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28. September 2018Viola John
Paul Knüsel
TEC21

«Eine Kultur des Abwägens»

Architektur und Städtebau erhalten erstmals Nachhaltigkeitsnoten. Eine externe Fachjury nimmt dazu eine unabhängige Bewertung von SNBS-Projekten vor. Raphael Frei, Mitglied von pool Architekten, war an der Entwicklung beteiligt und erklärt das neuartige Verfahren.

Architektur und Städtebau erhalten erstmals Nachhaltigkeitsnoten. Eine externe Fachjury nimmt dazu eine unabhängige Bewertung von SNBS-Projekten vor. Raphael Frei, Mitglied von pool Architekten, war an der Entwicklung beteiligt und erklärt das neuartige Verfahren.

TEC21: Herr Frei, zertifizierte Ökobauten werden oft als unschön beurteilt. Kann der Standard nachhaltiges Bauen Schweiz zur Verbesserung architektonischer Qualitäten (vgl. TEC21 43/2016) beitragen?
Raphael Frei: Das zentrale Anliegen des ­Nachhaltigkeitsstandards SNBS ist, neben den klassischen ökologischen Kriterien nun auch soziale und baukulturelle Aspekte zu berücksichtigen und sie in die Beurteilung eines Gebäudekonzepts zu integrieren. In diesem Sinn ist der Beurteilungsraster um­fassend: Er erkennt und erfasst auch nicht messbare Aspekte, unter anderem soziale und städtebauliche Qualitäten eines Projekts.

TEC21: Was muss ein Projekt leisten, um gute Architektur­noten zu bekommen?
Raphael Frei: Die städtebaulichen und architektonischen Aspekte sind unmittelbarer Teil der gesellschaft­lichen Nachhaltigkeitsdimension: Wie lebendig ist ein Quartier? Wie sind die Gebäude genutzt? Wie ­robust sind die bestehenden Strukturen? Lassen Sie mich dies anhand der geplanten Erneuerung der Grosssiedlung Telli in Aarau erklären, für die der SNBS angewandt werden soll. Um das charakteristische Aussenbild oder die passenden Wohnungsgrundrisse nicht allzu sehr zu verändern, hält man sich bei der Eingriffstiefe zurück. Energetische Verbesserungen an der Gebäudehülle lassen sich gleichwohl er­zielen. Die Beurteilung der bestehenden, gemischten Sockelnutzung und des grosszügigen grünen Aussenraums fällt ebenfalls positiv aus.[1] Für die Erneuerung heisst das: Die positiven Bestandseigenschaften sind zu erhalten und allenfalls zu stärken.

TEC21: Aber verspielt man so nicht die Option, verfügbare Raumreserven zu nutzen und Erneuerungsstandorte bei Bedarf zu verdichten?
Raphael Frei: Die Beurteilung nach den SNBS-Kriterien führt eben dazu, dass ein Verdichtungsvorhaben nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch quali­tativ diskutiert wird. Dies entspricht der Strategie des Bundes zur Nachhaltigen Entwicklung, die ein wei­test­mögliches Erhalten des baukulturellen Erbes und seine qualitativ hochstehende Erneuerung ­fordert. Die SNBS-Zertifizierung weitet deshalb den Projek­t­fokus aus, etwa von einer klassischen Energieoptimierung zu anderen sozialen und architek­tonischen Aspekten. Das macht diese Nachhaltigkeitsbewertung für Architekten erst interessant: Sie pflegt die Kultur des Abwägens und fördert das ­Bewusstsein, dass unterschiedliche Aspekte miteinander zu ­verknüpfen sind.

TEC21: Die spezifische Beurteilung der architektonischen und städtebaulichen Qualitäten ist ein neuartiger Bestandteil der Zertifizierung. Wie funktioniert ­dieses Verfahren, zumal es sich um eine Bewertung von schlecht messbaren Eigenschaften handelt?
Raphael Frei: Ein Projekt, das in einem Wettbewerb nach SIA-Regeln ausgewählt worden ist, benötigt kein weiteres Urteil für das Zertifikat. Auch ein vergleichbares Gutachterverfahren ohne SIA-Kriterien wird anerkannt; allerdings werden die Qualität und Unabhängigkeit der Fachjury geprüft. Nur für den Fall eines Direktauftrags findet eine nachträg­liche Begutachtung durch SNBS-Experten statt, die ihrerseits Architekten sind. Die Kriterien sind mehr oder weniger dieselben wie bei Wettbewerbs­jurierungen. Die Bewertung wird schriftlich dokumentiert und mit punktuellen Verbesserungsempfehlungen ergänzt. Sie stellt somit eine unabhängige Qua­litätsbeurteilung und kein Gefälligkeitsgutachten dar.

TEC21: Sind die Experten speziell ausgebildet?
Raphael Frei: Die Zertifizierungsstelle bietet nur Architekten auf, die Erfahrungen als Jurymitglied oder ­Wettbewerbsteilnehmer besitzen. Weitere Kriterien sind eine Mitgliedschaft beim Bund Schweizer Architekten (BSA) oder Bund Schweizer Landschaftsarchitekten (BSLA). Ein Begutachter darf nicht we­niger erfahren sein als die zu beurteilenden Projektverfasser. Erwartet wird auch, dass er sich bei Bedarf einen eigenen Eindruck vor Ort verschaffen kann.

TEC21: Wie gut funktioniert das neue Bewertungssystem?
Raphael Frei: Bei Projekten aus einem Direktauftrag ist die Architektur oft das Resultat von Zwängen und Entscheidungen, die aus dem Prozess heraus begründet sind. Da eine architektonische Beurteilung explizit fehlt, sind hohe Qualitäten nicht zwingend vorauszusetzen. Die bisherigen Einblicke bestätigen dies; ungenügende Noten sind in der ersten Zertifizierungs­runde nicht selten. Die Begutachtung ist zwar sehr streng. Aber Projektverfasser sollen dies nicht so verstehen, dass sie schlechte Arbeit abgeliefert hätten. Die Kritikpunkte setzen vor allem dort an, wo die Pro­jektschwerpunkte das gestalterische Element ver­missen und sich somit verbessern lassen.

TEC21: Wie gehen Projektverfasser damit um?
Raphael Frei: Wir stecken in der Anfangsphase und sammeln weitere Erfahrungen. Eine Schwierigkeit ist, die Dokumentation der Projekte analog zum Wettbewerbs­verfahren mit Plänen und Modellen einzufordern. Unter den Beteiligten ist man jedoch sehr offen, auch für Kritik, zumal sie die Position des Projektverfassers oft stärken kann. Es geht meistens um eine gestal­terische Integration von technischen Konzepten, die Verknüpfung mit sozialen Themen oder schlicht um die räumliche, typologische Qualität von Grundrissen.

TEC21: Wie ist das Echo unter Architekten?
Raphael Frei: Der BSA rührt die Werbetrommel für die Zertifizierung und hofft, dass sich gute und renommierte Architektinnen und Architekten damit aus­einandersetzen. Ein erstes Stimmungsbild ist: ­Der Standard ist eine sinnvolle Alternative zu Gebäude­labels, die nur eindimensional auf energetische Themen ausgerichtet sind. Der erweiterte Be­urteilungsraster führt solche Einzelaspekte zu einem Ganzen zusammen und ermöglicht ein umfassendes Bild über mögliche Zielkonflikte. Das ist ein willkommener Gegentrend zur aktuellen Fragmentierung: Architekten fällt es schwer, im wachsenden Dschungel aus baulichen Anforderungen und Normen überhaupt noch konsistente Lösungen zu finden.

TEC21: Der Standard will besser sein als die Gesetze. Wie kann er trotzdem zur Verbesserung der Entwurfs­arbeit beitragen?
Raphael Frei: Gegenwärtig verdammen die vielen Anforderungen die Architekten zum Reagieren. In der Pro­jektierung suchen sie oft den jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner des Machbaren und stellen am Ende fest, dass die Kosten steigen. Besser ist aber, die unterschiedlichen Umsetzungsthemen und An­forderungen frühzeitig zusammenzuführen. Der Zertifizierungsprozess und der Bewertungsraster können Ordnung schaffen. So lassen sich Zielkonflikte, Zusammenhänge und Spielräume erkennen, die man sonst nicht entdeckt hätte. Zu Beginn einer Zertifizierung muss daher – aus formalen Gründen – ein Pflichtenheft mit Projektzielen formuliert werden.

TEC21: Stärkt der Standard die Position des Architekten?
Raphael Frei: Das ist eigentlich unser Ziel. Der Architekt kann seine Kompetenzen mithilfe des Bewertungs­rasters erhöhen. Er muss das Wissen zurückholen und darf es nicht vollumfänglich an Spezialisten delegieren. Allein der Informationsgewinn aus einer engen Zusammenarbeit mit andern Fachdisziplinen verbessert seine Verhandlungsbasis gegenüber der Bauträgerschaft und der Behörde. Ohne diesen Wissensvorsprung kann man eigentlich nirgends bauen.


Anmerkung:
[01] Muster oder Komposition? Sanierung Telli-Hoch­häuser, wbw 1/2 2018.

TEC21, Fr., 2018.09.28



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|39 SNBS – Stren­ges Ras­ter, fle­xi­ble An­wen­dung

15. Juni 2018Viola John
TEC21

Solare Perspektive

100 % Stromversorgung aus erneuerbarer Energie – das ist machbar! In der Schweiz könnte bis zu einem Drittel des jährlichen Strombedarfs über Photovoltaik gedeckt werden. Zurzeit werden die Möglichkeiten für eine Gebäudeintegration von Photovoltaik im Rahmen von Stadterneuerungsprozessen im Bestand untersucht.

100 % Stromversorgung aus erneuerbarer Energie – das ist machbar! In der Schweiz könnte bis zu einem Drittel des jährlichen Strombedarfs über Photovoltaik gedeckt werden. Zurzeit werden die Möglichkeiten für eine Gebäudeintegration von Photovoltaik im Rahmen von Stadterneuerungsprozessen im Bestand untersucht.

Die Städte von morgen sind schon heute gebaut. Ein Grossteil des aktuellen Gebäudeparks der Schweiz sowie anderer europäischer Länder wird voraussichtlich auch in gut 30 Jahren noch stehen. Da bis dahin die Schweizer Ziele der Energiestrategie 2050[1] umgesetzt und der Gebäudebestand energetisch ertüchtigt beziehungsweise selbst zum Erzeuger von ökologisch verträglichem Strom werden sollen, spielen Stadterneuerungsprozesse eine wesentliche Rolle für die zukünftige Entwicklung. Sollen Gebäude zu Kraftwerken werden, stellt die Nutzung von Photovoltaik (PV) im und am Gebäude eine vielversprechende Möglichkeit dar, um Bestandsbauten zu optimieren und fit für die Zukunft zu machen.
Auf dem Weg zur wichtigsten Stromquelle

Gemäss International Energy Agency (IEA) wäre es problemlos machbar, in der Schweiz einen Drittel des jährlichen Strombedarfs über PV-Anlagen zu decken.[2] Eine aktuelle gemeinsame Studie der finnischen Lappeenranta University of Technology (LUT) und der internationalen Energy Watch Group (EWG) legt sogar nahe, dass eine weltweite Energiewende hin zu 100 % erneuerbarer Stromversorgung – mit einem Schwerpunkt auf Solarenergie – keine Zukunftsvision, sondern greifbare Realität ist (vgl. «Globales Energiesystem, basierend auf 100% erneuerbarer Energie – Stromsektor», Kasten).[3] Darüber hinaus entwickelt sich momentan die PV-Technologie in vielen Ländern zur wirtschaftlich günstigsten Möglichkeit, Energie zu erzeugen.[4] Der Wettbewerb bei den Herstellern von Solarmodulen lässt seit Jahren die Preise sinken – und laut Prognosen der IEA wird Solarstrom in Zukunft noch günstiger produziert werden können als heute. Für eine globale solare Energiewende sind dies ökonomisch gute Voraussetzungen.

PV integriert in die Gebäudehülle

Wirtschaftlich vorteilhaft können insbesondere Building Integrated Photovoltaics (BIPV) sein – gebäudeintegrierte PV-Anlagen. Als Aussenhaut angewendet bieten sie nicht nur den Vorteil der Energieerzeugung, sondern bilden mittlerweile durchaus eine ökonomisch wettbewerbsfähige Alternative zu herkömmlichen Hüllmaterialien für Fassaden und Dächer. Zu diesem Ergebnis kommt das Forschungsteam eines von der Europäischen Union geförderten Kooperationsprojekts nach Abschluss der Testphase für ein Bürogebäude in Litauen.[5] Darüber hinaus ermöglicht BIPV eine grossflächige Nutzung von PV am gesamten Bauwerk. Eingesetzt als Hüllmaterial und dezentraler Stromerzeuger zur Gewinnung regenerativer Energie kann BIPV gleichzeitig den Einsatz von Baustoffressourcen und fossiler Energie sowie den Ausstoss von Treibhausgasen im Bausektor reduzieren. BIPV-Systeme bieten somit eine potenzielle Antwort auf viele Herausforderungen der Energiewende.

Bestandsbauten profitieren von BIPV

Ein interdisziplinäres Forschungsteam unter der Leitung des Labors für Architektur und nachhaltige Technologien (LAST) der EPF Lausanne geht in einem aktuellen Forschungsprojekt sogar davon aus, dass es für das Erreichen der Ziele der Schweizer Energiestrategie 2050 unverzichtbar ist, energetische Sanierungsprojekte mit der Integration von erneuerbaren Energien – insbesondere in Form von BIPV – zu kombinieren. Das Dämmen der Gebäudehülle allein genügt nicht. Vielmehr sollten BIPV-Systeme als Baustoff verstanden und wie jedes andere Hüllmaterial eingesetzt werden, sodass sie idealerweise herkömmliche Materialien der Gebäudehülle sukzessive konstruktiv ersetzen.

Um Möglichkeiten und Strategien zur Bestandssanierung mit BIPV-Systemen zu untersuchen, analysieren die Wissenschaftler im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds SNF geförderten Forschungsprojekts «Active Interfaces»[6],[7] in Neuenburg derzeit exemplarisch archetypische Mehrfamilienhäuser aus verschiedenen Baujahren hinsichtlich ihres Potenzials für eine solare Stadterneuerung.[8] Neben dem Baujahr fliessen unter anderem auch Informationen über den Standort sowie über die Eignung von Dach und Fassade für BIPV und etwaige Denkmalschutzauflagen in die Analyse ein.

Ausserdem werden verschiedene Sanierungsszenarien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit miteinander verglichen:

– Keine BIPV (S0): In diesem Szenario wird die energetische Performance der Gebäudehülle lediglich durch passive Strategien nach den Anforderungen der SIA 380/1 2016 verbessert, auf PV am Gebäude wird gänzlich verzichtet.
– Erhalt (S1): In diesem Szenario wird das Aussehen des Gebäudes bewahrt, die Gebäudehülle nach SIA 380/1 2016 verbessert und BIPV an Dach und Fassaden eingesetzt.
– Erneuerung (S2): In diesem Szenario werden die architektonisch prägenden Linien der Hülle erhalten, das Gebäude energetisch auf Minergie-Standard gebracht und BIPV an Dach und Fassaden installiert.
– Transformation (S3): In diesem Szenario wird das Gebäude konform mit den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft saniert und BIPV für eine maximale Stromerzeugung am Gebäude vorgesehen. Hierfür sollen vorgefertigte, wärmegedämmte Elemente als hinterlüftete Fassade vor die bestehende Wand gehängt werden. In die opaken Bauteile wird BIPV integriert.

Innerhalb der drei Szenarien mit BIPV wird nochmals unterschieden in drei verschiedene Strategien:

– 100 % der Gebäudehüllfläche als BIPV,
– nur so viel anteilige BIPV-Hüllfläche, wie zur Deckung des Eigenenergiebedarfs des Gebäudes erforderlich ist,
– die anteilige BIPV-Hüllfläche mit einer zusätzlichen Batterieunterstützung für Optimierungen im Energiemanagement.

Erste Ergebnisse legen nahe, dass die drei Sanierungsszenarien mit BIPV im Vergleich zum Szenario ohne BIPV allesamt besonders kosteneffizient sind. Auch hinsichtlich Einsparungen des Treibhauspotenzials und der grauen Energie bieten die BIPV-Szenarien Vorteile.

Ästhetik im Wandel

Einiges spricht also dafür, BIPV bei der Bestandssanierung einzusetzen. Auch die technisch und ästhetisch entsprechend hohen Anforderungen an das Material werden schon heute von vielen auf dem Markt erhältlichen Produkten erfüllt. Photovoltaikmodule können mittlerweile in Vorhangfassaden, Fenster oder Dachziegel integriert und farblich nach Belieben gestaltet werden (vgl. «Rot ist gefragt», Kasten unten, und «Neues Farbenspiel»). So sind mit BIPV individuelle Erneuerungsstrategien von Bestandsbauten in Abhängigkeit von der jeweiligen Gebäudetypologie, den architektonischen Gestaltungszielen und dem Interventionsgrad umsetzbar.

Allerdings hätte der konsequente Einsatz von BIPV an sämtlichen Bestandsbauten zur Folge, dass sich ganze Stadt- und Ortsbilder in ihrer Ästhetik radikal wandeln würden. %%gallerylink:41747:Die Abbildung rechts%% veranschaulicht, wie sich die ertragsorientierte Integration von Photovoltaik auf das Aussehen der Fassaden von Bestandsbauten auswirken könnte. Insbesondere bei baukulturell bedeutenden Bauwerken stösst man hier noch immer an Grenzen – Wunsch und Wirklichkeit liegen mitunter weit auseinander. Wenn BIPV sich in Zukunft auch bei solchen Bauwerken durchsetzen soll, sind Architekten, Forscher und Hersteller von PV-Modulen weiterhin gefordert, gemeinsam individuelle und ästhetisch ansprechende Lösungen hierfür zu entwickeln.

Autark oder altruistisch in die Zukunft?

Letztendlich stellt sich allerdings auch die Frage, wohin die Reise der gebäudeintegrierten Photovoltaik in Zukunft gehen soll: Ist es sinnvoll und erforderlich, dass jedes Gebäude für sich genommen energieautark ist, um die Energieziele zu erreichen? Zielführender könnte es sein, in urbanen Energieclustern zu denken und damit dann auch flexibler über den Einsatz von BIPV im Stadtraum und am individuellen Bauwerk zu entscheiden (vgl. «Mein Haus ist mein Kraftwerk»).

Während exemplarische Betrachtungen des BIPV-Potenzials einzelner Bestandsgebäude eine wichtige Grundlage in der Forschung darstellen und das Durchspielen von Szenarien im kleinen Massstab ermöglichen, ist es wichtig, die gewonnenen Erkenntnisse in der Folge auch auf grössere Stadträume anzuwenden. So können Potenziale von BIPV innerhalb von urbanen Energieclustern und in Kombination mit anderen erneuerbaren Energietechnologien identifiziert werden. Werden dabei ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Aspekte gleichwertig berücksichtigt, kann BIPV im Rahmen von Stadterneuerungsprozessen auch im Bestand eine nachhaltige Perspektive für die Zukunft bieten.


Anmerkungen:
[01] Bundesamt für Energie BfE: Energiestrategie 2050; Zürich 2014.
[02] International energy agency IEA: Potential for Building Integrated Photovoltaics, Report PVPS T7-4; Switzerland 2002.
[03] M. Ram et al.: Global Energy System based on 100% Renewable Energy-Power Sector. Study by Lappeenranta University of Technology and Energy Watch Group; Lappeenranta, Berlin, November 2017.
[04] International Energy Agency IEA: World Energy Outlook 2017.
[05] SmartFlex Solarfacades: EU SmartFlex project finishes reference solar façade; www.smartflex-solarfacades.eu/press
[06] www.activeinterfaces.ch/de
[07] www.pnr70.ch/de/Seiten/Home.aspx
[08] S. Aguacil Moreno, S. Lufkin, E. Rey: Influence of energy-use scenarios in Life-Cycle Analysis of renovation projects with Building-Integrated Photovoltaics; International Conference for Sustainable Design of the Built Environment SDBE; London 2017.

TEC21, Fr., 2018.06.15



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|24-25 Energiehülle – BIPV auf dem Vormarsch

22. Dezember 2017Viola John
TEC21

Störfaktor Mensch

Mit viel Technik die Welt retten: Dieser Glaube ist im Schweizer Bauwesen stark ausgeprägt. In der Praxis zeigt sich aber ein ambivalentes Verhältnis zwischen Nutzerinteressen und Gebäudetechnik. Differenzen sind vorprogrammiert, wenn Planer die Bedürfnisse des Gebäudenutzers den Energie- und Klimazielen der Gesellschaft unterordnen.

Mit viel Technik die Welt retten: Dieser Glaube ist im Schweizer Bauwesen stark ausgeprägt. In der Praxis zeigt sich aber ein ambivalentes Verhältnis zwischen Nutzerinteressen und Gebäudetechnik. Differenzen sind vorprogrammiert, wenn Planer die Bedürfnisse des Gebäudenutzers den Energie- und Klimazielen der Gesellschaft unterordnen.

Bis zum Jahr 2050 strebt die Schweizer Energiepolitik eine drastische Verringerung des Energieverbrauchs an; das wird sich insbesondere auf den Gebäudepark auswirken. So soll nach Angaben des Bundesamts für Energie BfE die energetische Optimierung aller Gebäude ab dem Jahr 2030 obligatorisch sein.[1]

Beim Energieverbrauch von Gebäuden schlägt vor allem die Bereitstellung von Raumwärme und Warmwasser zu Buche, für deren Erzeugung hierzulande noch immer hauptsächlich fossile Energieträger zum Einsatz kommen. Derzeit wird in der Schweiz nach Schätzungen des BfE eine Gebäudefläche von 800 Mio. m² beheizt, verteilt auf ca. 1.8 Mio. Gebäude. Hierfür wurden im Jahr 2016 knapp 70 TWh (70 Mrd. kWh) nicht erneuerbare Energie in Form von Heizöl und Erdgas verbraucht.[2] Im Jahresdurchschnitt mussten ca. 3.75 Mrd. Liter Heizöl und knapp 3.25 Mrd. Kubikmeter Erdgas bereitgestellt werden. Ab 2050 soll damit Schluss sein – zum Verheizen dürfen dann weder Heizöl noch Erdgas verwendet werden.[3]

Diese Zahlen verdeutlichen: Nicht nur angesichts der laut Prognosen steigenden Bevölkerungszahl und des Ziels einer weiter wachsenden Wirtschaft stellt die für 2050 angepeilte Senkung des Energieverbrauchs eine Herausforderung dar. Damit die Energiestrategie erfolgreich umgesetzt werden kann, ist ein struktureller Wandel erforderlich: Der fossile Energieverbrauch von Gebäuden muss konsequent minimiert und eine effiziente Nutzung von erneuerbaren Energieträgern im Gebäudebetrieb ermöglicht werden.

Gebäudetechnik als Problemlösung?

Um die Ziele der Energiestrategie 2050 zu erreichen, setzt man im Bauwesen zunehmend auf eine umfangreiche Gebäudetechnik. In einer Studie, die 2016 im Rahmen des Programms EnergieSchweiz erarbeitet wurde, untersuchten Experten aus Technik, Verbänden und Hochschulen die Potenziale der Gebäudetechnik hinsichtlich Energie- und Treibhausgas-Einsparung im Schweizer Gebäudepark. Die Ergebnisse wurden in zwei Szenarien («Referenzszenario» und «Effizienzszenario») zusammengefasst.[4] Die Analyse bezieht die Faktoren Raumwärme, Warmwasser, Lüftung, Klimakälte, Beleuchtung und allgemeine Gebäudetechnik ein.

Das Fazit fällt optimistisch aus: Beim «Referenzszenario» – es ist mit dem Szenario «Weiter wie bisher» der «Energieperspektiven 2050»[5] des BfE vergleichbar – liesse sich der Energiebedarf des Schweizer Gebäudeparks bis 2050 gegenüber 2010 um 23 % reduzieren. Erreichen könnte man dies mit der konsequenten Verwendung von heute bereits marktgängiger Gebäudetechnik und der Einhaltung aktueller gesetzlicher Vorgaben. Die Treibhausgasemissionen könnten sogar um 38 % gesenkt werden, unter anderem weil dieses Szenario davon ausgeht, dass zur Bedarfsdeckung zukünftig ein höherer Anteil an erneuerbaren Energien eingesetzt werden kann als heute. Berücksichtigt werden in diesem Szenario neben der Gebäudetechnik auch Einsparungen durch die verbesserte Wärmedämmung der Gebäudehülle.

Eine weitere Verbesserung bezüglich Energiebedarf und Treibhausgasemissionen stellt das ebenfalls untersuchte «Effizienzszenario» in Aussicht – es ist mit dem Szenario «Politische Massnahmen des Bundesrats» der Energieperspektiven vergleichbar. Die Ergebnisse legen nahe, dass es durch zusätzliche energiepolitische Instrumente möglich wäre, den Energiebedarf bis 2050 um weitere 15 % und die Treibhausgasemissionen um zusätzliche 39 % zu reduzieren. Dazu müsste man beispielsweise fossile Energieträger bei Heizung und Warmwasser mit erneuerbaren substituieren, Lüftungs- und Klimakälteanlagen sowie Beleuchtungen ersetzen beziehungsweise nachrüsten und effizient betreiben.

Bereits mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Mitteln und dem vorhandenen Fachwissen wäre also potenziell eine Menge machbar – bei der Heizenergie zur Bereitstellung von Raumwärme und Warmwasser ist das Einsparpotenzial am grössten. Doch nicht alles, was theoretisch und technisch möglich ist, lässt sich innerhalb kurzer Zeit sinnvoll und wirtschaftlich umsetzen. Ein wichtiger Aspekt dabei: Relevant für das Erreichen der Energieziele bis zum Jahr 2050 sind nicht etwa in erster Linie Neubauten, sondern jene Gebäude, die vor 1970 errichtet wurden. Sie können nur unter grossem Aufwand energetisch ertüchtigt werden, machen aber immerhin ca. 55 % des Schweizer Gebäudeparks aus.[6]

Während man bei Neubauten bereits in der Planungsphase den aktuellen Stand der Technik berücksichtigen kann, muss das Energiekonzept bei Bestandsbauten nachträglich angepasst werden. Dabei stellt die Gebäudetechnik nur einen Teilaspekt neben anderen effizienzsteigernden Massnahmen dar – wie etwa dem baulichen Wärmeschutz, der passiven Nutzung von Solarenergie, der optimalen Tageslichtnutzung und der Bauteilaktivierung. Sinnvoll eingesetzt, kann die Gebäudetechnik solche passiven Massnahmen der energetischen Gebäudeoptimierung unterstützen und ergänzen.

Performance Gap trotz hoher Investition

Hochtechnisierte Gebäude sind dagegen durchaus kritisch zu betrachten. Viele ihrer Komponenten sind nicht nur energie- und ressourcenintensiv in der Herstellung, sondern auch teuer in der Anschaffung. Sie müssen während des Betriebs regelmässig gewartet werden, haben im Vergleich zu manch anderen Bauteilen am Gebäude eine geringe Lebensdauer und müssen auch im Zuge der an sie gestellten Anforderungen häufig ersetzt oder nachgerüstet werden. Nach Angaben der Gruppe der Schweizerischen Gebäudetechnik-Industrie GSGI beläuft sich heutzutage das Investitionsvolumen für die Technik am Bau vielfach auf weit über 30 % der Gesamtinvestitionssumme.[7]

Bauherren stehen also vor der Frage, ob sie die höheren Anfangsinvestitionen für die technische Gebäudeausrüstung überhaupt tätigen können. Zudem ist ein Monitoring während der Betriebsphase unerlässlich, um die technischen Komponenten bei Bedarf nachzujustieren. Denn trotz optimaler Planung lässt sich häufig nicht von einem errechneten Energiebedarf auf den tatsächlichen Verbrauch im Gebäudebetrieb schliessen, und je höher der Grad der Technisierung in einem Gebäude, desto grösser ist das Potenzial für Massnahmen zur Betriebsoptimierung.

Dass der Nutzer – der Mensch – die Energiebilanz eines Gebäudes stark beeinflusst und einen Unsicherheitsfaktor für die tatsächliche Effizienz der Gebäudetechnik darstellt, ist bei der Umsetzung der Energiestrategie zu berücksichtigen. Ob jedoch Gebäude, die den Nutzer unter grossem technischem Aufwand dazu zwingen, nicht in die Betriebsabläufe einzugreifen, um den Planungserfolg nicht zu gefährden, die optimale Lösung für dieses Problem darstellen, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Der Mensch im Zentrum

Das ambivalente Verhältnis von Mensch und Gebäudetechnik verdeutlicht eine aktuelle Studie zum Hunziker-Areal in Zürich.[8,9] Das 2000-Watt-Leuchtturmprojekt «mehr als wohnen» umfasst 13 Häuser, die mit unterschiedlichen Lüftungssystemen ausgestattet wurden – neun mit Abluftanlagen und vier mit Komfortlüftungsanlagen mit Zu- und Abluft, davon zwei mit zentralem und je eins mit dezentralem beziehungsweise mit Verbundlüftungssystem. Beim Monitoring nach Fertigstellung des Areals zeigte sich im ersten Betriebsjahr, dass jene Häuser, die mit einer Komfortlüftungsanlage (Zu- und Abluftsystem mit Wärmerückgewinnung) ausgestattet sind, signifikant – um mindestens das Doppelte – mehr Heizwärme verbrauchen, als zuvor berechnet worden war.

Zudem ist der Stromverbrauch für die Lüftung bei diesen Gebäuden höher als bei den übrigen Häusern. Die anderen neun Gebäude auf dem Areal, bei denen nur Abluftanlagen inklusive Aussenluftdurchlässen eingebaut wurden, weichen weniger vom Planungswert ab. Mittels thermografischer Untersuchungen der Gebäudefassaden in den Wintermonaten liess sich nachweisen, dass bei den auffälligen Gebäuden einige Fenster nachts dauerhaft geöffnet waren. Die Häuser mit zentralen Zu- und Abluftanlagen hatten einen höheren Anteil an offenen Fenstern als jene mit dezentraler Zu- und Abluftanlage oder mit Verbundlüfter.

Auf ihr Komfortempfinden angesprochen, erklärten 20 % der befragten Bewohner der Gebäude mit zentralen Zu- und Abluftanlagen, die Luftqualität in ihrer Wohnung sei schlecht bis sehr schlecht. Rund 10 % klagten über Zugluft, während bei den Gebäuden mit Abluft und Aussenluftdurchlässen fast 40 % der Befragten häufig oder immer Zugluft spürten. Mehrere Bewohner gaben an, im Winter bei geöffnetem Fenster zu schlafen. Offenbar entspricht der technisch generierte Komfort im Innenraum bei diesen Bauten nicht den individuellen Bedürfnissen aller Gebäudenutzer.

Bereit für 2050?

Um die ambitionierten Energie- und Klimaziele bis 2050 zu erreichen, sind verlässliche Annahmen über den zukünftigen Energieverbrauch des Schweizer Gebäudeparks erforderlich. Nur so gelingt es, erneuerbare Energiequellen möglichst effizient und ressourcenschonend einzusetzen. Wird das Nutzerverhalten dabei nicht einkalkuliert, dürfte der Performance Gap einer erfolgreichen Umsetzung der Energiestrategie einen Strich durch die Rechnung machen. Es ist daher unerlässlich, die Bedürfnisse der Gebäudenutzer bei der Planung noch stärker in den Fokus zu rücken. Bedient der Nutzer das Gebäude und seine technischen Komponenten aus Sicht des Planers «falsch», sollte die Konsequenz daraus sein, die Planungsziele zu überdenken beziehungsweise entsprechende Unsicherheiten von vornherein in Form von Sensitivitätsanalysen in die Kalkulationen einfliessen zu lassen.

Ein Gebäude hat viele Funktionen zu erfüllen und steht an der Schnittstelle zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Es soll ihm eine sichere, gesunde und erschwingliche Unterkunft bieten – einen Raum zum Leben – und dabei gleichzeitig den Umweltinteressen des Planeten dienen. Ordnen Planer die individuellen menschlichen Bedürfnisse den gesamtgesellschaftlichen Energie- und Klimazielen aber unter, so dürfte es schwierig werden, Letztere zu erreichen. Denn beides geht Hand in Hand. Und die Gebäudetechnik erfüllt keinen Selbstzweck, sondern muss als Teil eines ganzheitlichen Gebäudekonzepts wirken.


Anmerkungen:
[01] B. Revaz: «Energieziele und Gebäudepark», Vortrag am Gebäudetechnik Kongress Luzern 2017.
[02] Bundesamt für Energie BfE: «Schweizerische Gesamtenergiestatistik 2016», Bern 2017.
[03] Vgl. Anmerkung 1.
[04] Bundesamt für Energie BfE: «Potenzialabschätzung von Massnahmen im Bereich der Gebäudetechnik», Bern 2016.
[05] Bundesamt für Energie BfE: «Energieperspektiven 2050», Bern 2013.
[06] Bundesamt für Statistik: «Bauperiode», Neuchâtel, 2016, www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bau-wohnungswesen/gebaeude/periode.html
[07] Hugo Graf: «Mit «intelligenter» Gebäudetechnik die Ziele der Energiestrategie erreichen», Intelligent Bauen 4/2017, S. 17.
[08] M. Mühlebach et al.: «mehr als wohnen – ein Leuchtturmareal in Betrieb», 19. Status-Seminar Forschen für den Bau im Kontext von Energie und Umwelt, wETH Zürich 2016.
[09] M. Ménard: «Building Energy Performance Gap – Nutzer-, Analyse- oder Normen-Problem?», Vortrag am Gebäudetechnik-Kongress Luzern 2017.

TEC21, Fr., 2017.12.22



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|51-52 Gebäudetechnik-Kongress: Können Planer alles?

31. März 2017Viola John
TEC21

Klimadesign für die Zukunft

Der Klimawandel schreitet voran, so viel ist sicher. Aber wie gut sind die Gebäude, die wir heute bauen, darauf vorbereitet? In der Forschung werden derzeit Strategien zur klimatischen Gebäudeanpassung untersucht.

Der Klimawandel schreitet voran, so viel ist sicher. Aber wie gut sind die Gebäude, die wir heute bauen, darauf vorbereitet? In der Forschung werden derzeit Strategien zur klimatischen Gebäudeanpassung untersucht.

Was erwartet uns in der Zukunft? Zumindest was die voraussichtlichen klimatischen Veränderungen betrifft, muss hierzu nicht erst die Kristallkugel befragt werden: Das Intergovernmental Panel of Climate Change (Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen) IPCC[1] wartet schon heute mit detaillierten Prognosen und regionalen Szenarien für das 21. Jahrhundert auf. Das Fazit daraus: Klimaexperten rechnen mit einer ganzjährigen Erhöhung der Aussentemperaturen in der Schweiz bei einer gleichzeitigen Zunahme trockener Tage in der wärmeren Jahreszeit (vgl. Grafiken).[2] Dies hat auch Auswirkungen auf die Behaglichkeit in Innenräumen. Der Temperaturbereich, den der Mensch als angenehm empfindet, liegt zwischen 17 und 24 °C, wobei die Behaglichkeit auch abhängig ist von der relativen Luftfeuchtigkeit im Raum (vgl. Grafik).

In Zukunft wird es in unseren Breiten im Sommer aufgrund der höheren Aussentemperaturen zu einem erhöhten Kühlbedarf innerhalb von Gebäuden kommen, um die Behaglichkeit sicherzustellen.

Gleichzeitig wird das prognostizierte mildere Klima im Winter eine niedrigere Heizlast und kürzere Heizperioden zur Folge haben. Heizsysteme heutiger Bauten sind für das zukünftige Klima also vermutlich zu gross ausgelegt, während heute eingebaute Kühlsysteme für zukünftige Anforderungen unterdimensioniert sind. Gebäude von heute können somit auf die bis zum Ende dieses Jahrhunderts zu erwartenden Temperaturänderungen nur bedingt reagieren, da sie vom Stand der Technik her nicht dafür konzipiert sind.

Gebäude für den Klimawandel fit machen

Wollen wir unsere Häuser fit für die Zukunft machen, müssen wir rechtzeitig ihre Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit sicherstellen. Das Schlagwort hierbei heisst «Gebäuderesilienz». Unter Resilienz versteht man ganz allgemein die Fähigkeit eines Systems, auf Veränderungen oder Störungen zu reagieren und sie auszugleichen bzw. unbeschadet zu überstehen (vgl. «Ein Begriff, zwei Definitionen – Resilienz»). Resiliente Gebäude sind krisenfest konzipiert, sodass sie ohne grossen Aufwand an sich ändernde Umwelt- und Nutzungsbedingungen angepasst werden können.

Im Gebäudekontext ist Resilienz eng mit den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung verknüpft. Für den Störungsfall Schaden und Reparatur am Gebäude – etwa wenn ein Bauteil oder die Haustechnik ausgetauscht werden muss – werden modulare Systeme und Strategien zur Systemtrennung als besonders resilient eingestuft, also jene Strategien, die auch als nachhaltig gelten (vgl. «Höhere Fügung»). Sie ermöglichen eine schnelle und einfache Schadensbehebung. Ein Wandel von Nutzeranforderungen kann ebenfalls einen Störungsfall darstellen, der insbesondere bei Bürobauten zu beobachten ist. Hier schaffen flexible Raumnutzungskonzepte und hohe Deckenhöhen Abhilfe.

Obwohl uns diese Aspekte schon aus den Bemühungen um eine nachhaltige Entwicklung im Bauwesen bekannt sind, werden sie für das Thema Resilienz in einen etwas anderen Kontext gestellt.

Denn während es bei der nachhaltigen Entwicklung vorrangig darum geht, menschenwürdige Lebensumstände zu schaffen und Gefahren zu minimieren – dies soll über gesellschaftliche Ideale und durch die aktive Gestaltung der gegebenen Verhältnisse erreicht werden –, geht es bei der Resilienz nicht um eine Korrektur zerstörerischer Verhältnisse, sondern darum, sich an den voranschreitenden Zerstörungsprozess anzupassen.

Widersprüchliche Anforderungen

Bezogen auf Aspekte des Klimawandels werden Gebäude beispielsweise durch das Zusammenspiel von Gebäudehülle und -technik und einer vorausschauenden Auslegung der erforderlichen Heiz- und Kühlsysteme resilient. Forscher der Hochschule Luzern haben verschiedene Kühlabgabesysteme in Bürobauten miteinander verglichen und analysiert, wie gut sie sich jeweils an zukünftige Klimaentwicklungen anpassen lassen.[3]

Für die Untersuchung wurden Umluftkühlung, Kühldecken und Betonkernaktivierung betrachtet. Dabei wurde die Robustheit der Systeme in Bezug auf Energiebedarf und thermische Behaglichkeit untersucht. Gut geeignet für eine Klimaanpassung sind laut der Studie Kühldecken und Betonkernaktivierung. Letztere steht allerdings im Widerspruch zum Wunsch nach Systemtrennung für resiliente Gebäude.

Kühldecken haben Einfluss auf die empfundene Temperatur und verfügen über mehr Leistungsreserven als andere Systeme. So können sie die Behaglichkeit auch dann gewährleisten, wenn der Kühlbedarf steigt. Für die Untersuchung wurde eine geschlossene Kühldecke aus Kunststoff-Kapillarrohrmatten im Kunststoffputz auf einem Putzträger betrachtet.

Das System Betonkernaktivierung schnitt zwar in puncto Klimaanpassung gut ab, was den Energiebedarf sowie die Überhitzungsstunden im Sommer anbelangt, wurde es in der Studie allerdings fast durchgehend schlechter bewertet als die anderen Systeme. Eine Betonkernaktivierung bietet den Vorteil, dass die Nachtbetriebszeit des Systems angepasst werden kann, aber hierzu wird eine Nachtvorkühlung benötigt. Diese wiederum senkt die Raumtemperatur auf ein tieferes Niveau als eigentlich nötig wäre und erhöht so den Bedarf an Nutzenergie. Für die Betonkernaktivierung wurde eine 30 cm dicke Betondecke mit einem wasserdurchflossenen Rohrsystem betrachtet.

Umluftkühlsysteme schnitten in der Studie in Bezug auf den Energiebedarf gut ab, eignen sich aber weniger gut zur Klimaanpassung als die anderen Systeme. Bei Gebäuden mit grösserer Masse hat die Umluftkühlung einen kleineren Klimakältebedarf im Vergleich zur Kühldecke. Betrachtet wurde ein Umluftkühlgerät ohne Entfeuchtung, das auf der Sekundärseite mit Kaltwasser betrieben wird. Die Raumluft wird mit einem Ventilator und mit konstantem Volumenstrom durch einen Wärmetauscher geschickt.

Die Ergebnisse legen ausserdem nahe, dass Kälteabgabesysteme, die für heutige Klimabedingungen dimensioniert sind, nicht in der Lage sind, den Kühlbedarf der Zukunft zu decken. Es ist sinnvoll, sie zum Zeitpunkt der Erstellung bis zu einem gewissen Grad überzudimensionieren, damit sie auch einen zunehmenden Klimakältebedarf problemlos abdecken.

Proaktive Anpassung an den Klimawandel

Die Tragweite des Klimawandels ist noch immer mit Ungewissheit behaftet. Wie schwer sich der Wandel auswirkt, wird abhängig sein von der Klimasensibilität der Erde und ihrer Resilienz gegenüber den Kräften, denen sie ausgesetzt ist. Die Frage ist, wie schnell wir es schaffen können, uns und unsere Gebäude proaktiv an klimatische Veränderungen anzupassen. Dass die Zeiträume zur Abwendung der Klimakatastrophe und zur Anpassung unserer gebauten Umwelt jenseits von typischen politischen und sozioökonomischen Zeithorizonten liegen, vereinfacht die Aufgabe nicht unbedingt. Um langfristig potenzielle zukünftige Auswirkungen des Klimawandels zu vermeiden und dessen Effekte zu mildern, müssen dennoch bereits heute dringend Massnahmen ergriffen werden.

Entwurfsleistungen zur Gebäudeadaption hinsichtlich zukünftiger Anforderungen des Klimawandels sind im Bauwesen momentan noch kaum erkennbar. Und das, obwohl die Risiken, die aus dem Klimawandel für Gebäude und deren Bewohner entstehen können, bereits heute bekannt sind. Es braucht politische Vorgaben, die Bauherren und Planern deutlich die Signifikanz von klimaadaptiven Gebäuden und die damit verbundenen Anforderungen an das Gebäudedesign signalisieren. Architekten und Ingenieure müssen Gebäude in der Planungsphase stärker auf diese Anforderungen hin ausrichten und darin geschult werden, wie gutes Klimadesign für die Zukunft aussehen kann. Denn, um es mit den Worten des griechischen Staatsmanns Perikles zu sagen: «Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusagen, sondern darauf, auf die Zukunft vorbereitet zu sein.»


Anmerkungen.
[01] IPCC: Climate Change 2014: Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change (Core Writing Team, R.K. Pachauri and L.A. Meyer [eds.]), Genf 2014.
[02] E.M. Zubler et al.: Key climate indices in Switzerland; expected changes in a future climate, Climatic Change 123:255., 2014, DOI: 10.1007/s10584-013-1041-8.
[03] Bundesamt für Energie BFE (Hrsg.): Robustheitsbewertung von integrierten gebäudetechnischen Kühlkonzepten in Verwaltungsbauten hinsichtlich Klima und Nutzervariabilität, Schlussbericht, Bern 2017.

TEC21, Fr., 2017.03.31



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Von Welle und Klang

Die vom Wellenschlag geprägte Formensprache der Elbphilharmonie setzt auch im Innern des Konzertsaals Akzente. Aufwendige Computersimulationen und digitale Fertigung sollten den Klang optimieren. Dennoch weist die Akustik des Saals noch Schwächen auf.

Die vom Wellenschlag geprägte Formensprache der Elbphilharmonie setzt auch im Innern des Konzertsaals Akzente. Aufwendige Computersimulationen und digitale Fertigung sollten den Klang optimieren. Dennoch weist die Akustik des Saals noch Schwächen auf.

Wie bringt man einen Konzertsaal, der räumlich und formal alles andere als konventionell zu nennen ist, optimal zum Klingen? Vor dieser Frage stand der japanische Akustiker Yasuhisa Toyota, als er den Auftrag zur Ausgestaltung des grossen Konzertsaals der Elbphilharmonie in Hamburg erhielt. Seine Antwort darauf: ein «demokratischer» Aufbau. Die Besucherränge, die rund um die Bühne und das Orchester angeordnet sind, steigen in dem verwinkelten Saal terrassenartig wie ein Weinberg an. Dadurch soll jedem einzelnen Zuhörer ein gleichermassen gutes Klang­erlebnis beschert werden, während er gleichzeitig dem Geschehen auf der Bühne räumlich näher rückt.

In keinem vergleichbar grossen Konzerthaus der Welt sitzen die ­Besucher so dicht am Orchester, die maximale Entfernung zur ­Bühne beträgt 30 m. Ca. 2100 Personen fasst der Saal, der höchste Platz liegt 17 m über dem Parkett. Der Grosse Saal ist als Haus im Haus konzipiert und akustisch vom restlichen Gebäude abgekoppelt. Die Saalwände sind zweischalig: Sie bestehen aus einer äusseren und einer inneren Betonschale, die einander nicht berühren. Der gesamte Saal ist zudem an seiner Unter­seite durch mehr als 300 Stahlfedern vom rest­lichen Gebäude abgekoppelt (vgl. «Kraftfluss für die Musik»).

Ein von der Decke in den Raum ragender Akustikpilz sorgt im Zusammenspiel mit der von Yasuhisa Toyota vorgesehenen «weissen Haut» aus Akustikpaneelen an Wänden und Decke für die gezielte Streuung des Schalls (vgl. Abb. 3). Die «weisse Haut» besteht aus 10.000 individuell CNCgefrästen Gipsfaser­platten, deren Oberfläche eine wellige Struktur aus schalldiffundierenden Zellen bildet und so die ebenfalls von Wellen geprägte Formensprache der Elbphil­harmonie aufgreift. Das unregelmässige Muster der Paneele wurde von Architekt und Informatiker Ben­jamin S. Koren über Algorithmen in aufwendigen Computersimula­tionen entwickelt (vgl. Kasten unten).

Acht Jahre Arbeit und 18.000 Zeilen Programmiercode stecken im digitalen Planungsprozess. Je nach ihrer Lage im Konzertsaal und in Abhängigkeit davon, wie viel Schall von ihnen reflektiert werden soll, wurden die Akustikpaneele in ihrer Stärke und die schalldiffundierenden Zellen in Form, Grösse und Tiefe rechnerisch angepasst. Die einzelnen Zellen variieren daher in ihrem Durchmesser von 4 bis zu 16 cm. Für die Werks und Montageplanung der Paneele arbeitete das beauftragte Ausbauunternehmen eng mit Korens Planungsbüro zusammen, das ein Softwareprogramm zur ­Automatisierung der 3DPlanung und der digitalen Produktion entwickelte. Im Werk wurden die Platten mittels einer FünfachsFräsmaschine gefertigt. Die raue Haptik der Oberfläche ­erreichte man, indem das dreidimensionale Schalldiffusionsmuster unter Verwendung eines Kugelfräsers in parallelen Spuren und mit grossen Achsabständen in die Platten gefräst wurde.
Schon das Optimum?

Seit dem Eröffnungskonzert in der Elbphilharmonie tauchen in den Medien auch Berichte von enttäuschten Konzertbesuchern auf, die das von Yasuhisa Toyota angestrebte «demokratische» Klangerlebnis vermissen. Im Saal scheint es bessere und schlechtere Plätze zu geben. Zudem wird gern betont, dass der Saal eher für die leisen Töne geeignet sei und den Zuhörer bei allzu lauten Stücken akustisch schnell überfordere. Das klang­liche Optimum ist noch nicht überall erreicht. Nach Einschätzung von Benjamin S. Koren ist dies jedoch kein Grund zur Beunruhigung, ist doch ein nachträgliches Nachrüsten der akustischen Komponenten eines neuen Konzertsaals eher die Regel als die Ausnahme (vgl. Kasten unten). Auch Yasuhisa Toyota räumte bereits ein, dass die Akustik im Saal zukünftig immer wieder nachjustiert werden müsse.[1] So bleibt die Elbphilharmonie noch eine Weile «work in progress», um ihr Ziel zu erreichen: eines der besten Konzerthäuser der Welt zu werden.


Anmerkung:
[01] Horst Hollmann: «Wie gut ist die Akustik der Elbphilharmonie wirklich?», NWZ Online, 17.2.2017.

TEC21, Fr., 2017.03.24



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Altruist

Sieht so die Zukunft aus? Weil Architekten zu Forschern wurden und ein Gebäude zum ­selbstlosen Energieversorger, entstanden allerlei technische ­Neuerungen. Das Wohnhaus ist ein Ideenpool für künftige Energiesysteme.

Sieht so die Zukunft aus? Weil Architekten zu Forschern wurden und ein Gebäude zum ­selbstlosen Energieversorger, entstanden allerlei technische ­Neuerungen. Das Wohnhaus ist ein Ideenpool für künftige Energiesysteme.

Viele Jahre vergehen für Planung und Bau, getragen von Akteuren, die man nicht unbedingt erwarten würde: Im Zentrum von Vaduz entsteht derzeit das Active Energy Building von Falkeis Architects – Anton Falkeis und Cornelia Falkeis-Senn und einem Team von Forschern, Entwicklern, ­Schlossern, Maschinenbauern, Robotikern und vielen mehr. Das Gebäude setzt sich aus zwölf Wohneinheiten zusammen und produziert mehr erneuerbare Energie für Heizung und Kühlung, als es selbst verbraucht. Dabei versorgt es gleichzeitig sich selbst und bildet einen Versorgungsknoten für die Nachbargebäude. Das Energiekonzept des Gebäudes basiert einerseits auf bewährten Prin­zipien und Systemen, beispielsweise Geothermie zur Bereitstellung von Wärmeenergie sowie Photovoltaikzellen für Strom. Andererseits sind einige der ein­gebauten Technologiekomponenten eigens für dieses Gebäude entwickelte Prototypen, deren Anwendung für zukünftige Energiesysteme als Vorlage dienen kann, etwa jene für die Klimaregulierung.

Gebaut wird im Energy Cluster

Das Areal, auf dem das Bauwerk errichtet ist, beinhaltet Wohn- und Bürogebäude, Grünanlagen und überbaute Tiefgaragen. Hier soll durch die ausschliessliche Verwendung von erneuerbaren Energiequellen sowie durch die Verknüpfung mit einem Pumpspeicherwerk und E-Mobility die CO2-Bilanz künftig auf vorbildlich niedrigem Niveau gehalten werden. Das Active Energy Building steht im Verbund mit den anderen Gebäuden des Areals und bildet mit ihnen einen sogenannten ­Energy Cluster (Abb.). Der Vorteil: Die dezentrale Energieversorgung kann innerhalb dieses Netzwerks besser genutzt werden als von einem Einzelobjekt. Denn je nach Nutzung der Wohn- und Büroräume entstehen zu unterschiedlichen Tageszeiten Energiebedarfsspitzen. In Summe sind sich die Energieverbräuche auf dem Areal am Vormittag und Abend dadurch viel ähnlicher, als dies im Einzelfall für Wohngebäude oder Büros zutrifft, wo sich der Bedarf im Tagesverlauf von tiefen Tälern zu hohen Spitzen und wieder talwärts schwingt.

Bewährte Systeme weisen den Weg zu Innovationen in der Energietechnik

Für die Nutzung von Geothermie wird dem Erdreich an zwei Stellen Wärme entnommen bzw. zugeführt. Einmal mit einer Entnahmetiefe von 13 m und einer Förder­leistung von 900 l/min, im anderen Fall mit einer ­Entnahmetiefe von 15 m und einer Förderleistung von 1800 l/min. Die Verteilung der thermischen Energie im Cluster erfolgt je nach Aktivität der Nutzungen.

Für die Bereitstellung von PV-Strom sind die schmale Südseite und das gesamte Dach als aktive Flächen ausgebildet. Um bei jedem Sonnenstand für einen maximalen Energieertrag zu sorgen, spielt die ideale Ausrichtung der PV-Zellen zur Sonne eine grosse Rolle. Daher wurden die energiegewinnenden Elemente so konzipiert, dass sie sich mit dem Sonnenstand mit­drehen (Abb.). Die Photovoltaikflügel wurden speziell für dieses Projekt entwickelt. Die Solarzellen selbst sind zwar weitläufig erhältlich, doch für die ­Konstruktion der gebäudeintegrierten, dreiachsigen Nachführung wurde das Planungsteam um Robotik­ingenieure und Maschinenbauer erweitert.

Für die Klimaregulierung an der Ost- und Westseite des Gebäudes wurden in Zusammenarbeit mit Forschern der Hochschule Luzern spezielle Fassadenmodule mit Latentwärmespeicher entwickelt. Die Tests und Simulationen mit den mit einem Phase-Change-Material (siehe Kasten «Phase Change Materials» unten) auf Paraffinbasis gefüllten Flügelelementen nahmen fast drei Jahre in Anspruch. Die Recherche gestaltete sich schwierig, denn die meisten PCM-Hersteller am Markt rieten von dieser noch kaum erforschten Technologie ab. Nachdem sich keine Partner aus der Industrie gefunden hatten, musste die erforderliche Kompetenz für Forschung, Entwicklung und Umsetzung von falkeis.architects selbst aufgebaut werden.

Als Vorbild dient die Natur

Um die im obersten Geschoss angebrachte Energie- und Klimatechnik aufzunehmen, entwickelten die Planer ein Tragwerk aus Stahl, das sie auf das Gebäude setzten. Die Konstruktion umspannt das Dachgeschoss sowie Teile der Ostfassade und ermöglicht zudem die elf Meter lange, südseitige Auskragung des Attikageschosses.

Die Stahlstruktur basiert auf einem Vorbild aus der Natur: dem Voronoi, das organischen Zellen ähnelt. Zum Beispiel bestehen die Flügel einer Libelle aus einer solchen Struktur aus einzelnen Feldern, die so zusammengesetzt sind, dass sie bei geringem Gewicht eine sehr hohe Stabilität aufweisen. Nur so kann die Libelle fliegen. Als Voronoi-Algorithmus bezeichnet man eine Zerlegung des Raumes in bestimmte Regionen. Jede Region wird durch genau ein Zentrum bestimmt und umfasst alle Punkte des Raumes, die näher am Zentrum der Region liegen als an jedem anderen Zentrum.

Die Voronoi-Tragstruktur besteht aus einzelnen zusammengeschweissten Blechträgern. Hierzu wurden die Einzelteile entweder über Kopfplatten mit Schraubverbindungen gefügt oder an ihren Flanschen mit V-Nähten zusammengeschweisst. Alle Träger weisen eine gleichbleibende Höhe von 80 cm auf, bei variabler Neigung der Stege von bis zu 42°. Sie sind im Stahl­betonverbund mit der Gebäudehülle verschnitten. Die Dach- und Fassadenelemente sind über Metalllaschen untereinander verbunden.

Wie Blütenköpfe drehen sich die PV-Elemente zur Sonne

In die polygonalen Felder der Voronoi-Struktur fügen sich Fenster, Oberlichter und alle beweglichen Elemente ein. Darunter sind mehrere Arten von PV- und PCM-Modulen. An der Lamellenfassade im Süden und auf den Balkonelementen im Osten sind polykristalline Zellen installiert, die zusammen 11 kWp liefern. Elf mit monokristallinen Modulen ausgestattete Oberlichter kommen auf 5.4 kWp. Der Grossteil des PV-Ertrags kommt aber von 13 dreiachsig nachgeführten Photovoltaikflügeln mit Flächen von bis zu 12 m², die in der Voronoi-Struktur des Dachs untergebracht sind. Sie folgen, ähnlich den Blütenköpfen von Blumen, während des Tages dem Sonnenverlauf.

Mit einem seit 2014 installierten Mock-up konnten Forscher der HSLU einen Ertragsfaktor von 2.9 nachweisen. Die 34.79-kWp-Anlage wird somit den jährlichen Solarertrag einer gleich grossen, fix ­montierten Solaranlage nahezu verdreifachen. Damit soll das gesamte Areal mit Solarstrom versorgt werden können. Überschüsse, die nicht genutzt werden, nimmt die Kraftwerks AG ab.

Die Klimaregulierung funktioniert phasenweise verschoben

Sieben mit einem Phase Change Material (PCM) als Latentwärmespeicher ausgestattete Klimaflügel sind an der Ost- und Westseite des Gebäudes in die polygonalen Zwischenräume der Voronoi-Struktur eingepasst. In ihrer Ruheposition liegen die Flügel flach in der Trag­struktur und dienen dem Schutz vor sommerlicher Überwärmung. Mit von Solarstrom betriebenen Spindelmotoren, die die Flügel bis zu 110° aufklappen und dem Himmel beziehungsweise der Sonne entgegenstrecken, wird das Potenzial des Phase Change Materials maximal ausgeschöpft.

Die vier Heizflügel (Abb.) befinden sich an der Westfassade des Gebäudes und klappen in den Morgenstunden auf, während das darin enthaltene PCM noch fest ist. Dank der Ausrichtung zur Sonne wird das Paraffin im Material erhitzt und verflüssigt sich bei einer Temperatur von 32 °C. Sobald das geschmolzene PCM am Ende des Tages den maximalen Wärmeeintrag erreicht hat, schliessen sich die Flügel automatisch und docken mittels eines Ventils an das Lüftungssystem an. Über einen Wärmelufttauscher wird die freigegebene Energiemenge an das Haus abgegeben. Die PCM-Flügel decken rund 10 % der gesamten Heizlast ab.

Genau umgekehrt verhält es sich bei den drei ostseitigen Kühlflügeln (Abb.). Diese liegen untertags plan in der Fassade und klappen sich nachts auf, wenn das Material aufgrund der absorbierten Gebäudewärme vollständig geschmolzen ist. In den Nachtstunden wird die überschüssige Energie abgestrahlt. Bei 21 °C verfestigt sich das Paraffin und erstarrt. Noch vor Sonnenaufgang klappen die abgekühlten und erstarrten PCM-Module wieder ein und tragen zur Kühlung der zweigeschossigen Attikawohnung bei. Auf diese Weise können 16 % der Gesamtkühllast des Hauses eingespart werden.

Sowohl bei den Heiz- als auch bei den ­Kühl­flügeln handelt es sich um polygonale Carbon­faserrahmen, die mit waagerecht montierten Alu­minium­lamellen bestückt sind. Der Querschnitt der stranggepressten Lamellen erinnert an jenen von Flugzeugflügeln: Die Wölbung kann sich leicht verformen und nimmt auf diese Weise die zehnprozentige Volumen­änderung auf, die das darin enthaltene Paraffin zwischen flüssigem und festem Zustand aufweist.

Bei der Konstruktion zählt die digitale Innovation

Für das Tragwerk des Gebäudes kamen zwei verschiedene Stützenmodelle zum Einsatz: eine gleichschenk­lige symmetrische Betonfreiformstütze sowie ein asymmetrisches Modell mit einem diagonalen und einem ­vertikalen Schenkel (Abb.). Durch die mal A-, mal V-förmige Verbauung verdoppelt sich das Repertoire auf insgesamt vier Varianten.

Die genaue Position jeder einzelnen A- und V-Stütze wurde in einem iterativen digitalen Berechnungsverfahren, gesteuert durch einen genetischen Algorithmus, so lange optimiert, bis eine Synthese aus minimalem Materialeinsatz und maximalem Sonneneintrag über die Ost-, Süd- und Westfassaden erreicht war ­(siehe Kasten «Digitaler Entwurf» unten).

Die Stützen verbinden sich untereinander zu komplexen Baumgebilden mit Verästelungen und Verzweigungen. Mit jeder Etage nimmt nicht nur die abzutragende Eigen- und Nutzlast ab, sondern auch die Zahl der dafür verantwortlichen Stützen. Die Spannweiten zwischen den Fuss- beziehungsweise Kopfpunkten betragen bis zu 12 m.

Die Freiformgeometrie mit der gedrehten Naht verleiht den Säulen ein weiches, organisches Erscheinungsbild. Zu verdanken ist die hohe Zeichnungsfähigkeit des ­Materials dem selbstverdichtenden High-Performance-­Beton (HP-Beton) mit hohem Quarzanteil, harter Gesteinskörnung und beigemischten Polypro­pylen­fasern (PP-Fasern). Entwickelt wurde die Betonrezeptur ­namens «alphapact P080» in Kooperation mit Holcim Schweiz.

Für den ungleichmässigen Querschnitt der ­Stütze wurde eine dreiteilige Gussform als Schalung entwickelt, die auf Basis der 3-D-Daten aus Epoxidharz gegossen wurde und keinerlei Hinterschneidungen enthält. ­Eingeschweisste und einbetonierte Anker- und Anschlussplatten mit integrierten Messpunkten erleichterten nicht nur die Montage vor Ort, sondern sorgten auch dafür, dass die geringe Bautoleranz von zwei Millimetern sogar noch unterschritten werden konnte.

Ein interessantes Experiment

Das Active Energy Building ist zweifellos interessant hinsichtlich seiner technischen Funktionen und Entstehungsgeschichte. Seine Erstellung erforderte einen hohen planerischen und bautechnischen Aufwand, was nur durch die finanzielle Unterstützung der Bauherren möglich wurde, die als Forschungsmäzene wirkten.

Das Ehepaar Marxer, das den Auftrag für das Bauwerk erteilte, appellierte an den Erfindungsreichtum der Architekten und bot ihnen die Chance, die Grenzen des technisch Möglichen auszureizen. Das ­Active Energy Building ist nicht als klassisches Architekturprojekt zu verstehen, sondern als ein Experiment, das zur Architektur- und Wohnbauforschung beiträgt. Nach dem Bezug des neuen Gebäudes wird über einen Zeitraum von zwei Jahren ein externes Monitoring zur weiteren Optimierung der Energieproduktion und -einsparung eingesetzt werden. Schon jetzt gibt es dank dem Active Energy Building einige neue Patente für Bauelemente. Es bleibt spannend und abzuwarten, wie sich die Forschungsergebnisse zukünftig auf die Baubranche auswirken werden.

TEC21, Fr., 2017.02.17



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21. Oktober 2016Viola John
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Höhere Fügung

Systemtrennung am Gebäude ist ein Nachhaltigkeitsthema. Entscheidend für den Erfolg sind die Verknüpfung der Komponenten und die interdisziplinäre Planung.

Systemtrennung am Gebäude ist ein Nachhaltigkeitsthema. Entscheidend für den Erfolg sind die Verknüpfung der Komponenten und die interdisziplinäre Planung.

Das Thema Systemtrennung ist seit einigen Jahren fester Bestandteil der Diskussion um nachhaltiges Bauen, kommen hier doch alle drei Nachhaltigkeitsaspekte zusammen. Aus ökologischer Sicht geht es um Ressourcen­effizienz in der Baustoffverwertung durch eine vereinfachte Nutzbarmachung von Bau­stoffen für die Wieder- bzw. Weiterverwendung und das Recycling (Abb. «Ökologische Betrachtung»).[1]

In ökonomischer Hinsicht lässt sich durch leicht erreich- und austauschbare Bauteile eine Kostenreduktion bei der Instandhaltung und -setzung im Gebäude­lebenszyklus realisieren. Aus dem gesellschaftlichen Blickwinkel stehen Umnutzbarkeit und Nutzungsflexibilität im Vordergrund, dank denen zukunftsfähige und anpassbare Bauwerke entstehen. Hierzu wird das Gebäude konzeptionell in verschiedene Systeme von baulichen Einheiten gegliedert, die sich durch ihre Lebensdauer und Funktion unterscheiden und daher voneinander konstruktiv separierbar ausgeführt werden sollen (Kasten unten: «Die Systeme»).

Rückbaufähigkeit und Nutzungsflexibilität

Werden kurzlebige Bauelemente untrennbar mit lang­lebigen verbunden, reduziert sich die Lebensdauer des ganzen Gebäudes mitunter auf die der kurzlebigen Bauteile. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Integration von Installationen und Gebäudetechnik in die tragende Konstruktion (etwa durch das Einbetonieren von Leitungen), deren Erneuerung dann mit hohem Aufwand verbunden ist. Während die Gebäudetechnikkomponenten in der Regel nach etwa 15 bis 20 Jahren ausgetauscht werden, ist die Haupttragstruktur darauf ausgelegt, 60 Jahre und länger Bestand zu haben.

Zur Zeit der Planungsphase ist noch kaum absehbar, ob und wie stark sich die Anforderungen des Nutzers bis zum Lebensende des Gebäudes wandeln werden. Eine spätere Anpassung des Bestands wird insbesondere dann erschwert, wenn das Bauwerk strukturell und funktionell auf eine spezielle Erstnutzung ausgerichtet wurde (der Siedlungswohnungsbau der 1970er-Jahre beispielsweise lässt sich aufgrund seiner Bauqualität und seiner Grundrisse nur schwer an heutige Nutzerwünsche adaptieren). Eine bauliche Umgestaltung ist dann oftmals sehr aufwendig.

Getrennte Systeme im Lebenszyklus …

Um solche potenziellen Herausforderungen des Gebäudelebenszyklus schon in der Planung von Neubauten adäquat zu berücksichtigen, wird heute zunehmend das Prinzip der Systemtrennung angewandt. Systemtrennung ist aber auch ein Erneuerungsthema, bietet sie doch eine mögliche Antwort auf die Frage, wie wir zukünftig mit Bestandsbauten umgehen wollen. Der Aufwand für Abriss und Ersatzneubau des gesamten heutigen Gebäudeparks wäre riesig, Entkernen und technisches Umrüsten nach Prinzipien der Systemtrennung stellen daher eine sinnvolle Strategie dar.

Das wirft in der Erneuerung allerdings ebenso wie im Neubau immer wieder die Frage auf: Wie muss ein Haus aussehen, das auch in 50 Jahren mühelos verändert werden kann, sodass man lang daran Freude hat? Und nach welchen Kriterien kann eine Opti­mierung im Lebenszyklus idealerweise erfolgen? In der Gebäudezertifizierung haben solche Kriterien zur Systemtrennung bereits Einzug gehalten. Das Deutsche Gütesiegel Nachhaltiges Bauen (DGNB) bewertet unter anderem die Anpassungsfähigkeit von technischen Systemen. Laut DGNB ist diese dann besonders nachhaltig umgesetzt, wenn der Wandel mit einem geringen Ressourceneinsatz verbunden ist.[2]

Der Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz SNBS konstatiert, dass eine flexible und anpassungsfähige Raumstruktur mit hoher Gebrauchsqualität die Basis für einen ressourcenschonenden Raumbedarf bildet. Entsprechend findet sich in der aktuellen Ausgabe des «Kriterienbeschriebs Hochbau» für Wohn- und Bürobauten des SNBS (vgl. «Note 4 oder besser für Wettbewerbsprojekte») eine Übersicht der Punkte, die es beim Unterhalt und Ersatz von Bauteilen im Sinn einer unkomplizierten Um- und Rückbaubarkeit von Bauwerken zu beachten gilt (Kasten unten: «Auf einen Blick: Worauf ist laut SNBS zu achten?»).[3]

Die spätere Nutzungsflexibilität des Gebäudes kann z. B. über ausreichend grosse Gebäuderaster mit entsprechenden Gebäudetiefen berücksichtigt werden, wodurch unterschiedliche Grundrisslayouts möglich werden. Auch die Geschosshöhen lassen sich im Hinblick darauf optimieren. Das Amt für Grundstücke und Gebäude des Kantons Bern beispielsweise arbeitet für die Planung öffentlicher Gebäude mit der Empfehlung, dass die Raumhöhe in den Erd- und Ober­geschossen von Neubauten 3.6 m betragen sollte (vgl. «Wandlungsfähige Häuser»).[4]

Zur Gewährleistung der Nutzungsflexibilität gehört auch, in der Bemessung der Primärkonstruktion etwaige Anpassungen der Nutzlasten und gegebenenfalls eine Verstärkung der Fundamente einzuplanen. Für technische Installationen kann Reserve­platz in den Steigzonen und Horizontalerschliessungen vorgesehen werden für den Fall, dass in Zukunft in grossem Umfang heute unbekannte Technikkomponenten eingebaut werden müssen. Die Zugänglichkeit für Wartung, Unterhalt und Nachinstallation wird über Revisionsöffnungen gewährleistet.

… und ihre Fügung

Die Leitungen für Strom, Heizung und Lüftung können über dezentrale Installationseinheiten an Decke oder Fassade gleichmässig im Raum verteilt werden. Dieses Vorgehen hat sich unter anderem bereits im Bürobau und bei Funktionsbauten bewährt. Mittlerweile gibt es auch im Wohnungs­bau Beispiele für eine revisionierbare Unterbringung von Installationsleitungen über Vorwand­elemente und flexibel zugängliche Elektroinstallationen über Bodenkanäle. Eine generelle Empfehlung auf Bauteilebene ist, bei der Fügung verschiedener Baustoffe mit unterschiedlichen Lebensdauern auf Klebeverbindungen zu verzichten und stattdessen mechanische Verbindungen, beispielsweise mit Schrauben, zu bevorzugen.

Wenn ein Gebäude schnell errichtet, umnutzbar und gut rückbaubar ausgeführt werden soll, ist der Systembau eine interessante Möglichkeit. Hierbei werden vorgefertigte Bauteile oder Module auf der Baustelle zusammengesetzt. Durch die Vorfertigung der Elemente verkürzt sich die Bauzeit. Vorteile bieten sich auch durch die Witterungsunabhängigkeit während der Vorfertigungsphase und die Präzision in der seriellen Fertigung.

Auf der Baustelle fällt zudem durch standardisierte Prozesse weniger konstruktionsbedingter Abfall an. Die Produktion im Werk bietet die Möglichkeit, den Anteil sortenreiner Materialchargen zu erhöhen, und begünstigt so späteres Recycling. Ein weiteres Plus: Modulares Bauen braucht nicht unbedingt mit dauerhaften Materialien realisiert zu werden, denn auch kurzlebige Baustoffe können einfach ausgewechselt und der Verwertung zugeführt werden.

Der Systembau hat sich zum Beispiel bei Funktionsbauten, Hallen oder grossen Bürogebäuden durchgesetzt, wo als Material hierfür häufig Stahl verwendet wird. Bei Wohnbauten, Schulen und Kindertagesstätten, Büros und Produktionsgebäuden hat sich der modulare Holzbau etabliert.

Im Team digital planen

Zur Umsetzung der Systemtrennung und des Systembaus muss detailliert strategisch vorausgedacht werden, damit die Fügung der Komponenten auf Gebäude- und Bauteilebene optimiert werden kann. Unabdingbar ist insbesondere die enge interdisziplinäre Zusammen­arbeit von Architekt, Ingenieur und Fachplanern im frühen Stadium des Projekts. Der Planungsaufwand kann sich dadurch gegenüber einer konventionellen Bauweise erhöhen.

Zudem müssen die unterschiedlichen Interessen aller Beteiligten miteinander vereinbart werden, wodurch die Systemtrennung nicht immer konsequent umgesetzt werden kann (vgl. «Mehr als die Summe der Teile»). Architekten sehen sich dann manchmal auch mit Kompromissen und gewissen Einschränkungen ihrer entwerferischen Freiheit konfrontiert. Hierin liegen sicher einige Gründe dafür, dass sich die Systemtrennung – trotz ihrer Vorteile – in der Bau­praxis noch immer nicht recht durchsetzen konnte.

Andererseits verspricht die fortschreitende Digitalisierung im Planungsprozess durch das Building Information Modelling (BIM) zukünftig eine vereinfachte gewerkeübergreifende Überlagerung der verschie­denen Fachdisziplinen; dadurch lassen sich Prinzipien der Systemtrennung schon früh in den planerischen Ablauf integrieren. Ausserdem bieten digitale Planungsprozesse die Möglichkeit der Modularisierung von Teilsystemen, wie im Automobilbau. Dabei wird das programmierte Gebäude nicht als Ansammlung von Einzeldaten, sondern als Modell mit überschaubaren Teilmodulen verstanden (vgl. «Gebäude programmieren», TEC21 42/2015).

In Zukunft sollte es möglich sein, einige der planungsbedingten Nachteile endgültig mit den Vorteilen der systematischen Bauteiltrennung aufzuwiegen. Diese Entwicklungen ebnen den Weg dafür.


Anmerkungen:
[01] Sebastian El khouli, Viola John, Martin Zeumer: «Nachhaltig konstruieren», DETAIL Green Books, München 2014.
[02] DGNB (Hrsg.): «DGNB Kriterien», http://www.dgnb-system.de, 2016.
[03] NNBS (Hrsg.): «SNBS Kriterienbeschrieb Hochbau», Version 2.0, https://www.nnbs.ch, 2016.
[04] AGG Bern: «Richtlinien Systemtrennung», Amt für Grundstücke und Gebäude des Kantons Bern, Bern 2009.

TEC21, Fr., 2016.10.21



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TEC21 2016|43 Gemeinsame Wege – getrennte Systeme

Die Rückkehr des Einfachen

Rund fünf Dutzend Länderpavillons gibt es an der Biennale zu sehen – die meisten lohnen den Besuch. Auffällig ist, wie viele Beiträge sich existenziellen Problemen widmen: ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber mit treffenden Ideen und unkonventionellen Lösungsvorschlägen. Eine kleine Auswahl.

Rund fünf Dutzend Länderpavillons gibt es an der Biennale zu sehen – die meisten lohnen den Besuch. Auffällig ist, wie viele Beiträge sich existenziellen Problemen widmen: ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber mit treffenden Ideen und unkonventionellen Lösungsvorschlägen. Eine kleine Auswahl.

Weil das Motto der Hauptausstellung – und somit der ganzen Biennale – in der Regel erst zu einem Zeitpunkt bekannt gegeben wird, wenn die Themen der Länderpavillons bereits feststehen, gehen nicht alle nationalen Ausstellungen darauf ein. Dennoch fällt auf, dass dieses Jahr viele Pavillons jenen Fragen gewidmet sind, um die auch die Hauptausstellung kreist: die Aktionsmöglichkeiten von Architektinnen und Architekten jenseits ästhetischer Themen. Armut, prekäre Lebensverhältnisse, Krieg, Ausbeutung, Leben auf der Flucht, Migration, Krankheit und Entfremdung scheinen die Architekturschaffenden zunehmend zu beschäftigen, und das kommt in vielen Pavillons zur Sprache.

Die Vielfalt der Ansätze und die zum Teil brillanten Inszenierungen sind erfreulich und lassen – trotz der thematisierten Missstände – ein hoffnungsvolles Gefühl zurück. Daneben gibt es wie jedes Jahr eine Reihe von Pavillons, die mit einer unerwarteten, zuweilen eher zufällig ­anmutenden Schau überraschen. Und schliesslich sind – weniger überraschend – die Selbstdarstellungen diverser Diktaturen zu sehen, die in ihrer Selbstverherrlichung amüsant wirken würden, wären sie nicht so todernst gemeint.

Finnland: soziale Integration

Ein Absperrband in den finnischen Nationalfarben begrüsst die Besucher im Türrahmen, um darauf hinzuweisen, dass man eine Grenze überschreitet und finnisches Hoheitsgebiet betritt. Die Ausstellung ist der Flüchtlingskrise und den Antworten seitens der Architektur gewidmet. Dokumentiert werden die Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs, bei dem Immigrantenunterkünfte konzipiert werden sollten. Es ging um die Schaffung eines neuen Zuhauses, das die Integration der Neuankömmlinge erleichtert. Die Strategien reichen von Umnutzungen über Infrastrukturen zur Verteilung bestehenden Wohnraums ­ bis hin zur Schaffung temporärer Wohn­einheiten. Immer im Fokus: die soziale Dimension der Integration, die über durchmischte Wohnformen erreicht werden soll. Die Ausstellung will einen Anstoss zu Diskussionen bieten: Mitreden kann jeder, direkt vor Ort oder online unter www.frombordertohome.fi

Irland: der Raum als Feind

Um die Installation «Losing Myself» zu verstehen, muss man sich ein wenig Zeit nehmen. Dann aber erfährt man mehr über die räumliche Wahrnehmung von Alzheimerkranken als nach der Lektüre von manchem Wälzer: am eigenen Leib nämlich. Während man sich auf die Pläne für ein Heim konzentriert, die auf den Boden projiziert werden, verändern sich das Licht und die Geräusche schleichend. Auf einmal wirkt Kindergelächter bedrohlich, Kirchenglocken lassen einen taumeln, und die Sicht scheint sich zu trüben. Man erahnt, wie unerträglich es für die vielen dementen Menschen in unserer alternden Gesellschaft sein muss, sich im Raum zu orientieren – und wie anspruchsvoll die architektonische Aufgabe ist, ihnen dennoch adäquate Lebensräume zur Verfügung zu stellen. Eine Lektion in Demut und eine sinnliche Bereicherung zugleich.

Grossbritannien: suffizient bis ins Letzte

Die Ausstellung thematisiert die hohen Wohnpreise in London und reflektiert neue Wohnkonzepte. Unter dem Titel «Home Economics» sind fünf Wohnmodelle zu sehen, die für unterschiedliche Nutzungsdauern optimiert und dem ökonomischen Existenzminimum der Bewohner angepasst wurden. Alle Projekte lassen britischen Humor erkennen und sind so klein, dass sie als 1 : 1-Modell im Pavillon Platz finden. Die erste Einheit ist eine aufblasbare Kugel, die für die Nutzung während weniger Tage gedacht ist: Alles, was man benötigt, um sich zu Hause zu fühlen, ist ein Wi-Fi-Anschluss.

Für mehrere Monate genügt eine Holzbox mit Hochbett, Wasch­becken und Toilette. Auch das etwas grössere Eigenheim für Jahre erinnert an die Grundausstattung einer Gefängniszelle. Zur Nutzung über Dekaden wird eine Reihe funktionsloser Räumen für maximale Flexibilität vorgeschlagen. Für einige Stunden sind Orte zur Nutzung für mehrere Personen angedacht, ganz nach dem Motto «Own nothing, share everything». Die Ausstellung bietet auf kleiner Fläche jede Menge Raum für Diskussionen und zeigt in überspitzter Form, was passiert, wenn das Thema Suffizienz zu Ende gedacht wird.

Rumänien: selbst- und ferngesteuert

Aus unterschiedlichen Positionen – als distanzierte Beobachter oder mitten in den Installationen – können die Besucher sechs mechanische Automaten mit stereotyp anmutenden Holzpuppen steuern. Die Frage des Kurators, ob unsere aktive, willentliche  Partizipation am Weltgeschehen nur eine Illusion sei, bleibt offen. Als Alternative zum Selfie, wie von den Ausstellungsmachern vorgeschlagen, eignet sich die rumänische Ausstellung ausgezeichnet – an kaum einem anderen Ort werden so viele Fotos von Besuchern mit den Installationen gemacht.

Niederlande: Blau steht für Frieden

An hunderten von Orten weltweit sind UNO-Friedenstruppen stationiert. Die Blauhelme sollen die Lebensbedingungen der dortigen Menschen verbessern, doch die Architektur ihrer Camps lässt wenig davon erahnen und trägt kaum dazu bei. Die Architektin und Kuratorin Malkit Shoshan präsentiert ein Gegenmodell: Camp Castor in Mali – hier ist die UNO im Einsatz, und die Niederlande versuchen dabei, die Basis nicht als Festung, sondern als Katalysator für die lokale Entwicklung zu gestalten. In geisterhaft blaues Licht getaucht, zeigt die Ausstellung Chancen und Herausforderungen im Land der Tuareg, die wegen ihrer indigofarbenen Kleider auch «blue men» genannt werden.

Japan: zwischen Ding und Mensch

Die japanische Gesellschaft befindet sich an einem Wendepunkt: Arbeitslose Jugendliche und wachsende Armut gehören nach dem wirtschaftlichen Wohlstand heute zum Alltag. Die Kuratoren fragen danach, wie sich die Archi­tektur den neuen Verhältnissen anpassen wird. Die ausgestellten Arbeiten sind aber nicht der Architektur selber gewidmet, sondern den Verbindungen der Dinge zu den Menschen und umgekehrt. In der buddhistischen Kultur prägt der Begriff «En» diesen Sachverhalt. Es werden verschiedene Aspekte von «En» untersucht – das, so die Kuratoren, das Potenzial in sich birgt, die Schwierigkeiten der kommenden Zeiten zu überbrücken.

Polen: von Fairness keine Spur

Sind faire Arbeitsbedingungen auf einer Grossbaustelle eine Ausnahme? Während die Besucher im polnischen Pavillon auf Baugerüsten sitzen, erzählen Bauarbeiter im Film über ihren Arbeitsalltag. Im zweiten Teil der Ausstellung führen Grafiken an den Wänden vor Augen, wie viele Schwarzarbeiter es gibt, wie viele unbezahlte Überstunden geleistet werden und welche anderen Missbräuche Planende und Arbeiter erdulden müssen. Widersprüche offenbaren sich zwischen dem Bild einer sich entwickelnden Gesellschaft und dem individuellen Schicksal. Im Gegensatz zu «Fair Trade» bei Konsumprodukten ist «Fair Work» auf Baustellen kein Thema – und das nicht nur in Polen.

Spanien: Qualität des Unvollendeten

In Spanien ist vieles, das während der Hochkonjunktur gebaut wurde, nie fertig geworden. Überall gibt es moderne Bau­ruinen. Im Gegensatz dazu steht das von den Architektur­medien vermittelte Bild eines baulichen Endzustands, der sich scheinbar nicht mehr wandelt. Die Ausstellung führt vor Augen, wie wichtig das Konzept des Unfertigen für die Architektur ist. Es lässt einen kontinuierlichen Prozess der Entwicklung zu und eine Tür offen zu Überraschendem, Unerwartetem und Ideen für zukünftige Erfindungen. Die Kuratoren Inaqui Carnicero und Carlos Quintans meinen, die Ökonomiekrise habe die Architektur in Spanien radikaler gemacht. Für ihren Beitrag wurden sie mit dem Goldenen Löwen 2016 ausgezeichnet.

Skandinavien: auf der Couch

Was ist die Essenz zeitgenössischer skandinavischer Architektur? Finnland, Norwegen und Schweden versuchen sich in ihrer Ausstellung «In Therapy» an einer Psychoanalyse. Aus 500 Projekten wurden neun ausgesucht und drei Kategorien zugeordnet: Projekte, die menschliche Grundbedürfnisse an Obdach, Gesundheit und Bildung erfüllen, die eine Zugehörigkeit ihrer Bewohner über öffentliche Räume und Begegnungsorte fördern und die die Werte der skandinavischen Gesellschaft ausdrücken. Im Pavillon darf man auf der sprichwörtlichen Couch Platz nehmen, und via Fernseher informieren Architekturtherapeuten über die Erkennt­nisse.

Das prägnanteste Ausstellungsstück ist eine Holzpyramide, die bis unter das Dach des Pavillons reicht. Sie lädt zum Klettern oder Sitzen ein, ihr tieferer Sinn erschliesst sich jedoch nicht auf den ersten Blick: Sie soll die Maslow’sche Bedürfnispyramide darstellen, ein Entwicklungsmodell der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse. So versteht sich die Ausstellung als Ausdruck einer Gesellschaft, die bereits die Spitze erreicht hat und es sich leisten kann, eine Architektur­diskussion in höheren Sphären zu führen.

Deutschland: Willkommen. Aber wie?

«Making Heimat» thematisiert die Frage, wie die Integration von Flüchtlingen und Migranten gelingen kann. Die Ausstellung zeigt Fotos von Bauprojekten, die aus Problemvierteln Orte der Toleranz machen. So wird die hessische Stadt Offenbach mit einem Anteil von über 50 % an Personen mit Migrationshintergrund als Vorbild für Integration präsentiert. Eine Fotoserie über Bewohner der Stadt dokumentiert die vielfältigen individuellen Lebenswege. Der Grundtenor der Ausstellung bleibt trotz Flüchtlingskrise optimistisch, das Fazit ist nicht neu: Heimat ist da, wo man sich zu Hause fühlt; wichtig für die Integration sind Bildung, Sprachkenntnisse, berufliche und familiäre Perspektiven, Offenheit sowie der Wille, sich mit der neuen Heimat zu identifizieren. Auch der Pavillon zeigt sich passend zum Thema ungewohnt zugänglich: Vier Durchbrüche durch die Aussenwände laden dazu ein, über Deutschland als offenes Einwanderungsland nachzudenken.

Uruguay: Krisenarchitektur

Die mit einfachen Mitteln realisierte Ausstellung «Reboot» thematisiert Architektur in Extremsituationen. Denn nur in einer solchen werde Kreativität von voreingenommenen baulichen Erfahrungen frei, sagt Kurator Marcello Danza. Ein Loch im Pavillonboden, aus dem die Erde ausgehoben wurde, erinnert an eine Gruppe des Liberacion Nacional Tupamaros, die Ende der 1960er-Jahre mitten in Montevideo im Untergrund ein Raum­system baute, das versteckt neben dem offiziellen existierte. Eine andere Installation erinnert an das «Wunder der Anden» von 1972, als einige Passagiere nach einem Flugzeugabsturz monatelang im ewigen Eis des Hochgebirges überleben.

Ungarn: Planungsprozess umgekehrt

Junge Architekten in der Stadt Eger, im Norden Ungarns, setzten  ein Projekt fast ohne Geld um. Sie baten die Behörden um einen Bau, den niemand haben wollte, und erhielten das 15-jährige Nutzungsrecht eines Hauses in einem Park. Bedingung war, dass der Umbau eine Wertsteigerung zur Folge hatte. Die Architekten kehrten den üblichen Planungsprozess um: Zuerst klärten sie ab, welche Materialien sie von Sponsoren erhalten konnten und was es aus der Umgebung zu rezyklieren gab. Erst dann entwarfen sie den Umbau. Studierende aus einem Polytechnikum halfen bei der Ausführung, die als kollektive Aktivität ins Zentrum rückte. Das Netzwerk, das dabei entstand, ist neben den Wohnräumen für die Architekten die wichtigste Komponente des Projekts. 

TEC21, Fr., 2016.07.15



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|29-30 15. Architekturbiennale Venedig

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Presseschau 12

28. September 2018Viola John
Paul Knüsel
TEC21

«Eine Kultur des Abwägens»

Architektur und Städtebau erhalten erstmals Nachhaltigkeitsnoten. Eine externe Fachjury nimmt dazu eine unabhängige Bewertung von SNBS-Projekten vor. Raphael Frei, Mitglied von pool Architekten, war an der Entwicklung beteiligt und erklärt das neuartige Verfahren.

Architektur und Städtebau erhalten erstmals Nachhaltigkeitsnoten. Eine externe Fachjury nimmt dazu eine unabhängige Bewertung von SNBS-Projekten vor. Raphael Frei, Mitglied von pool Architekten, war an der Entwicklung beteiligt und erklärt das neuartige Verfahren.

TEC21: Herr Frei, zertifizierte Ökobauten werden oft als unschön beurteilt. Kann der Standard nachhaltiges Bauen Schweiz zur Verbesserung architektonischer Qualitäten (vgl. TEC21 43/2016) beitragen?
Raphael Frei: Das zentrale Anliegen des ­Nachhaltigkeitsstandards SNBS ist, neben den klassischen ökologischen Kriterien nun auch soziale und baukulturelle Aspekte zu berücksichtigen und sie in die Beurteilung eines Gebäudekonzepts zu integrieren. In diesem Sinn ist der Beurteilungsraster um­fassend: Er erkennt und erfasst auch nicht messbare Aspekte, unter anderem soziale und städtebauliche Qualitäten eines Projekts.

TEC21: Was muss ein Projekt leisten, um gute Architektur­noten zu bekommen?
Raphael Frei: Die städtebaulichen und architektonischen Aspekte sind unmittelbarer Teil der gesellschaft­lichen Nachhaltigkeitsdimension: Wie lebendig ist ein Quartier? Wie sind die Gebäude genutzt? Wie ­robust sind die bestehenden Strukturen? Lassen Sie mich dies anhand der geplanten Erneuerung der Grosssiedlung Telli in Aarau erklären, für die der SNBS angewandt werden soll. Um das charakteristische Aussenbild oder die passenden Wohnungsgrundrisse nicht allzu sehr zu verändern, hält man sich bei der Eingriffstiefe zurück. Energetische Verbesserungen an der Gebäudehülle lassen sich gleichwohl er­zielen. Die Beurteilung der bestehenden, gemischten Sockelnutzung und des grosszügigen grünen Aussenraums fällt ebenfalls positiv aus.[1] Für die Erneuerung heisst das: Die positiven Bestandseigenschaften sind zu erhalten und allenfalls zu stärken.

TEC21: Aber verspielt man so nicht die Option, verfügbare Raumreserven zu nutzen und Erneuerungsstandorte bei Bedarf zu verdichten?
Raphael Frei: Die Beurteilung nach den SNBS-Kriterien führt eben dazu, dass ein Verdichtungsvorhaben nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch quali­tativ diskutiert wird. Dies entspricht der Strategie des Bundes zur Nachhaltigen Entwicklung, die ein wei­test­mögliches Erhalten des baukulturellen Erbes und seine qualitativ hochstehende Erneuerung ­fordert. Die SNBS-Zertifizierung weitet deshalb den Projek­t­fokus aus, etwa von einer klassischen Energieoptimierung zu anderen sozialen und architek­tonischen Aspekten. Das macht diese Nachhaltigkeitsbewertung für Architekten erst interessant: Sie pflegt die Kultur des Abwägens und fördert das ­Bewusstsein, dass unterschiedliche Aspekte miteinander zu ­verknüpfen sind.

TEC21: Die spezifische Beurteilung der architektonischen und städtebaulichen Qualitäten ist ein neuartiger Bestandteil der Zertifizierung. Wie funktioniert ­dieses Verfahren, zumal es sich um eine Bewertung von schlecht messbaren Eigenschaften handelt?
Raphael Frei: Ein Projekt, das in einem Wettbewerb nach SIA-Regeln ausgewählt worden ist, benötigt kein weiteres Urteil für das Zertifikat. Auch ein vergleichbares Gutachterverfahren ohne SIA-Kriterien wird anerkannt; allerdings werden die Qualität und Unabhängigkeit der Fachjury geprüft. Nur für den Fall eines Direktauftrags findet eine nachträg­liche Begutachtung durch SNBS-Experten statt, die ihrerseits Architekten sind. Die Kriterien sind mehr oder weniger dieselben wie bei Wettbewerbs­jurierungen. Die Bewertung wird schriftlich dokumentiert und mit punktuellen Verbesserungsempfehlungen ergänzt. Sie stellt somit eine unabhängige Qua­litätsbeurteilung und kein Gefälligkeitsgutachten dar.

TEC21: Sind die Experten speziell ausgebildet?
Raphael Frei: Die Zertifizierungsstelle bietet nur Architekten auf, die Erfahrungen als Jurymitglied oder ­Wettbewerbsteilnehmer besitzen. Weitere Kriterien sind eine Mitgliedschaft beim Bund Schweizer Architekten (BSA) oder Bund Schweizer Landschaftsarchitekten (BSLA). Ein Begutachter darf nicht we­niger erfahren sein als die zu beurteilenden Projektverfasser. Erwartet wird auch, dass er sich bei Bedarf einen eigenen Eindruck vor Ort verschaffen kann.

TEC21: Wie gut funktioniert das neue Bewertungssystem?
Raphael Frei: Bei Projekten aus einem Direktauftrag ist die Architektur oft das Resultat von Zwängen und Entscheidungen, die aus dem Prozess heraus begründet sind. Da eine architektonische Beurteilung explizit fehlt, sind hohe Qualitäten nicht zwingend vorauszusetzen. Die bisherigen Einblicke bestätigen dies; ungenügende Noten sind in der ersten Zertifizierungs­runde nicht selten. Die Begutachtung ist zwar sehr streng. Aber Projektverfasser sollen dies nicht so verstehen, dass sie schlechte Arbeit abgeliefert hätten. Die Kritikpunkte setzen vor allem dort an, wo die Pro­jektschwerpunkte das gestalterische Element ver­missen und sich somit verbessern lassen.

TEC21: Wie gehen Projektverfasser damit um?
Raphael Frei: Wir stecken in der Anfangsphase und sammeln weitere Erfahrungen. Eine Schwierigkeit ist, die Dokumentation der Projekte analog zum Wettbewerbs­verfahren mit Plänen und Modellen einzufordern. Unter den Beteiligten ist man jedoch sehr offen, auch für Kritik, zumal sie die Position des Projektverfassers oft stärken kann. Es geht meistens um eine gestal­terische Integration von technischen Konzepten, die Verknüpfung mit sozialen Themen oder schlicht um die räumliche, typologische Qualität von Grundrissen.

TEC21: Wie ist das Echo unter Architekten?
Raphael Frei: Der BSA rührt die Werbetrommel für die Zertifizierung und hofft, dass sich gute und renommierte Architektinnen und Architekten damit aus­einandersetzen. Ein erstes Stimmungsbild ist: ­Der Standard ist eine sinnvolle Alternative zu Gebäude­labels, die nur eindimensional auf energetische Themen ausgerichtet sind. Der erweiterte Be­urteilungsraster führt solche Einzelaspekte zu einem Ganzen zusammen und ermöglicht ein umfassendes Bild über mögliche Zielkonflikte. Das ist ein willkommener Gegentrend zur aktuellen Fragmentierung: Architekten fällt es schwer, im wachsenden Dschungel aus baulichen Anforderungen und Normen überhaupt noch konsistente Lösungen zu finden.

TEC21: Der Standard will besser sein als die Gesetze. Wie kann er trotzdem zur Verbesserung der Entwurfs­arbeit beitragen?
Raphael Frei: Gegenwärtig verdammen die vielen Anforderungen die Architekten zum Reagieren. In der Pro­jektierung suchen sie oft den jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner des Machbaren und stellen am Ende fest, dass die Kosten steigen. Besser ist aber, die unterschiedlichen Umsetzungsthemen und An­forderungen frühzeitig zusammenzuführen. Der Zertifizierungsprozess und der Bewertungsraster können Ordnung schaffen. So lassen sich Zielkonflikte, Zusammenhänge und Spielräume erkennen, die man sonst nicht entdeckt hätte. Zu Beginn einer Zertifizierung muss daher – aus formalen Gründen – ein Pflichtenheft mit Projektzielen formuliert werden.

TEC21: Stärkt der Standard die Position des Architekten?
Raphael Frei: Das ist eigentlich unser Ziel. Der Architekt kann seine Kompetenzen mithilfe des Bewertungs­rasters erhöhen. Er muss das Wissen zurückholen und darf es nicht vollumfänglich an Spezialisten delegieren. Allein der Informationsgewinn aus einer engen Zusammenarbeit mit andern Fachdisziplinen verbessert seine Verhandlungsbasis gegenüber der Bauträgerschaft und der Behörde. Ohne diesen Wissensvorsprung kann man eigentlich nirgends bauen.


Anmerkung:
[01] Muster oder Komposition? Sanierung Telli-Hoch­häuser, wbw 1/2 2018.

TEC21, Fr., 2018.09.28



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|39 SNBS – Stren­ges Ras­ter, fle­xi­ble An­wen­dung

15. Juni 2018Viola John
TEC21

Solare Perspektive

100 % Stromversorgung aus erneuerbarer Energie – das ist machbar! In der Schweiz könnte bis zu einem Drittel des jährlichen Strombedarfs über Photovoltaik gedeckt werden. Zurzeit werden die Möglichkeiten für eine Gebäudeintegration von Photovoltaik im Rahmen von Stadterneuerungsprozessen im Bestand untersucht.

100 % Stromversorgung aus erneuerbarer Energie – das ist machbar! In der Schweiz könnte bis zu einem Drittel des jährlichen Strombedarfs über Photovoltaik gedeckt werden. Zurzeit werden die Möglichkeiten für eine Gebäudeintegration von Photovoltaik im Rahmen von Stadterneuerungsprozessen im Bestand untersucht.

Die Städte von morgen sind schon heute gebaut. Ein Grossteil des aktuellen Gebäudeparks der Schweiz sowie anderer europäischer Länder wird voraussichtlich auch in gut 30 Jahren noch stehen. Da bis dahin die Schweizer Ziele der Energiestrategie 2050[1] umgesetzt und der Gebäudebestand energetisch ertüchtigt beziehungsweise selbst zum Erzeuger von ökologisch verträglichem Strom werden sollen, spielen Stadterneuerungsprozesse eine wesentliche Rolle für die zukünftige Entwicklung. Sollen Gebäude zu Kraftwerken werden, stellt die Nutzung von Photovoltaik (PV) im und am Gebäude eine vielversprechende Möglichkeit dar, um Bestandsbauten zu optimieren und fit für die Zukunft zu machen.
Auf dem Weg zur wichtigsten Stromquelle

Gemäss International Energy Agency (IEA) wäre es problemlos machbar, in der Schweiz einen Drittel des jährlichen Strombedarfs über PV-Anlagen zu decken.[2] Eine aktuelle gemeinsame Studie der finnischen Lappeenranta University of Technology (LUT) und der internationalen Energy Watch Group (EWG) legt sogar nahe, dass eine weltweite Energiewende hin zu 100 % erneuerbarer Stromversorgung – mit einem Schwerpunkt auf Solarenergie – keine Zukunftsvision, sondern greifbare Realität ist (vgl. «Globales Energiesystem, basierend auf 100% erneuerbarer Energie – Stromsektor», Kasten).[3] Darüber hinaus entwickelt sich momentan die PV-Technologie in vielen Ländern zur wirtschaftlich günstigsten Möglichkeit, Energie zu erzeugen.[4] Der Wettbewerb bei den Herstellern von Solarmodulen lässt seit Jahren die Preise sinken – und laut Prognosen der IEA wird Solarstrom in Zukunft noch günstiger produziert werden können als heute. Für eine globale solare Energiewende sind dies ökonomisch gute Voraussetzungen.

PV integriert in die Gebäudehülle

Wirtschaftlich vorteilhaft können insbesondere Building Integrated Photovoltaics (BIPV) sein – gebäudeintegrierte PV-Anlagen. Als Aussenhaut angewendet bieten sie nicht nur den Vorteil der Energieerzeugung, sondern bilden mittlerweile durchaus eine ökonomisch wettbewerbsfähige Alternative zu herkömmlichen Hüllmaterialien für Fassaden und Dächer. Zu diesem Ergebnis kommt das Forschungsteam eines von der Europäischen Union geförderten Kooperationsprojekts nach Abschluss der Testphase für ein Bürogebäude in Litauen.[5] Darüber hinaus ermöglicht BIPV eine grossflächige Nutzung von PV am gesamten Bauwerk. Eingesetzt als Hüllmaterial und dezentraler Stromerzeuger zur Gewinnung regenerativer Energie kann BIPV gleichzeitig den Einsatz von Baustoffressourcen und fossiler Energie sowie den Ausstoss von Treibhausgasen im Bausektor reduzieren. BIPV-Systeme bieten somit eine potenzielle Antwort auf viele Herausforderungen der Energiewende.

Bestandsbauten profitieren von BIPV

Ein interdisziplinäres Forschungsteam unter der Leitung des Labors für Architektur und nachhaltige Technologien (LAST) der EPF Lausanne geht in einem aktuellen Forschungsprojekt sogar davon aus, dass es für das Erreichen der Ziele der Schweizer Energiestrategie 2050 unverzichtbar ist, energetische Sanierungsprojekte mit der Integration von erneuerbaren Energien – insbesondere in Form von BIPV – zu kombinieren. Das Dämmen der Gebäudehülle allein genügt nicht. Vielmehr sollten BIPV-Systeme als Baustoff verstanden und wie jedes andere Hüllmaterial eingesetzt werden, sodass sie idealerweise herkömmliche Materialien der Gebäudehülle sukzessive konstruktiv ersetzen.

Um Möglichkeiten und Strategien zur Bestandssanierung mit BIPV-Systemen zu untersuchen, analysieren die Wissenschaftler im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds SNF geförderten Forschungsprojekts «Active Interfaces»[6],[7] in Neuenburg derzeit exemplarisch archetypische Mehrfamilienhäuser aus verschiedenen Baujahren hinsichtlich ihres Potenzials für eine solare Stadterneuerung.[8] Neben dem Baujahr fliessen unter anderem auch Informationen über den Standort sowie über die Eignung von Dach und Fassade für BIPV und etwaige Denkmalschutzauflagen in die Analyse ein.

Ausserdem werden verschiedene Sanierungsszenarien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit miteinander verglichen:

– Keine BIPV (S0): In diesem Szenario wird die energetische Performance der Gebäudehülle lediglich durch passive Strategien nach den Anforderungen der SIA 380/1 2016 verbessert, auf PV am Gebäude wird gänzlich verzichtet.
– Erhalt (S1): In diesem Szenario wird das Aussehen des Gebäudes bewahrt, die Gebäudehülle nach SIA 380/1 2016 verbessert und BIPV an Dach und Fassaden eingesetzt.
– Erneuerung (S2): In diesem Szenario werden die architektonisch prägenden Linien der Hülle erhalten, das Gebäude energetisch auf Minergie-Standard gebracht und BIPV an Dach und Fassaden installiert.
– Transformation (S3): In diesem Szenario wird das Gebäude konform mit den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft saniert und BIPV für eine maximale Stromerzeugung am Gebäude vorgesehen. Hierfür sollen vorgefertigte, wärmegedämmte Elemente als hinterlüftete Fassade vor die bestehende Wand gehängt werden. In die opaken Bauteile wird BIPV integriert.

Innerhalb der drei Szenarien mit BIPV wird nochmals unterschieden in drei verschiedene Strategien:

– 100 % der Gebäudehüllfläche als BIPV,
– nur so viel anteilige BIPV-Hüllfläche, wie zur Deckung des Eigenenergiebedarfs des Gebäudes erforderlich ist,
– die anteilige BIPV-Hüllfläche mit einer zusätzlichen Batterieunterstützung für Optimierungen im Energiemanagement.

Erste Ergebnisse legen nahe, dass die drei Sanierungsszenarien mit BIPV im Vergleich zum Szenario ohne BIPV allesamt besonders kosteneffizient sind. Auch hinsichtlich Einsparungen des Treibhauspotenzials und der grauen Energie bieten die BIPV-Szenarien Vorteile.

Ästhetik im Wandel

Einiges spricht also dafür, BIPV bei der Bestandssanierung einzusetzen. Auch die technisch und ästhetisch entsprechend hohen Anforderungen an das Material werden schon heute von vielen auf dem Markt erhältlichen Produkten erfüllt. Photovoltaikmodule können mittlerweile in Vorhangfassaden, Fenster oder Dachziegel integriert und farblich nach Belieben gestaltet werden (vgl. «Rot ist gefragt», Kasten unten, und «Neues Farbenspiel»). So sind mit BIPV individuelle Erneuerungsstrategien von Bestandsbauten in Abhängigkeit von der jeweiligen Gebäudetypologie, den architektonischen Gestaltungszielen und dem Interventionsgrad umsetzbar.

Allerdings hätte der konsequente Einsatz von BIPV an sämtlichen Bestandsbauten zur Folge, dass sich ganze Stadt- und Ortsbilder in ihrer Ästhetik radikal wandeln würden. %%gallerylink:41747:Die Abbildung rechts%% veranschaulicht, wie sich die ertragsorientierte Integration von Photovoltaik auf das Aussehen der Fassaden von Bestandsbauten auswirken könnte. Insbesondere bei baukulturell bedeutenden Bauwerken stösst man hier noch immer an Grenzen – Wunsch und Wirklichkeit liegen mitunter weit auseinander. Wenn BIPV sich in Zukunft auch bei solchen Bauwerken durchsetzen soll, sind Architekten, Forscher und Hersteller von PV-Modulen weiterhin gefordert, gemeinsam individuelle und ästhetisch ansprechende Lösungen hierfür zu entwickeln.

Autark oder altruistisch in die Zukunft?

Letztendlich stellt sich allerdings auch die Frage, wohin die Reise der gebäudeintegrierten Photovoltaik in Zukunft gehen soll: Ist es sinnvoll und erforderlich, dass jedes Gebäude für sich genommen energieautark ist, um die Energieziele zu erreichen? Zielführender könnte es sein, in urbanen Energieclustern zu denken und damit dann auch flexibler über den Einsatz von BIPV im Stadtraum und am individuellen Bauwerk zu entscheiden (vgl. «Mein Haus ist mein Kraftwerk»).

Während exemplarische Betrachtungen des BIPV-Potenzials einzelner Bestandsgebäude eine wichtige Grundlage in der Forschung darstellen und das Durchspielen von Szenarien im kleinen Massstab ermöglichen, ist es wichtig, die gewonnenen Erkenntnisse in der Folge auch auf grössere Stadträume anzuwenden. So können Potenziale von BIPV innerhalb von urbanen Energieclustern und in Kombination mit anderen erneuerbaren Energietechnologien identifiziert werden. Werden dabei ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Aspekte gleichwertig berücksichtigt, kann BIPV im Rahmen von Stadterneuerungsprozessen auch im Bestand eine nachhaltige Perspektive für die Zukunft bieten.


Anmerkungen:
[01] Bundesamt für Energie BfE: Energiestrategie 2050; Zürich 2014.
[02] International energy agency IEA: Potential for Building Integrated Photovoltaics, Report PVPS T7-4; Switzerland 2002.
[03] M. Ram et al.: Global Energy System based on 100% Renewable Energy-Power Sector. Study by Lappeenranta University of Technology and Energy Watch Group; Lappeenranta, Berlin, November 2017.
[04] International Energy Agency IEA: World Energy Outlook 2017.
[05] SmartFlex Solarfacades: EU SmartFlex project finishes reference solar façade; www.smartflex-solarfacades.eu/press
[06] www.activeinterfaces.ch/de
[07] www.pnr70.ch/de/Seiten/Home.aspx
[08] S. Aguacil Moreno, S. Lufkin, E. Rey: Influence of energy-use scenarios in Life-Cycle Analysis of renovation projects with Building-Integrated Photovoltaics; International Conference for Sustainable Design of the Built Environment SDBE; London 2017.

TEC21, Fr., 2018.06.15



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2018|24-25 Energiehülle – BIPV auf dem Vormarsch

22. Dezember 2017Viola John
TEC21

Störfaktor Mensch

Mit viel Technik die Welt retten: Dieser Glaube ist im Schweizer Bauwesen stark ausgeprägt. In der Praxis zeigt sich aber ein ambivalentes Verhältnis zwischen Nutzerinteressen und Gebäudetechnik. Differenzen sind vorprogrammiert, wenn Planer die Bedürfnisse des Gebäudenutzers den Energie- und Klimazielen der Gesellschaft unterordnen.

Mit viel Technik die Welt retten: Dieser Glaube ist im Schweizer Bauwesen stark ausgeprägt. In der Praxis zeigt sich aber ein ambivalentes Verhältnis zwischen Nutzerinteressen und Gebäudetechnik. Differenzen sind vorprogrammiert, wenn Planer die Bedürfnisse des Gebäudenutzers den Energie- und Klimazielen der Gesellschaft unterordnen.

Bis zum Jahr 2050 strebt die Schweizer Energiepolitik eine drastische Verringerung des Energieverbrauchs an; das wird sich insbesondere auf den Gebäudepark auswirken. So soll nach Angaben des Bundesamts für Energie BfE die energetische Optimierung aller Gebäude ab dem Jahr 2030 obligatorisch sein.[1]

Beim Energieverbrauch von Gebäuden schlägt vor allem die Bereitstellung von Raumwärme und Warmwasser zu Buche, für deren Erzeugung hierzulande noch immer hauptsächlich fossile Energieträger zum Einsatz kommen. Derzeit wird in der Schweiz nach Schätzungen des BfE eine Gebäudefläche von 800 Mio. m² beheizt, verteilt auf ca. 1.8 Mio. Gebäude. Hierfür wurden im Jahr 2016 knapp 70 TWh (70 Mrd. kWh) nicht erneuerbare Energie in Form von Heizöl und Erdgas verbraucht.[2] Im Jahresdurchschnitt mussten ca. 3.75 Mrd. Liter Heizöl und knapp 3.25 Mrd. Kubikmeter Erdgas bereitgestellt werden. Ab 2050 soll damit Schluss sein – zum Verheizen dürfen dann weder Heizöl noch Erdgas verwendet werden.[3]

Diese Zahlen verdeutlichen: Nicht nur angesichts der laut Prognosen steigenden Bevölkerungszahl und des Ziels einer weiter wachsenden Wirtschaft stellt die für 2050 angepeilte Senkung des Energieverbrauchs eine Herausforderung dar. Damit die Energiestrategie erfolgreich umgesetzt werden kann, ist ein struktureller Wandel erforderlich: Der fossile Energieverbrauch von Gebäuden muss konsequent minimiert und eine effiziente Nutzung von erneuerbaren Energieträgern im Gebäudebetrieb ermöglicht werden.

Gebäudetechnik als Problemlösung?

Um die Ziele der Energiestrategie 2050 zu erreichen, setzt man im Bauwesen zunehmend auf eine umfangreiche Gebäudetechnik. In einer Studie, die 2016 im Rahmen des Programms EnergieSchweiz erarbeitet wurde, untersuchten Experten aus Technik, Verbänden und Hochschulen die Potenziale der Gebäudetechnik hinsichtlich Energie- und Treibhausgas-Einsparung im Schweizer Gebäudepark. Die Ergebnisse wurden in zwei Szenarien («Referenzszenario» und «Effizienzszenario») zusammengefasst.[4] Die Analyse bezieht die Faktoren Raumwärme, Warmwasser, Lüftung, Klimakälte, Beleuchtung und allgemeine Gebäudetechnik ein.

Das Fazit fällt optimistisch aus: Beim «Referenzszenario» – es ist mit dem Szenario «Weiter wie bisher» der «Energieperspektiven 2050»[5] des BfE vergleichbar – liesse sich der Energiebedarf des Schweizer Gebäudeparks bis 2050 gegenüber 2010 um 23 % reduzieren. Erreichen könnte man dies mit der konsequenten Verwendung von heute bereits marktgängiger Gebäudetechnik und der Einhaltung aktueller gesetzlicher Vorgaben. Die Treibhausgasemissionen könnten sogar um 38 % gesenkt werden, unter anderem weil dieses Szenario davon ausgeht, dass zur Bedarfsdeckung zukünftig ein höherer Anteil an erneuerbaren Energien eingesetzt werden kann als heute. Berücksichtigt werden in diesem Szenario neben der Gebäudetechnik auch Einsparungen durch die verbesserte Wärmedämmung der Gebäudehülle.

Eine weitere Verbesserung bezüglich Energiebedarf und Treibhausgasemissionen stellt das ebenfalls untersuchte «Effizienzszenario» in Aussicht – es ist mit dem Szenario «Politische Massnahmen des Bundesrats» der Energieperspektiven vergleichbar. Die Ergebnisse legen nahe, dass es durch zusätzliche energiepolitische Instrumente möglich wäre, den Energiebedarf bis 2050 um weitere 15 % und die Treibhausgasemissionen um zusätzliche 39 % zu reduzieren. Dazu müsste man beispielsweise fossile Energieträger bei Heizung und Warmwasser mit erneuerbaren substituieren, Lüftungs- und Klimakälteanlagen sowie Beleuchtungen ersetzen beziehungsweise nachrüsten und effizient betreiben.

Bereits mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Mitteln und dem vorhandenen Fachwissen wäre also potenziell eine Menge machbar – bei der Heizenergie zur Bereitstellung von Raumwärme und Warmwasser ist das Einsparpotenzial am grössten. Doch nicht alles, was theoretisch und technisch möglich ist, lässt sich innerhalb kurzer Zeit sinnvoll und wirtschaftlich umsetzen. Ein wichtiger Aspekt dabei: Relevant für das Erreichen der Energieziele bis zum Jahr 2050 sind nicht etwa in erster Linie Neubauten, sondern jene Gebäude, die vor 1970 errichtet wurden. Sie können nur unter grossem Aufwand energetisch ertüchtigt werden, machen aber immerhin ca. 55 % des Schweizer Gebäudeparks aus.[6]

Während man bei Neubauten bereits in der Planungsphase den aktuellen Stand der Technik berücksichtigen kann, muss das Energiekonzept bei Bestandsbauten nachträglich angepasst werden. Dabei stellt die Gebäudetechnik nur einen Teilaspekt neben anderen effizienzsteigernden Massnahmen dar – wie etwa dem baulichen Wärmeschutz, der passiven Nutzung von Solarenergie, der optimalen Tageslichtnutzung und der Bauteilaktivierung. Sinnvoll eingesetzt, kann die Gebäudetechnik solche passiven Massnahmen der energetischen Gebäudeoptimierung unterstützen und ergänzen.

Performance Gap trotz hoher Investition

Hochtechnisierte Gebäude sind dagegen durchaus kritisch zu betrachten. Viele ihrer Komponenten sind nicht nur energie- und ressourcenintensiv in der Herstellung, sondern auch teuer in der Anschaffung. Sie müssen während des Betriebs regelmässig gewartet werden, haben im Vergleich zu manch anderen Bauteilen am Gebäude eine geringe Lebensdauer und müssen auch im Zuge der an sie gestellten Anforderungen häufig ersetzt oder nachgerüstet werden. Nach Angaben der Gruppe der Schweizerischen Gebäudetechnik-Industrie GSGI beläuft sich heutzutage das Investitionsvolumen für die Technik am Bau vielfach auf weit über 30 % der Gesamtinvestitionssumme.[7]

Bauherren stehen also vor der Frage, ob sie die höheren Anfangsinvestitionen für die technische Gebäudeausrüstung überhaupt tätigen können. Zudem ist ein Monitoring während der Betriebsphase unerlässlich, um die technischen Komponenten bei Bedarf nachzujustieren. Denn trotz optimaler Planung lässt sich häufig nicht von einem errechneten Energiebedarf auf den tatsächlichen Verbrauch im Gebäudebetrieb schliessen, und je höher der Grad der Technisierung in einem Gebäude, desto grösser ist das Potenzial für Massnahmen zur Betriebsoptimierung.

Dass der Nutzer – der Mensch – die Energiebilanz eines Gebäudes stark beeinflusst und einen Unsicherheitsfaktor für die tatsächliche Effizienz der Gebäudetechnik darstellt, ist bei der Umsetzung der Energiestrategie zu berücksichtigen. Ob jedoch Gebäude, die den Nutzer unter grossem technischem Aufwand dazu zwingen, nicht in die Betriebsabläufe einzugreifen, um den Planungserfolg nicht zu gefährden, die optimale Lösung für dieses Problem darstellen, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Der Mensch im Zentrum

Das ambivalente Verhältnis von Mensch und Gebäudetechnik verdeutlicht eine aktuelle Studie zum Hunziker-Areal in Zürich.[8,9] Das 2000-Watt-Leuchtturmprojekt «mehr als wohnen» umfasst 13 Häuser, die mit unterschiedlichen Lüftungssystemen ausgestattet wurden – neun mit Abluftanlagen und vier mit Komfortlüftungsanlagen mit Zu- und Abluft, davon zwei mit zentralem und je eins mit dezentralem beziehungsweise mit Verbundlüftungssystem. Beim Monitoring nach Fertigstellung des Areals zeigte sich im ersten Betriebsjahr, dass jene Häuser, die mit einer Komfortlüftungsanlage (Zu- und Abluftsystem mit Wärmerückgewinnung) ausgestattet sind, signifikant – um mindestens das Doppelte – mehr Heizwärme verbrauchen, als zuvor berechnet worden war.

Zudem ist der Stromverbrauch für die Lüftung bei diesen Gebäuden höher als bei den übrigen Häusern. Die anderen neun Gebäude auf dem Areal, bei denen nur Abluftanlagen inklusive Aussenluftdurchlässen eingebaut wurden, weichen weniger vom Planungswert ab. Mittels thermografischer Untersuchungen der Gebäudefassaden in den Wintermonaten liess sich nachweisen, dass bei den auffälligen Gebäuden einige Fenster nachts dauerhaft geöffnet waren. Die Häuser mit zentralen Zu- und Abluftanlagen hatten einen höheren Anteil an offenen Fenstern als jene mit dezentraler Zu- und Abluftanlage oder mit Verbundlüfter.

Auf ihr Komfortempfinden angesprochen, erklärten 20 % der befragten Bewohner der Gebäude mit zentralen Zu- und Abluftanlagen, die Luftqualität in ihrer Wohnung sei schlecht bis sehr schlecht. Rund 10 % klagten über Zugluft, während bei den Gebäuden mit Abluft und Aussenluftdurchlässen fast 40 % der Befragten häufig oder immer Zugluft spürten. Mehrere Bewohner gaben an, im Winter bei geöffnetem Fenster zu schlafen. Offenbar entspricht der technisch generierte Komfort im Innenraum bei diesen Bauten nicht den individuellen Bedürfnissen aller Gebäudenutzer.

Bereit für 2050?

Um die ambitionierten Energie- und Klimaziele bis 2050 zu erreichen, sind verlässliche Annahmen über den zukünftigen Energieverbrauch des Schweizer Gebäudeparks erforderlich. Nur so gelingt es, erneuerbare Energiequellen möglichst effizient und ressourcenschonend einzusetzen. Wird das Nutzerverhalten dabei nicht einkalkuliert, dürfte der Performance Gap einer erfolgreichen Umsetzung der Energiestrategie einen Strich durch die Rechnung machen. Es ist daher unerlässlich, die Bedürfnisse der Gebäudenutzer bei der Planung noch stärker in den Fokus zu rücken. Bedient der Nutzer das Gebäude und seine technischen Komponenten aus Sicht des Planers «falsch», sollte die Konsequenz daraus sein, die Planungsziele zu überdenken beziehungsweise entsprechende Unsicherheiten von vornherein in Form von Sensitivitätsanalysen in die Kalkulationen einfliessen zu lassen.

Ein Gebäude hat viele Funktionen zu erfüllen und steht an der Schnittstelle zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Es soll ihm eine sichere, gesunde und erschwingliche Unterkunft bieten – einen Raum zum Leben – und dabei gleichzeitig den Umweltinteressen des Planeten dienen. Ordnen Planer die individuellen menschlichen Bedürfnisse den gesamtgesellschaftlichen Energie- und Klimazielen aber unter, so dürfte es schwierig werden, Letztere zu erreichen. Denn beides geht Hand in Hand. Und die Gebäudetechnik erfüllt keinen Selbstzweck, sondern muss als Teil eines ganzheitlichen Gebäudekonzepts wirken.


Anmerkungen:
[01] B. Revaz: «Energieziele und Gebäudepark», Vortrag am Gebäudetechnik Kongress Luzern 2017.
[02] Bundesamt für Energie BfE: «Schweizerische Gesamtenergiestatistik 2016», Bern 2017.
[03] Vgl. Anmerkung 1.
[04] Bundesamt für Energie BfE: «Potenzialabschätzung von Massnahmen im Bereich der Gebäudetechnik», Bern 2016.
[05] Bundesamt für Energie BfE: «Energieperspektiven 2050», Bern 2013.
[06] Bundesamt für Statistik: «Bauperiode», Neuchâtel, 2016, www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bau-wohnungswesen/gebaeude/periode.html
[07] Hugo Graf: «Mit «intelligenter» Gebäudetechnik die Ziele der Energiestrategie erreichen», Intelligent Bauen 4/2017, S. 17.
[08] M. Mühlebach et al.: «mehr als wohnen – ein Leuchtturmareal in Betrieb», 19. Status-Seminar Forschen für den Bau im Kontext von Energie und Umwelt, wETH Zürich 2016.
[09] M. Ménard: «Building Energy Performance Gap – Nutzer-, Analyse- oder Normen-Problem?», Vortrag am Gebäudetechnik-Kongress Luzern 2017.

TEC21, Fr., 2017.12.22



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31. März 2017Viola John
TEC21

Klimadesign für die Zukunft

Der Klimawandel schreitet voran, so viel ist sicher. Aber wie gut sind die Gebäude, die wir heute bauen, darauf vorbereitet? In der Forschung werden derzeit Strategien zur klimatischen Gebäudeanpassung untersucht.

Der Klimawandel schreitet voran, so viel ist sicher. Aber wie gut sind die Gebäude, die wir heute bauen, darauf vorbereitet? In der Forschung werden derzeit Strategien zur klimatischen Gebäudeanpassung untersucht.

Was erwartet uns in der Zukunft? Zumindest was die voraussichtlichen klimatischen Veränderungen betrifft, muss hierzu nicht erst die Kristallkugel befragt werden: Das Intergovernmental Panel of Climate Change (Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen) IPCC[1] wartet schon heute mit detaillierten Prognosen und regionalen Szenarien für das 21. Jahrhundert auf. Das Fazit daraus: Klimaexperten rechnen mit einer ganzjährigen Erhöhung der Aussentemperaturen in der Schweiz bei einer gleichzeitigen Zunahme trockener Tage in der wärmeren Jahreszeit (vgl. Grafiken).[2] Dies hat auch Auswirkungen auf die Behaglichkeit in Innenräumen. Der Temperaturbereich, den der Mensch als angenehm empfindet, liegt zwischen 17 und 24 °C, wobei die Behaglichkeit auch abhängig ist von der relativen Luftfeuchtigkeit im Raum (vgl. Grafik).

In Zukunft wird es in unseren Breiten im Sommer aufgrund der höheren Aussentemperaturen zu einem erhöhten Kühlbedarf innerhalb von Gebäuden kommen, um die Behaglichkeit sicherzustellen.

Gleichzeitig wird das prognostizierte mildere Klima im Winter eine niedrigere Heizlast und kürzere Heizperioden zur Folge haben. Heizsysteme heutiger Bauten sind für das zukünftige Klima also vermutlich zu gross ausgelegt, während heute eingebaute Kühlsysteme für zukünftige Anforderungen unterdimensioniert sind. Gebäude von heute können somit auf die bis zum Ende dieses Jahrhunderts zu erwartenden Temperaturänderungen nur bedingt reagieren, da sie vom Stand der Technik her nicht dafür konzipiert sind.

Gebäude für den Klimawandel fit machen

Wollen wir unsere Häuser fit für die Zukunft machen, müssen wir rechtzeitig ihre Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit sicherstellen. Das Schlagwort hierbei heisst «Gebäuderesilienz». Unter Resilienz versteht man ganz allgemein die Fähigkeit eines Systems, auf Veränderungen oder Störungen zu reagieren und sie auszugleichen bzw. unbeschadet zu überstehen (vgl. «Ein Begriff, zwei Definitionen – Resilienz»). Resiliente Gebäude sind krisenfest konzipiert, sodass sie ohne grossen Aufwand an sich ändernde Umwelt- und Nutzungsbedingungen angepasst werden können.

Im Gebäudekontext ist Resilienz eng mit den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung verknüpft. Für den Störungsfall Schaden und Reparatur am Gebäude – etwa wenn ein Bauteil oder die Haustechnik ausgetauscht werden muss – werden modulare Systeme und Strategien zur Systemtrennung als besonders resilient eingestuft, also jene Strategien, die auch als nachhaltig gelten (vgl. «Höhere Fügung»). Sie ermöglichen eine schnelle und einfache Schadensbehebung. Ein Wandel von Nutzeranforderungen kann ebenfalls einen Störungsfall darstellen, der insbesondere bei Bürobauten zu beobachten ist. Hier schaffen flexible Raumnutzungskonzepte und hohe Deckenhöhen Abhilfe.

Obwohl uns diese Aspekte schon aus den Bemühungen um eine nachhaltige Entwicklung im Bauwesen bekannt sind, werden sie für das Thema Resilienz in einen etwas anderen Kontext gestellt.

Denn während es bei der nachhaltigen Entwicklung vorrangig darum geht, menschenwürdige Lebensumstände zu schaffen und Gefahren zu minimieren – dies soll über gesellschaftliche Ideale und durch die aktive Gestaltung der gegebenen Verhältnisse erreicht werden –, geht es bei der Resilienz nicht um eine Korrektur zerstörerischer Verhältnisse, sondern darum, sich an den voranschreitenden Zerstörungsprozess anzupassen.

Widersprüchliche Anforderungen

Bezogen auf Aspekte des Klimawandels werden Gebäude beispielsweise durch das Zusammenspiel von Gebäudehülle und -technik und einer vorausschauenden Auslegung der erforderlichen Heiz- und Kühlsysteme resilient. Forscher der Hochschule Luzern haben verschiedene Kühlabgabesysteme in Bürobauten miteinander verglichen und analysiert, wie gut sie sich jeweils an zukünftige Klimaentwicklungen anpassen lassen.[3]

Für die Untersuchung wurden Umluftkühlung, Kühldecken und Betonkernaktivierung betrachtet. Dabei wurde die Robustheit der Systeme in Bezug auf Energiebedarf und thermische Behaglichkeit untersucht. Gut geeignet für eine Klimaanpassung sind laut der Studie Kühldecken und Betonkernaktivierung. Letztere steht allerdings im Widerspruch zum Wunsch nach Systemtrennung für resiliente Gebäude.

Kühldecken haben Einfluss auf die empfundene Temperatur und verfügen über mehr Leistungsreserven als andere Systeme. So können sie die Behaglichkeit auch dann gewährleisten, wenn der Kühlbedarf steigt. Für die Untersuchung wurde eine geschlossene Kühldecke aus Kunststoff-Kapillarrohrmatten im Kunststoffputz auf einem Putzträger betrachtet.

Das System Betonkernaktivierung schnitt zwar in puncto Klimaanpassung gut ab, was den Energiebedarf sowie die Überhitzungsstunden im Sommer anbelangt, wurde es in der Studie allerdings fast durchgehend schlechter bewertet als die anderen Systeme. Eine Betonkernaktivierung bietet den Vorteil, dass die Nachtbetriebszeit des Systems angepasst werden kann, aber hierzu wird eine Nachtvorkühlung benötigt. Diese wiederum senkt die Raumtemperatur auf ein tieferes Niveau als eigentlich nötig wäre und erhöht so den Bedarf an Nutzenergie. Für die Betonkernaktivierung wurde eine 30 cm dicke Betondecke mit einem wasserdurchflossenen Rohrsystem betrachtet.

Umluftkühlsysteme schnitten in der Studie in Bezug auf den Energiebedarf gut ab, eignen sich aber weniger gut zur Klimaanpassung als die anderen Systeme. Bei Gebäuden mit grösserer Masse hat die Umluftkühlung einen kleineren Klimakältebedarf im Vergleich zur Kühldecke. Betrachtet wurde ein Umluftkühlgerät ohne Entfeuchtung, das auf der Sekundärseite mit Kaltwasser betrieben wird. Die Raumluft wird mit einem Ventilator und mit konstantem Volumenstrom durch einen Wärmetauscher geschickt.

Die Ergebnisse legen ausserdem nahe, dass Kälteabgabesysteme, die für heutige Klimabedingungen dimensioniert sind, nicht in der Lage sind, den Kühlbedarf der Zukunft zu decken. Es ist sinnvoll, sie zum Zeitpunkt der Erstellung bis zu einem gewissen Grad überzudimensionieren, damit sie auch einen zunehmenden Klimakältebedarf problemlos abdecken.

Proaktive Anpassung an den Klimawandel

Die Tragweite des Klimawandels ist noch immer mit Ungewissheit behaftet. Wie schwer sich der Wandel auswirkt, wird abhängig sein von der Klimasensibilität der Erde und ihrer Resilienz gegenüber den Kräften, denen sie ausgesetzt ist. Die Frage ist, wie schnell wir es schaffen können, uns und unsere Gebäude proaktiv an klimatische Veränderungen anzupassen. Dass die Zeiträume zur Abwendung der Klimakatastrophe und zur Anpassung unserer gebauten Umwelt jenseits von typischen politischen und sozioökonomischen Zeithorizonten liegen, vereinfacht die Aufgabe nicht unbedingt. Um langfristig potenzielle zukünftige Auswirkungen des Klimawandels zu vermeiden und dessen Effekte zu mildern, müssen dennoch bereits heute dringend Massnahmen ergriffen werden.

Entwurfsleistungen zur Gebäudeadaption hinsichtlich zukünftiger Anforderungen des Klimawandels sind im Bauwesen momentan noch kaum erkennbar. Und das, obwohl die Risiken, die aus dem Klimawandel für Gebäude und deren Bewohner entstehen können, bereits heute bekannt sind. Es braucht politische Vorgaben, die Bauherren und Planern deutlich die Signifikanz von klimaadaptiven Gebäuden und die damit verbundenen Anforderungen an das Gebäudedesign signalisieren. Architekten und Ingenieure müssen Gebäude in der Planungsphase stärker auf diese Anforderungen hin ausrichten und darin geschult werden, wie gutes Klimadesign für die Zukunft aussehen kann. Denn, um es mit den Worten des griechischen Staatsmanns Perikles zu sagen: «Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusagen, sondern darauf, auf die Zukunft vorbereitet zu sein.»


Anmerkungen.
[01] IPCC: Climate Change 2014: Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change (Core Writing Team, R.K. Pachauri and L.A. Meyer [eds.]), Genf 2014.
[02] E.M. Zubler et al.: Key climate indices in Switzerland; expected changes in a future climate, Climatic Change 123:255., 2014, DOI: 10.1007/s10584-013-1041-8.
[03] Bundesamt für Energie BFE (Hrsg.): Robustheitsbewertung von integrierten gebäudetechnischen Kühlkonzepten in Verwaltungsbauten hinsichtlich Klima und Nutzervariabilität, Schlussbericht, Bern 2017.

TEC21, Fr., 2017.03.31



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24. März 2017Viola John
TEC21

Von Welle und Klang

Die vom Wellenschlag geprägte Formensprache der Elbphilharmonie setzt auch im Innern des Konzertsaals Akzente. Aufwendige Computersimulationen und digitale Fertigung sollten den Klang optimieren. Dennoch weist die Akustik des Saals noch Schwächen auf.

Die vom Wellenschlag geprägte Formensprache der Elbphilharmonie setzt auch im Innern des Konzertsaals Akzente. Aufwendige Computersimulationen und digitale Fertigung sollten den Klang optimieren. Dennoch weist die Akustik des Saals noch Schwächen auf.

Wie bringt man einen Konzertsaal, der räumlich und formal alles andere als konventionell zu nennen ist, optimal zum Klingen? Vor dieser Frage stand der japanische Akustiker Yasuhisa Toyota, als er den Auftrag zur Ausgestaltung des grossen Konzertsaals der Elbphilharmonie in Hamburg erhielt. Seine Antwort darauf: ein «demokratischer» Aufbau. Die Besucherränge, die rund um die Bühne und das Orchester angeordnet sind, steigen in dem verwinkelten Saal terrassenartig wie ein Weinberg an. Dadurch soll jedem einzelnen Zuhörer ein gleichermassen gutes Klang­erlebnis beschert werden, während er gleichzeitig dem Geschehen auf der Bühne räumlich näher rückt.

In keinem vergleichbar grossen Konzerthaus der Welt sitzen die ­Besucher so dicht am Orchester, die maximale Entfernung zur ­Bühne beträgt 30 m. Ca. 2100 Personen fasst der Saal, der höchste Platz liegt 17 m über dem Parkett. Der Grosse Saal ist als Haus im Haus konzipiert und akustisch vom restlichen Gebäude abgekoppelt. Die Saalwände sind zweischalig: Sie bestehen aus einer äusseren und einer inneren Betonschale, die einander nicht berühren. Der gesamte Saal ist zudem an seiner Unter­seite durch mehr als 300 Stahlfedern vom rest­lichen Gebäude abgekoppelt (vgl. «Kraftfluss für die Musik»).

Ein von der Decke in den Raum ragender Akustikpilz sorgt im Zusammenspiel mit der von Yasuhisa Toyota vorgesehenen «weissen Haut» aus Akustikpaneelen an Wänden und Decke für die gezielte Streuung des Schalls (vgl. Abb. 3). Die «weisse Haut» besteht aus 10.000 individuell CNCgefrästen Gipsfaser­platten, deren Oberfläche eine wellige Struktur aus schalldiffundierenden Zellen bildet und so die ebenfalls von Wellen geprägte Formensprache der Elbphil­harmonie aufgreift. Das unregelmässige Muster der Paneele wurde von Architekt und Informatiker Ben­jamin S. Koren über Algorithmen in aufwendigen Computersimula­tionen entwickelt (vgl. Kasten unten).

Acht Jahre Arbeit und 18.000 Zeilen Programmiercode stecken im digitalen Planungsprozess. Je nach ihrer Lage im Konzertsaal und in Abhängigkeit davon, wie viel Schall von ihnen reflektiert werden soll, wurden die Akustikpaneele in ihrer Stärke und die schalldiffundierenden Zellen in Form, Grösse und Tiefe rechnerisch angepasst. Die einzelnen Zellen variieren daher in ihrem Durchmesser von 4 bis zu 16 cm. Für die Werks und Montageplanung der Paneele arbeitete das beauftragte Ausbauunternehmen eng mit Korens Planungsbüro zusammen, das ein Softwareprogramm zur ­Automatisierung der 3DPlanung und der digitalen Produktion entwickelte. Im Werk wurden die Platten mittels einer FünfachsFräsmaschine gefertigt. Die raue Haptik der Oberfläche ­erreichte man, indem das dreidimensionale Schalldiffusionsmuster unter Verwendung eines Kugelfräsers in parallelen Spuren und mit grossen Achsabständen in die Platten gefräst wurde.
Schon das Optimum?

Seit dem Eröffnungskonzert in der Elbphilharmonie tauchen in den Medien auch Berichte von enttäuschten Konzertbesuchern auf, die das von Yasuhisa Toyota angestrebte «demokratische» Klangerlebnis vermissen. Im Saal scheint es bessere und schlechtere Plätze zu geben. Zudem wird gern betont, dass der Saal eher für die leisen Töne geeignet sei und den Zuhörer bei allzu lauten Stücken akustisch schnell überfordere. Das klang­liche Optimum ist noch nicht überall erreicht. Nach Einschätzung von Benjamin S. Koren ist dies jedoch kein Grund zur Beunruhigung, ist doch ein nachträgliches Nachrüsten der akustischen Komponenten eines neuen Konzertsaals eher die Regel als die Ausnahme (vgl. Kasten unten). Auch Yasuhisa Toyota räumte bereits ein, dass die Akustik im Saal zukünftig immer wieder nachjustiert werden müsse.[1] So bleibt die Elbphilharmonie noch eine Weile «work in progress», um ihr Ziel zu erreichen: eines der besten Konzerthäuser der Welt zu werden.


Anmerkung:
[01] Horst Hollmann: «Wie gut ist die Akustik der Elbphilharmonie wirklich?», NWZ Online, 17.2.2017.

TEC21, Fr., 2017.03.24



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17. Februar 2017Nina Egger
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Altruist

Sieht so die Zukunft aus? Weil Architekten zu Forschern wurden und ein Gebäude zum ­selbstlosen Energieversorger, entstanden allerlei technische ­Neuerungen. Das Wohnhaus ist ein Ideenpool für künftige Energiesysteme.

Sieht so die Zukunft aus? Weil Architekten zu Forschern wurden und ein Gebäude zum ­selbstlosen Energieversorger, entstanden allerlei technische ­Neuerungen. Das Wohnhaus ist ein Ideenpool für künftige Energiesysteme.

Viele Jahre vergehen für Planung und Bau, getragen von Akteuren, die man nicht unbedingt erwarten würde: Im Zentrum von Vaduz entsteht derzeit das Active Energy Building von Falkeis Architects – Anton Falkeis und Cornelia Falkeis-Senn und einem Team von Forschern, Entwicklern, ­Schlossern, Maschinenbauern, Robotikern und vielen mehr. Das Gebäude setzt sich aus zwölf Wohneinheiten zusammen und produziert mehr erneuerbare Energie für Heizung und Kühlung, als es selbst verbraucht. Dabei versorgt es gleichzeitig sich selbst und bildet einen Versorgungsknoten für die Nachbargebäude. Das Energiekonzept des Gebäudes basiert einerseits auf bewährten Prin­zipien und Systemen, beispielsweise Geothermie zur Bereitstellung von Wärmeenergie sowie Photovoltaikzellen für Strom. Andererseits sind einige der ein­gebauten Technologiekomponenten eigens für dieses Gebäude entwickelte Prototypen, deren Anwendung für zukünftige Energiesysteme als Vorlage dienen kann, etwa jene für die Klimaregulierung.

Gebaut wird im Energy Cluster

Das Areal, auf dem das Bauwerk errichtet ist, beinhaltet Wohn- und Bürogebäude, Grünanlagen und überbaute Tiefgaragen. Hier soll durch die ausschliessliche Verwendung von erneuerbaren Energiequellen sowie durch die Verknüpfung mit einem Pumpspeicherwerk und E-Mobility die CO2-Bilanz künftig auf vorbildlich niedrigem Niveau gehalten werden. Das Active Energy Building steht im Verbund mit den anderen Gebäuden des Areals und bildet mit ihnen einen sogenannten ­Energy Cluster (Abb.). Der Vorteil: Die dezentrale Energieversorgung kann innerhalb dieses Netzwerks besser genutzt werden als von einem Einzelobjekt. Denn je nach Nutzung der Wohn- und Büroräume entstehen zu unterschiedlichen Tageszeiten Energiebedarfsspitzen. In Summe sind sich die Energieverbräuche auf dem Areal am Vormittag und Abend dadurch viel ähnlicher, als dies im Einzelfall für Wohngebäude oder Büros zutrifft, wo sich der Bedarf im Tagesverlauf von tiefen Tälern zu hohen Spitzen und wieder talwärts schwingt.

Bewährte Systeme weisen den Weg zu Innovationen in der Energietechnik

Für die Nutzung von Geothermie wird dem Erdreich an zwei Stellen Wärme entnommen bzw. zugeführt. Einmal mit einer Entnahmetiefe von 13 m und einer Förder­leistung von 900 l/min, im anderen Fall mit einer ­Entnahmetiefe von 15 m und einer Förderleistung von 1800 l/min. Die Verteilung der thermischen Energie im Cluster erfolgt je nach Aktivität der Nutzungen.

Für die Bereitstellung von PV-Strom sind die schmale Südseite und das gesamte Dach als aktive Flächen ausgebildet. Um bei jedem Sonnenstand für einen maximalen Energieertrag zu sorgen, spielt die ideale Ausrichtung der PV-Zellen zur Sonne eine grosse Rolle. Daher wurden die energiegewinnenden Elemente so konzipiert, dass sie sich mit dem Sonnenstand mit­drehen (Abb.). Die Photovoltaikflügel wurden speziell für dieses Projekt entwickelt. Die Solarzellen selbst sind zwar weitläufig erhältlich, doch für die ­Konstruktion der gebäudeintegrierten, dreiachsigen Nachführung wurde das Planungsteam um Robotik­ingenieure und Maschinenbauer erweitert.

Für die Klimaregulierung an der Ost- und Westseite des Gebäudes wurden in Zusammenarbeit mit Forschern der Hochschule Luzern spezielle Fassadenmodule mit Latentwärmespeicher entwickelt. Die Tests und Simulationen mit den mit einem Phase-Change-Material (siehe Kasten «Phase Change Materials» unten) auf Paraffinbasis gefüllten Flügelelementen nahmen fast drei Jahre in Anspruch. Die Recherche gestaltete sich schwierig, denn die meisten PCM-Hersteller am Markt rieten von dieser noch kaum erforschten Technologie ab. Nachdem sich keine Partner aus der Industrie gefunden hatten, musste die erforderliche Kompetenz für Forschung, Entwicklung und Umsetzung von falkeis.architects selbst aufgebaut werden.

Als Vorbild dient die Natur

Um die im obersten Geschoss angebrachte Energie- und Klimatechnik aufzunehmen, entwickelten die Planer ein Tragwerk aus Stahl, das sie auf das Gebäude setzten. Die Konstruktion umspannt das Dachgeschoss sowie Teile der Ostfassade und ermöglicht zudem die elf Meter lange, südseitige Auskragung des Attikageschosses.

Die Stahlstruktur basiert auf einem Vorbild aus der Natur: dem Voronoi, das organischen Zellen ähnelt. Zum Beispiel bestehen die Flügel einer Libelle aus einer solchen Struktur aus einzelnen Feldern, die so zusammengesetzt sind, dass sie bei geringem Gewicht eine sehr hohe Stabilität aufweisen. Nur so kann die Libelle fliegen. Als Voronoi-Algorithmus bezeichnet man eine Zerlegung des Raumes in bestimmte Regionen. Jede Region wird durch genau ein Zentrum bestimmt und umfasst alle Punkte des Raumes, die näher am Zentrum der Region liegen als an jedem anderen Zentrum.

Die Voronoi-Tragstruktur besteht aus einzelnen zusammengeschweissten Blechträgern. Hierzu wurden die Einzelteile entweder über Kopfplatten mit Schraubverbindungen gefügt oder an ihren Flanschen mit V-Nähten zusammengeschweisst. Alle Träger weisen eine gleichbleibende Höhe von 80 cm auf, bei variabler Neigung der Stege von bis zu 42°. Sie sind im Stahl­betonverbund mit der Gebäudehülle verschnitten. Die Dach- und Fassadenelemente sind über Metalllaschen untereinander verbunden.

Wie Blütenköpfe drehen sich die PV-Elemente zur Sonne

In die polygonalen Felder der Voronoi-Struktur fügen sich Fenster, Oberlichter und alle beweglichen Elemente ein. Darunter sind mehrere Arten von PV- und PCM-Modulen. An der Lamellenfassade im Süden und auf den Balkonelementen im Osten sind polykristalline Zellen installiert, die zusammen 11 kWp liefern. Elf mit monokristallinen Modulen ausgestattete Oberlichter kommen auf 5.4 kWp. Der Grossteil des PV-Ertrags kommt aber von 13 dreiachsig nachgeführten Photovoltaikflügeln mit Flächen von bis zu 12 m², die in der Voronoi-Struktur des Dachs untergebracht sind. Sie folgen, ähnlich den Blütenköpfen von Blumen, während des Tages dem Sonnenverlauf.

Mit einem seit 2014 installierten Mock-up konnten Forscher der HSLU einen Ertragsfaktor von 2.9 nachweisen. Die 34.79-kWp-Anlage wird somit den jährlichen Solarertrag einer gleich grossen, fix ­montierten Solaranlage nahezu verdreifachen. Damit soll das gesamte Areal mit Solarstrom versorgt werden können. Überschüsse, die nicht genutzt werden, nimmt die Kraftwerks AG ab.

Die Klimaregulierung funktioniert phasenweise verschoben

Sieben mit einem Phase Change Material (PCM) als Latentwärmespeicher ausgestattete Klimaflügel sind an der Ost- und Westseite des Gebäudes in die polygonalen Zwischenräume der Voronoi-Struktur eingepasst. In ihrer Ruheposition liegen die Flügel flach in der Trag­struktur und dienen dem Schutz vor sommerlicher Überwärmung. Mit von Solarstrom betriebenen Spindelmotoren, die die Flügel bis zu 110° aufklappen und dem Himmel beziehungsweise der Sonne entgegenstrecken, wird das Potenzial des Phase Change Materials maximal ausgeschöpft.

Die vier Heizflügel (Abb.) befinden sich an der Westfassade des Gebäudes und klappen in den Morgenstunden auf, während das darin enthaltene PCM noch fest ist. Dank der Ausrichtung zur Sonne wird das Paraffin im Material erhitzt und verflüssigt sich bei einer Temperatur von 32 °C. Sobald das geschmolzene PCM am Ende des Tages den maximalen Wärmeeintrag erreicht hat, schliessen sich die Flügel automatisch und docken mittels eines Ventils an das Lüftungssystem an. Über einen Wärmelufttauscher wird die freigegebene Energiemenge an das Haus abgegeben. Die PCM-Flügel decken rund 10 % der gesamten Heizlast ab.

Genau umgekehrt verhält es sich bei den drei ostseitigen Kühlflügeln (Abb.). Diese liegen untertags plan in der Fassade und klappen sich nachts auf, wenn das Material aufgrund der absorbierten Gebäudewärme vollständig geschmolzen ist. In den Nachtstunden wird die überschüssige Energie abgestrahlt. Bei 21 °C verfestigt sich das Paraffin und erstarrt. Noch vor Sonnenaufgang klappen die abgekühlten und erstarrten PCM-Module wieder ein und tragen zur Kühlung der zweigeschossigen Attikawohnung bei. Auf diese Weise können 16 % der Gesamtkühllast des Hauses eingespart werden.

Sowohl bei den Heiz- als auch bei den ­Kühl­flügeln handelt es sich um polygonale Carbon­faserrahmen, die mit waagerecht montierten Alu­minium­lamellen bestückt sind. Der Querschnitt der stranggepressten Lamellen erinnert an jenen von Flugzeugflügeln: Die Wölbung kann sich leicht verformen und nimmt auf diese Weise die zehnprozentige Volumen­änderung auf, die das darin enthaltene Paraffin zwischen flüssigem und festem Zustand aufweist.

Bei der Konstruktion zählt die digitale Innovation

Für das Tragwerk des Gebäudes kamen zwei verschiedene Stützenmodelle zum Einsatz: eine gleichschenk­lige symmetrische Betonfreiformstütze sowie ein asymmetrisches Modell mit einem diagonalen und einem ­vertikalen Schenkel (Abb.). Durch die mal A-, mal V-förmige Verbauung verdoppelt sich das Repertoire auf insgesamt vier Varianten.

Die genaue Position jeder einzelnen A- und V-Stütze wurde in einem iterativen digitalen Berechnungsverfahren, gesteuert durch einen genetischen Algorithmus, so lange optimiert, bis eine Synthese aus minimalem Materialeinsatz und maximalem Sonneneintrag über die Ost-, Süd- und Westfassaden erreicht war ­(siehe Kasten «Digitaler Entwurf» unten).

Die Stützen verbinden sich untereinander zu komplexen Baumgebilden mit Verästelungen und Verzweigungen. Mit jeder Etage nimmt nicht nur die abzutragende Eigen- und Nutzlast ab, sondern auch die Zahl der dafür verantwortlichen Stützen. Die Spannweiten zwischen den Fuss- beziehungsweise Kopfpunkten betragen bis zu 12 m.

Die Freiformgeometrie mit der gedrehten Naht verleiht den Säulen ein weiches, organisches Erscheinungsbild. Zu verdanken ist die hohe Zeichnungsfähigkeit des ­Materials dem selbstverdichtenden High-Performance-­Beton (HP-Beton) mit hohem Quarzanteil, harter Gesteinskörnung und beigemischten Polypro­pylen­fasern (PP-Fasern). Entwickelt wurde die Betonrezeptur ­namens «alphapact P080» in Kooperation mit Holcim Schweiz.

Für den ungleichmässigen Querschnitt der ­Stütze wurde eine dreiteilige Gussform als Schalung entwickelt, die auf Basis der 3-D-Daten aus Epoxidharz gegossen wurde und keinerlei Hinterschneidungen enthält. ­Eingeschweisste und einbetonierte Anker- und Anschlussplatten mit integrierten Messpunkten erleichterten nicht nur die Montage vor Ort, sondern sorgten auch dafür, dass die geringe Bautoleranz von zwei Millimetern sogar noch unterschritten werden konnte.

Ein interessantes Experiment

Das Active Energy Building ist zweifellos interessant hinsichtlich seiner technischen Funktionen und Entstehungsgeschichte. Seine Erstellung erforderte einen hohen planerischen und bautechnischen Aufwand, was nur durch die finanzielle Unterstützung der Bauherren möglich wurde, die als Forschungsmäzene wirkten.

Das Ehepaar Marxer, das den Auftrag für das Bauwerk erteilte, appellierte an den Erfindungsreichtum der Architekten und bot ihnen die Chance, die Grenzen des technisch Möglichen auszureizen. Das ­Active Energy Building ist nicht als klassisches Architekturprojekt zu verstehen, sondern als ein Experiment, das zur Architektur- und Wohnbauforschung beiträgt. Nach dem Bezug des neuen Gebäudes wird über einen Zeitraum von zwei Jahren ein externes Monitoring zur weiteren Optimierung der Energieproduktion und -einsparung eingesetzt werden. Schon jetzt gibt es dank dem Active Energy Building einige neue Patente für Bauelemente. Es bleibt spannend und abzuwarten, wie sich die Forschungsergebnisse zukünftig auf die Baubranche auswirken werden.

TEC21, Fr., 2017.02.17



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21. Oktober 2016Viola John
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Höhere Fügung

Systemtrennung am Gebäude ist ein Nachhaltigkeitsthema. Entscheidend für den Erfolg sind die Verknüpfung der Komponenten und die interdisziplinäre Planung.

Systemtrennung am Gebäude ist ein Nachhaltigkeitsthema. Entscheidend für den Erfolg sind die Verknüpfung der Komponenten und die interdisziplinäre Planung.

Das Thema Systemtrennung ist seit einigen Jahren fester Bestandteil der Diskussion um nachhaltiges Bauen, kommen hier doch alle drei Nachhaltigkeitsaspekte zusammen. Aus ökologischer Sicht geht es um Ressourcen­effizienz in der Baustoffverwertung durch eine vereinfachte Nutzbarmachung von Bau­stoffen für die Wieder- bzw. Weiterverwendung und das Recycling (Abb. «Ökologische Betrachtung»).[1]

In ökonomischer Hinsicht lässt sich durch leicht erreich- und austauschbare Bauteile eine Kostenreduktion bei der Instandhaltung und -setzung im Gebäude­lebenszyklus realisieren. Aus dem gesellschaftlichen Blickwinkel stehen Umnutzbarkeit und Nutzungsflexibilität im Vordergrund, dank denen zukunftsfähige und anpassbare Bauwerke entstehen. Hierzu wird das Gebäude konzeptionell in verschiedene Systeme von baulichen Einheiten gegliedert, die sich durch ihre Lebensdauer und Funktion unterscheiden und daher voneinander konstruktiv separierbar ausgeführt werden sollen (Kasten unten: «Die Systeme»).

Rückbaufähigkeit und Nutzungsflexibilität

Werden kurzlebige Bauelemente untrennbar mit lang­lebigen verbunden, reduziert sich die Lebensdauer des ganzen Gebäudes mitunter auf die der kurzlebigen Bauteile. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Integration von Installationen und Gebäudetechnik in die tragende Konstruktion (etwa durch das Einbetonieren von Leitungen), deren Erneuerung dann mit hohem Aufwand verbunden ist. Während die Gebäudetechnikkomponenten in der Regel nach etwa 15 bis 20 Jahren ausgetauscht werden, ist die Haupttragstruktur darauf ausgelegt, 60 Jahre und länger Bestand zu haben.

Zur Zeit der Planungsphase ist noch kaum absehbar, ob und wie stark sich die Anforderungen des Nutzers bis zum Lebensende des Gebäudes wandeln werden. Eine spätere Anpassung des Bestands wird insbesondere dann erschwert, wenn das Bauwerk strukturell und funktionell auf eine spezielle Erstnutzung ausgerichtet wurde (der Siedlungswohnungsbau der 1970er-Jahre beispielsweise lässt sich aufgrund seiner Bauqualität und seiner Grundrisse nur schwer an heutige Nutzerwünsche adaptieren). Eine bauliche Umgestaltung ist dann oftmals sehr aufwendig.

Getrennte Systeme im Lebenszyklus …

Um solche potenziellen Herausforderungen des Gebäudelebenszyklus schon in der Planung von Neubauten adäquat zu berücksichtigen, wird heute zunehmend das Prinzip der Systemtrennung angewandt. Systemtrennung ist aber auch ein Erneuerungsthema, bietet sie doch eine mögliche Antwort auf die Frage, wie wir zukünftig mit Bestandsbauten umgehen wollen. Der Aufwand für Abriss und Ersatzneubau des gesamten heutigen Gebäudeparks wäre riesig, Entkernen und technisches Umrüsten nach Prinzipien der Systemtrennung stellen daher eine sinnvolle Strategie dar.

Das wirft in der Erneuerung allerdings ebenso wie im Neubau immer wieder die Frage auf: Wie muss ein Haus aussehen, das auch in 50 Jahren mühelos verändert werden kann, sodass man lang daran Freude hat? Und nach welchen Kriterien kann eine Opti­mierung im Lebenszyklus idealerweise erfolgen? In der Gebäudezertifizierung haben solche Kriterien zur Systemtrennung bereits Einzug gehalten. Das Deutsche Gütesiegel Nachhaltiges Bauen (DGNB) bewertet unter anderem die Anpassungsfähigkeit von technischen Systemen. Laut DGNB ist diese dann besonders nachhaltig umgesetzt, wenn der Wandel mit einem geringen Ressourceneinsatz verbunden ist.[2]

Der Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz SNBS konstatiert, dass eine flexible und anpassungsfähige Raumstruktur mit hoher Gebrauchsqualität die Basis für einen ressourcenschonenden Raumbedarf bildet. Entsprechend findet sich in der aktuellen Ausgabe des «Kriterienbeschriebs Hochbau» für Wohn- und Bürobauten des SNBS (vgl. «Note 4 oder besser für Wettbewerbsprojekte») eine Übersicht der Punkte, die es beim Unterhalt und Ersatz von Bauteilen im Sinn einer unkomplizierten Um- und Rückbaubarkeit von Bauwerken zu beachten gilt (Kasten unten: «Auf einen Blick: Worauf ist laut SNBS zu achten?»).[3]

Die spätere Nutzungsflexibilität des Gebäudes kann z. B. über ausreichend grosse Gebäuderaster mit entsprechenden Gebäudetiefen berücksichtigt werden, wodurch unterschiedliche Grundrisslayouts möglich werden. Auch die Geschosshöhen lassen sich im Hinblick darauf optimieren. Das Amt für Grundstücke und Gebäude des Kantons Bern beispielsweise arbeitet für die Planung öffentlicher Gebäude mit der Empfehlung, dass die Raumhöhe in den Erd- und Ober­geschossen von Neubauten 3.6 m betragen sollte (vgl. «Wandlungsfähige Häuser»).[4]

Zur Gewährleistung der Nutzungsflexibilität gehört auch, in der Bemessung der Primärkonstruktion etwaige Anpassungen der Nutzlasten und gegebenenfalls eine Verstärkung der Fundamente einzuplanen. Für technische Installationen kann Reserve­platz in den Steigzonen und Horizontalerschliessungen vorgesehen werden für den Fall, dass in Zukunft in grossem Umfang heute unbekannte Technikkomponenten eingebaut werden müssen. Die Zugänglichkeit für Wartung, Unterhalt und Nachinstallation wird über Revisionsöffnungen gewährleistet.

… und ihre Fügung

Die Leitungen für Strom, Heizung und Lüftung können über dezentrale Installationseinheiten an Decke oder Fassade gleichmässig im Raum verteilt werden. Dieses Vorgehen hat sich unter anderem bereits im Bürobau und bei Funktionsbauten bewährt. Mittlerweile gibt es auch im Wohnungs­bau Beispiele für eine revisionierbare Unterbringung von Installationsleitungen über Vorwand­elemente und flexibel zugängliche Elektroinstallationen über Bodenkanäle. Eine generelle Empfehlung auf Bauteilebene ist, bei der Fügung verschiedener Baustoffe mit unterschiedlichen Lebensdauern auf Klebeverbindungen zu verzichten und stattdessen mechanische Verbindungen, beispielsweise mit Schrauben, zu bevorzugen.

Wenn ein Gebäude schnell errichtet, umnutzbar und gut rückbaubar ausgeführt werden soll, ist der Systembau eine interessante Möglichkeit. Hierbei werden vorgefertigte Bauteile oder Module auf der Baustelle zusammengesetzt. Durch die Vorfertigung der Elemente verkürzt sich die Bauzeit. Vorteile bieten sich auch durch die Witterungsunabhängigkeit während der Vorfertigungsphase und die Präzision in der seriellen Fertigung.

Auf der Baustelle fällt zudem durch standardisierte Prozesse weniger konstruktionsbedingter Abfall an. Die Produktion im Werk bietet die Möglichkeit, den Anteil sortenreiner Materialchargen zu erhöhen, und begünstigt so späteres Recycling. Ein weiteres Plus: Modulares Bauen braucht nicht unbedingt mit dauerhaften Materialien realisiert zu werden, denn auch kurzlebige Baustoffe können einfach ausgewechselt und der Verwertung zugeführt werden.

Der Systembau hat sich zum Beispiel bei Funktionsbauten, Hallen oder grossen Bürogebäuden durchgesetzt, wo als Material hierfür häufig Stahl verwendet wird. Bei Wohnbauten, Schulen und Kindertagesstätten, Büros und Produktionsgebäuden hat sich der modulare Holzbau etabliert.

Im Team digital planen

Zur Umsetzung der Systemtrennung und des Systembaus muss detailliert strategisch vorausgedacht werden, damit die Fügung der Komponenten auf Gebäude- und Bauteilebene optimiert werden kann. Unabdingbar ist insbesondere die enge interdisziplinäre Zusammen­arbeit von Architekt, Ingenieur und Fachplanern im frühen Stadium des Projekts. Der Planungsaufwand kann sich dadurch gegenüber einer konventionellen Bauweise erhöhen.

Zudem müssen die unterschiedlichen Interessen aller Beteiligten miteinander vereinbart werden, wodurch die Systemtrennung nicht immer konsequent umgesetzt werden kann (vgl. «Mehr als die Summe der Teile»). Architekten sehen sich dann manchmal auch mit Kompromissen und gewissen Einschränkungen ihrer entwerferischen Freiheit konfrontiert. Hierin liegen sicher einige Gründe dafür, dass sich die Systemtrennung – trotz ihrer Vorteile – in der Bau­praxis noch immer nicht recht durchsetzen konnte.

Andererseits verspricht die fortschreitende Digitalisierung im Planungsprozess durch das Building Information Modelling (BIM) zukünftig eine vereinfachte gewerkeübergreifende Überlagerung der verschie­denen Fachdisziplinen; dadurch lassen sich Prinzipien der Systemtrennung schon früh in den planerischen Ablauf integrieren. Ausserdem bieten digitale Planungsprozesse die Möglichkeit der Modularisierung von Teilsystemen, wie im Automobilbau. Dabei wird das programmierte Gebäude nicht als Ansammlung von Einzeldaten, sondern als Modell mit überschaubaren Teilmodulen verstanden (vgl. «Gebäude programmieren», TEC21 42/2015).

In Zukunft sollte es möglich sein, einige der planungsbedingten Nachteile endgültig mit den Vorteilen der systematischen Bauteiltrennung aufzuwiegen. Diese Entwicklungen ebnen den Weg dafür.


Anmerkungen:
[01] Sebastian El khouli, Viola John, Martin Zeumer: «Nachhaltig konstruieren», DETAIL Green Books, München 2014.
[02] DGNB (Hrsg.): «DGNB Kriterien», http://www.dgnb-system.de, 2016.
[03] NNBS (Hrsg.): «SNBS Kriterienbeschrieb Hochbau», Version 2.0, https://www.nnbs.ch, 2016.
[04] AGG Bern: «Richtlinien Systemtrennung», Amt für Grundstücke und Gebäude des Kantons Bern, Bern 2009.

TEC21, Fr., 2016.10.21



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TEC21 2016|43 Gemeinsame Wege – getrennte Systeme

Die Rückkehr des Einfachen

Rund fünf Dutzend Länderpavillons gibt es an der Biennale zu sehen – die meisten lohnen den Besuch. Auffällig ist, wie viele Beiträge sich existenziellen Problemen widmen: ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber mit treffenden Ideen und unkonventionellen Lösungsvorschlägen. Eine kleine Auswahl.

Rund fünf Dutzend Länderpavillons gibt es an der Biennale zu sehen – die meisten lohnen den Besuch. Auffällig ist, wie viele Beiträge sich existenziellen Problemen widmen: ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber mit treffenden Ideen und unkonventionellen Lösungsvorschlägen. Eine kleine Auswahl.

Weil das Motto der Hauptausstellung – und somit der ganzen Biennale – in der Regel erst zu einem Zeitpunkt bekannt gegeben wird, wenn die Themen der Länderpavillons bereits feststehen, gehen nicht alle nationalen Ausstellungen darauf ein. Dennoch fällt auf, dass dieses Jahr viele Pavillons jenen Fragen gewidmet sind, um die auch die Hauptausstellung kreist: die Aktionsmöglichkeiten von Architektinnen und Architekten jenseits ästhetischer Themen. Armut, prekäre Lebensverhältnisse, Krieg, Ausbeutung, Leben auf der Flucht, Migration, Krankheit und Entfremdung scheinen die Architekturschaffenden zunehmend zu beschäftigen, und das kommt in vielen Pavillons zur Sprache.

Die Vielfalt der Ansätze und die zum Teil brillanten Inszenierungen sind erfreulich und lassen – trotz der thematisierten Missstände – ein hoffnungsvolles Gefühl zurück. Daneben gibt es wie jedes Jahr eine Reihe von Pavillons, die mit einer unerwarteten, zuweilen eher zufällig ­anmutenden Schau überraschen. Und schliesslich sind – weniger überraschend – die Selbstdarstellungen diverser Diktaturen zu sehen, die in ihrer Selbstverherrlichung amüsant wirken würden, wären sie nicht so todernst gemeint.

Finnland: soziale Integration

Ein Absperrband in den finnischen Nationalfarben begrüsst die Besucher im Türrahmen, um darauf hinzuweisen, dass man eine Grenze überschreitet und finnisches Hoheitsgebiet betritt. Die Ausstellung ist der Flüchtlingskrise und den Antworten seitens der Architektur gewidmet. Dokumentiert werden die Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs, bei dem Immigrantenunterkünfte konzipiert werden sollten. Es ging um die Schaffung eines neuen Zuhauses, das die Integration der Neuankömmlinge erleichtert. Die Strategien reichen von Umnutzungen über Infrastrukturen zur Verteilung bestehenden Wohnraums ­ bis hin zur Schaffung temporärer Wohn­einheiten. Immer im Fokus: die soziale Dimension der Integration, die über durchmischte Wohnformen erreicht werden soll. Die Ausstellung will einen Anstoss zu Diskussionen bieten: Mitreden kann jeder, direkt vor Ort oder online unter www.frombordertohome.fi

Irland: der Raum als Feind

Um die Installation «Losing Myself» zu verstehen, muss man sich ein wenig Zeit nehmen. Dann aber erfährt man mehr über die räumliche Wahrnehmung von Alzheimerkranken als nach der Lektüre von manchem Wälzer: am eigenen Leib nämlich. Während man sich auf die Pläne für ein Heim konzentriert, die auf den Boden projiziert werden, verändern sich das Licht und die Geräusche schleichend. Auf einmal wirkt Kindergelächter bedrohlich, Kirchenglocken lassen einen taumeln, und die Sicht scheint sich zu trüben. Man erahnt, wie unerträglich es für die vielen dementen Menschen in unserer alternden Gesellschaft sein muss, sich im Raum zu orientieren – und wie anspruchsvoll die architektonische Aufgabe ist, ihnen dennoch adäquate Lebensräume zur Verfügung zu stellen. Eine Lektion in Demut und eine sinnliche Bereicherung zugleich.

Grossbritannien: suffizient bis ins Letzte

Die Ausstellung thematisiert die hohen Wohnpreise in London und reflektiert neue Wohnkonzepte. Unter dem Titel «Home Economics» sind fünf Wohnmodelle zu sehen, die für unterschiedliche Nutzungsdauern optimiert und dem ökonomischen Existenzminimum der Bewohner angepasst wurden. Alle Projekte lassen britischen Humor erkennen und sind so klein, dass sie als 1 : 1-Modell im Pavillon Platz finden. Die erste Einheit ist eine aufblasbare Kugel, die für die Nutzung während weniger Tage gedacht ist: Alles, was man benötigt, um sich zu Hause zu fühlen, ist ein Wi-Fi-Anschluss.

Für mehrere Monate genügt eine Holzbox mit Hochbett, Wasch­becken und Toilette. Auch das etwas grössere Eigenheim für Jahre erinnert an die Grundausstattung einer Gefängniszelle. Zur Nutzung über Dekaden wird eine Reihe funktionsloser Räumen für maximale Flexibilität vorgeschlagen. Für einige Stunden sind Orte zur Nutzung für mehrere Personen angedacht, ganz nach dem Motto «Own nothing, share everything». Die Ausstellung bietet auf kleiner Fläche jede Menge Raum für Diskussionen und zeigt in überspitzter Form, was passiert, wenn das Thema Suffizienz zu Ende gedacht wird.

Rumänien: selbst- und ferngesteuert

Aus unterschiedlichen Positionen – als distanzierte Beobachter oder mitten in den Installationen – können die Besucher sechs mechanische Automaten mit stereotyp anmutenden Holzpuppen steuern. Die Frage des Kurators, ob unsere aktive, willentliche  Partizipation am Weltgeschehen nur eine Illusion sei, bleibt offen. Als Alternative zum Selfie, wie von den Ausstellungsmachern vorgeschlagen, eignet sich die rumänische Ausstellung ausgezeichnet – an kaum einem anderen Ort werden so viele Fotos von Besuchern mit den Installationen gemacht.

Niederlande: Blau steht für Frieden

An hunderten von Orten weltweit sind UNO-Friedenstruppen stationiert. Die Blauhelme sollen die Lebensbedingungen der dortigen Menschen verbessern, doch die Architektur ihrer Camps lässt wenig davon erahnen und trägt kaum dazu bei. Die Architektin und Kuratorin Malkit Shoshan präsentiert ein Gegenmodell: Camp Castor in Mali – hier ist die UNO im Einsatz, und die Niederlande versuchen dabei, die Basis nicht als Festung, sondern als Katalysator für die lokale Entwicklung zu gestalten. In geisterhaft blaues Licht getaucht, zeigt die Ausstellung Chancen und Herausforderungen im Land der Tuareg, die wegen ihrer indigofarbenen Kleider auch «blue men» genannt werden.

Japan: zwischen Ding und Mensch

Die japanische Gesellschaft befindet sich an einem Wendepunkt: Arbeitslose Jugendliche und wachsende Armut gehören nach dem wirtschaftlichen Wohlstand heute zum Alltag. Die Kuratoren fragen danach, wie sich die Archi­tektur den neuen Verhältnissen anpassen wird. Die ausgestellten Arbeiten sind aber nicht der Architektur selber gewidmet, sondern den Verbindungen der Dinge zu den Menschen und umgekehrt. In der buddhistischen Kultur prägt der Begriff «En» diesen Sachverhalt. Es werden verschiedene Aspekte von «En» untersucht – das, so die Kuratoren, das Potenzial in sich birgt, die Schwierigkeiten der kommenden Zeiten zu überbrücken.

Polen: von Fairness keine Spur

Sind faire Arbeitsbedingungen auf einer Grossbaustelle eine Ausnahme? Während die Besucher im polnischen Pavillon auf Baugerüsten sitzen, erzählen Bauarbeiter im Film über ihren Arbeitsalltag. Im zweiten Teil der Ausstellung führen Grafiken an den Wänden vor Augen, wie viele Schwarzarbeiter es gibt, wie viele unbezahlte Überstunden geleistet werden und welche anderen Missbräuche Planende und Arbeiter erdulden müssen. Widersprüche offenbaren sich zwischen dem Bild einer sich entwickelnden Gesellschaft und dem individuellen Schicksal. Im Gegensatz zu «Fair Trade» bei Konsumprodukten ist «Fair Work» auf Baustellen kein Thema – und das nicht nur in Polen.

Spanien: Qualität des Unvollendeten

In Spanien ist vieles, das während der Hochkonjunktur gebaut wurde, nie fertig geworden. Überall gibt es moderne Bau­ruinen. Im Gegensatz dazu steht das von den Architektur­medien vermittelte Bild eines baulichen Endzustands, der sich scheinbar nicht mehr wandelt. Die Ausstellung führt vor Augen, wie wichtig das Konzept des Unfertigen für die Architektur ist. Es lässt einen kontinuierlichen Prozess der Entwicklung zu und eine Tür offen zu Überraschendem, Unerwartetem und Ideen für zukünftige Erfindungen. Die Kuratoren Inaqui Carnicero und Carlos Quintans meinen, die Ökonomiekrise habe die Architektur in Spanien radikaler gemacht. Für ihren Beitrag wurden sie mit dem Goldenen Löwen 2016 ausgezeichnet.

Skandinavien: auf der Couch

Was ist die Essenz zeitgenössischer skandinavischer Architektur? Finnland, Norwegen und Schweden versuchen sich in ihrer Ausstellung «In Therapy» an einer Psychoanalyse. Aus 500 Projekten wurden neun ausgesucht und drei Kategorien zugeordnet: Projekte, die menschliche Grundbedürfnisse an Obdach, Gesundheit und Bildung erfüllen, die eine Zugehörigkeit ihrer Bewohner über öffentliche Räume und Begegnungsorte fördern und die die Werte der skandinavischen Gesellschaft ausdrücken. Im Pavillon darf man auf der sprichwörtlichen Couch Platz nehmen, und via Fernseher informieren Architekturtherapeuten über die Erkennt­nisse.

Das prägnanteste Ausstellungsstück ist eine Holzpyramide, die bis unter das Dach des Pavillons reicht. Sie lädt zum Klettern oder Sitzen ein, ihr tieferer Sinn erschliesst sich jedoch nicht auf den ersten Blick: Sie soll die Maslow’sche Bedürfnispyramide darstellen, ein Entwicklungsmodell der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse. So versteht sich die Ausstellung als Ausdruck einer Gesellschaft, die bereits die Spitze erreicht hat und es sich leisten kann, eine Architektur­diskussion in höheren Sphären zu führen.

Deutschland: Willkommen. Aber wie?

«Making Heimat» thematisiert die Frage, wie die Integration von Flüchtlingen und Migranten gelingen kann. Die Ausstellung zeigt Fotos von Bauprojekten, die aus Problemvierteln Orte der Toleranz machen. So wird die hessische Stadt Offenbach mit einem Anteil von über 50 % an Personen mit Migrationshintergrund als Vorbild für Integration präsentiert. Eine Fotoserie über Bewohner der Stadt dokumentiert die vielfältigen individuellen Lebenswege. Der Grundtenor der Ausstellung bleibt trotz Flüchtlingskrise optimistisch, das Fazit ist nicht neu: Heimat ist da, wo man sich zu Hause fühlt; wichtig für die Integration sind Bildung, Sprachkenntnisse, berufliche und familiäre Perspektiven, Offenheit sowie der Wille, sich mit der neuen Heimat zu identifizieren. Auch der Pavillon zeigt sich passend zum Thema ungewohnt zugänglich: Vier Durchbrüche durch die Aussenwände laden dazu ein, über Deutschland als offenes Einwanderungsland nachzudenken.

Uruguay: Krisenarchitektur

Die mit einfachen Mitteln realisierte Ausstellung «Reboot» thematisiert Architektur in Extremsituationen. Denn nur in einer solchen werde Kreativität von voreingenommenen baulichen Erfahrungen frei, sagt Kurator Marcello Danza. Ein Loch im Pavillonboden, aus dem die Erde ausgehoben wurde, erinnert an eine Gruppe des Liberacion Nacional Tupamaros, die Ende der 1960er-Jahre mitten in Montevideo im Untergrund ein Raum­system baute, das versteckt neben dem offiziellen existierte. Eine andere Installation erinnert an das «Wunder der Anden» von 1972, als einige Passagiere nach einem Flugzeugabsturz monatelang im ewigen Eis des Hochgebirges überleben.

Ungarn: Planungsprozess umgekehrt

Junge Architekten in der Stadt Eger, im Norden Ungarns, setzten  ein Projekt fast ohne Geld um. Sie baten die Behörden um einen Bau, den niemand haben wollte, und erhielten das 15-jährige Nutzungsrecht eines Hauses in einem Park. Bedingung war, dass der Umbau eine Wertsteigerung zur Folge hatte. Die Architekten kehrten den üblichen Planungsprozess um: Zuerst klärten sie ab, welche Materialien sie von Sponsoren erhalten konnten und was es aus der Umgebung zu rezyklieren gab. Erst dann entwarfen sie den Umbau. Studierende aus einem Polytechnikum halfen bei der Ausführung, die als kollektive Aktivität ins Zentrum rückte. Das Netzwerk, das dabei entstand, ist neben den Wohnräumen für die Architekten die wichtigste Komponente des Projekts. 

TEC21, Fr., 2016.07.15



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TEC21 2016|29-30 15. Architekturbiennale Venedig

10. Juni 2016Viola John
TEC21

Fussball für Ästheten

Wer heuer zur Europameisterschaft nach Bordeaux anreist, kann die Spiele in dem eigens für diesen Anlass errichteten Stadion von Herzog & de Meuron verfolgen. Von aussen erinnert das monumentale Bauwerk an einen Tempel.

Wer heuer zur Europameisterschaft nach Bordeaux anreist, kann die Spiele in dem eigens für diesen Anlass errichteten Stadion von Herzog & de Meuron verfolgen. Von aussen erinnert das monumentale Bauwerk an einen Tempel.

Als die Entscheidung fiel, Bordeaux zu einem der Austragungsorte der Europameisterschaft 2016 zu machen, nahmen die Veranstalter dies zum Anlass, vor den Toren der Stadt ein modernes Stadion zu errichten. Das alte Stadion Chaban-Delmas im Herzen der Stadt sollte nicht für die EM ausgebaut, sondern stattdessen teilweise umgenutzt werden und damit zur Aufwertung des innerstädtischen Quartiers beitragen.

Mit dem Bau des Nouveau Stade de Bordeaux wurden Herzog & de Meuron beauftragt. Ihre Neuinterpretation eines Fussballstadions überrascht in erster Linie durch dessen unkonventionelles Aussehen. Waren die Basler Architekten bislang für futuristische Stadion­entwürfe mit dynamischen Formen bekannt (Olympia­stadion in Peking, Allianz-Arena in München), sticht dieser Stadion­bau durch seine reduzierte Architektursprache heraus. Von aussen weckt das Gebäude Assoziationen an Tempel- oder Museumsbauten.

Minimalistische Architektur

Das Bauwerk beschränkt sich auf drei architektonische Hauptelemente: zum einen die monumentale Treppenanlage, die den Sockel des Bauwerks bildet. In diesem Sockelbereich sind die VIP-Lounges, Medienbereiche und Spielerräume untergebracht. Darauf folgt als zweites Element die schalenförmige, abgestufte Zuschauertribüne, die direkt in die Dachkonstruktion übergeht. Dazwischen verläuft als drittes Element ein weisses Band, das sich an zahlreichen Säulen vorbeiwindet und die Versorgungseinrichtungen enthält. Die Säulen erfüllen unterschiedliche Funktionen: Manche sind auf Druck beansprucht und stützen die Tribünen, während andere das Stadiondach über Zugkräfte im Boden verankern. Auch die Entwässerung des Dachs erfolgt innen­liegend über die Säulen.

Über die weitläufige Treppenanlage gelangt man von aussen zunächst in einen offenen Bereich oberhalb des Sockels. Dieser Empfangsbereich dient als räum­licher Vermittler zwischen aussen und innen. Imbissstände sind im an den Säulen entlang mäandrierenden weissen Band untergebracht. Überdacht wird dieser Bereich von den Tribünen. Der lange Umgang des Empfangsbereichs erschliesst an allen vier Seiten des Bauwerks die Zugänge zu den Zuschauertribünen.

Gute Sicht aufs Spielgeschehen

Der Zuschauerraum im Innern des Bauwerks ist stützenfrei ausgeführt und bietet von jedem der 42 000 Sitzplätze der Tribüne aus eine ungehinderte Sicht auf das Spielfeld. Ermöglicht wird dies durch die rückseitige Auskragung des Tribünendachs und die Ableitung der Kräfte über die zahlreichen Stützen im Empfangsbereich (Abb. S. 39).

Die Tribünen bestehen aus zwei übereinanderliegenden Stufen mit Sitzreihen, die jeweils in vier Sektoren unterteilt und durch die leicht transparent wirkende Dachkonstruktion vor Witterungseinflüssen geschützt sind. Die unteren Reihen der Tribüne sind weniger als zehn Meter von den Spielern entfernt, und die direkt am Spielfeldrand befindlichen unteren Randbarrieren ermöglichen mit einer Höhe von einem ­Me­ter eine optimale Sicht auf das Spielfeld. Die vor den Sitzreihen, auf Höhe des Empfangsbereichs, liegenden oberen Barrieren sind höher und daher aus Glas, um die Sicht nicht zu beeinträchtigen. Durch das schmale Klappdesign der Tribünensitze fallen die Abstände ­zwischen den einzelnen Sitzreihen vergleichsweise grosszügig aus – so sollen die Zuschauer den Weg ins Stadion hinein und wieder hinaus schnell und sicher zurücklegen können.

Bauvorgang und neuer Name

Errichtet wurde das Stadion in acht Phasen, in der Zeit von 2012 bis 2015. Die Grundsteinlegung fand am 15. April 2013 statt. Nachdem der Bauplatz vorbereitet war (Phase 1), folgten zunächst die Erdarbeiten und Fun­damente (Phase 2). Es wurden insgesamt 945 Pfähle ­mit einer durchschnittlichen Tiefe von 22 m gesetzt. ­Anschliessend wurden die tragenden Konstruktionselemente (Phase 3) und das Metallständerwerk mit den Tribünen errichtet (Phase 4). Hierzu wurden sieben feste Turmkräne aufgebaut und ein Betonwerk eingerichtet, um direkt vor Ort Betonelemente und -platten erstellen zu können. Die niedrigen Stützen auf der Ost- und Westseite wurden hauptsächlich aus Stahlbeton gefertigt, während auf der Nord- und Südseite vorrangig Metallständer zum Einsatz kamen. Über 3600 Stufenelemente wurden vor Ort hergestellt und insgesamt 24 km Tribünen platziert. Danach wurde die Dachkonstruktion errichtet (Phase 5). Hierfür wurden die einzelnen Stahlfachwerkelemente montiert und mit einer Metalldachhaut versehen. Anschliessend begannen die technischen Ausbauarbeiten (Phase 6), wobei neben Innenraumbekleidungen und Fussböden auch Videoüberwachung, Zutrittskontrolle, Beleuchtung, Soundsystem und Grossbildschirm installiert wurden.

Nachdem das Gebäude fertiggestelt war, ging es an die Gestaltung des 4 ha grossen Aussenraums mit Pflanzen, Gehwegen, Stras­senmöbeln und Beleuchtung (Phase 7). Abschliessend wurden Rasen und Bestuhlung realisiert und die finale Testphase eingeleitet, während der auch Sicherheitsaspekte im laufenden Betrieb optimiert wurden (Phase 8). Der Hybridrasen ist halb synthetisch, halb natürlich, und sein Substrat besteht aus Korkkügelchen, Synthetikfasern und Quarzsand. Durch die Synthetikfasern wird die Rasenfläche besonders widerstandsfähig.

Die Namensrechte für das Nouveau Stade de Bordeaux wurden an einen Sponsor verkauft. Seit September 2015 trägt das Stadion nun offiziell den Namen «Matmut Atlantique».

Que les jeux commencent!

Das Stadion ist für eine maximale Nutzungsflexibilität ausgelegt, um neben Sportveranstaltungen auch Konzerten eine Bühne zu bieten. Seit der Eröffnung im Mai 2015 wird es immer wieder für Events genutzt.

Inwieweit die flexible Nutzungsmöglichkeit der Sportstätte allerdings auch in den kommenden Jahren nach der Europameisterschaft Besucher anlocken und der Stadt Bordeaux zu Glanz verhelfen wird, bleibt abzuwarten.

Sehenswert ist das Stadion mit dem unkonventionellen Aussehen auf jeden Fall, und für die EM 2016 heisst es jetzt erst einmal: Lasset die Spiele beginnen!

[Dr. Viola John, Redaktorin Konstruktion/nachhaltiges Bauen]


Punktuelle Nachhaltigkeit

In puncto Nachhaltigkeit hat das Stadion von Bordeaux bereits für Negativschlagzeilen gesorgt. Es wurde in einem Naturschutzgebiet errichtet, sodass mehr als 10 ha Fläche mit besonders hohem ökologischem Wert für Flora und Fauna dem Bau weichen mussten.

Zudem wurden hauptsächlich Materialien verwendet, die in ihrer Herstel­lung sehr energieintensiv sind: 644 Metallsäulen, 12000 Tonnen an Metallbedachung und 41000 m³ Stahlbeton.

Zwar mussten auch Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt werden, um die französischen Bestimmungen zu nachhaltiger Entwicklung umzusetzen, allerdings wurden hierfür lediglich einzelne, isolierte Strategien für die Energiegewinnung, das Wasser- und Abfallmanagement sowie zur Mobilität verfolgt.

Energie: Als regenerative Energiequelle zur partiellen Deckung des Strombedarfs dient eine Photovoltaik­anlage über dem Parkplatzbereich mit 800 Parkplätzen vor dem Stadion.

Wasser: Statt Trinkwasser wird zur Spielfeldbewässerung und für die sanitären Einrichtungen zum Teil Wasser aus vor Ort installierten Regenwassersammelanlagen verwendet. Die vier Regenwassertanks haben eine Kapazität von insgesamt 800 m³.

Mobilität: Für eine gute Erreichbarkeit des Stadions mit öffentlichen Verkehrsmitteln wurde das Strassenbahn­netz von Bordeaux ausgebaut.

Da solche punktuellen Massnahmen nicht ausreichen, um einem Gebäude das Prädikat «nachhaltig» zu ­verleihen, wird das Stadion in dieser Hinsicht wohl auch weiterhin Gegenstand kontroverser Diskussionen bleiben.

Kapazität kostet

Anlässlich der Fussball-Europameisterschaft wurden drei Stadien neu errichtet, fünf umgebaut und das Stade de France von 1998 im Originalzustand belassen. Umbauten erhöhen die Kapazität nur bedingt (St-Etienne, Lens) und werden mit der Tiefe des Eingriffs überproportional teurer: Für den Umbau in Marseille hätte man ein neues Stadion errichten können! Der finanzielle Aspekt ist jedoch nur ein Teil der Gleichung, viel mehr zählt die positive Auswirkung solcher Anlagen auf die Stadt und ihre Identität. (te)


«Man merkt gar nicht, dass es ein Fussballstadion ist»

TEC21: Herr Wyler, als Fussballkommentator des SRF kennen Sie die EM-Stadien in Frankreich gut und waren auch schon im neuen Stadion in Bordeaux. Welche Anforderungen muss ein EM-Stadion Ihrer Ansicht nach unbedingt erfüllen, und inwieweit ist dies beim Stadion in Bordeaux geglückt?
Dani Wyler: Entscheidend aus Sicht des Kommentators sind eine gute Erreichbarkeit, gute Infrastruktur und gute Beschilderung, damit man nicht nur die Kommentarposition, sondern auch die verschiedenen Räumlichkeiten für Interviews schnell finden kann – und natürlich eine optimale Sicht auf das Spielfeld.
Das Stadion entspricht mit 42 000 Personen Fassungsvermögen sicherlich den Anforderungen an eine Europameisterschaft. Es ist sehr gut an den öffentlichen Verkehr und auch an den Privatverkehr angebunden. Die Sicht ist optimal. Auch für den Kommentator ist das ein Erlebnis. Das einzige Problem: Weil ich zunächst den Medien-Eingang nicht gefunden habe, musste ich um das ganze Stadion herumlaufen.

TEC21: Wie war denn Ihr erster Eindruck, als Sie vor dem neuen Stadion standen?
Wyler: Auf den ersten Blick, aus einigem Abstand, habe ich gedacht: Das kann doch nicht das Fussballstadion sein! Es sieht eigentlich eher wie ein Modern-Art-Museum aus. Ein viereckiger Kasten mit Säulen. Und auch als ich direkt davor stand, merkte ich erst an den Beschriftungen, dass es sich um das Stadion handelte.

TEC21: Die Architekten haben sich darum bemüht, fliessende Räume und Sichtbezüge zwischen Aussen- und Innenraum herzustellen. Ist ihnen dies gelungen? Beschreiben Sie uns doch bitte einmal die räumliche Wirkung beim Betreten des Stadions.
Wyler: Was mir aufgefallen ist: Aussen und Innen sind zwei Welten. Von aussen ist das Stadion nicht als solches erkennbar, und von innen ist es ein Fussballstadion der etwas anderen Art: Es sieht aus wie eine Computeranimation, alles wirkt ein bisschen steril. Auch in den Pressebereichen im Sockel des Stadions. Man merkt, es ist noch alles neu, und da wurde noch nicht richtig gelebt.
Gerade dieser starke Kontrast zwischen aussen und innen hat bei mir den grössten Eindruck hinterlassen. Es deutet von aussen nichts auf ein Fussballstadion hin. Von daher ist den Architekten wirklich etwas Neues gelungen, was ich bisher so nicht gesehen habe. Und ich habe schon viele Stadien auf der ganzen Welt gesehen, alte, neue, auch wirklich moderne Stadien.

TEC21: Wie gut funktioniert die Architektur, wenn das Stadion bespielt wird? Und wie erlebbar ist die räumliche Wirkung noch, wenn Zehntausende von Zuschauern sich durch den Empfangsbereich und auf die Tribünen drängen?
Wyler: Es gibt gute Stimmung im Innern, und das ist für mich als Kommentator entscheidend. Die Zuschauerrampen gehen auf allen vier Seiten relativ steil hoch. Dadurch wird der Zuschauerbereich sehr kompakt, und die Zuschauer sind nah an den Spielern.

TEC21: Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial? Oder was sind Aspekte, in denen Sie andere EM-Stadien eher überzeugt haben?
Wyler: Die Nostalgie. Ich habe gern Stadien, die eine Geschichte haben, und dieses Stadion hat noch keine. Aber das ist natürlich die Sicht eines Fussballfans.

TEC21: Stichwort Nostalgie: Bei vielen EM-Stadien wurde ja auf eine Instandset­zung des Bestands statt eines Neubaus gesetzt. Wäre dies Ihrer Meinung nach eine Möglichkeit für Bordeaux gewesen? Welche Vorteile hat der Neubau gegenüber einer Sanierung des alten Stadions (Chaban-Delmas) in Ihren Augen gebracht?
Wyler: Ich war vor 25 Jahren im alten Stadion in Bordeaux, einem ganz klassischen Fussballstadion, und ich glaube nicht, dass es den heutigen Sicherheitsanforderungen genügt hätte. Es braucht heute spezielle Korridore, denn Medien und Spieler müssen von den Zuschauern absolut abgeschirmt werden. Das wäre in dem alten Stadion vermutlich nicht möglich gewesen.


[Dani Wyler kommentiert seit 1988 für das Schweizer Radio und Fernsehen nationale und internationale Matches. Das Interview führte Viola John.]

TEC21, Fr., 2016.06.10



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