Herresthal, Kristina

26 Editorial
Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh

28 Clip/Stamp/Fold
Colomina, Beatriz / Buckley, Craig / Imperiale, Alicia / Grau, Urtzi / Kallipoliti, Lydia / Lopez-Perez, Daniel / Moreno, Joaquim

32 Timeline: Kleine Zeitschriften 1962-1968
Colomina, Beatriz / Buckley, Craig / Imperiale, Alicia / Grau, Urtzi / Kallipoliti, Lydia / Lopez-Perez, Daniel / Moreno, Joaquim

40 Fokus Bau: Vom Absoluten zu allem
Buckley, Craig

54 Exkurs 20er Jahre: Architektonische Montage
Krausse, Joachim

60 Timeline: Kleine Zeitschriften 1968-1972
Colomina, Beatriz / Buckley, Craig / Imperiale, Alicia / Grau, Urtzi / Kallipoliti, Lydia / Lopez-Perez, Daniel / Moreno, Joaquim

68 Fokus archithese 1971-1981
Moos, Stanislaus von / Colomina, Beatriz / Stauffer, Marie Theres

76 Fokus archithese: 1980-1986
Steinmann, Martin

80 Exkurs 60er Jahre: „When attitudes become form“
Breuer, Gerda

86 Exkurs 60er Jahre: Medienorte
Hartmann, Frank

90 Timeline: Kleine Zeitschriften 1972-1979
Colomina, Beatriz / Buckley, Craig / Imperiale, Alicia

96 Fokus ARCH : Polit-Kybernetik
Fezer, Jesko

106 Fokus ARCH : 1976-1986
Hoffmann-Axthelm, Dieter

110 Fokus ARCH : Land ohne Avantgarde
Hilpert, Thilo

114 Themenkartierung: Post-heroische Moderne
Arch

116 Exkurs Buchdruck: Dieses wird jenes töten
Hugo, Victor

118 Exkurs Buchdruck: Die Entstehung des typografischen Architekten
Carpo, Mario

124 Exkurs Buchdruck: Buch und Perspektive
Kittler, Friedrich

130 Ausblick: OMA Publikationen
Colomina, Beatriz / Grau, Urtzi / Lopez-Perez, Daniel

134 Ausblick: Displayverhalten
Trüby, Stephan

138 Ausblick: Der Architekt als Kommunikator
Kirschbaum, Marc

140 Ausblick: Publish or Perish
Kunsmann, Jeanette / Kirschbaum, Marc

142 Ausblick: Von triebgesteuerten Überzeugungstätern, Nerds und Pornografie
Meiré, Mike / Ngo, Anh-Linh

146 Interview-Marathon
Koolhaas, Rem / Obrist, Hans Ulrich / Arch / 0_verschiedene Autoren

148 Interview-Marathon: Manifestieren
Bayrle, Thomas / Koolhaas, Rem / Obrist, Hans Ulrich

152 Interview-Marathon: Manifestieren
Niermann, Ingo / Koolhaas, Rem / Obrist, Hans Ulrich

158 Interview-Marathon: Manifestieren
Zamp Kelp, Günter / Koolhaas, Rem / Obrist, Hans Ulrich

160 Interview-Marathon: Manifestieren
Hoffmann-Axthelm, Dieter / Koolhaas, Rem / Obrist, Hans Ulrich

164 Interview-Marathon: Dokumentieren
Steyerl, Hito / Koolhaas, Rem / Obrist, Hans Ulrich

168 Interview-Marathon: Dokumentieren
Scherer, Marie-Luise / Koolhaas, Rem / Obrist, Hans Ulrich

170 Interview-Marathon: Dokumentieren
Gaines, Jeremy / Koolhaas, Rem / Obrist, Hans Ulrich

174 Interview-Marathon: Dokumentieren
Schlögel, Karl / Koolhaas, Rem / Obrist, Hans Ulrich

177 Interview-Marathon: Dokumentieren
Kluge, Alexander / Koolhaas, Rem / Obrist, Hans Ulrich

178 Autorenliste
Arch

180 Baufokus: Materialien
Korwan, Daniel

Land ohne Avantgarde

Zwei Bücher, die in diesem Februar ausgiebig in der Presse besprochen worden sind, formulieren widerstreitende Positionen zur Rolle des Jahres 1968 für die Kultur des Nachkriegsdeutschlands, die auch bedeutsam sind für die Beurteilung der Nachkriegsarchitektur in ihrem Verhältnis zur Moderne. Dabei handelt es sich um „Rebellion und Wahn“ von Peter Schneider und „Unser Kampf. 1968“ von Götz Aly. Pauschalisiert lässt sich sagen, dass Peter Schneider einer inzwischen verbreiteten, eher positiven Betrachtungsweise folgt, die diese Jahre als längst überfälligen Bruch mit einem verschleppten Konservativismus sieht, der sich eine Kontinuität zur Nazizeit nicht mehr eingestehen wollte. Dagegen sieht Götz Aly die Rolle dieses Kulturbruchs eher überbewertet, weil Modernisierung schon zuvor begonnen habe unter dem Schutz eines „Heilschlafs“, in den eine überdrehte Generation versetzt worden war. Aber Skepsis ist angebracht angesichts der Ungenauigkeiten seiner Aussagen. Denn die Art des radikalen Erwachens aus dem „Heilschlaf“ der 50er und 60er Jahre traf vor allem die niedergehaltenen Zöglinge der Heilanstalten selbst, die ohne brauchbare Traditionen dastanden, die alles neu lernen mussten wie den aufrechten Gang in den Künsten.

Gerade die einst wilde Fraktion des „Proletkults“ oder der „Rotzöks“ (Rote Zelle Ökonomie), zu der sich Götz Aly zählt, die damals nur das nackte Klasseninteresse gelten lassen wollte, bekommt es nun hin, die „bleierne Zeit“ zu stilisieren als „Heilschlaf“ und damit der eifernden Abscheu vor Experiment und zersetzender Moderne in der Kiesinger Ära ein nachträgliches Entschuldigungsschreiben auszustellen. Peter Schneider, der sich in seinem Roman von 1973 autobiografisch mit der literarischen Figur des Jakob Michael Reinhold Lenz aus dem 18. Jahrhundert überlagert, steht hingegen für die Suche nach kultureller Kontinuität. Er greift auf eine Figur aus dem Romanfragment von Georg Büchner zurück, die erst wieder in dieser Generation lektürewürdig geworden ist. Die Wiederentdeckung der Literatur des Vormärz, die zeitgleich erfolgt wie unter Architekten das erwachende Interesse für den Konstruktivismus und die „goldenen 20er Jahre“, war doch gerade erst ein Verdienst der 68er-Generation und stützte sich dabei auf solche „Väter“ wie den Weltenwanderer zwischen den Politblöcken, den Germanisten Hans Mayer.

Peter Schneider gehört in seiner Generation zu denen, die sich um die Wiederkehr des Intellektuellen bemühten, den die Kulturrevolutionäre der 68er-Zeit gerade abschaffen wollten („dem Volke dienen“); der Intellektuelle wurde wiederentdeckt als jemand, der zwischen den Zeilen lesen kann; das 1946 von Dolf Sternberger und anderen verfasste „Wörterbuch des Unmenschen“ hatte diesen Begriff verteidigt, den die Nazis zum Schimpfwort gemacht hatten: „In wessen Munde der „Intellekt“ ein Schimpfwort ist – man erinnere sich an die Rede von der „Intellektbestie“! –, der wird, wenn ihm die Macht überlassen bleibt, die Erde wieder „wüst und leer“ machen ...“

Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Kuhnert, dann gilt Ihnen das Aufkommen und die Selbstbehauptung der Zeitschrift Arch , die mit dem Einschnitt von 1968 entstand, als ein Indiz für die Rolle eines intellektuellen Anspruchs. Eines Anspruchs auf eine konzeptionelle Denkebene, die dem Bauen vorgeschaltet ist und die sich mit Experiment und auch spekulativem Denken in der Kunst überschneidet. Auch um einen über die lokale Begrenzung hinausblickenden Dialog. Also um kommunikative Kompetenz.

Sie fragen zu Recht, warum es in Deutschland in den beiden ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit keine Zeitschrift oder Flugschrift gab, die sich wie anderswo mit konzeptioneller Architektur oder Polemik befasste. Und: ob da nicht eine Ursache zu suchen ist für den Verlust an internationaler Aufmerksamkeit für Architektur von hier, trotz vielem Reden über „Baukultur“.

Die Ciamesen
In Deutschland hatte die Nachkriegsgeneration nicht nur den Elan ihrer Jugend eingebüßt, sondern auch die Erinnerung an die Moderne verloren. Eine Zeitschrift wie BAU, die Otto Renner mit Unterstützung seines berühmten Bruders im Dezember 1947 im Saargebiet (das bis 1960 französisch war) gegründet hatte, blieb eine publizistische Ausnahme, auf wenige Ausgaben beschränkt. Grafisch an den Arbeiten des Bauhausmeisters Herbert Bayer orientiert, machte BAU vor allem mit den Ideen Le Corbusiers bekannt, dessen für Marseille geplante Unité als erster Bau der Moderne nach dem Krieg in Europa ein Zeichen setzte.

Ein Dilemma konzeptionellen Denkens hat sich bei den deutschen Teilnehmern des ersten Kongresses der CIAM 1953 in Marseille schon gezeigt. Die Gruppe ehemaliger Mitarbeiter Ernst Mays, die Sozialdemokraten um Werner Hebebrand, reklamiert für sich ein Erbe der Moderne, ohne es wirklich verstanden zu haben. Hebebrand erfindet später zum Erstaunen aller für sich den Namen „Ciamese“, als er 1959 die Abrisspläne verteidigt, die dem Kaufhaus Schocken von Erich Mendelsohn aus den 20er Jahren gelten. Städtebau ist für ihn ein urbanes Management, das zur Bürostadt Nord in Hamburg führt. Hardt-Waltherr Hämer und Ludwig Leo aus der jüngeren Generation haben noch kein Selbstvertrauen gefunden und hüten sich, in der Zeit des beginnenden Kalten Kriegs ihre Beziehungen zur linken Kultur der 20er Jahre offenzulegen oder gar rassische Verfolgung wie bei Leo einzugestehen. Oswald Mathias Ungers trifft ebenfalls auf distanzierte Aufnahme; Gropius läuft herum, des Deutschen offensichtlich nicht mehr mächtig.

Allein in Berlin gibt es im Umfeld von Max Taut an der Hochschule der Künste in Charlottenburg solche Lehrer wie Eduard Ludwig, Wils Ebert und Georg Neidenberger, die von den Erfahrungen des Bauhaus geprägt sind. Viele Erneuerungstendenzen bis in die 70er Jahre gehen auf den Einfluss dieser Schule zurück.

Als architektonische Qualität findet sich in dieser Zeit vor allem eine Prägung durch die Einflüsse Heinrich Tessenows oder eine Schweizer Handwerklichkeit, die Max Bill als hervorstechende Tugend der Moderne seines Landes bezeichnete. In der Zeitschrift Bauen und Wohnen, die seit Mitte der 50er Jahre eine gemeinsame Redaktion aus Deutschen und Schweizern hat, ist dies laufend dokumentiert worden. Defizite im Nachkriegsdeutschland werden – wie in der Literatur so auch in der Architektur – durch Orientierung an der Schweiz kompensiert: im Westen nach der Gründung der Hochschule für Gestaltung in Ulm 1953 durch die Arbeit von Max Bill und im Osten nach 1956 durch Hans Schmidt, den alten Kommunisten aus der Redaktion von ABC, der Streitschrift von Mart Stam, El Lissitzky und Hannes Meyer (der im Osten zunächst nicht über seine modernen Wurzeln spricht). Was die Schweizer Architektur selbst an utopischen Defiziten hat, oder was ihr als künstlerisch-experimentelle Dimension fehlt, lässt sich einstweilen über Genf und die Einflüsse Le Corbusiers ausgleichen.

Über Jahre leidet die Architektur in Deutschland unter einer doppelbödigen, geradezu irreleitenden Architekturdiskussion, die noch bis in die 70er Jahre die Beiträge von Jürgen Joedicke bestimmt und durchdrungen ist vom Missverständnis eines heroischen Beitrags Hugo Härings in den 20er Jahren als Alternative zur Bauhausmoderne. Alfons Leitl hat als Chefredakteur von Baukunst und Werkform nach 1947 immer wieder mit einem wechselnden Personal von Architekturheroen eine vermeintliche Polarität zwischen organischer Architektur und rationalistischer Architektur zum Epochekennzeichen und zum ausschließlichen Thema der Architekturtheorie erklärt.

In den frühen 50er Jahren steckt dahinter nichts weiter als die Begünstigung des Kirchenbauers Rudolf Schwarz gegenüber dem „Fabrikarchitekten“ Egon Eiermann. Indem Leitl diese Schlüsseldiskussion des ersten Nachkriegsjahrzehnts – in Italien wird sie von Bruno Zevi mit einer echten Rezeption der Moderne verbunden – mit einem eigentlich unpassenden Personal bestückt (einmal ist Poelzig organisch, dann wieder Wright oder Bruce Goff – gegen Mies und manchmal auch Eiermann), dabei aber immer den eigentlichen Organiker Scharoun auslässt, verdeckt er, worum es ihm eigentlich geht – die Positionierung von Rudolf Schwarz als Leitfigur des Wiederaufbaus. Was praktisch bedeutete, dass Leitl nicht nur Scharoun niederhielt, sondern die gesamte Theoriediskussion in einem wenig authentischen Rollenspiel verwirrte.

Immerhin ist Baukunst und Werkform im Westen das Leitorgan für den Aufbau einer Moderne aus den Resten des Werkbunds gewesen. Dabei führte Alfons Leitl eine Blockbildung weiter, die er schon in den ersten Jahren des Faschismus als Redakteur bei der Bauwelt probiert hatte und wobei er – in politischer Nähe zum katholischen Zentrum – den Zusammenschluss von Rudolf Schwarz und Otto Ernst Schweizer mit den Nazis Paul Bonatz und Julius Schulte-Frohlinde zu einer zentristischen Wertemoderne vergeblich propagierte. Darum kann er dann in den frühen 50er Jahren nur wenig entschieden gegen die Umarmungsversuche der Nobelclique im feinen Zwirn, Rudolf Wolters und Friedrich Tamms, aus dem ehemaligen Führungszentrum Albert Speers vorgehen, die den Wiederaufbau im Wirtschaftswunderzentrum Düsseldorf kontrollieren.

Erst in der Diskussion um das Bauhaus 1953 vor dem Hintergrund des gescheiterten Projekts von Mies van der Rohe für das Theater in Mannheim wird dieses verschleppte Unbehagen am Rationalismus der Moderne im Westen offenbar. Als Rudolf Schwarz – kaum zu bremsen durch die Redakteure im Zentralorgan Neue Zeitung der amerikanischen Reedukation – die Bauhausleute wegen ihrer lockeren Sitten und schrägen Architekturauffassungen zur Mitschuld am Kulturterror der Nazis heranzog. Denn in seiner Polemik 1953 ging es nicht nur um Glaskörper, sondern um Wohnen und eine drohende Auflösung traditioneller Familienstrukturen durch das „Kollektiv“ und um konstruktivistische Tendenzen im Bauen, wie sie der ohnehin in Deutschland völlig vergessene Laszlo Moholy-Nagy unterstützt hatte – „man trägt jetzt wieder Wellblech und menschliche Innereien“ (Rudolf Schwarz).

Aber eine für Deutschland besonders wichtige Architekturthematik, die der traditionalistische Moderne Rudolf Schwarz offensiv vortrug, hat damals eigentlich kein wirkliches Forum gefunden. Eigenartig, dass Schwarz kaum für sich einnehmen konnte, wenn er die zerstörten Städte als Thema einer konservativen Architekturauffassung reklamieren wollte, auch in Abgrenzung zu Egon Eiermann, der die Ästhetik der Stunde Null als Chance für die Abrechnung mit den alten wurmstichigen Städten empfand. Die Aversion Eiermanns gegen eine Rolle von Baugeschichte, die in den Entwurf hineinragt, prägt den Fachbereich in Karlsruhe bis heute. Diese in Analogie zur Literatur als „Kahlschlagarchitektur“ benennbare Haltung geht nahtlos in die Schnellstraßenplanungen Ende der 50er Jahre über, wo in Stuttgart im Jahr 1960 der Bau von Erich Mendelsohn mit Billigung Eiermanns weggeräumt wird und in Ostdeutschland wenige Jahre später in Potsdam aus offensichtlich politischen Motiven das Stadtschloss einer Schnellstraße weichen muss (obwohl doch dort nur geringe Fahrzeugdichten fluktuieren).

Es gab in Deutschland keine direkte Auswirkung der Diskussion, die Ernesto Rogers 1959 beim CIAM-Kongress in Otterloo mit den Smithsons geführt hatte über Autobahnschneisen und ihre zerstörerische Wirkung im Stadtbild von London. Die internationale Architekturdiskussion kam also selbst dort nur gefiltert an, wo sie existenzielle kulturelle Themen des Landes reflektierte. Egon Eiermann hat sich nie auf die Angebote der CIAM eingelassen, sie in Deutschland zu vertreten. Wirklich politisch dachte und argumentierte in dieser Zeit eigentlich nur Richard Döcker, der 1928 die Bauleitung der Weißenhof-Siedlung innegehabt hatte, als er sich 1953 für den Aufbau des Glaskubus von Mies als Theater in Mannheim ebenso starkmachte wie 1959 gegen den Abriss des Mendelsohn-Baus in Stuttgart – nach damaligem Verständnis ein Gegenmanifest des organischen Bauens zum Rationalismus von Mies.

Motion without Vision

Vergleicht man die Architektur- und Kunstdiskussion bis zum Ende der 50er Jahre einmal nur mit der in England, dann sind die Unterschiede augenscheinlich – Ausstellungen, Vorträge, Bücher; die Independent Group in London. Auch der Einfluss von Emigranten wie Nikolaus Pevsner und Arthur Korn auf Theorie und experimentelle Orientierung gehörte dazu. Das Buch „Vision in Motion“, das posthum in Chicago über die Arbeit Moholy-Nagys erschienen war (und das sich in Deutschland nicht einmal in der Bibliothek der Hochschule für Gestaltung in Ulm fand), war in London das einflussreichste Werk visueller und gedanklicher Inspiration. Die Ausstellung Theo Crosbys von 1956 „This is Tomorrow“ war auch durch die Typografie des Katalogs ein Ereignis. Sein Raumfachwerk als Pavillon zum Kongress der UIA 1961 in London hätte eigentlich den Delegierten aus beiden Teilen Deutschlands verdeutlichen müssen, was eine konstruktive Neuerung vermag, wenn sie mit den Entwicklungen von Kunst und Typografie verbunden wird. Und nicht nur als konstruktive Leistung zurücktritt wie beim Pavillon „Stadt von morgen“ zur Interbau 1957 in Berlin. Man muss nur einmal die beiden Kataloge nebeneinanderlegen – den aus London von 1956 und den aus Berlin von 1957 – und man hat die Zeit der Stagnation vor Augen, die eine ganze Generation bis nach 1968 noch als Lähmung erfährt.

Wie kompliziert die Konstitutionsbedingungen für eine theoretisch und experimentell orientierte Architektur in Deutschland damals waren, zeigt sich recht deutlich an der 1960 gegründeten europäischen Gruppe GEAM, an deren Entwicklung Architekten aus Deutschland wie Werner Ruhnau, Günter Günschel und auch Frei Otto einen sehr wichtigen und inzwischen vergessenen Anteil hatten. Eckhard Schulze-Fielitz, der nach 1961 mit seiner visionären Raumstadt bekannt wurde, entwarf 1963 zusammen mit Yona Friedman, der zu einer internationalen publizistischen Größe geworden ist, die Brückenstadt über den Ärmelkanal. Man muss seinen Weg ins utopische Denken der Raumstadt, mit der er gegen die Kleinhaussiedlungen polemisiert, als bewusste Distanzierung von der betonten Illusionslosigkeit der Generation der Väter verstehen. Sein Vater wird in den Erinnerungen von Paul Bonatz als ein Nationalsozialist beschrieben, für den sich utopisches Denken verbot, weil es in megalomanen Wahn ausgelaufen war. Visionäres Entwerfen war also der Versuch, auszubrechen aus der Blockade einer ganzen Generation, die das Zukunftsdenken in der Architektur gleichsetzte mit Größenwahn.

Götz Aly hat diese Zeit ohne Träume als Abgrenzung von einem bis zur Entleerung getriebenen Idealismus der faschistischen Bewegung gedeutet. Ausgerechnet die Architekturstudenten in den Jahren nach 1968 wussten die visionären Beiträge Schulze-Fielitz’ nicht zu schätzen und schimpften sie „Technokratie“. Da es in Deutschland keine polemische Publizistik im Umfeld der Gruppe GEAM gegeben hat – so wie Cimaise in Frankreich oder auch die Flugschriften von Archigram in England – hatten die Beiträge der Mitglieder dieser Gruppe hierzulande ziemlich punktuell Wirkung.

Als einziger Intellektueller verfügte Udo Kultermann in dieser Zeit über einen ausgearbeiteten Begriffsapparat, um diese Tendenzen zu verallgemeinern. Von ihm eigentlich hätte der Bildband kommen können zu den visionären Utopisten. Er kannte die Originale der suprematistischen Malerei von Kasimir Malewitsch ebenso wie die Projekte der noch unbekannten japanischen Architektur; mit Oswald Mathias Ungers machte er eine Ausstellung zur „Gläsernen Kette“. Dann, nach einer weiteren Ausstellung 1963 als Leiter des Museums in Mosbroich, die gleichzeitig jungen Künstlern wie Architekten, insbesondere denen von GEAM galt, wurde ihm bedeutet, dass er zwar als Leiter des Museums weiterbezahlt werden würde, aber Ausstellungen von ihm wollte man nicht mehr sehen. Mit seiner Übersiedlung in die USA 1964 verschwinden seine theoretischen Beiträge aus der deutschsprachigen Architekturpresse.

Wenn man das Intermezzo von Joseph Ryckwert 1958 in Ulm richtig versteht – seine Beiträge zu „Meaning and Building“, die weder in der Zeitschrift der Hochschule noch beim Schweizer Werkbund erscheinen können –, dann versteht man das Ausmaß einer vertanen historischen Chance.

„Heilschlaf“ oder „unter Quarantäne“ oder ganz einfach nur „örtlich betäubt“? Der Heilschlaf, so es ihn denn gegeben hat, ist Mitte der 60er Jahre, als Hans Filbinger die Schließung der Hochschule für Gestaltung in Ulm betreibt, in eine Phase eingemündet, die – im späteren Wortschatz der Studenten gesprochen – ganz einfach Repression war. Heute bedarf es geradezu archäologischer Akribie, um die verschütteten Diskussionen in Deutschland, die sehr wohl mit internationalen Diskussionen korrespondieren, wieder freizulegen. Als in Stuttgart 1967 die erste große Retrospektive zum Bauhaus veranstaltet wurde, waren es Studenten aus Ulm, die – geradezu in einem dem Zeitgeist vorauseilendem Ungehorsam – dem greisen Walter Gropius ein Megaphon aufnötigten, womit er sich recht beherzt für das Fortbestehen der Hochschule für Gestaltung einsetzte.

„Warum rufen Sie nicht gleich nach dem Staatsanwalt, Herr Schmidt?“

Während im Westen mit der Nachkriegsmoderne eine gefilterte Form für den labilen Konsens der Wiederaufbaujahre gesucht wurde, war es für den Osten geradezu charakteristisch, dass sich die führenden Architekten in allen Segmenten des Bauwesens – Edmund Collein, Gerhard Kosel, Richard Paulick, auch Hermann Henselmann, Hanns Hopp, sogar Kurt Liebknecht – damit abfanden, ihre Prägung durch die Moderne der 20er Jahre zu leugnen und allenfalls noch als inhaltliche Füllung für die stilistischen Vorgaben aus Sowjetrussland einzubringen. Insofern war die Entscheidung im Januar 1951, das populäre Denkmal von Mies van der Rohe für Liebknecht-Luxemburg nicht zu erneuern, ein Signal für die zukünftige Entwicklung der Architektur im Osten. Vielleicht war der Architekturstil der frühen 50er Jahre mit den biederen Fassaden der Wiederaufbauprojekte, der Alleen in Berlin oder Rostock, nicht nur eine Konzession an den kleinbürgerlichen Geschmack der Führungskader, sondern auch als einschläfernde Beruhigung benutzt worden, angesichts der radikalen sozio-ökonomischen Veränderungen, die sich vor dem Hintergrund der Zerstörungen in den Städten kaum mit revolutionärem Pathos zelebrieren ließen. Ein solcher „Heilschlaf“ wäre eine weitere Deutungsmöglichkeit für den bis zum Ende der 50er Jahre dominierenden Neoklassizismus.
Auch das, was es an Diskussionen über die Moderne im Osten gegeben hatte, geriet bald in Vergessenheit. Nur einmal, anlässlich der Weltfestspiele der Jugend 1951, hat es eine offen dokumentierte Diskussion gedanklicher Relevanz gegeben, in der Ludwig Renn, Schriftsteller und Offizier der Interbrigaden in Spanien, mutig und ohne Scheu den abstrusen Beiträgen des stilistischen Vordenkers Kurt Liebknecht entgegenhielt – nicht der Klassizismus, sondern das Bauhaus sei das nationale Erbe, an das es anzuknüpfen gelte.
Ansonsten war nur zwischen den Zeilen des offiziellen Organs Deutsche Architektur herauszulesen, dass es auch im Osten zu Diskussionen kam. Kaum dokumentierte Ausbruchsversuche gab es im Anschluss an die beginnende Industrialisierung des Bauens, als 1959 Hermann Exner, ein Schüler Adolf Behnes, sich der politischen Verdächtigungen des stalinistisch erstarrten Altlinken Hans Schmidt und seiner Angriffe auf Bauhaus und Nachkriegsmoderne mit dem Ausruf erwehren musste: „Warum rufen Sie nicht gleich nach dem Staatsanwalt?“

Die Artikulation einer Moderne im Osten zu Beginn der 60er Jahre hat nach der Zeit einer gedämpften Baukultur zwar andere Inhalte und Akzente als im Westen, nahm aber einen ähnlichen Verlauf. Zu Anfang des Jahres 1962 wurde Bruno Flierl Chefredakteur der Deutschen Architektur, die in den ersten zehn Ausgaben so etwas wie den theoretischen Kern für eine Moderne im Sozialismus formulierte. Flierl hatte wie seine Altersgenossen im Westen, Ludwig Leo und Günter Günschel, in den frühen 50er Jahren die gleichen Lehrer an der Hochschule der Künste in Charlottenburg gehabt. Eine Ausgabe berichtete über die Metabolisten und neue urbanistische Tendenzen; ihre gewaltigen Wohnstrukturen wurden mit den Ideen Le Corbusiers für Unités verschmolzen und mit der alten Diskussion um Hauswirtschaft und Kommunehäuser verbunden. René Sanger, der beratender Ingenieur beim Bau des französischen Pavillons 1958 bei der Weltausstellung in Brüssel war, wurde bereits im gleichen Jahr Mitglied der ostdeutschen Bauakademie und vermittelte dort die Grundlagen für die Technologie des Schalenbaus. Der Schalenbau wurde zur Kompensation für die in Ostdeutschland strikt abgelehnte Tendenz zu plastischen Architekturvolumen im Sinne einer organischen Architektur à la Häring und Finsterlin, die sich gleichzeitig im Westen regte.

Schon 1963 verebbt der programmatische Impuls, den Bruno Flierl in die Architekturzeitschrift getragen hatte. Im Jahr 1965 erscheint in Ostdeutschland zwar, von ihm herausgegeben, ein Reprint mit Beiträgen aus dem Organ der Avantgarde ABC aus den 20er Jahren, in dem Hans Schmidt sich nun endlich zu seinen Ursprüngen in der Moderne bekennt; doch das erste informative Buch zum Bauhaus des Kunsthistorikers Lothar Lang, das ebenfalls 1965 in der DDR erscheint, ist nicht in einem Architekturverlag, sondern im Verlag der ostdeutschen Formgestalter publiziert worden.

Obwohl die Orientierung der DDR an der französischen Architektur den Westen Deutschlands mit dem Interesse am industriellen Bauen geradezu übersprang, hat sich im Osten kein Einfluss der französischen Nachkriegskunst wie der Ecole de Paris bemerkbar gemacht. Insofern ist die Behauptung missverständlich, es habe in Ostdeutschland seit Mitte der 60er Jahre eine Wiederentdeckung des Bauhauses gegeben. Denn sie war nicht nur sehr zurückhaltend, sondern auch sehr selektiv, was das Interesse für die Bauhauspädagogik und ihre Förderung von Individualität und individuellem Ausdruck anbelangte. Eine Analyse der Kunstpädagogik in Ostdeutschland für diese Periode ist längst überfällig ...

„Die Agenten der Kulturkritik isolieren“
Lieber Herr Kuhnert, der Rückblick auf den Neubeginn der Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg, bei dem man sich langsam aus der Gegenwart an den Rand der eigenen Jugend herantastet, findet immer einen Einschnitt am Übergang von den 60er zu den 70er Jahren. Nicht, weil sich da nur ein Generationskonflikt entladen hätte, sondern weil es damals international zu einem erwachenden historischen Bewusstsein gekommen ist. Der Begriff der „Politisierung“ gibt nur eine grobe Orientierung, die mit solchen programmatischen Werken wie „Kapitalistischer Städtebau“ aus dem Jahr 1972 von Hans G Helms und Jörn Janssen verbunden ist. Nicht einmal die „Funktionalisten“ haben ihre Kunstpraxis so reduktionistisch definiert. Die Frage ist nun eigentlich, inwiefern eine kritische Architekturtheorie in den letzten Jahrzehnten aus diesen Anfängen heraus zu komplexeren Ansätzen geführt hat und über eine Denunziation experimenteller Praxis in Gestalt von „Agenten der Kulturkritik“ hinausgekommen ist?

Nachdem ich jetzt nochmals die Texte von Peter Neitzke, Jörn Janssen oder auch Jörg C. Kirschenmann gelesen habe, verbietet sich eigentlich der Ausdruck „Kinderkrankheiten“ dafür, denn er wäre eine Entschuldigung für die immer wieder schweigend hingenommene Simplifizierung kultureller Zusammenhänge, die man allenfalls einer pauperisierten Klasse beim Betreten des Elfenbeinturms zugestehen kann. War dieser sich auf „Entlarvung“ und Ideologiekritik beschränkende Ansatz der Anfang zu einer kritischen Architekturtheorie oder ihre Diskreditierung? Jedenfalls war es der spezifisch deutsche Beitrag in einer internationalen Bewegung des erneuten Interesses für Architekturtheorie und die Geschichte der Moderne. Da findet sich in dieser vielgelesenen Schrift eine summarische Bemerkung über die „Alpine Architektur“ Bruno Tauts, bei der man sich schon damals hat fragen müssen, was denn solch gefährlicher Unsinn über den im Exil gestorbenen und auch am meisten vergessenen Architekten der 20er Jahre sollte: „Ein vorzügliches Beispiel für die Korrespondenz zwischen städtebaulichen und faschistisch-monopolistischen Ordnungsvorstellungen geben die Texte und Skizzen jenes unter dem Namen „Die gläserne Kette“ bekannt gewordenen Trutzbundes deutscher Architekten ...“ Oder was sollte die Gleichsetzung von Hans Scharoun mit dem Nazi-Ideologen Alfred Rosenberg, um eine Kontinuität der Nachkriegsmoderne mit der Architektur des Faschismus zu belegen. Insofern muss man Götz Aly bei seiner Schelte (die eine Selbstkritik ist) auf die Generation der 68er Recht geben.

Es gibt nur einen sehr begrenzten Einfluss des ersten Kongresses zur „Architekturtheorie“, den der Lehrstuhl von Oswald Mathias Ungers im Dezember 1967 in Berlin veranstaltete. Der Kongress schloss an die Seminare an, in denen Ungers seit 1964 den internationalen Entwicklungsstand von Entwerfen und konzeptioneller Arbeit zu systematisieren versuchte – durch Kontakte zu Team X, durch Diskussion der Stadttheorie und durch Auseinandersetzung mit den Traditionen Mies van der Rohes; dazu wurde eine ganze Heftreihe publiziert. Bis auf den Beitrag von Julius Posener aber blieben die Vorträge aus Deutschland hinter dem zurück, was Colin Rowe, Reyner Banham oder Kenneth Frampton zum Zusammenhang von Architektur, Kultur und Gesellschaft zu sagen hatten.

Die tieferen Wurzeln für die eigenartig konstruktiv-praktizistische Rollenzuweisung deutscher Architektur in der internationalen Arbeitsteilung hat mit dieser eigenen Gebrochenheit in Theorie und Experiment mehr zu tun als man gemeinhin wahrhaben möchte. Eine Freiheit des künstlerischen Ausdrucks und der sinnlichen Anschauung ließ sich durch sachliche Analyse allein, und sei sie noch so scharf, nicht wiederfinden. Wen wundert es, dass man in New York oder auch Paris den Absolventen solcher Architekturschulen zunächst einmal wenig Neugier entgegenbrachte, auch wenn es manchmal ein zweckbestimmtes Missverständnis war, Architekten aus diesem Land allein eine baukonstruktive Kompetenz zuzubilligen.

Für Günter Günschel, 6. Juni 1928 – 2. Januar 2008

ARCH+, So., 2008.04.20

20. April 2008 Thilo Hilpert

Von triebgesteuerten Überzeugungstätern, Nerds und Pornografie

(SUBTITLE) Mike Meiré im Gespräch

Anh-Linh Ngo: Sie sind als Zeitschriftengestalter mit Titeln wie brand eins, Kid’s wear oder zuletzt 032c bekannt geworden. Darüber hinaus sind Sie in ganz unterschiedlichen Disziplinen zuhause, mit Apart haben Sie früh in Ihrer Laufbahn selber eine Zeitschrift gemacht, Ihr Tätigkeitsfeld erstreckt sich zudem auf Kunst, Fotografie, Werbung sowie Strategie- und Branding-Beratung für Firmen. Ihr Büro funktioniert eigentlich wie eine Agentur. Wie gehen Sie mit diesen Unterschieden um?

Mike Meiré: Ich habe für mich erkannt, dass ich einer transversalen Kultur angehöre, die sich quer zur funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft bewegt. Ich stelle mich aktiv diesem Zerfließen und dem Ineinanderfließen der kreativen Disziplinen. Wir erleben heute das Phänomen, dass Mode, Design, Musik, Architektur zusammenkommen und man daraus etwas Eigenes generieren kann. Als Gestalter befinde ich mich in der paradoxen Situation, dass ich eher kuratiere als gestalte. brand eins als Wirtschaftszeitschrift macht mir großen Spaß, weil wir es geschafft haben, Wirtschaft als elementare Kraft der Gesellschaft anders als gewohnt zu vermitteln. Ich arbeite da seit vielen Jahren mit einer Redaktion zusammen, die manchmal richtig „hardcore“ redet, man merkt, dass es ihnen um Aufklärung geht. Bei Kid’s wear haben wir es mit einer anderen visuellen und inhaltlichen Kultur zu tun, die ganz andere Schwingungen produziert. Zuletzt kam 032c dazu, wo es um so unterschiedliche Felder wie Politik, Fashion, Kunst und Design geht. Ich achte bei Anfragen für die Gestaltung einer Zeitschrift sehr darauf, aus welchem kulturellen Bereich diese kommt, und im Falle von Arch hat mich das Thema Architektur sofort angesprochen.

ALN: Wie ist Ihr Verhältnis zur Architektur?

MM: Ich habe im Laufe der Zeit festgestellt, dass sich meine Interessen um die drei Begriffe Spirit, Speed und Space drehen. Das ist eine alberne Alliteration, aber diese Formel umreißt ganz gut, worum es mir bei den unterschiedlichen Aufgaben geht: die Haltung, die hinter den Inhalten steht, das Tempo, das diese Inhalte im kulturellen Kontext brauchen, wobei es die ganze Bandbreite von Be- und Entschleunigung umfasst, je nach dem, was richtig ist. Und nicht zuletzt habe ich gespürt, dass ich extrem sensibel gegenüber Räumen reagiere. Ich glaube daran, dass Räume durch ihre physische Präsenz unser Denken beeinflussen, das ist für mich das Interessante an Architektur. Der freie Raum hier in der Factory regt mich zum freien Denken an. Wenn man immer in kleinen Nischen sitzt, dann denkt man vielleicht auch immer in kleinen Nischen. Man sagt ja, dass wir zuerst unsere Häuser formen, dann formen sie uns ...

ALN: Winston Churchill: „We shape our buildings; thereafter they shape us.“

MM: Genau. Ich glaube, dass das zum Teil stimmt. Ich habe es gemerkt, als ich in Tokio war und das Prada-Gebäude von Herzog & de Meuron besucht habe. Ich dachte, ich würde das Gebäude kennen, weil ich es in unzähligen Publikationen gesehen habe. Aber wenn man physisch anwesend ist, dann ist das etwas ganz anderes. Das Gleiche passiert in der Kunst, man kennt die Abbildungen, aber wenn man im Museum vor den Bildern steht, entwickeln sie eine Aura. Ich glaube, dass Räume deshalb für mich wichtig sind, weil sie der real fassbare Kontext für eine Empfindung sind. Leider sind wir in Deutschland ganz gut in mittelmäßiger, uninspirierter „Telekomarchitektur“. Das Problem mit mittelmäßiger Architektur ist ja nicht, dass sie hässlich ist. Es ist vielmehr, dass wir um diesen Raum der Möglichkeiten beraubt werden, der uns daran erinnert, welches Potential in uns Menschen schlummert. Darin sehe ich auch die wahre Pflicht der Architektur, sie ist ein physisches Momentum, das uns kurz aus der effizient funktionierenden Alltagsstruktur entrückt. Wir haben allerdings zu wenige moderne, zukunftsorientierte Räume, die uns diese mögliche Erfahrung vermitteln.

ALN: Sie sprechen damit ein tiefgreifendes Problem an, das mit der spezifisch deutschen Auseinandersetzung mit der Moderne zu tun hat und weit in die Nachkriegszeit zurückreicht, wie es Thilo Hilpert in seinem Beitrag „Land ohne Avantgarde“ analysiert hat. Was mir jedoch auffällt, ist, dass Sie den Begriff modern sehr häufig benutzen. Was bedeutet es für Sie, modern zu sein? Ich frage auch deshalb, weil es das Selbstverständnis von Arch berührt. Wir sehen uns im Sinne von Habermas als Teil einer unvollendeten Moderne, wobei Moderne als Bewegung, als Projekt, an dem es zu arbeiten gilt, und nicht als Stil zu verstehen ist. Otl Aicher, der lange Zeit das Erscheinungsbild von Arch bestimmt hat, sprach von einer „anderen Moderne“. Es gibt also ganz unterschiedliche Konnotationen. Was heißt es heute, modern zu sein angesichts großer antimoderner Tendenzen in der Gesellschaft?

MM: Ich denke, es ist wichtig, sich zu vergewissern, woher man kommt. Ich habe mich sehr früh, vielleicht mit 17, für das Bauhaus interessiert. Ich habe versucht, diese Ideen mit meiner eigenen Zeitschrift Apart in die Gegenwart zu überführen. Modern zu sein bedeutete für mich damals, dass ich mir eine eigene Kultur schaffen kann, eine Kultur, in der ich meine eigene Typografie entwickle, meine eigene Zeitschrift mache, in der ich über Dinge berichte, die mich interessieren. Wenn man es verallgemeinern will, so geht es letztlich um Architektur, also darum Räume zu bauen, eine Welt zu erschaffen, in der man sein eigenes „Theatrum“ gestaltet, wobei alles von einer nach vorne gerichteten DNA durchzogen ist.
Ich habe allerdings irgendwann gemerkt, dass ich in dem „Bauhaus-Gebäude“ gefangen war. Vor allem in den 80ern, als ich mir das Diktat auferlegt habe, nur mit einer Schrift, mit der Neuen Helvetica, zu arbeiten. Es ging nicht darum, mich zu disziplinieren. Es ist nur manchmal hilfreich, wenn man sich in seinen Möglichkeiten limitiert, gerade wenn man glaubt, man sei kreativ. Innerhalb dieser selbst gesteckten Limitierung kann man dann versuchen, Überraschungen zu produzieren. Man denkt dann nicht mehr über den Wechsel einer Schrift nach, sondern eher darüber, ob man groß oder klein schreibt, die Schrift mittig, links- oder rechtsbündig setzt, was man mit dem Spacing, was mit dem Durchschuss macht.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Das war eine gute Schule, aber ich habe auch gemerkt, dass es eine Sollbruchstelle braucht, und diese Sollbruchstelle ist der moderne Aspekt der heutigen Zeit. Ich glaube, heute modern zu sein bedeutet, die Sollbruchstelle auszuhalten. Es ist die Erkenntnis, dass das Leben nicht nach einer Agenda funktioniert. Modern benutze ich im Sinne von progressiv. Wir leben schließlich nicht von der Vergangenheit, sondern von der Zukunft. Dennoch müssen wir zurückschauen, weil wir eine Herkunft haben. Aber diese Herkunft unterliegt immer einer Transformation. Ein gutes Beispiel aus der zeitgenössischen Kunst ist die Neo-Moderne, die diesen Rückgriff auf die Moderne wagt, aber eigentlich implizit das Scheitern dieser Utopie zum Thema macht. Ruinöse Malerei nennt beispielsweise der Maler Alexander Lieck seine Bilder, die sich auf die konstruktive Avantgarde bezieht. Er benutzt die Moderne als Matrix der Vergangenheit, um darüber wieder andere Schichten zu legen.

ALN: Was können wir durch den Rückblick lernen? Dieses Heft ist ja ein solcher Rückblick, der in die Zukunft gerichtet ist.

MM: Wir haben natürlich den Vorteil, dass wir heute zurückblicken und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen können. Ich glaube, dass Leute wie Otl Aicher in ihrem zeitlichen Kontext eher die Aufgabe hatten, Qualität sichtbar zu machen. Sie sind aber manchmal Opfer ihrer eigenen Ideologie geworden, weil sie Dinge zu sehr manifestieren, festschreiben wollten. Im Gegensatz zu früher muss man heute nicht mehr Qualität sichtbar machen. Es geht heute eher darum, eine Haltung auszudrücken. Denn wir orientieren uns heute mehr an Haltungen, die selbstverständlich mit einer Qualität gekoppelt sein müssen, aber man muss sie nicht mehr rein formal betrachten. Deshalb arbeite ich in unterschiedlichen Stilen, immer aus dem Kern einer Sache heraus, und das nenne ich „Ästhetik für Substanz“. Ich glaube, als Gestalter befindet man sich heute in der Rolle eines Agenten, der spüren muss, für welche Unternehmung es welcher kulturellen Codes bedarf, die es dann zu visualisieren gilt. Allerdings ist das Produkt nur dann glaubwürdig, wenn diejenigen, die den Inhalt machen, sprich die Redaktion, tatsächlich diese Kultur auch ein Stück weit nachvollziehbar leben kann. Wenn das zutrifft, hat man als Gestalter dann das Glück, etwas zu produzieren, das kulturelle Relevanz besitzt.

ALN: Vielleicht bedarf es einer gewissen Radikalität, um kulturelle Relevanz zu erzeugen. Damit sind wir bei der Frage angelangt, die Sie vorhin kurz angeschnitten haben und die wir in diesem Heft implizit behandeln, nämlich warum seit geraumer Zeit im Bereich der Architektur, ganz anders als in der Kunst, kaum relevante Impulse von Deutschland ausgegangen sind. Diese Situation spiegelt sich in der Medienlandschaft wider. Wenn wir die Zeitleiste der „Radikalen Architektur der kleinen Zeitschriften 196X–197X“ in diesem Heft betrachten, dann fällt auf, dass im Gegensatz zu Ländern wie England, Italien, Spanien, Österreich, Amerika oder Frankreich, also Länder, die kontinuierlich wichtige Beiträge geliefert haben und liefern, in Deutschland eine solche Entfaltung an Publikationsformaten und Inhalten ausgeblieben ist. Arch bildet darin die einsame Ausnahme. Fern von jeglicher Arroganz kann man darin das Fehlen eines Diskurses ablesen, unter der die deutsche Architektur, aber auch Arch , strukturell leidet. Die Synopse zeigt symptomatisch das, was man als Radikalitätsdefizit im diskursiven Sinne nennen könnte.
Sie haben daran angeknüpft und ein Konzept erarbeitet, das Sie als „visuell konsequente Radikalisierung des Inhalts“ beschreiben. Wie sieht heute die „radikale Architektur“ einer kleinen Zeitschrift aus, Architektur im doppeldeutigen Sinne als Aufbau der Zeitschrift und als Architektur, die darin abgebildet wird.

MM: Es ist natürlich als Deutscher besonders schwierig, von Radikalisierung zu sprechen. Das kann schnell missverstanden werden. Aber ich denke, wir haben keine andere Chance. Wir leben heute in einer unglaublichen Marketingwelt. Ich habe in den letzten 20 Jahren hautnah mitbekommen, wie Marken aufgebaut werden, wie sie sich bestimmter kultureller Codes bemächtigen. Ich habe ja selbst meinen Teil dazu beigetragen. Wir sind aber an einem Punkt angelangt, wo man das Gefühl der Gleichmacherei nicht mehr loswird. Im Zuge der Globalisierung setzt sich so etwas wie ein internationaler Stil durch, ein geschmäcklerischer Minimalismus. Wenn ich heute von Radikalisierung spreche, dann meine ich das eigentlich eher im Sinne von Josef Beuys als Aufruf zur Alternative. Wir haben zu viel vom Ewiggleichen, was es braucht, ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Und ich glaube, den kriegen wir in dieser weichgespülten Medienkultur nicht. Wir brauchen wieder eine bestimmte Form von Antiperfektionismus. Ich möchte nicht professionell sein, ich möchte stattdessen das Charismatische ausarbeiten. Ich versuche eher das radikale Moment darin zu definieren, dass es den Charakter des Andersartigen zulässt.

ALN: Was heißt das konkret für das Redesign?

MM: Nachdem wir die alten Hefte durchgesehen haben, habe ich mich gefragt, warum ich die Relevanz, die diese Zeitschrift inhaltlich in der Szene hat, nicht fühlen kann? Ich bin ja kein Typograf im klassischen Sinne wie Erik Spiekermann oder Neville Brody, aber ich hatte das Gefühl, dass es damit zusammenhängt, dass die Rotis, die an sich eine wunderschöne Schrift ist, heutzutage eine solche Corporate-Typografie geworden ist, dass sie für mich unweigerlich nicht nach einer Alternative aussieht, sondern den Eindruck eines weiteren Corporate-Magazins vermittelt. Sie mag ursprünglich eine andere Intention gehabt haben, aber die Wahrnehmung hat sich gewandelt, so dass das Schriftbild der Rotis für Arch kontraproduktiv geworden ist.
Gerade in der heutigen Marketingwelt, in der Nischen besetzt werden, um nur ein weiteres Marketingprodukt zu kreieren, brauchen wir mehr denn je den Idealismus von einzelnen Überzeugungstätern, die eine Alternative anbieten. Ich habe auch deshalb spontan zugesagt, weil ich glaube, dass ich es bei Arch mit einer solchen Truppe von echten Überzeugungstätern zu tun habe, die so viel Idealismus und einen großen wichtigen Teil ihrer Lebenszeit dafür einbringen. Deswegen wollte ich bei dem Redesign von Arch wieder zurück zu den Wurzeln, aber nicht in einem nostalgischen Sinne. Vielmehr um an den Punkt anzuknüpfen, wo ein Bewusstsein, ein Sendungsbewusstsein aufgekommen ist, das sich in Form einer Zeitschrift verselbständigt hat. Die erste Ausgabe vor genau 40 Jahren in ihrem konsequenten Schwarz-weiß-Design mit dem klaren Arch Logo hatte die Form eines Manifestes. Ich sehe in Arch nicht nur Architektur, sondern auch den Archetyp, daher wollte ich wieder etwas Archetypisches schaffen, aber in einem heutigen Sinne, in der heutigen Zeit.
Die meisten Architekturzeitschriften sind heute hyperprofessionell gemacht, dadurch werden sie aber auch Opfer ihrer eigenen Professionalität in der Darstellung. Alles sieht super aus, fantastische Bilder, beste Geschichten, aber man kriegt gar nicht mehr mit, was das Anliegen ist. Dadurch wird alles redundant, ist nur noch Geräusch, wenn auch schönes Geräusch. Aber was ich wollte, um in dieser Metapher zu bleiben, ist, Arch durch die Gestaltung wieder zu seiner ursprünglichen Sprache zu verhelfen. Und deswegen wollte ich weg von den Rotis-Konditionierungen im Sinne eines Corporate-Magazins, um wieder deutlich zu machen, dass es hier um eine Form von Anarchie geht. Eine gewisse Rohheit, eine Ungeschliffenheit, die nicht vordergründig zu gefallen versucht. Mit brand eins habe ich so etwas wie eine klassische Schönheit des Feuilletons definiert, was mir nach wie vor wichtig ist, denn ich glaube weiterhin an die Kraft der Schönheit. Aber ich glaube auch, nachdem heute alles schön aussehen kann, wird diejenige Schönheit immer wichtiger, die sich erst auf dem zweiten Blick erschließt. Wenn man als Leser dieses Heft wirklich durchgearbeitet hat, wird man erkennen, wie wertvoll es geworden ist; durch die Aneignung entsteht so etwas wie eine Kostbarkeit. Man muss heute eher ein antizyklisches Gestaltungsverhalten an den Tag legen, das jetzt mit dem Label „Ugly“ versehen worden ist, aber um Hässlichkeit geht es gar nicht, sondern im Falle von Arch ist es dieses brutale Bekenntnis zum Inhalt.

ALN: Wie haben Sie dieses Bekenntnis in die Gestaltung übersetzt?

MM: Indem ich die Typo fast bis zum Rand ausgedehnt habe. Das heißt, ich möchte so wenig Weißraum wie möglich haben, weil jede Seite wichtig ist; deswegen muss die Seite von oben bis unten vollgeschrieben sein. Oder die Seiten müssen mit Bildern gefüllt sein. Ich bin davon überzeugt, dass schöner, ausbalancierter Weißraum heute von mündigen Lesern als Design-Geste gelesen wird. Und ich finde, jetzt ist mal Schluss mit Design. Wir brauchen erstmal wieder Aufrichtigkeit. Also keine Verschönerung, keine Make-up-Prozesse mehr, das meine ich mit „Ästhetik für Substanz“. Diese Substanz muss natürlich geliefert werden, und da gibt es nicht viele. Arch gehört zu den wenigen, die Substanz liefern. Dementsprechend macht es auch Spaß, das Ganze so umzudrehen, weil ich weiß, dass es nicht darum geht, Grauwerte zu strukturieren, sondern Dringlichkeit zu gestalten.
Arch ist aber auch kein Museum, wir schauen nicht nostalgisch zurück, daher bringen wir bewusst die vielen Faksimiles, die wir als Beweisführung für die These der radikalen kleinen Zeitschrift haben, nicht mit einem weißen Passepartout und stellen sie dadurch auf einen Sockel, sondern wir zoomen rein, wir sind respektlos im Umgang mit ihnen. Ich möchte diese vermeintliche Feinheit ausblenden, ich möchte, dass es wirklich into your face ist oder besser into your soul bzw. into your brain. Es muss also unmittelbar, direkt sein. Ich glaube, dass auch Architektur so funktionieren muss, sie darf nicht kalkuliert erscheinen. Beim Design habe ich zu häufig das Gefühl, dass alles bis ins Kleinste kalkuliert ist. Das Problem ist doch, dass heute alles einer Absicht folgt. Und diese Absicht wird vorgegeben, sie ist das Ergebnis eines Businessplans. Was ich wieder einfordere, ist Absichtslosigkeit.

ALN: Genauso hat Baudrillard Radikalität einmal definiert: „losgelöst von aller Bedeutung, aller Finalität, aller Kausalität“. Etwas, das über sich hinausweist, das nicht ein bestimmtes vorgegebenes Programm zu erfüllen oder die Realität widerzuspiegeln versucht. – Was hat es mit dem schwarzen Balken auf sich, der sich auf jeder Seite wiederholt?

MM: Der schwarze Balken, der oben auf der Seite steht, stellt ein solches radikales Moment dar. Man kann ihn irgendwie stilistisch lesen, aber er ist einfach eine Konstante, die sich ganz radikal oder stoisch über jede Seite durchquält. Es würde ja reichen, den Balken lediglich auf der ersten Seite einer Rubrik einzusetzen und dazwischen nicht zu wiederholen. Nein, er ist wie ein Stempel, wie ein Gütesiegel, noch mal drauf, noch mal drauf und noch mal drauf. Ansonsten ist die Gestaltung möglichst schwarz-weiß und ungeschönt, Dinge sind grob wie mit der Nagelschere freigestellt. Schließlich geht es nicht um Perfektion, auch nicht darum, einen Preis für die beste Lithografie zu bekommen, sondern es geht um einen Moment aufrichtiger Auseinandersetzung, darum, das Zeitschriftenmachen als eine Art Schöpfungsprozess zu zeigen. Und am Ende dokumentiert das Heft an sich diesen Findungsprozess, diese Auseinandersetzung. Wir knüpfen damit an jenen Moment an, als Menschen zusammenkamen, die nichts über das Magazinmachen wussten, aber wussten, sie mussten der Welt etwas mitteilen. Und dieses Gefühl, diese Dringlichkeit möchte ich im Design spürbar machen.

ALN: Diese Dringlichkeit umschreiben Sie mit dem Begriff des Manifestes. Sie sagten, Arch müsse die Sprache eines Manifestes sprechen. Nur wissen wir allzu gut, dass die Zeit des Manifestes vorbei ist. Stattdessen haben wir es heute mit „passiven Manifesten“ zu tun, wie es Rem Koolhaas während des Interview-Marathons formuliert hat. Diese Erkenntnis durchzog wie ein roter Faden viele Gespräche, die er und Hans Ulrich Obrist im Rahmen der Teilnahme von Arch am Zeitschriftenprojekt der documenta 12 geführt haben. „Passives Manifest“ heißt, dass es heute nicht darum geht, irgendeine Überzeugung oder Eingebung zu verkünden, sondern aus der sehr genauen Beobachtung der Wirklichkeit heraus Dinge so zu verdichten, dass sie den Charakter eines Manifestes annehmen.

MM: Das ist eine perfekte Beschreibung dessen, was wir wollten. Ein Manifest als hoch verdichtetes Angebot. Das Radikale dabei ist, dass wir es so verdichten, dass man die härtere Gangart spürt. Man kriegt heute ja praktisch jedes Design hinterher geworfen, alles ist verfügbar, deswegen hat der Biedermeier tausend Möglichkeiten, sich zu tarnen.

ALN: Damit sprechen Sie ein inhaltliches Problem der Medien an. Aber es gibt daneben auch eine medientheoretische Ebene, die wir im Heft mit dem Exkurs „Buchdruck“ beleuchtet haben. Die These lautet, dass, um es mit Victor Hugo zu sagen, „der menschliche Gedanke mit der Änderung seiner Form auch die Ausdrucksweise ändern werde.“ Das bedeutet, wenn sich die Medien, mit denen wir unsere Gedanken ausdrücken, ändern, unsere Art zu denken sich ebenfalls ändern wird. Wir haben den Bogen bewusst weit gespannt, angefangen bei der einschneidenden medientechnischen Revolution des Buchdrucks, über die 20er Jahre hin zu der Blüte der kleinen Zeitschriften in den 60er und 70er Jahren, die als eine Reaktion auf neue Möglichkeiten im Printbereich gelesen werden kann. Die Digitalisierung haben wir nicht behandelt, weil wir in den kommenden Heften darauf eingehen wollen. Wie denken Sie werden sich die digitalen Medien auf das Zeitschriftenmachen auswirken?

MM: Ich glaube, die ewige Diskussion darum, dass die digitalen Medien die Zeitschriften plattmachen werden, hat sich erübrigt. Ich glaube sogar, dass die Zeitschriften dadurch noch kostbarer geworden sind. Das Medium ist ein Traum, die haptische Qualität, das Knistern beim Blättern, der Duft. Andererseits besteht die digitale Möglichkeit darin, dass man heute ohne viel Aufwand Zeitschriften selber machen kann. Es geht schneller, professioneller im technischen Sinne.

ALN: Es bestehen somit eigentliche ideale Voraussetzungen für das, was in den 60ern und 70ern passiert ist.

MM: Ja, die Chance der digitalen Medien besteht gerade in ihrer schnellen Machbarkeit. Aber derzeit ist das meiste absolut belanglos, die Sachen sind zwar super gestaltet, kommen wichtig daher, aber es sind vorwiegend frisierte PR-Texte. Man muss richtig suchen bis man Dinge entdeckt, wo das Visuelle und der Inhalt eine fruchtbare Verbindung eingehen. Das Problem ist, dass die Leute zu wenig wagen. Alles sieht toll aus, weil man heute alles toll aussehen lassen kann. Aber das ist alles nur Make-up. Ich glaube, das Grundproblem liegt darin, dass es nur ganz wenige Überzeugungstäter in den Redaktionen gibt, die eine Idee, eine Haltung haben, für die sie auch einstehen. Das ist sicherlich auch ein Problem der Verlage, die einfach Geld verdienen wollen. Nicht, dass man nicht Geld verdienen will, aber man muss erstmal eine Idee haben, man muss eine Haltung gegenüber den Dingen entwickeln, die in der Welt passieren. Mitte der 90er habe ich drei Jahre mit Peter Saville das Joint Venture „The Apartment“ in London gehabt. Wir haben kaum gearbeitet, wir saßen immerzu auf dem Sofa und haben geredet. Das ist auch eine wahnsinnige Qualität von Saville, dass man sich erst einmal über die Dinge im Klaren sein muss, bevor man beginnt. Es geht um Stoßrichtungen, um Intensität. Wir haben heute zu viele talentierte Tuner. Ich glaube, Talent ist das geringste Problem, das wir in Deutschland haben, vielmehr ist es ein Fehlen an historisch verwurzelter Haltung, an radikalem Engagement, um Dinge zu erschaffen, die für den Diskurs relevant sind. Dinge, die die richtige Schwingung haben. Manchmal ist diese Schwingung richtig gefährlich, vielen vielleicht zu gefährlich.

ALN: Ihr Verhältnis zur Typografie ist ...

MM: ... konzeptionell, absolut konzeptionell. Ich bin kein klassischer Typograf.

ALN: Abgesehen davon, dass die Futura in der ersten Arch benutzt wurde, gibt es für Sie andere Gründe, sie jetzt mit der Times wieder einzuführen?

MM: Das führt uns wieder zu der Frage zurück: Was heißt heute modern? Ich arbeite in der Regel mit drei, vier Schrifttypen, darunter die Helvetica oder die Futura als Grotesk. Für mich steht die Futura nicht allein wegen ihres Namens für Modernität. Was ich an ihr mag, ist, dass sie so geometrisch aufgebaut, so konstruiert ist. Auch die Moderne ist ja eine Kopfgeburt, ein Konstrukt. Die Futura besitzt eine Reinheit, die ich wieder entdecke. Das sieht man zum Beispiel ganz gut am kleinen a. Bei der Helvetica hat man einen Bogen drüber und einen kleinen Bauch, bei der Futura lediglich einen Kreis und einen Strich. Die Futura ist im Grunde eine Architekturschrift. Sie hat mehr Rückgrat. Ihre Gangart ist linearer, radikaler als die Helvetica.
Und wenn sich Dinge für mich noch auf einer Gedanken- oder Theorieebene befinden, dann arbeite ich gerne mit einer Schreibmaschinenschrift, also der Courier. Und wenn ich den Leser feuilletonistisch zum Lesen verführen, ihn auf eine andere Ebene überführen möchte, damit er sich in der Geschichte verliert, dann kommt die Times als Serif zum Einsatz, weil sie den Duktus eines Buches vermittelt. Aber Arch ist kein Buch, und die Courier würde auch nicht funktionieren. Die Futura gibt dem Layout eine gewisse Gradlinigkeit, die aber durch eine gewisse Rotzigkeit gestört wird. Wir werfen immer wieder Sand ins Getriebe. Das sind beispielsweise die Faksimiles, die teilweise unscharf sind, teilweise nicht perfekt, teilweise angegilbt, die bewusst in dieses strenge Raster gepresst werden. Das ist die Sollbruchstelle, die Komplexität der Gegenwart, von der ich gesprochen habe. Ich möchte die Dringlichkeit von Pornoseiten, in dem Sinne, dass ich das Triebgesteuerte zum Thema machen möchte.

ALN: Wie verbindet sich das mit einer theoretischen Zeitschrift?

MM: Was mich an Arch interessiert, ist nicht in erster Linie die Intellektualität, sondern dass die Redaktion sich ihren Trieben stellt. Sie trägt diesen Wahn in sich, alles akribisch aufzuklären, zu hinterfragen, das ist eigentlich irre, das ist so nerdy, aber das ist so kostbar, weil es Arch von anderen unterscheidet. Wenn wir nach Beuys alle Künstler sind, wenn Steve Jobs uns alle ein Laptop gegeben hat, dann können wir alle alles machen, wo ist der Unterschied?

ALN: Da wären wir wieder bei Peter Saville: „Das Einzige, was es noch nicht gab, ist man selbst.“

MM: Genau, dann ist man als befreites oder als lustgeplagtes Individuum gefordert, man kann dann seine Triebe ausleben oder sich ihnen stellen. Wir leben in einer Kulturgesellschaft und wir machen diese Kultur. Diejenigen, die sich nicht bewusst einbringen, werden letztlich Opfer ihrer eigenen Untätigkeit.

ARCH+, So., 2008.04.20

20. April 2008 Anh-Linh Ngo

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