Inhalt

WOCHENSCHAU
02 Raum. Orte der Kunst in Berlin | Kaye Geipel
03 Andreas Gursky im Münchner Haus der Kunst | Jochen Paul
03 Dokumentarfilm „Neuland“ | Friederike Meyer
04 Monika Sosnowskas „Loop“ im Kunstmuseum Liechtenstein | Hubertus Adam
04 Peter Paul Seeberger in Saarbrücken | Katrin Voermanek

WETTBEWERBE
06 Neubau der Tschechischen Nationalbibliothek in Prag | Friederike Meyer
06 Vorab entschieden? Osamu Okamura
08 Alles „future“ | Mirko Baum

THEMA
16 Ware Wohnung | Ulrich Brinkmann
20 Höllenhunde und Festungen | Anne Kockelkorn
30 Dresden | Matthias Grünzig
34 Was sind eigentlich REITs? | Ramon Sotelo
40 Kiel | Heinrich Wähning
44 Public Housing in den USA | Susanne Schindler
50 Freiburg | Volker Kittelberger
54 Das Ende der Wohnungspolitik? Ramon Sotelo
56 Hamburg | Gert Kähler
60 Glossar | Anne Kockelkorn

REZENSIONEN
68 Zeit des Labyrinths | Wolfgang Kil
68 Totalstadt. Beijing Case | Shanshan Zheng
69 City of Collusion: Jerusalem| Susanne Schindler

RUBRIKEN
05 Leserbriefe
05 wer wo was wann
65 Autoren
66 Kalender
70 Anzeigen

Monika Sosnowska

(SUBTITLE) „Loop“ im Kunstmuseum Liechtenstein

Das im Jahr 2000 eröffnete Kunstmuseum von Morger & Degelo und Christian Kerez in Vaduz (Heft 42.00) demonstriert, wie Einfachheit räumliche Vielfalt hervorzubringen vermag. Von zwei gegenläufigen Treppen erschlossen, gliedert sich der recht­eckige Grundriss im Obergeschoss in vier Säle, die windmühlenartig angeordnet zu einem Rundgang zusammengeschlossen sind. Dabei alternieren zwei schmale, lange Räume mit zwei breiteren und größeren. Weil die Säle mit weißen Wänden, Eichenparkett und Glasdecken identisch ausgestattet sind, die Proportionen sich von einem Raum zum nächsten ver­ändern und Blicke nach außen verwehrt bleiben, erscheint die klare Struktur fast labyrinthisch. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Raumkonfiguration über die Diagonalen gespiegelt ist, man also während eines Rundgangs mit Räumen gleicher Proportionen an zwei verschiedenen Stellen konfrontiert ist.

Nun hat die polnische Künstlerin Monika Sosnowska, beraten von Christian Kerez, im Obergeschoss ihre Installation „Loop“ eingerichtet. Steigt man vom Foyer aus die Treppe empor, steht man nicht wie sonst in diesem Museum im ersten Ausstellungssaal, sondern in einem Gang. Wände, Boden und Decke sind weiß gestrichen, Leuchtstoffröhren tauchen ihn in ein gleißendes Licht. Der Gang ist so breit, dass man sich ohne viel Mühe begegnet. Nach einem ersten Knick kreuzt er sich mit einem weiteren, die beiden Gänge münden etwas später wieder ineinander, dann neue Knicke, Verzweigungen, Zusammenführungen und wieder eine lange Wegstrecke geradeaus. Wählt man an einer Kreuzung einen Abzweig und schlägt einen Haken, gelangt man zur Treppe und verlässt den endlosen Kreislauf, der es erlaubt, auf einem parallelogrammförmigen Kurs das Ober­geschoss zu durchqueren.

Monika Sosnowska, Jahrgang 1972, reagiert mit ihrer Installation auf die bestehende Raumstruktur, indem sie die Durchgänge zwischen den Sälen ausnutzt, aber ein kontrastierendes formales Vokabular verwendet: nicht weite Räume, sondern schmale Gänge; nicht rigide Orthogonalität im Grundriss, sondern spitze und stumpfe Winkel. Das geschlossene Korridorsystem als temporäre Installation wird zur scheinbaren Primärstruktur, die zu dem Hüll­raum der Galeriesäle in einem ähnlichen Verhältnis steht wie diese zur Umgebung: Befindet man sich im Gangsystem, sind die Galerieräume ausgeblendet. Nur an zwei Stellen erlaubt die Künstlerin den Übertritt von einem System ins andere. An den Treppen kann man aus dem Gang in einen Ausstellungssaal treten, wo die Künstlerin einige Bilder präsentiert, die sie aus der Sammlung des Museums ausgewählt hat. Wie in einem Filmstudio sieht man die Gänge von der Rückseite: als provisorische Konstruktion aus Metallrahmen und Holzwerkstoffplatten.

So absurd es auch klingt: Gerade indem Monika Sosnowska die Ausstellungsräume verbirgt, werden die Besucher dazu animiert, über deren Konzept nachzudenken. Die über die Diagonale entwickelte Symmetrie gilt auch für die Konfiguration der Gänge. Nicht auf materieller, aber auf konzeptioneller Ebene sind beide Systeme miteinander verbunden. So wird die Intervention zur Partizipation.

Bauwelt, Fr., 2007.03.23

23. März 2007 Hubertus Adam

Ware Wohnung

Die Privatisierung des öffentlichen Wohnungsbestands ist bislang in erster Linie ein Thema unter Finanzexperten. Mit der bevorstehenden Einführung des Anlageinstruments REIT in Deutschland ist aber die Zeit gekommen, dass sich auch Stadtplaner und Architekten mit den Chancen und Risiken der Verkäufe befassen. Vieles mag dafür sprechen, dass sich der Staat anderen Aufgaben widmet als der Verwaltung von Wohnun­gen. Eine Privatisierung bietet Spielräume, in denen das öffentliche Interesse behandelt werden muss. Die Zukunft der Wohnungsbaugesellschaften ist nicht nur eine haushälte­rische Frage, sondern von eminent politischem Gehalt.

Das Fachgespräch am 29. Mai 2006 im Berliner Paul-Löbe-Haus erfreute sich reger Teilnahme – und Anteilnahme. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/DIE GRÜNEN hatte eingeladen, um den Einfluss von international agierenden Private Equity Fonds und Real Estate Investment Trusts (REITs) auf den deutschen Wohnungsmarkt zu untersuchen und zu diskutieren. Anlass der Veranstaltung waren einerseits die massenhaften Verkäufe öffentlicher Wohnungsbaugesellschaften an ausländische Finanzinvestoren in den letzten Jahren und die darüber zunehmend beunruhigte Öffentlichkeit, andererseits die Bestrebungen der deutschen Finanzwirtschaft, das Anlage­instrument REIT auch hierzulande einzuführen[1]. In 24 Ländern sind solche „Immobilienaktiengesellschaften mit börsen­notierten Anteilen“ bereits etabliert – in den USA zum Beispiel schon seit 1960, in den Niederlanden seit 1969, in Australien (1985) und Kanada (1994), in Frankreich (2003), Italien (1994), Spanien (2003) und Japan (2000); für 2007 planen auch Finnland, Großbritannien und Indien die Einführung. So hoch kochten die Emotionen während der fünfstündigen Veranstaltung, so viel Angst und Abwehr unter den anwesenden Architekten, Stadtplanern und Mietervertretern gegenüber der Kapitalkraft der Finanzinvestoren im Allgemeinen und dem neuen Anlageinstrument im Besonderen wurde deutlich, dass Aufklärung und Versachlichung nottut, um Chancen und Probleme für die Situation hierzulande überhaupt einschätzen und mit den wortreichen Experten aus der Finanzwirtschaft diskutieren zu können. Denn der REIT mag ein interessantes neues Modell für wohlhabende Anleger sein, nicht weniger aber ist er eine neue Größe in der Stadtentwicklung – und da­mit von grundsätzlichem Interesse für die darin Tätigen.

Die Konstruktion des G-REIT

Inzwischen hat die Bundesregierung – und zwar das Ministerium für Finanzen, nicht etwa das für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – den deutschen REIT (auch German REIT, abgekürzt G-REIT) auf den Weg gebracht[2]. Mit seiner Einführung „soll die in Deutschland bestehende Lücke bei der indirek­ten Immobilienanlage geschlossen werden, um eine Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland, eine Professionalisierung der Immobilienwirtschaft und Wettbewerbsgleichheit gegenüber europäischen Finanz- und Immobilienstandorten zu erreichen... Alternativen: Keine“, heißt es unmissverständlich im Gesetzesentwurf. Doch nimmt das sozialdemokratisch geführte Ministerium durchaus Rücksicht auf die ideologisch und emotional begründeten Widerstände. So sollen in einen deutschen REIT zwar uneingeschränkt Shopping Malls, Freizeitparks, Hotels und Bürokomplexe eingebracht werden können, tabu aber sind ihm sämtliche vor dem 1. Januar 2007 fertiggestellten Wohngebäude. Lediglich neu errichtete Wohnimmobilien können ins Portfolio einer Immobilienaktiengesellschaft gelangen, doch müssen auch diese mindestens zur Hälfte gewerblich genutzt werden. Die Bundesregierung erhofft sich davon einen Impuls auf dem Wohnungsmarkt.

Die vorgesehene Orientierung auf Gewerbeimmobilien macht den deutschen REIT unattraktiver gegenüber seiner ausländischen Konkurrenz, ohne dadurch die Ängste von Mietern wirksam beschwichtigen zu können. Denn auf dem globalisierten Kapitalmarkt gibt es auch fürderhin keinerlei Schutz deutscher Wohnimmobilien vor den Renditestrategien auslän­discher Kapitalgesellschaften: Ein Private Equity Fonds, der soeben eine ehemals kommunale Wohnungsbaugesellschaft erfolgreich filetiert hat und seine kurzfristigen Gewinnziele erreicht sieht, nutzt eben einen japanischen oder US-amerikanischen REIT als „Exit-Option“ für seine nicht weiter verkäuf­li­chen Restwohnungsbestände und nicht einen deutschen. Denn die Aktien eines Real Estate Investment Trust können nach dem Entwurf des deutschen REIT-Gesetzes zwar nicht an der Börse in Frankfurt am Main gehandelt werden, sehr wohl jedoch auf dem Parkett in Tokio oder New York. Dort aber wird das so viel befürchtete und dabei äußerst widersprüchlich konnotierte Agieren der neuen Eigentümer – Luxussanierun­gen, Mieterhöhungen und Verdrängung sogenannter Problem­fälle einerseits, schlechterer Service, weniger Investition in die Bausubstanz und keinerlei Interesse an einer sozialen Stadtentwicklung andererseits – deutlich weniger Nachhall in den Medien finden, und damit auch weniger Niederschlag auf den Aktienkurs der Gesellschaft. Die Aufgeschlossenheit der REITs gegenüber den Anliegen der Kommunen und Mietervertreter dürfte das nicht steigern.

Skepsis gegenüber dem Verkauf öffentlicher Wohnungsbestände en gros bleibt aber noch aus einem anderen Grund angebracht: Länder und Städte können das ererbte Gut nur einmal verkaufen, und es ist keinesfalls sichergestellt, dass der Erlös investiv, also im Interesse der Zukunft, eingesetzt wird statt nur für die Konsumwünsche der Gegenwart. Das Einfordern einer solchen, nachhaltigen Politik setzt allerdings die Bereitschaft der Bürger zu politischer Einmischung voraus, eine Voraussetzung, welche durch den Verkauf einer städti­schen Wohnungsgesellschaft nicht eben befördert wird.
Preisgabe des politischen Raums

„Wir Flüchtlinge“, die vorige Ausgabe der StadtBauwelt, widmete sich dem Thema Vertreibung und Heimatverlust anhand dramatischer Beispiele und setzte die Geschehnisse in Beziehung zu Hannah Arendts Überlegungen zum „politischen Raum“ (Heft 48.2006). Die Probleme des Themas „Ware Wohnung“ mögen dagegen von weit geringerer Wucht erscheinen. Hannah Arendts Schriften zur Theorie des Politischen, des freien Handelns im öffentlichen Raum, aber sind auch für jeden Kommunalpolitiker eine lohnende Lektüre, der den Verkauf einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft erwägt. Denn die politischen Implikationen des massenhaften Verkaufs öffentlicher Wohnungsbestände, ja ganzer Stadtviertel, an international agierende Finanzinvestoren haben bislang selten eine Rolle gespielt in der Debatte um die Zukunft dieser Bestände, und dies, obwohl diese Implikationen elementarer Bestandteil jenes öffentlichen Interesses sind, das Bund, Länder und Kommunen allein leiten muss bei der Bewertung einer Privatisierung: des Käufers, des Verkaufspreises und der Art und Weise, wie der Erlös zu verwenden ist. Während etwa die Mieterprivatisierung einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft die Bewohner als Bürger stärkt, da ihre Teilhabe an der Welt wächst und damit auch das Interesse an gemeinsamen Belangen, raubt ein Verkauf an einen Finanzinvestor den Bewohnern ein Stück dieser Teilhabe, indem die Verankerung des privaten Lebensbereichs in der Welt lockerer wird – nicht räumlich, wohl aber im Hinblick auf die Überschaubarkeit der Eigentumsverhältnisse.

„Der Unterschied zwischen dem, was uns gemeinsam, und dem, was uns zu eigen ist, ist ein Unterschied der Dringlichkeit; kein Teil der uns gemeinsamen Welt wird so dringend und vordringlich von uns benötigt wie das kleine Stück Welt, das uns gehört zum täglichen Gebrauch und Verbrauch. Ohne Eigentum, wie Locke sagte, können wir mit dem Gemeinsa­men nichts anfangen, es ist ,of no use‘“, schreibt Hannah Arendt über den in der modernen Konsumgesellschaft zu ei­nem öffentlichen Anliegen gewordenen gesellschaftlichen Reichtum[3]. In diesem Sinne wird der „politische Raum“ mit jedem Wohnungsverkauf im großen Stil kleiner. Wie schwer wiegt dagegen noch das Argument, mit dem Erlös endlich al­len städtischen Schulgebäuden einen Wärmedämmüberzug spendieren zu können?

Lokale Besonderheiten

Neben den thematischen Beiträgen in diesem Heft, welche die Entwicklungen auf dem deutschen Wohnungsmarkt in den letzten Jahren resümieren, den Real Estate Investment Trust als Anlageinstrument analysieren und einen Blick werfen auf den öffentlich geförderten Wohnungsbau in den USA, dem Herkunftsland des REIT, zeigen vier Ortsbesuche unterschiedliche Erfahrungen und Facetten des Kontextes auf, in dem die Diskussion über den Verkauf öffentlicher Wohnungen geführt wird. Denn den einen Wohnungsmarkt gibt es nicht, und deshalb muss jede Entscheidung über die Zukunft einer Wohnungsbaugesellschaft vor dem Hintergrund der spezifischen Situation der jeweiligen Kommune beurteilt werden. Eine pro­sperierende Stadt erfordert und ermöglicht ein anderes Handeln als eine stagnierende oder schrumpfende. Dresden etwa hat sich mit dem Verkauf der städtischen Wohnungsbaugesellschaft vor einem Jahr schlagartig aller Schulden entledigt, Kiel hingegen steht heute, knapp acht Jahre nach dem Verkauf, vor einem ähnlich großen Defizit wie vorher; Freiburg im Breisgau ist im vergangenen Herbst mit einem Bürgerentscheid an dem geplanten Verkauf gehindert worden, und in Hamburg wird eine Trennung von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft gar nicht erst in Erwägung gezogen.

Dieses Heft will der Zukunft des öffentlichen Wohnungsbestands unter Architekten und Stadtplanern, den Baumeistern des öffentlichen Raums, zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen – und damit der Frage, welche Auswirkung die Preisgabe der Bauherrenrolle seitens der Öffentlichkeit auf die Städte als Orte des Zusammenlebens zeitigt. Auch aus diesem Grund führt ein fünfter Ortsbesuch zur GSW, der „Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft Berlin mbH“. Das im Januar 1937 aus einem Zusammenschluss der „Wohnungsfürsorgegesellschaft Berlin mbH“ und acht weiteren kommunalen Wohnungsbaugesellschaften hervorgegangene Unternehmen wurde im Jahr 2004 für 405 Millionen Euro an ein Konsortium aus den Fondsgesellschaften Whitehall (Goldmann & Sachs) und Cerberus verkauft. Die Porträts von zehn im Laufe des 20. Jahrhunderts entstandenen Wohnanlagen der GSW und ihren Bewohnern zeigen stellvertretend für den öffentlichen Wohnungsbestand im Ganzen, was in der Debatte um seine Zukunft vielleicht nicht das wichtigste Argument ist, aber auch nicht in falscher Bescheidenheit vergessen sein sollte: den großen Beitrag, den diese Quartiere zur Architektur- und Stadtgeschichte der Moderne geleistet haben. Umgekehrt formuliert: Die Architektur der Moderne ist nicht zuletzt auch die Leistung des Sozialen Wohnungsbaus, welcher, anders als der spekulative Wohnungsbau der vorangegangenen Jahrzehnte, den Auftrag „Behausung der Massen“ räumlich und ästhetisch zu gestalten wusste, statt ihn hinter bereits vergangener bürgerlicher Repräsentationslust zu verstecken, und der damit eine neue gesellschaftliche Bedingtheit sichtbar machte, öffentlich werden ließ. Die langfristige Pflege und Weiterentwicklung dieser Quartiere ist ein kultureller Auftrag. Ob diesen auch Private Equity Fonds und Real Estate Investment Trusts ausfüllen können, wird die Zukunft erweisen. Was aber haben Architekten und Stadtplaner zu erwidern, wenn der moderne Staat beginnt, dieses Erbe zu verkaufen?

Bauwelt, Fr., 2007.03.23

[1] s. www.finanzstandort.de
[2] pdf-Datei zum download auf: www.bundesregierung.de/nn_774/Content/DE/Ar­tikel/2006/11/2007-01-16-
boersennotierte-immobilienfonds-auch-in-deutschland.html
[3] Hannah Arendt, „Vita acti­-va“, S. 85 f., Piper Verlag, München 1967. Zitiert nach der Taschenbuchausgabe vom September 2002

23. März 2007 Ulrich Brinkmann

Zeit des Labyrinths

(SUBTITLE) Beobachten, nach­denken, festhalten 1956–2006

Er hat Lieblingsdichter – Heine, Novalis, Brecht –, aus deren Versen er gern zitiert. Goethe schätzt er eher als Denker. Und es gibt literarische Vorkommnisse, die geistern immer wieder als beweistaugliche Erzählchen durch seine Texte – jenes Gespräch Ecker­manns mit Coudray am Weimarer Dichtertisch etwa, in dem der fürstliche Baurat einen überraschend volksnahen Begriff von funktionaler Weltgestaltung zu erkennen gibt; oder jene kleine Unterzeile, mit der Bruno Taut seine berühmte Schrift „Die Erde eine gute Wohnung“ „Allen Kindern, Schneeflocken, Blumen und Sternen“ widmete. Wem solch poetischer Zitatenschatz leichthändig zur Verfügung steht, wer überhaupt anstelle polemischen Krampfes die Sou­veränität des bilderreichen Erzählens besitzt, den darf man zu den Großen der Zunft zählen. Dem hört man einfach gerne zu.

Bei Ulrich Conrads kam Architekturkritik schon früh als ausgefeilte literarische Reflexion daher. Wenn denn die hier vorliegende Auswahl an Texten das Œuvre angemessen spiegeln soll, dann waren gerade seine Vorträge und Reden immer wieder groß­artige Exkurse in weite Denkräume und Gefilde von stupender Belesenheit. Dass es dabei stets ums Bauen, um Häuser und Städte ging, konnte mitunter in den Hintergrund geraten, weil dieser Kenner der Materie den Spieß oft genug umdrehte und nach dem forschte, was die Bauprodukte oder Planungsresultate denn nun zu leisten vermochten. Unentwegt fragt Conrads nach dem Leben in und zwischen den Gehäusen, und in diesem Insistieren zeigt er sich auf verlässlicher Position: als ein humanistischer Funk­tionalist, der sich einen „kommenden Stil“ nie anders als einen „sozialen Stil“ vorstellen mochte. Um dieser Hoffnung willen focht er gegen das Verschwinden der Architektur im „Darstellungskult“, litt er unter der Postmoderne wegen ihrer „Flucht in die Äußerlichkeit“, und in dem wohl Wichtigsten der hier ausgewählten Aufsätze – „Über Ordnung und Unordnung“ (1983) – entwirft er mit einem furiosen Bogen von Ludwig XIV. über Baron Haussmann bis zu Le Corbusier eine fundamentale Kritik der Macht­atti­tüde jedes Masterplans. Dieser urdemokratische Reflex eines aufgeklärten Citoyens ist so konsequent wie unhintergehbar, dass er gleich noch nachfolgende Meinungsführer wie Rossi oder Ungers trifft. Heißa, wie muss es wohl in jenen Jahren in der Bauwelt-Redaktion zugegangen sein!

Leider gibt die von Eduard Führ, Kristiana Hartmann und Anna Teut freundschaftlich beratene Auswahl über das eigentliche Geschäft des Zeitungs­machers wenig Auskunft, allenfalls indirekt: Der Verschleiß beim Vielschreiben ist ein teuflischer Preis selbst für die Großen im Metier, und so sind auch einige Texte aus der eher alltäglichen Produk­-tion hineingeraten, wie der ausufernde Reisebericht „Impressionen deutscher Städte“ (1957), in dem man sich allzu lange bis zur mäßig originellen Schluss­pointe durcharbeiten muss. Zum Glück bekommt aber auch der politische Zeitgenosse seinen Auftritt: Überaus ehrenvoll in seinem Offenen Brief an Erich Honecker (1987), in dem er die Inhaftierung zweier junger DDR-Architekten wegen Teilnahme am Wettbewerb zum Prinz-Albrecht-Gelände anprangert.

Sym­pathisch selbstkritisch mit seinem trotzigen Kom­mentar zum Mauerbau 1961, in dem er unter Verken­nung aller weltpolitischen Konditionen ein lupenrei- nes Exempel Westberliner Sturheit liefert und da­bei seinen ureigenen Gegenstand, die Stadt als Alltagskosmos und Kultur, vor lauter (politischen) Idealismen aus den Augen verliert. Natürlich hat er es später bemerkt und macht jetzt den Irrtum selber kenntlich. Er ist eben einer von den wirklich Großen.

[ Zeit des Labyrinths | Beobachten, nachdenken, festhalten 1956–2006 | Von Ulrich Conrads | 236 Seiten mit Abbildungen, BauweltFundamente Bd. 136 | 24,90 Euro | Birkhäuser, Basel Berlin Boston 2007 | ▸ ISBN 978-3-7643-7821-9 ]

Bauwelt, Fr., 2007.03.23

23. März 2007 Wolfgang Kil

City of Collision

(SUBTITLE) Jerusalem and the Principles of Conflict Urbanism

„Learning from Jerusalem“? Dass die Befestigung dieser bedeutungsschwangeren und vielleicht meist­umkämpften Stadt der Welt – explizit (eine Mauer um die Stadt) und implizit (Verwaltung der Wasserversorgung, Unterlassung von Infrastrukturinvesti­tionen, getrennte Straßenführung) – „almost alright“ wäre, würden die Herausgeber keinesfalls behaup-ten. Die Parallele zwischen dem Lernen von Las Vegas 1972 und dem harten Alltag von Jerusalem 2006 liegt im Versuch, die oft übersehene städtebauliche Realität einer Stadt auf den Tisch zu bringen. Es geht in „City of Collision“ weder um städtebauliche Visionen, noch um vereinzelte Eingriffe und schon gar nicht um ein Plädoyer für eine politische Lösung, was, selbstverständlich, die Grundlage wäre, um überhaupt etwas im Zusammenleben zwischen Isra­elis und Palästinensern zu verändern. „City of Collision“ unterschiedet sich von den zahlreichen früheren Initiativen für Jerusalem, etwa Moshe Safdies „Jeru-salem Studio“ oder Michaels Sorkins „The Next Jerusalem“. Lernen im Sinne der Herausgeber heißt hier: einerseits zu verstehen, mit welchen Mitteln die physische Trennung von zwei Bevölkerungsgruppen in einer Stadt in den letzten vierzig Jahren vorangetrieben wurde, andererseits aufzuspüren, mit welchen Mitteln die Menschen mit dieser Trennung umgehen und „alltäglichen Widerstand“ leisten. Ko-Herausgeber Philipp Misselwitz und Tim Rienties artikulieren die „Hoffnung, dass eine Stadt die einen solchen Urbanism hervorgebracht hat, auch als Labor für Handlungsweisen dienen kann, die jenen Zustand untergraben, erodieren und dagegen verstoßen“.

Der Sonderfall Jerusalem wird in den Kontext der Ausbreitung kriegsähnlicher Zustände in Städten wie New York, Madrid oder London gestellt, und der auch dort zunehmenden baulichen Abgrenzung zwischen vermeintlich unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. In Jerusalem ist die seit 2001 errichtete Mauer zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten, die sich auch um die von beiden Seiten in Anspruch genommen Hauptstadt legt und die Stadt von ihrem Umland trennt, dafür das jüngste und dras­tischste Beispiel.

„City of Collision“ ist das Ergebis einer multi-lateralen Initiative. Es dokumentiert einerseits die Beiträge der im November 2004 in Jerusalem gehaltenen gleichnamigen Konferenz, an der sich vierzig Experten der Architektur, des Urbanismus, der Kunst und der Ethnologie aus Israel, Palästina und dem Ausland zusammenfanden. Gleichzeitig versammelt das Buch die Arbeitsergebnisse des europäisch-isra­elisch-palästinensischen Studienprojekts „Grenzgeografien“ zwischen UdK Berlin, der Kunsthochschule Bezalel (West-Jerusalem), dem International Peace and Cooperation Center (Ost-Jerusalem), und der ETH Zürich, wo Tim Rienties lehrt.

Der Hoffnungsschimmer, Jerusalem könne angesichts urbaner Unterdrückung ein Labor für alternative Strategien sein, wird auf geschickte Weise schon früh in dem als Editorial dienenden Gespräch mit den Jerusalem-Experten Meron Benvenisti und Salim Tamari gedämpft. Das Konzept des „alltäglichen Widerstands“ wird in Frage gestellt. Als Beispiel: Der innerhalb der Stadtgrenzen lebenden palästinensi­schen Bevölkerung werden von der israelischen Verwaltung kaum Baugenehmigungen erteilt; auf is­raelischer Seite dagegen werden extensive Neubau­gebiete von quasi-staatlichen Institutionen in ihrer Gesamtheit geplant und umgesetzt. Den „illegalen“ palästinensischen Hausbau als Widerstandshandlung zu deuten, halten die Gesprächspartner jedoch für übertrieben. Auch nehmen Benvenisti und Tamari dem Leser die Hoffnung, dass ein multi-ethnisches Zusammenleben möglich sei. Sie machen deutlich, dass dies auch unter Osmanischer Herrschaft über Jerusalem und dem damaligen anderen Verständnis von nationaler Zugehörigkeit keinesfalls so rosig ausgesehen habe, wie heute oft vermittelt wird. Wenn man verstanden hat, das es zumindest zu unseren Lebzeiten im Grunde keine Lösung für Jerusalem gibt, ist man für das Buch gewappnet.

Je spezifischer ein Beitrag, je genauer er die Entscheidungen und Handlungsmöglichkeiten oder auch die persönlichen Überzeugungen eines Einzelnen beschreibt, desto mehr hilft er, das Irrationale dieses Zentrums des Nahostkonflikts ein wenig zu verstehen. Rema Hammami beispielsweise beschreibt den Markt, der sich an einem Checkpoint zwischen der östlich von Jerusalem gelegenen Stadt Ramallah und seinem Nachbarort nach Beginn der zweiten Intifada 2001 entwickelt hat. Er benennt den Widerspruch, dass dieser Kontrollposten einerseits den Waren- und Personenverkehr und damit das Rück­­-grat der lokalen Wirtschaft unterbrochen hat, er aber zugleich zu einem der wenigen Wachstumsfaktoren in der Krise geworden ist. Das Bild von Tierhälften, die von Trägern vom Schlachthof auf der einen Seite zur Siedlung auf der anderen Seite des Postens befördert werden, macht deutlich, was Eingriffe in Infrastruktur, Straßenbau Überwachung bedeuten.

Gleichzeitig braucht es das große Bild, um die Strategien von räumlicher Kontrolle in den Beiträgen aufzuarbeiten: Grundstücksenteignung, Wasserpolitik und Siedlungsbau gehören dazu. Einzelne Beiträge sind fürs Verständnis manchmal zu kurz gehalten, und gewisse inhaltliche Wiederholungen hätten von den Herausgebern ausgemerzt werden können. Aber auch hier hilft immer wieder der Blick auf das Spezifische: Die von den Studierenden erarbeitete Kartierung des arabischen Dorfes Beit Sahur und der jüdischen Siedlung Har Homa, die sich auf zwei Hügeln gegenüberliegen, verdeutlicht große wie kleine Mittel der Raum­kontrolle. In Form von Einschüben findet sich diese Kartierung in gesamten Text. Gegliedert werden die Texte außerdem durch eine sie durchziehende Bild­reihe der Fotografen Bas Princen und Polly Braden. Diese zeigt eine Durchquerung Jerusalems und seines Umlands von Nord nach Süd. Die Bilder sind unendlich hilfreich, um sich Menschen, Bushaltestelle und Hügel überhaupt vorstellen zu können.

Wer von Jerusalem lernen kann, bleibt unklar: die „unten“ oder die „oben“? „City of Collision“ aber ist ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, Kräfte, die Städte formen, überhaupt zu verstehen und sichtbar zu machen. Gleichzeitig ist das Projekt selbst eine Zusammenarbeit von Personen mit vermeintlich unvereinbarer Herkunft, unterschiedlichen Interes-sen und Erlebnissen – ein Beispiel für eine der wenigen Möglichkeiten, überhaupt eine Basis für eine gemeinsame Zukunft zu schaffen.

[ City of Collision | Jerusalem and the Principles of Conflict Urbanism | Herausgegeben von Philipp Misselwitz und Tim Rieniets | 400 Seiten mit Abbildungen, 43 Euro | Birkhäuser, Basel Berlin Boston 2006 | ▸ ISBN 3-7643-7482-2 ]

Bauwelt, Fr., 2007.03.23

23. März 2007 Susanne Schindler

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