Editorial

Eine archplus Ausgabe, die die Situationistische Internationale als Herkunftsort vieler heutiger Planungsstrategien interpretiert? Eigentlich gar nicht so überraschend wie man denken könnte. War doch die Stadt Paris nicht nur der Bezugsraum der Situationistischen Internationale (SI), sondern auch der Fluchtpunkt ihrer Bemühungen um die Aufhebung der Kunst und der Überführung der Kunst in ein freies Leben. Dieses freie Leben suchte man umherschweifend zu erleben (Dérive), psychogeographisch zu kartieren (Psychogeographie), durch Zweckentfremdung überkommener Strukturen zu ergreifen (Détournement) und schließlich durch die permanente Revolution des Alltagslebens zu erreichen (Revolution des Alltagslebens).

Nach diesem Programm haben wir die retrospektive Seite dieses Heftes gegliedert. Eingeführt wird sie durch einen Essay von Juri Steiner zur SI, der die kritische Auseinandersetzung mit der SI eröffnet und den Rahmen vorgibt für die Gliederung dieses Heftes.
Die Situationistische Internationale wird gemeinhin als die letzte große Avantgarde-Bewegung gesehen. Geflissentlich wird dabei übersehen, dass Guy Debord, angesichts der „Gesellschaft des Spektakels“ längst mit der Avantgarde abgeschlossen hatte. Er sah in ihr nur noch eine Chance, wenn sie dazu überginge, die Gesellschaft selbst zu besetzen und deren Veränderung als das letzte große Gesamtkunstwerk zu begreifen. Dadurch wurde die SI zum Auslöser des Pariser Mais und über Verzweigungen, durch die Gruppe SPUR, besonders aber durch die „subversive Aktion“, auch zum Mitauslöser der Berliner Studentenbewegung.

1972 hat Guy Debord die Situationistische Internationale aufgelöst. Trotzdem lebt sie als „Phantom Avantgarde“ (Roberto Ohrt) fort, fasziniert weiterhin und ist zum Bezugspunkt des...

Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo, Martin Luce, Carolin Kleist

Inhalt

02 Zeitung
Meyer, Hannes / Hays, K. Michael / Hain, Simone / Kil, Wolfgang / Schürkamp, Bettina / Martin, Reinhold / Züger, Roland / Holl, Christian / Miessen, Markus / Harbusch, Gregor / Patzak-Poor, Jürgen

18 Situativer Urbanismus*
Kuhnert, Nikolaus / Ngo, Anh-Linh / Luce, Martin / Kleist, Carolin

20 Vom Unitären zum Situativen Urbanismus*
Ngo, Anh-Linh

22 In girum imus nocte et consumimur igni
Steiner, Juri / Stahlhut, Heinz / Zweifel, Stefan / Elsken, Ed van der

28 Dérive
Elsken, Ed van der

30 Lucius Burckhardts Promenadologie
Holzapfel, Helmut / Schmitz, Martin

32 Walkscapes
Careri, Francesco

40 Die Spaziergangsdemonstration
Lönnendonker, Siegward

42 Stadt-Natur vs. Stadt-Landschaft
Brock, Bazon

45 Wie man Städte bereist
Sieverts, Boris

46 Carambolage
Sieverts, Boris

48 Die Cambridge Walks von Peter Smithson
Heuvel, Dirk van den

51 Die Stadt in der Stadt
Kühn, Wilfried

52 Die Alltagspraxis des Mapping
Rogers, Daniel Belasco

54 Situationistischer Raum
McDonough, Tom

59 Cognitive Mapping
Jameson, Fredric

60 Die Autorität des Plans
Pinder, David

63 New Towns an den Fronten des Kalten Krieges
Provoost, Michelle

68 The Dreadful Details
Baudelaire, Eric

70 Der Entwurf des Zwischenraums*
Busenkell, Michaela

76 Das Bild als Raumkonstituens
Müller, Michael

82 Détournement
Debord, Guy / Jorn, Asger

84 Open-Source Urbanismus
studio urban catalyst

92 Die Versprechen des Situativen
Fezer, Jesko / Heyden, Mathias

96 Revolution des Alltags
Elsken, Ed van der

97 Eine beiläufige Form des Sozialen
Zitzewitz, Jutta von / Zielony, Tobias

100 Bilder des Gebrauchs*
Harbusch, Gregor

104 Jeder ist ein Architekt
BAR

110 ClassicLoftXS*
Behles & Jochimsen Architekten

112 Näher und noch näher
Allison, Peter

118 Möglichkeiten situativen Handelns
Rettich, Stefan

121 Centro Comunitario Julio Otoni
Flammer, Pascal

122 Elemental
Aravena, Alejandro

126 Unvorhersehbare Freiheiten
Hubeli, Ernst

130 Tokyo Flux
Busenkell, Michaela

136 Die Performanz des Raums
Dell, Christopher

149 Baufokus Produktschau*
Luce, Martin

Vom Unitären zum Situativen Urbanismus

Als im Mai 2005 die Ergebnisse des Shrinking Cities Wettbewerbs in archplus 173 vorgestellt wurden, konstatierten wir eine Wende in der Planungspraxis, die sich bereits in den beiden Ausgaben zur Off-Architektur (166/167) herauskristallisiert hat. Diese Wende ließe sich kurz als eine Bewegung weg von statischen Planungs- und Arbeitsweisen hin zu kleinteilig individuellen und offen performativen Strategien umreißen. Diese Veränderung spiegelt eine Machtverschiebung im Gefüge der an der Raumproduktion Beteiligten wider, denn nichts anderes bedeutet es, wenn gegenwärtig der einzelne Akteur und sein Umgang mit dem Vorgefundenen eine neue Wertschätzung erfährt.
Dieser gesellschaftspolitische Ansatz erlaubt es, das kreative Spannungsfeld zu beschreiben, das sich, um mit Foucault zu sprechen, in den Handlungsräumen der Individuen zwischen Selbst- und Herrschaftstechnologien eröffnet.

Das Thema hat uns nicht wieder losgelassen. Es stellt sich nämlich die Frage, woher und warum mit solcher Vehemenz und warum gerade jetzt Strategien zum Vorschein kommen, die uns einerseits neu, anderseits sehr vertraut vorkommen.

Vertraut, weil von Partizipation, von Selbstermächtigung, von Ermöglichung seit den 1960er Jahren die Rede ist. Vertraut auch, weil diese Strategien Teil der politischen Geschichte dieser Zeitschrift sind. Trotz allen Unkenrufen deutet vieles daraufhin, dass Politik wieder en vogue ist – und zwar Politik im performativen, prozess- und handlungsorientierten und nicht im institutionellen Sinne (siehe Urban Catalyst zu temporären Nutzungen (S. 84) und Fezer/Heydens kritische Betrachtung partizipativer Planungstraditionen (S. 92). Damit laufen die allfälligen Vorwürfe ins Leere, es handele sich um „subpolitische“ und „subplanerische“ Scheingefechte, wenn Planer nicht mehr Pläne zeichnen, sondern sich als Initiatoren, als Anwälte für die Aneignung von Raum verstehen.
Die Umgehung des institutionellen Gefüges dient nämlich dazu, direkt und performativ auf den gesellschaftichen Raum einzuwirken.

21. Mai 2007 Anh-Linh Ngo

Der Entwurf des Zwischenraums

(SUBTITLE) Die Werkbundsiedlung in München von Kazunari Sakamoto

Das 100-jährige Jubiläum des Deutschen Werkbundes im Jahr 2007 und der sechzigste Geburtstag ihrer Neugründung nach dem Nationalsozialismus in Form von Landeswerkbünden sind Anlass für ein ehrgeiziges Projekt: die zukünftige Werkbundsiedlung Wiesenfeld. Auf einem ehemaligen Kasernengelände im Münchner Stadtbezirk Schwabing West sollen 45.000 Quadratmeter Geschossfläche für „Wohnen im weiteren Sinne“ entstehen, je zur Hälfte frei finanziert und öffentlich gefördert. Zu diesem Zweck hat die Stadt München das Grundstück der ehemaligen Luitpold- Kaserne, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Schließung in den 1990er Jahren dort untergebracht war, an die Bauherren veräußert; es handelt sich dabei um sieben gemeinnützige und freie Wohnungsbauunternehmen sowie einen Gewerbeinvestor.
Das Gelände wird künftig nach einer Gartenanlage mit dem beschaulichen Namen Wiesenfeld benannt, die sich im 18. Jahrhundert auf dem angrenzenden Olympiagelände befand. Nicht von ungefähr erinnert der Name Wiesenfeld an Weißenhof, meint Michaela Busenkell. Doch bei der ersten Werkbundsiedlung im 21. Jahrhundert geht es ihrer Meinung nach nicht wie in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, die vor genau 80 Jahren im Rahmen der Ausstellung „Die Wohnung“ entstand, nur um musterhafte, neue Wohnkonzepte auf der grünen Wiese. Neben Wohnexperimenten stehen heute vor allem ein neues Stadtverständnis und die Räume, die zwischen den Häusern die soziale Matrix herstellen, im Mittelpunkt.

21. Mai 2007 Michaela Busenkell



verknüpfte Bauwerke
Werkbundsiedlung Wiesenfeld

ClassicLoftXS

Die Bauherrin ist als Musikerin viel auf Reisen und wollte daher Ballast abwerfen. Auf der Suche nach einem Refugium, einer kleinen Wohnung mit der Perfektion einer Hotelsuite stieß sie auf das Haus des Kindes. Das Gebäude ist nicht nur eines der wenigen, die der Architekt der Stalinallee, Hermann Henselmann, selber plante, hier bezog er mit seiner Familie auch zwei Wohnungen. Der turmartige Bau bildet mit seinem nahezu identischen Gegenüber ein Tor zum Strausberger Platz und überragt die angrenzende Bebauung um mehrere Geschosse. Der fröhliche Klassizismus und die Lage der 1 1/2-Zimmerwohnung im 7. Obergeschoss, wo sich das Gebäude auf Traufhöhe seiner Nachbarn zurückstaffelt und eine große Südterrasse mit Panoramablick offeriert, waren die ausschlaggebenden Argumente für die Wohnung.

ARCH+, Mo., 2007.05.21

21. Mai 2007 Armin Behles



verknüpfte Bauwerke
Umbau einer Wohnung im „Haus des Kindes“

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