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08. März 2005Adolf Max Vogt
Neue Zürcher Zeitung

Hauptstädte vom Reissbrett

Würfe jemand die Frage auf, ob Architektur und Städtebau denn nicht doch befugt und in der Lage seien, den «Staat darzustellen» - dann würde ich eher entgeistert...

Würfe jemand die Frage auf, ob Architektur und Städtebau denn nicht doch befugt und in der Lage seien, den «Staat darzustellen» - dann würde ich eher entgeistert...

Würfe jemand die Frage auf, ob Architektur und Städtebau denn nicht doch befugt und in der Lage seien, den «Staat darzustellen» - dann würde ich eher entgeistert ausrufen: Vorsicht, von dem haben wir im 20. Jahrhundert mehr als genug gehabt! Erinnert sei nur an Paul Ludwig Troost und Albert Speer, die beiden Gestaltungsknechte Hitlers, und an Marcello Piacentini, den Chefbaumeister Mussolinis.

Jedermann weiss, dass das 19. Jahrhundert die Reihe der Baustile seit der griechischen und römischen Antike historisch aufgearbeitet hat und selber - als Neoromantik, Neogotik und so weiter und so fort - wieder zur Anwendung brachte. Was aber hat das 20. Jahrhundert mit diesem Erbe angefangen? Es hat zugelassen, dass ausgerechnet eine der edelsten Stilformen - der Klassizismus - an die Diktatoren verschachert oder doch preisgegeben wurde, um der damaligen Politik eine zudienend legitimierende Architektur beizugesellen. Architektur: eine wortferne Gattung, hilflos dem Missbrauch durch die Wortwelt ausgesetzt?

Aus einem Guss

Wenn nun ein Titel auftaucht, in welchem über stattliche 300 Seiten hin genau diese Frage, eben: «Representing the State», diskutiert wird, dann wandelt sich besagte Entgeisterung immerhin in Verwunderung. Der Autor des Buches, Wolfgang Sonne, der an der ETH Zürich am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur dissertiert hat und heute in Schottland wirkt, präsentiert eine stolze Reihe von neu gegründeten Hauptstädten, welche - so die These - allesamt als Bedeutungsträger der Staatsrepräsentation verstanden worden sind. Er beschreibt Washington D. C. 1902, dann Grossberlin 1910, Canberra 1912 und schliesslich Delhi 1913.

Alle diese «Kapitalen aus einem Wurf» zeichnen sich entweder durch eine dominante Achse mit grüner Mall und Wasserbecken oder durch zwei Achsen im Kreuz samt Diagonalen aus. Weiter kann die eine Grundachse in Kreisformen und Radialsegmente entfaltet werden, was Eliel Saarinen in seinem Entwurf für Canberra 1912 gelungen ist, der doch wohl das erfreulichste Konzept des ganzen Bandes darstellt.

Die von Sonne beobachtete und beschriebene Reihe von neu gegründeten Hauptstädten wird durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 unterbrochen. Kaum jemand konnte damals ahnen, dass nach bloss 20 Jahren Unterbruch (1918-1939) ein zweiter Weltkrieg von ebenso grauenvoller Dimension folgen würde. Kein Wunder, dass diese düsterste Phase des 20. Jahrhunderts heute auch als «zweiter Dreissigjähriger Krieg - 1914-1945» bezeichnet wird. - Die verbitterte, verhärmte und verarmte Szene liess keine weiteren Realisierungen von geplanten Neustädten zu - und der Gedanke, eine solche Gründung gar mit der Dedikation «to represent the state» zu versehen, wäre als Zumutung oder schlechter Witz oder simple Geschmacklosigkeit zurückgewiesen worden. Für Städteplaner blieb nur eines: der Schritt auf die platonische Ebene der Idealstadt. Doch auch diese gehobene Bezeichnung «Idealstadt» wollte einer desillusionierten Generation nicht mehr über die Lippen, folglich wird die Umschreibung «World Center of Communication» vorgezogen.

Sonne referiert auch über diese abgehobene, platonische Stufe mit der ihm eigenen Sachkenntnis und Kompetenz: Unter dem Titel «Peace Conferences, Peace Palace and World Capital of Peace» verweist er auf die letzten verzweifelten Bemühungen unmittelbar vor Kriegsausbruch 1914. Mit Recht stellt er dabei das International World Center von Andersen und Hébrard in den Vordergrund, das auf zwei Sockeln im Meer - in der Grössenordnung der Freiheitsstatue vor Manhattan - eine Eva und Adam mit Fackeln in der erhobenen Hand zeigt. Eine innerlich geladene Epoche steigert hier die Harmonisierung der Geschlechter bis zu einem unglaubhaften Grade.

Hendrick Christian Andersen, der damals in Rom wohnte, kämpfte aktiv um eine Verwirklichung des mit Ernest Hébrard entworfenen «World Center». Er versuchte Zugang zu finden bei Benito Mussolini, dem Duce. Man versprach ihm Unterstützung, eine faschistische Zeitung pries das Projekt als «eine Stadt wie keine andere, Seele, Herz und Hirn der Welt». Da Andersen, selber in pazifistischen Kreisen aufgewachsen, nun so weit ging, auch Mussolinis Eroberung Äthiopiens zu applaudieren, wurde ihm als Gegenleistung von Mussolini die Verwirklichung seines «World Center» in der faschistischen Weltausstellung E 42 bei Ostia versprochen. - Dies als Beispiel dafür, wie Architekten, die sich zu effektivem, nicht nur idealistischem Städtebau berufen fühlen, die gewünschte Repräsentation plötzlich mit dem Verrat ihrer eigenen Überzeugung bezahlen müssen.

Wie gesagt kann Sonne von 1914 an keine Planungen von Hauptstädten aus einem Guss mehr vorlegen. Die im VI. Kapitel beschriebenen «Friedensstädte» führen ihn schliesslich nach Genf, das zum Sitz des Völkerbunds erhoben wird. 1920 findet dort die erste Sitzung (noch im Hotel National) und 1926/27 der Architekturwettbewerb um den Völkerbundspalast statt.

Drang zum Ausdruck

Gerade an dieser Stelle fügt Sonne einen Abschnitt ein, den ich als «seine» Definition von Architektur übersetzen und zitieren möchte: «Transparenz und Ehrlichkeit in der Konstruktion sind damals gleichzeitig von politisch völlig entgegengesetzten Positionen her gefordert worden - den säbelrasselnden Faschisten einerseits, den Friedenspolitikern des Völkerbunds anderseits. Dies beleuchtet nicht nur die politische Ausdrucksfähigkeit von Architektur. Es beleuchtet auch die Tatsache, dass Architektur unfähig ist, eine politische Botschaft eindeutig zu übermitteln. Doch sie, die Architektur, ist andererseits auch nicht fähig, diesen Drang zum Ausdruck aufzugeben.» Kurz: repräsentieren müssen, aber ohne klare Artikulation zu erlangen.

Alles in allem: Wolfgang Sonne präsentiert einen überreichen Strom von Material, der ihn bisweilen zu überschwemmen droht. Stets ist er sachbeflissen, doch seine Beschreibung läuft horizontal, kennt kaum Steigerungen, Spannungen oder erquickende Pausen. «Weniger wäre mehr gewesen», denkt man mitunter. Sicherlich hätte die Beschränkung auf die Zeitspanne 1902-1913 (statt bis 1927) mehr Verdichtung und farbigere Profilierung ermöglicht. So sind es nun anderthalb Bücher geworden statt eins. Doch wer die Neugier hat, der wird dennoch grosszügig entschädigt.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2005.03.08



verknüpfte Publikationen
Representing the State

30. Dezember 1999Adolf Max Vogt
Neue Zürcher Zeitung

CLARTÉ + H VEN LC

Kurz vor den Festtagen hat die Accademia di Architettura in Mendrisio zwei Ausstellungen zum Werk von Le Corbusier eröffnet und illustre Forscher zu einem Symposium geladen. Im Archivio del Moderno zeigt sie unter dem Titel «H VEN LC» den Entwurf des Meisters für ein Hospital in Venedig und im Museo d'Arte eine monographische Darstellung der Maison Clarté in Genf.

Kurz vor den Festtagen hat die Accademia di Architettura in Mendrisio zwei Ausstellungen zum Werk von Le Corbusier eröffnet und illustre Forscher zu einem Symposium geladen. Im Archivio del Moderno zeigt sie unter dem Titel «H VEN LC» den Entwurf des Meisters für ein Hospital in Venedig und im Museo d'Arte eine monographische Darstellung der Maison Clarté in Genf.

In Mendrisio hat unweit des historischen Borgo die wohl jüngste Architektur-Akademie Europas vor kaum vier Jahren ihre Zelte aufgeschlagen - in einem früheren Spitalgebäude, einem Patrizierhaus, einem Einkaufszentrum und einem ehemaligen Kloster. An diesen Orten spürt man die Konzentration auf das, was die Tessiner seit dem Mittelalter als ihre berufliche Qualifikation erachten. Denn ähnlich wie der Schweizer Jura stolz ist auf seine Tradition des Uhrenhandwerks, lebt das Tessin im Stolz auf seine Kompetenz für Architektur. Als Nomaden der Baukunst sind die Magistri Comacini und Campionesi (Künstler und Architekten aus der Region rund um den Luganersee) seit je über ganz Europa ausgeschwärmt. Beim Bau des Domes zu Speyer sind sie bereits nachgewiesen. Am Errichten des barocken Rom sind sie massgebend beteiligt. Borromini aus Bissone ist der prägnante Name über diesem Arbeitsheer. Peter der Grosse rief sie zu Tausenden, um St. Petersburg zu errichten. Im 19. Jahrhundert gelangten einige von ihnen von dort aus nach Istanbul, wo sie die Kuppel und die Mosaiken der Hagia Sophia retten helfen, sich aber auch am Aufbau von Pera, dem europäischen Viertel, beteiligen. Pietro Bianchi schliesslich verdankt Neapel einen Höhepunkt des Klamizismus: die prachtvolle Kulisse von San Francesco di Paola. Insgesamt eine grandiose Leistung der Professionalität, und zwar genau auf jener Vibrationsgrenze, wo Handwerk allemal zur Kunst wird.


Bekenntnis zu Le Corbusier

Nun ist ein solcher Rang des Herkommens noch lange kein Garantieschein für künftige Ausnahmetaten. Im Tessin erwuchs aus der Not eine Kraft, die plötzlich Wunder wirkte. Das «Wirtschaftswunder» nach der Nachkriegsphase wirkte sich in Form der Zersiedelung verheerend auf das Tessin aus. Immer krasser verlor es sein Gesicht. Heimatschutz und Denkmalpflege kämpften verzweifelt auf bedrängtestem Posten. Doch Bewahren allein genügte nicht. Erst ein qualifiziert modernes Bauen der Tessiner selbst eröffnete einen Ausweg. Die Generation von Galfetti, Flora Ruchat, Carloni, Snozzi und Vacchini tat diesen entscheidenden Schritt. Die nächste Generation mit Bruno Reichlin und Mario Botta präzisierte die Art von Moderne, welche dem Tessiner Temperament am nächsten zu liegen scheint, durch ein Bekenntnis zu Le Corbusier. Bruno Reichlin organisierte im Herbst 1980 die Ausstellung «Le Corbusier - la ricerca paziente» in der Villa Malpensata in Lugano, mit einem hochkarätigen Katalog übrigens, der die aktuelle Forschung international zu Wort kommen liess. Wobei auch der damals kaum bekannte Mario Botta auftrat mit «L'ultimo progetto di Le Corbusier», womit er das Spitalprojekt für Venedig meinte.

Diese Andeutungen machen klar, dass die Bauleute im Tessin fähig waren, über zwei Generationen gemeinsam und folgerichtig zu handeln. Das weltweit bekannte Spiel, dass die jüngere Generation auszuwischen versucht, was die ältere erstrebte, blieb aus. Die Folgerichtigkeit der Tessiner wurde so zwingend und klar, dass sie in dieser Zeitspanne von nur 25 Jahren den Schritt vom Aufbruch in die Avantgarde bis zur Installation einer lebensvollen Akademie vollbringen konnten. Wobei das Vorbild des ebenfalls am Rand der Schweiz aufgewachsenen Neuchâtelois und Chaux-de-Fonniers Le Corbusier mit derselben bestrickenden Konsequenz verbindlich blieb bis auf den heutigen Tag.

Die beiden Ausstellungen zum Immeuble Clarté in Genf und zum (nicht verwirklichten) Spital von Venedig kennzeichnen die Lebensmitte und die letzten Jahre des Meisters. Die Räume der Clarté erreichen mühelos die flutende Grosszügigkeit der klassischen Moderne - jene von «H VEN» nähern sich der Mönchszelle, bezeugen somit entschiedene Distanz zur Laboratoriumsnähe des heutigen Spitals (was den Entscheid zur Realisierung schliesslich auch blockierte). Beide Ausstellungen sind technisch perfekt aufgebaut und strömen dennoch das Vergnügen an der lockeren Improvisation aus, das die junge Accademia zu beflügeln und zu tragen scheint.


Funken der Gelehrsamkeit

Für die Clarté-Ausstellung zeichnet Luca Bellinelli mit seinen Tessiner und Genfer Mitarbeitern. Für die Spital-Ausstellung stehen Letizia Tedeschi und die beiden Venezianer Renzo Dubbini und Roberto Sordina, denn «H VEN» ist ein Gemeinschaftsprodukt der Architekturschulen von Venedig und Mendrisio - eine mehr als erstaunliche Freundschaftsverbindung, die noch vor Jahren niemand dem stillen Mendrisio zugetraut hätte. Bestätigt wird die Beziehung dadurch, dass Massimo Cacciari, der Philosoph mit Architekturinteresse, der Venedig als Bürgermeister vorsteht, einmal im Monat in Mendrisio unterrichtet. Ebenfalls im Monatsrhythmus fliegt der prominente Architekturhistoriker Kenneth Frampton von Columbia (New York) ins Südtessin. Und als Statthalter von beiden fungiert der soziologisch kompetente Historiker und Theoretiker Jacques Gubler. Mit Gubler entschied sich ein Westschweizer für die Schule, genauso wie es der Bündner Peter Zumthor getan hat, der als Architekt des Bades von Vals und des Museums in Bregenz zu den grossen Hoffnungen einer anders wahrnehmenden Bauweise gehört. Kurz: Die Tessiner Architekten erweisen sich als weltoffen, wie es sich für Nomaden der Baukunst gehört, und Berührungsängste haben sich bisher keine gemeldet.

Die Zeit zwischen den beiden Ausstellungseröffnungen wurde für eine Vortragsreihe genützt, an der zunächst Frampton, Reichlin, Dubbini, dann Lucan, von Moos, Rüegg und Gubler ihre These vortrugen. Stiebende Funken, Perlen mit und ohne Schimmer, Forscherbeharrlichkeit, kryptische Gelehrsamkeit, Andeutungskoketterie - nichts fehlte in dieser Reihe. Immerhin: Le Corbusier bleibt der überragende Magnet für aufgeweckte Köpfe. Und weshalb? Weil die Qualität und Originalität seiner jeweiligen Fragestellung auch dann überdauert, wenn die von ihm entwickelten Lösungen heute nicht mehr verbindlich wirken.

Eine neue Optik auf den grossen Alten war bei Jacques Lucan (Paris/Lausanne) wahrzunehmen, der über «L'informe» im Spätwerk sprach und dabei das Halbgeformte und Ungeformte souverän diskutierte. Und eine alte Optik bestach erneut: jene von Arthur Rüegg (ETH Zürich). Rüegg tritt auf mit dem Bodenpersonal der Forschung und scheint die höheren Gefilde zu meiden. Er entdeckt die ursprünglichen Farben an den Bauten und erkundet die Masse. Diesmal befasste er sich mit den Proportionen jenes Bettes, das Le Corbusier für seine Cabane am Cap Martin, direkt über dem Meer, entwarf - und das zu seinem letzten Lager wurde: Wassertod im Mittelmeer nach der Wasserfeier des Spitalentwurfs für Venedig. Rüegg notiert die Details dazu.

Auf der Rückreise ein Halt bei Bottas «Borromini sul Lago» in Lugano. Dieser errichtete sein hölzernes Schnittmodell der Kirche San Carlo alle Quattro Fontane im Massstab 1:1 auf einem Floss vor der Quaimauer im Namen der Università della Svizzera Italiana und der Accademia di architettura Mendrisio. Als Feier des grössten Barockmeisters des Kantons, aber dargestellt mit den Mitteln der Aufklärung, als Modellschnitt im Sinne von Gondoin, 1765. Ein weiteres Beispiel der wachen und ideenreichen Kommunikation, welche die Akademie anstrebt.


[ Die Ausstellungen im Archivio del Moderno und im Museo d'Arte von Mendrisio dauern bis zum 6. Februar und sind von drei Katalogen begleitet. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 1999.12.30

30. Januar 1999Adolf Max Vogt
Neue Zürcher Zeitung

Ein Revolutionsarchitekt mit lädiertem Ansehen

Zum 200. Todestag von Etienne-Louis Boullée

Zum 200. Todestag von Etienne-Louis Boullée

Europäer und Nordamerikaner lieben die Beginner einer Epoche, die Eröffner, jene, die den Vorhang aufreissen zu einem neuen Horizont. Etienne-Louis Boullée gehört fraglos zu ihnen. Er ist wirklich der Erste, der Eröffner der modernen Architektur. Doch schon ein Jahr nach seinem Tod wurde ihm «Mégalomanie» vorgeworfen - und unter diesem Vorwurf ist sein Werk vergessen worden. Das scheint paradox, denn jeder von uns pilgert doch gierig ein erstes Mal nach Manhattan, um endlich den gebauten Gigantismus und seine Strassenschluchten am eigenen Leib zu erfahren.

Die Meister der ersten Stunde der Avantgarde unseres Jahrhunderts - Matisse, Klee, Le Corbusier, Picasso, Mondrian, Loos, Kandinsky - werden von den westlichen Kunstfreunden in höchsten Ehren gehalten. Denn jeder von ihnen hat etwas «Erstes» gemacht. Und das zählt für ein fortschrittsbeglücktes und zugleich fortschrittsgepeinigtes Publikum enorm. Das «Erste» ist, um es im heutigen Jargon zu sagen, die härteste Währung, welche der kulturinteressierte Westen zu vergeben hat. Etienne-Louis Boullée hat diese Forderung eindeutig erfüllt; er gehört zu den grossen Innovatoren. Aber die Welt nimmt seine Offerte nicht gern an. So ist er aus der Erinnerung abgestürzt. Hat der französische Architekt (geboren am 12. Februar 1728, gestorben am 16. Pluviose de l'An VII = 4. Februar 1799) einen Verstoss begangen oder - schlimmer noch - ein Tabu verletzt?

Solange wir ihn ausschliesslich als Baumeister sehen und nicht immer auch als Weltbühnenbildner, als Porträtisten des damals neuen Universums und als Architekturmaler, bleibt es schwer, ihn zu akzeptieren. So hat er mehr Mühe mit der Nachwelt als ein Claude-Nicolas Ledoux und Jacques Gondoin oder Nicholas Hawksmoor und John Soane, nicht zu reden von Friedrich Gilly oder gar Schinkel, obwohl Boullée gerade auf diese beiden deutlich eingewirkt hat. Doch schon im Jahr 1800, also kurz nach seinem Tod, hat ihm Charles-François Viel den Vorwurf der «Mégalomanie» gemacht. Dieser Vorwurf traf, und zwar so sehr, dass er Boullée und sein Vorhaben bald an den Rand getrieben hat.

Vergessen und wiederentdeckt

Als der Österreicher Emil Kaufmann, mehr als ein Jahrhundert später, 1933, seine Wiederentdeckung der französischen Revolutionsarchitektur ankündigt, findet er den klanglich gewitzten Titel «Von Ledoux bis Le Corbusier». Eine Abbildung erhalten allerdings weder Boullée noch Le Corbusier in diesem schlanken Band, und wenn ich mich richtig erinnere, werden sie im Text auch nicht erwähnt. Kaufmann scheint damals das volle Profil von Boullée noch nicht zu kennen und noch nicht abschätzen zu können, wie viel Ledoux dem acht Jahre Älteren verdankt. Von heute aus gesehen lässt sich geradezu behaupten, Boullée habe die Themen gesetzt und Ledoux hierauf die Variationen dazu ausgeformt.

Nach der Emigration in die USA bekam Kaufmann die Möglichkeit, seine Forschung breiter anzulegen. Fortan stellte er das, was er als «Autonome Architektur» bezeichnet, unter das Triumvirat von Boullée, Ledoux und Jean-Jacques Lequeu. Sein Hinweis auf Boullées Nachlass in der Bibliothèque nationale, Paris, wird von Helen Rosenau aufgenommen. Sie vertieft sich in das Hauptstück des schriftlichen Nachlasses, betitelt als «Architecture Essai sur l'Art», und erkennt es als theoretisches Vermächtnis. Sie entziffert die Handschrift und publiziert sie in der Originalsprache, mit englischem Kommentar (London 1953; deutsche Übersetzung mit neuem, erweitertem Kommentar, herausgegeben von Beat Wyss, Zürich 1987).

Auf diese Weise wird Boullées Name zum zweitenmal belebt, bis in die sechziger Jahre hinein erfolgt die Spurensicherung, von 1968 bis 1971 zirkulieren Ausstellungen in den Vereinigten Staaten und in Deutschland. Doch Ledoux' Profil bleibt bekannter als das von Boullée. Die Variationen von Ledoux, auch wenn sie übermütig auf Stelzen gehen oder mitunter hohl tönen, werden verziehen und als kühn taxiert. Boullées radikaler Grössenanspruch hingegen und sein radikales Beharren auf der zweiten Funktion von Architektur, der Funktion nämlich, im monumental gemeinten Gebäude die Weltordnung zu spiegeln (so wie es Pyramiden und Tempel tun) - sie lösen Widerstände aus, wecken Bedenken. Und diesen Bedenken soll hier nachgegangen werden. Doch zunächst muss, damit der Dialog zwei Pole bekommt, ein neues Licht geworfen werden auf unsere eigenen Positionen als Betrachter im Jahre 1999.

Boullées berühmtester Entwurf, der kugelförmige Kenotaph für Isaac Newton von 1784, wird nicht selten in die Nähe gerückt zu einer Sensation jener Tage, dem ersten Aufstieg einer bemannten Montgolfière, von Versailles aus, im Jahr 1783. Wir blicken zurück von weit her, nämlich aus der zweiten Generation der Mondfahrer. Wir beobachten den Newton-Kenotaph bereits von der Kehrseite des Mondes her. Alles ist erreicht - die Mondlandung und ihre Vorbedingung, die Schwerelosigkeit. Und dies alles scheint sich seit einigen Jahren zu rasendem Schrott zu verwandeln. Ein Wegwerfskandal am Himmel bahnt sich an, seit die amerikanische Regierung nicht nur mit «Star Wars» gedroht hat, sondern die Astronautik später freigab für den Markt.

Schweben im All

Die alten Träume vom Schweben im All sind seit 1969 dramatisch eingeholt und in Techno- Realität verwandelt worden. Doch diese heroische Phase blieb kurz, und die jetzt in Trab geratene kommerzielle Phase mit sausendem Wegwerfmüll und heulendem Techno-Schrott wird lange währen. Die heutige Verunstaltung der Aura der Erde kommt einem wie bitterer Hohn vor auf Walter Benjamins Bemühung, das alte Wort «Aura» in die moderne Welt zu retten. Begegnet man einem Buchtitel wie «Die Vollzähligkeit der Sterne», der eine «Sammlung astronoetischer Glossen» von Hans Blumenberg (postum) bekanntmacht, fühlt man sich betroffen von einer romantischen Poesieformel, die jetzt nur noch sarkastisch aufgenommen werden kann. Sieht man in einer Ausstellung wie «Böcklin - De Chirico - Max Ernst» (Kunsthaus Zürich, Winter 1997/98) eine kleine Gouache mit bleichem Sternenhimmel, unter dem ein Mann sich seiner Kleider entledigt, um sich leiblich eins zu fühlen mit dem All -, dann weicht man zurück und glaubt sich verirrt. Indessen: die Gouache ist tatsächlich von Giorgio De Chirico, datiert auf 1968 - er war damals achtzig und betitelte das Stück als «Ekstasis». Das war, ja, das war einmal. Soll man sagen: der letzte gemalte Sternhimmel, gerade noch eingebracht vor der Mondlandung?

Was den Sternhimmel betrifft, den Blick ins Dunkel der Tiefe: dieser Blick kann nicht anders als unter der Erfahrung des Sublimen, des Erhabenen geschehen - ob man derartige Bezeichnungen nun als veraltet oder als halb anrüchig bewertet, gleichviel. Doch Tumult ist angesagt, erst recht, seit uns zu Häupten Müll und Schrott ihre Bahn ziehen. Verblüffend ist nur, dass ausgerechnet jetzt, wo die Widerstände aus einsehbaren Gründen derart erhöht sind, eine Gruppe von Philosophen für eine neue Würdigung des Erhabenen sich einsetzt. Und zwar nicht durch literarische oder musikalische Vermittlung, sondern durch Vermittlung der Bildkunst und Architektur.

Der Amerikaner Richard Rorty fasst in seiner Berliner Rede vom Mai 1998 (abgedruckt in: NZZ 15. 8. 98) nur zusammen, was den Franzosen Jean-François Lyotard seit Jahren umgetrieben hatte und was in Deutschland von Wolfgang Welsch, Christine Pries, Klaus Poenicke und mehreren anderen stets auch auf Adorno zurückgeführt wird. Gerade weil Adorno zur Überzeugung gelangt, dass Kunst sich «immer mehr im Moment des Erhabenen zusammenzieht» und dass dieser «Moment» es ist, der das Kunstwerk «zum Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge» macht. Deshalb wehrt Adorno das «Hohl Erhabene» mit Entschiedenheit ab und wendet sich ebenso entschieden gegen das «Heroisch Erhabene», um diesen «Statthalter» aus dem «Raster von Macht, Übermacht und Bemächtigung» herauszuheben.

Boullée erlebt den Quantensprung in die neue Raumtiefe als Ereignis des naturwissenschaftlichen Aufschwungs seit dem 17. Jahrhundert und als Folge der Erfindungen des Fernrohrs (seit 1610) und des Mikroskops (seit 1590). Isaac Newton, der britische Mathematiker, Physiker und Astronom, erscheint ihm als der überragende Geist, der die neue Erkenntnis zusammenzufassen und zu überwölben vermochte. Newtons Texte kann er nicht selber lesen. Aber er findet einen Vermittler: Jean-Silvain Bailly, den Astronomen, der als Freund von Georges Danton in den Revolutionsjahren das Amt des Bürgermeisters von Paris übernimmt und ein Jahr vor Danton, 1793, wie dieser auf dem Schafott hingerichtet wird. Baillys dreibändige «Histoire de l'Astronomie moderne», 1782 von der Académie des Sciences approbiert, schafft Boullée sich an. Eine gut lesbare Gesamtdarstellung. Im 12. Buch, das Newton gewidmet ist, überrascht Bailly mit der Vorfrage, wie man sich überhaupt angemessen über ihn äussern könne. Über ihn, Newton, der «das Chaos überwunden», «Licht von Finsternis getrennt» habe. So ist es Bailly, der Boullée zum entscheidenden Impuls verhilft, für Newton einen Kenotaph zu entwerfen (1784). Es wird sein Hauptwerk, wie er im Rückblick seines «Essai sur l'Art» selber vermerkt.

«Architecture Majeure»

Als Dozent an der Architekturschule der ETH hat Aldo Rossi seinen Studenten die für ihn wichtige Grundunterscheidung zwischen «Architecture majeure et mineure» nahegebracht. Das, was Pyramiden und Tempel waren, ist für ihn nicht erloschen, denn es taucht auf, da und dort, in anderen Gattungen. Und soll unterschieden werden von der Architektur der Unterkunft, dem Wohnwesen. Die wohl einprägsamste Formulierung zur «Architecture majeure» stammt von Palladio. Dieser schreibt in der Einleitung zum vierten Buch: «Und wenn wir dieses Gebilde der Welt betrachten . . . können wir nicht zweifeln, dass die kleinen Tempel, die wir machen, ähnlich sein sollten jenem ganz grossen (Tempel), welcher vollendet worden ist durch ein einziges Wort Seiner unendlichen Güte (che dovendo esser simili i piccoli Tempii, che noi facciamo, à questo grandissimo . . .).»

Boullée hielt es für selbstverständlich - und das kann man einstufen als grandiose Naivität -, dass er nun auch für den neuen, durch Quantensprung ins Riesengrosse entfalteten «Gravitations-Tempel» eine Similarität, eine Ähnlichkeit, finden könne. Das richtige Abbild hierfür schien ihm die Kugel mit Stollen in der Kalotte, durch die das Aussenlicht eindringt und im dunklen Innenraum wie Sternlicht wirkt. Diese eine Idee der Kugel mit irregulären Lichtstollen für Sterneffekte und die andere Idee der Treppenläufe auf den steilschrägen Böschungshalden der Pyramiden sind besonders wichtige Prägungen im damals neuartigen Formenvokabular von Boullée. Diese Schrägtreppen, halb verglimmend in der Spannung zwischen riesenhaft und winzig, tauchen auf, kreuzen sich diagonal und verschwinden wieder - vergleichbar jenen «Haupt- und Nebenwegen», in denen Paul Klee dieselbe Aufgabe löst, neue Proportionen für neue Grössenordnungen zu suchen.

Rossi und Ungers

Neben Rossi ist auch Oswald Mathias Ungers einer der Architekten, die sich immer wieder auf Boullée bezogen haben. Als er den Auftrag bekam, für die Hamburger Kunsthalle ein drittes Gebäude zu errichten, stellte er - mitten im Getöse einer sechsstrahligen Stadtautobahn und einer zwölfstrahligen Auffächerung von Bahngeleisen - seinen weissen Kubus auf ein Podium aus geböschtem rotem Granit. In diese Böschungen legte er gestaffelt schräge Treppen, so wie sie Boullée konzipiert, aber nie gebaut hatte. Diese Schrägtreppen münden als Rampen auf einem quadratischen Pyramidenstumpf, der als Platz weder Sinn hat noch Funktion erfüllt, doch gerade deshalb (mitten im Getöse) die Leute architektonisch weckt. Die Hamburger haben geknurrt und gebellt - aber sie haben Ungers machen lassen. Von Boullée aus kann man Ungers mühelos verstehen. Und Ungers wird wohl dem einen oder andern helfen, von Hamburg aus Boullée zu verstehen.

Alle jene, die als Kind unter dem Nachthimmel mit der Sternsaat eine kaum formulierbare Erfahrung machten und diese später, wie Julien Green, als «la plus importante minute de ma vie» zu begreifen lernten - sie können diese «Minute» im Besten von Boullées Entwürfen wiederfinden: Verlorenheit im Winzigen wie in der ruchlosen Grösse des Weltraums. Sich selber verlierend und wieder gewinnend unter dieser kosmischen Ferne. Und dadurch voller Bewusstsein von Existenz.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.01.30

Publikationen

Artikel 12

25. Januar 2013Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Weiter Blickwinkel

«Die Hunde bellen – die Karawane zieht weiter», so übertitelte Adolf Max Vogt 2003 einen Beitrag in der NZZ, der sich mit der «Unbeirrbarkeit der Zürcher...

«Die Hunde bellen – die Karawane zieht weiter», so übertitelte Adolf Max Vogt 2003 einen Beitrag in der NZZ, der sich mit der «Unbeirrbarkeit der Zürcher...

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16. Juni 2010Inge Beckel
Neue Zürcher Zeitung

An Sicherheiten rütteln

Am heutigen 16. Juni wird Adolf Max Vogt, ehemaliger NZZ-Feuilletonredaktor und Gründer des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich, 90 Jahre alt.

Am heutigen 16. Juni wird Adolf Max Vogt, ehemaliger NZZ-Feuilletonredaktor und Gründer des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich, 90 Jahre alt.

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Presseschau 12

08. März 2005Adolf Max Vogt
Neue Zürcher Zeitung

Hauptstädte vom Reissbrett

Würfe jemand die Frage auf, ob Architektur und Städtebau denn nicht doch befugt und in der Lage seien, den «Staat darzustellen» - dann würde ich eher entgeistert...

Würfe jemand die Frage auf, ob Architektur und Städtebau denn nicht doch befugt und in der Lage seien, den «Staat darzustellen» - dann würde ich eher entgeistert...

Würfe jemand die Frage auf, ob Architektur und Städtebau denn nicht doch befugt und in der Lage seien, den «Staat darzustellen» - dann würde ich eher entgeistert ausrufen: Vorsicht, von dem haben wir im 20. Jahrhundert mehr als genug gehabt! Erinnert sei nur an Paul Ludwig Troost und Albert Speer, die beiden Gestaltungsknechte Hitlers, und an Marcello Piacentini, den Chefbaumeister Mussolinis.

Jedermann weiss, dass das 19. Jahrhundert die Reihe der Baustile seit der griechischen und römischen Antike historisch aufgearbeitet hat und selber - als Neoromantik, Neogotik und so weiter und so fort - wieder zur Anwendung brachte. Was aber hat das 20. Jahrhundert mit diesem Erbe angefangen? Es hat zugelassen, dass ausgerechnet eine der edelsten Stilformen - der Klassizismus - an die Diktatoren verschachert oder doch preisgegeben wurde, um der damaligen Politik eine zudienend legitimierende Architektur beizugesellen. Architektur: eine wortferne Gattung, hilflos dem Missbrauch durch die Wortwelt ausgesetzt?

Aus einem Guss

Wenn nun ein Titel auftaucht, in welchem über stattliche 300 Seiten hin genau diese Frage, eben: «Representing the State», diskutiert wird, dann wandelt sich besagte Entgeisterung immerhin in Verwunderung. Der Autor des Buches, Wolfgang Sonne, der an der ETH Zürich am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur dissertiert hat und heute in Schottland wirkt, präsentiert eine stolze Reihe von neu gegründeten Hauptstädten, welche - so die These - allesamt als Bedeutungsträger der Staatsrepräsentation verstanden worden sind. Er beschreibt Washington D. C. 1902, dann Grossberlin 1910, Canberra 1912 und schliesslich Delhi 1913.

Alle diese «Kapitalen aus einem Wurf» zeichnen sich entweder durch eine dominante Achse mit grüner Mall und Wasserbecken oder durch zwei Achsen im Kreuz samt Diagonalen aus. Weiter kann die eine Grundachse in Kreisformen und Radialsegmente entfaltet werden, was Eliel Saarinen in seinem Entwurf für Canberra 1912 gelungen ist, der doch wohl das erfreulichste Konzept des ganzen Bandes darstellt.

Die von Sonne beobachtete und beschriebene Reihe von neu gegründeten Hauptstädten wird durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 unterbrochen. Kaum jemand konnte damals ahnen, dass nach bloss 20 Jahren Unterbruch (1918-1939) ein zweiter Weltkrieg von ebenso grauenvoller Dimension folgen würde. Kein Wunder, dass diese düsterste Phase des 20. Jahrhunderts heute auch als «zweiter Dreissigjähriger Krieg - 1914-1945» bezeichnet wird. - Die verbitterte, verhärmte und verarmte Szene liess keine weiteren Realisierungen von geplanten Neustädten zu - und der Gedanke, eine solche Gründung gar mit der Dedikation «to represent the state» zu versehen, wäre als Zumutung oder schlechter Witz oder simple Geschmacklosigkeit zurückgewiesen worden. Für Städteplaner blieb nur eines: der Schritt auf die platonische Ebene der Idealstadt. Doch auch diese gehobene Bezeichnung «Idealstadt» wollte einer desillusionierten Generation nicht mehr über die Lippen, folglich wird die Umschreibung «World Center of Communication» vorgezogen.

Sonne referiert auch über diese abgehobene, platonische Stufe mit der ihm eigenen Sachkenntnis und Kompetenz: Unter dem Titel «Peace Conferences, Peace Palace and World Capital of Peace» verweist er auf die letzten verzweifelten Bemühungen unmittelbar vor Kriegsausbruch 1914. Mit Recht stellt er dabei das International World Center von Andersen und Hébrard in den Vordergrund, das auf zwei Sockeln im Meer - in der Grössenordnung der Freiheitsstatue vor Manhattan - eine Eva und Adam mit Fackeln in der erhobenen Hand zeigt. Eine innerlich geladene Epoche steigert hier die Harmonisierung der Geschlechter bis zu einem unglaubhaften Grade.

Hendrick Christian Andersen, der damals in Rom wohnte, kämpfte aktiv um eine Verwirklichung des mit Ernest Hébrard entworfenen «World Center». Er versuchte Zugang zu finden bei Benito Mussolini, dem Duce. Man versprach ihm Unterstützung, eine faschistische Zeitung pries das Projekt als «eine Stadt wie keine andere, Seele, Herz und Hirn der Welt». Da Andersen, selber in pazifistischen Kreisen aufgewachsen, nun so weit ging, auch Mussolinis Eroberung Äthiopiens zu applaudieren, wurde ihm als Gegenleistung von Mussolini die Verwirklichung seines «World Center» in der faschistischen Weltausstellung E 42 bei Ostia versprochen. - Dies als Beispiel dafür, wie Architekten, die sich zu effektivem, nicht nur idealistischem Städtebau berufen fühlen, die gewünschte Repräsentation plötzlich mit dem Verrat ihrer eigenen Überzeugung bezahlen müssen.

Wie gesagt kann Sonne von 1914 an keine Planungen von Hauptstädten aus einem Guss mehr vorlegen. Die im VI. Kapitel beschriebenen «Friedensstädte» führen ihn schliesslich nach Genf, das zum Sitz des Völkerbunds erhoben wird. 1920 findet dort die erste Sitzung (noch im Hotel National) und 1926/27 der Architekturwettbewerb um den Völkerbundspalast statt.

Drang zum Ausdruck

Gerade an dieser Stelle fügt Sonne einen Abschnitt ein, den ich als «seine» Definition von Architektur übersetzen und zitieren möchte: «Transparenz und Ehrlichkeit in der Konstruktion sind damals gleichzeitig von politisch völlig entgegengesetzten Positionen her gefordert worden - den säbelrasselnden Faschisten einerseits, den Friedenspolitikern des Völkerbunds anderseits. Dies beleuchtet nicht nur die politische Ausdrucksfähigkeit von Architektur. Es beleuchtet auch die Tatsache, dass Architektur unfähig ist, eine politische Botschaft eindeutig zu übermitteln. Doch sie, die Architektur, ist andererseits auch nicht fähig, diesen Drang zum Ausdruck aufzugeben.» Kurz: repräsentieren müssen, aber ohne klare Artikulation zu erlangen.

Alles in allem: Wolfgang Sonne präsentiert einen überreichen Strom von Material, der ihn bisweilen zu überschwemmen droht. Stets ist er sachbeflissen, doch seine Beschreibung läuft horizontal, kennt kaum Steigerungen, Spannungen oder erquickende Pausen. «Weniger wäre mehr gewesen», denkt man mitunter. Sicherlich hätte die Beschränkung auf die Zeitspanne 1902-1913 (statt bis 1927) mehr Verdichtung und farbigere Profilierung ermöglicht. So sind es nun anderthalb Bücher geworden statt eins. Doch wer die Neugier hat, der wird dennoch grosszügig entschädigt.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2005.03.08



verknüpfte Publikationen
Representing the State

30. Dezember 1999Adolf Max Vogt
Neue Zürcher Zeitung

CLARTÉ + H VEN LC

Kurz vor den Festtagen hat die Accademia di Architettura in Mendrisio zwei Ausstellungen zum Werk von Le Corbusier eröffnet und illustre Forscher zu einem Symposium geladen. Im Archivio del Moderno zeigt sie unter dem Titel «H VEN LC» den Entwurf des Meisters für ein Hospital in Venedig und im Museo d'Arte eine monographische Darstellung der Maison Clarté in Genf.

Kurz vor den Festtagen hat die Accademia di Architettura in Mendrisio zwei Ausstellungen zum Werk von Le Corbusier eröffnet und illustre Forscher zu einem Symposium geladen. Im Archivio del Moderno zeigt sie unter dem Titel «H VEN LC» den Entwurf des Meisters für ein Hospital in Venedig und im Museo d'Arte eine monographische Darstellung der Maison Clarté in Genf.

In Mendrisio hat unweit des historischen Borgo die wohl jüngste Architektur-Akademie Europas vor kaum vier Jahren ihre Zelte aufgeschlagen - in einem früheren Spitalgebäude, einem Patrizierhaus, einem Einkaufszentrum und einem ehemaligen Kloster. An diesen Orten spürt man die Konzentration auf das, was die Tessiner seit dem Mittelalter als ihre berufliche Qualifikation erachten. Denn ähnlich wie der Schweizer Jura stolz ist auf seine Tradition des Uhrenhandwerks, lebt das Tessin im Stolz auf seine Kompetenz für Architektur. Als Nomaden der Baukunst sind die Magistri Comacini und Campionesi (Künstler und Architekten aus der Region rund um den Luganersee) seit je über ganz Europa ausgeschwärmt. Beim Bau des Domes zu Speyer sind sie bereits nachgewiesen. Am Errichten des barocken Rom sind sie massgebend beteiligt. Borromini aus Bissone ist der prägnante Name über diesem Arbeitsheer. Peter der Grosse rief sie zu Tausenden, um St. Petersburg zu errichten. Im 19. Jahrhundert gelangten einige von ihnen von dort aus nach Istanbul, wo sie die Kuppel und die Mosaiken der Hagia Sophia retten helfen, sich aber auch am Aufbau von Pera, dem europäischen Viertel, beteiligen. Pietro Bianchi schliesslich verdankt Neapel einen Höhepunkt des Klamizismus: die prachtvolle Kulisse von San Francesco di Paola. Insgesamt eine grandiose Leistung der Professionalität, und zwar genau auf jener Vibrationsgrenze, wo Handwerk allemal zur Kunst wird.


Bekenntnis zu Le Corbusier

Nun ist ein solcher Rang des Herkommens noch lange kein Garantieschein für künftige Ausnahmetaten. Im Tessin erwuchs aus der Not eine Kraft, die plötzlich Wunder wirkte. Das «Wirtschaftswunder» nach der Nachkriegsphase wirkte sich in Form der Zersiedelung verheerend auf das Tessin aus. Immer krasser verlor es sein Gesicht. Heimatschutz und Denkmalpflege kämpften verzweifelt auf bedrängtestem Posten. Doch Bewahren allein genügte nicht. Erst ein qualifiziert modernes Bauen der Tessiner selbst eröffnete einen Ausweg. Die Generation von Galfetti, Flora Ruchat, Carloni, Snozzi und Vacchini tat diesen entscheidenden Schritt. Die nächste Generation mit Bruno Reichlin und Mario Botta präzisierte die Art von Moderne, welche dem Tessiner Temperament am nächsten zu liegen scheint, durch ein Bekenntnis zu Le Corbusier. Bruno Reichlin organisierte im Herbst 1980 die Ausstellung «Le Corbusier - la ricerca paziente» in der Villa Malpensata in Lugano, mit einem hochkarätigen Katalog übrigens, der die aktuelle Forschung international zu Wort kommen liess. Wobei auch der damals kaum bekannte Mario Botta auftrat mit «L'ultimo progetto di Le Corbusier», womit er das Spitalprojekt für Venedig meinte.

Diese Andeutungen machen klar, dass die Bauleute im Tessin fähig waren, über zwei Generationen gemeinsam und folgerichtig zu handeln. Das weltweit bekannte Spiel, dass die jüngere Generation auszuwischen versucht, was die ältere erstrebte, blieb aus. Die Folgerichtigkeit der Tessiner wurde so zwingend und klar, dass sie in dieser Zeitspanne von nur 25 Jahren den Schritt vom Aufbruch in die Avantgarde bis zur Installation einer lebensvollen Akademie vollbringen konnten. Wobei das Vorbild des ebenfalls am Rand der Schweiz aufgewachsenen Neuchâtelois und Chaux-de-Fonniers Le Corbusier mit derselben bestrickenden Konsequenz verbindlich blieb bis auf den heutigen Tag.

Die beiden Ausstellungen zum Immeuble Clarté in Genf und zum (nicht verwirklichten) Spital von Venedig kennzeichnen die Lebensmitte und die letzten Jahre des Meisters. Die Räume der Clarté erreichen mühelos die flutende Grosszügigkeit der klassischen Moderne - jene von «H VEN» nähern sich der Mönchszelle, bezeugen somit entschiedene Distanz zur Laboratoriumsnähe des heutigen Spitals (was den Entscheid zur Realisierung schliesslich auch blockierte). Beide Ausstellungen sind technisch perfekt aufgebaut und strömen dennoch das Vergnügen an der lockeren Improvisation aus, das die junge Accademia zu beflügeln und zu tragen scheint.


Funken der Gelehrsamkeit

Für die Clarté-Ausstellung zeichnet Luca Bellinelli mit seinen Tessiner und Genfer Mitarbeitern. Für die Spital-Ausstellung stehen Letizia Tedeschi und die beiden Venezianer Renzo Dubbini und Roberto Sordina, denn «H VEN» ist ein Gemeinschaftsprodukt der Architekturschulen von Venedig und Mendrisio - eine mehr als erstaunliche Freundschaftsverbindung, die noch vor Jahren niemand dem stillen Mendrisio zugetraut hätte. Bestätigt wird die Beziehung dadurch, dass Massimo Cacciari, der Philosoph mit Architekturinteresse, der Venedig als Bürgermeister vorsteht, einmal im Monat in Mendrisio unterrichtet. Ebenfalls im Monatsrhythmus fliegt der prominente Architekturhistoriker Kenneth Frampton von Columbia (New York) ins Südtessin. Und als Statthalter von beiden fungiert der soziologisch kompetente Historiker und Theoretiker Jacques Gubler. Mit Gubler entschied sich ein Westschweizer für die Schule, genauso wie es der Bündner Peter Zumthor getan hat, der als Architekt des Bades von Vals und des Museums in Bregenz zu den grossen Hoffnungen einer anders wahrnehmenden Bauweise gehört. Kurz: Die Tessiner Architekten erweisen sich als weltoffen, wie es sich für Nomaden der Baukunst gehört, und Berührungsängste haben sich bisher keine gemeldet.

Die Zeit zwischen den beiden Ausstellungseröffnungen wurde für eine Vortragsreihe genützt, an der zunächst Frampton, Reichlin, Dubbini, dann Lucan, von Moos, Rüegg und Gubler ihre These vortrugen. Stiebende Funken, Perlen mit und ohne Schimmer, Forscherbeharrlichkeit, kryptische Gelehrsamkeit, Andeutungskoketterie - nichts fehlte in dieser Reihe. Immerhin: Le Corbusier bleibt der überragende Magnet für aufgeweckte Köpfe. Und weshalb? Weil die Qualität und Originalität seiner jeweiligen Fragestellung auch dann überdauert, wenn die von ihm entwickelten Lösungen heute nicht mehr verbindlich wirken.

Eine neue Optik auf den grossen Alten war bei Jacques Lucan (Paris/Lausanne) wahrzunehmen, der über «L'informe» im Spätwerk sprach und dabei das Halbgeformte und Ungeformte souverän diskutierte. Und eine alte Optik bestach erneut: jene von Arthur Rüegg (ETH Zürich). Rüegg tritt auf mit dem Bodenpersonal der Forschung und scheint die höheren Gefilde zu meiden. Er entdeckt die ursprünglichen Farben an den Bauten und erkundet die Masse. Diesmal befasste er sich mit den Proportionen jenes Bettes, das Le Corbusier für seine Cabane am Cap Martin, direkt über dem Meer, entwarf - und das zu seinem letzten Lager wurde: Wassertod im Mittelmeer nach der Wasserfeier des Spitalentwurfs für Venedig. Rüegg notiert die Details dazu.

Auf der Rückreise ein Halt bei Bottas «Borromini sul Lago» in Lugano. Dieser errichtete sein hölzernes Schnittmodell der Kirche San Carlo alle Quattro Fontane im Massstab 1:1 auf einem Floss vor der Quaimauer im Namen der Università della Svizzera Italiana und der Accademia di architettura Mendrisio. Als Feier des grössten Barockmeisters des Kantons, aber dargestellt mit den Mitteln der Aufklärung, als Modellschnitt im Sinne von Gondoin, 1765. Ein weiteres Beispiel der wachen und ideenreichen Kommunikation, welche die Akademie anstrebt.


[ Die Ausstellungen im Archivio del Moderno und im Museo d'Arte von Mendrisio dauern bis zum 6. Februar und sind von drei Katalogen begleitet. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 1999.12.30

30. Januar 1999Adolf Max Vogt
Neue Zürcher Zeitung

Ein Revolutionsarchitekt mit lädiertem Ansehen

Zum 200. Todestag von Etienne-Louis Boullée

Zum 200. Todestag von Etienne-Louis Boullée

Europäer und Nordamerikaner lieben die Beginner einer Epoche, die Eröffner, jene, die den Vorhang aufreissen zu einem neuen Horizont. Etienne-Louis Boullée gehört fraglos zu ihnen. Er ist wirklich der Erste, der Eröffner der modernen Architektur. Doch schon ein Jahr nach seinem Tod wurde ihm «Mégalomanie» vorgeworfen - und unter diesem Vorwurf ist sein Werk vergessen worden. Das scheint paradox, denn jeder von uns pilgert doch gierig ein erstes Mal nach Manhattan, um endlich den gebauten Gigantismus und seine Strassenschluchten am eigenen Leib zu erfahren.

Die Meister der ersten Stunde der Avantgarde unseres Jahrhunderts - Matisse, Klee, Le Corbusier, Picasso, Mondrian, Loos, Kandinsky - werden von den westlichen Kunstfreunden in höchsten Ehren gehalten. Denn jeder von ihnen hat etwas «Erstes» gemacht. Und das zählt für ein fortschrittsbeglücktes und zugleich fortschrittsgepeinigtes Publikum enorm. Das «Erste» ist, um es im heutigen Jargon zu sagen, die härteste Währung, welche der kulturinteressierte Westen zu vergeben hat. Etienne-Louis Boullée hat diese Forderung eindeutig erfüllt; er gehört zu den grossen Innovatoren. Aber die Welt nimmt seine Offerte nicht gern an. So ist er aus der Erinnerung abgestürzt. Hat der französische Architekt (geboren am 12. Februar 1728, gestorben am 16. Pluviose de l'An VII = 4. Februar 1799) einen Verstoss begangen oder - schlimmer noch - ein Tabu verletzt?

Solange wir ihn ausschliesslich als Baumeister sehen und nicht immer auch als Weltbühnenbildner, als Porträtisten des damals neuen Universums und als Architekturmaler, bleibt es schwer, ihn zu akzeptieren. So hat er mehr Mühe mit der Nachwelt als ein Claude-Nicolas Ledoux und Jacques Gondoin oder Nicholas Hawksmoor und John Soane, nicht zu reden von Friedrich Gilly oder gar Schinkel, obwohl Boullée gerade auf diese beiden deutlich eingewirkt hat. Doch schon im Jahr 1800, also kurz nach seinem Tod, hat ihm Charles-François Viel den Vorwurf der «Mégalomanie» gemacht. Dieser Vorwurf traf, und zwar so sehr, dass er Boullée und sein Vorhaben bald an den Rand getrieben hat.

Vergessen und wiederentdeckt

Als der Österreicher Emil Kaufmann, mehr als ein Jahrhundert später, 1933, seine Wiederentdeckung der französischen Revolutionsarchitektur ankündigt, findet er den klanglich gewitzten Titel «Von Ledoux bis Le Corbusier». Eine Abbildung erhalten allerdings weder Boullée noch Le Corbusier in diesem schlanken Band, und wenn ich mich richtig erinnere, werden sie im Text auch nicht erwähnt. Kaufmann scheint damals das volle Profil von Boullée noch nicht zu kennen und noch nicht abschätzen zu können, wie viel Ledoux dem acht Jahre Älteren verdankt. Von heute aus gesehen lässt sich geradezu behaupten, Boullée habe die Themen gesetzt und Ledoux hierauf die Variationen dazu ausgeformt.

Nach der Emigration in die USA bekam Kaufmann die Möglichkeit, seine Forschung breiter anzulegen. Fortan stellte er das, was er als «Autonome Architektur» bezeichnet, unter das Triumvirat von Boullée, Ledoux und Jean-Jacques Lequeu. Sein Hinweis auf Boullées Nachlass in der Bibliothèque nationale, Paris, wird von Helen Rosenau aufgenommen. Sie vertieft sich in das Hauptstück des schriftlichen Nachlasses, betitelt als «Architecture Essai sur l'Art», und erkennt es als theoretisches Vermächtnis. Sie entziffert die Handschrift und publiziert sie in der Originalsprache, mit englischem Kommentar (London 1953; deutsche Übersetzung mit neuem, erweitertem Kommentar, herausgegeben von Beat Wyss, Zürich 1987).

Auf diese Weise wird Boullées Name zum zweitenmal belebt, bis in die sechziger Jahre hinein erfolgt die Spurensicherung, von 1968 bis 1971 zirkulieren Ausstellungen in den Vereinigten Staaten und in Deutschland. Doch Ledoux' Profil bleibt bekannter als das von Boullée. Die Variationen von Ledoux, auch wenn sie übermütig auf Stelzen gehen oder mitunter hohl tönen, werden verziehen und als kühn taxiert. Boullées radikaler Grössenanspruch hingegen und sein radikales Beharren auf der zweiten Funktion von Architektur, der Funktion nämlich, im monumental gemeinten Gebäude die Weltordnung zu spiegeln (so wie es Pyramiden und Tempel tun) - sie lösen Widerstände aus, wecken Bedenken. Und diesen Bedenken soll hier nachgegangen werden. Doch zunächst muss, damit der Dialog zwei Pole bekommt, ein neues Licht geworfen werden auf unsere eigenen Positionen als Betrachter im Jahre 1999.

Boullées berühmtester Entwurf, der kugelförmige Kenotaph für Isaac Newton von 1784, wird nicht selten in die Nähe gerückt zu einer Sensation jener Tage, dem ersten Aufstieg einer bemannten Montgolfière, von Versailles aus, im Jahr 1783. Wir blicken zurück von weit her, nämlich aus der zweiten Generation der Mondfahrer. Wir beobachten den Newton-Kenotaph bereits von der Kehrseite des Mondes her. Alles ist erreicht - die Mondlandung und ihre Vorbedingung, die Schwerelosigkeit. Und dies alles scheint sich seit einigen Jahren zu rasendem Schrott zu verwandeln. Ein Wegwerfskandal am Himmel bahnt sich an, seit die amerikanische Regierung nicht nur mit «Star Wars» gedroht hat, sondern die Astronautik später freigab für den Markt.

Schweben im All

Die alten Träume vom Schweben im All sind seit 1969 dramatisch eingeholt und in Techno- Realität verwandelt worden. Doch diese heroische Phase blieb kurz, und die jetzt in Trab geratene kommerzielle Phase mit sausendem Wegwerfmüll und heulendem Techno-Schrott wird lange währen. Die heutige Verunstaltung der Aura der Erde kommt einem wie bitterer Hohn vor auf Walter Benjamins Bemühung, das alte Wort «Aura» in die moderne Welt zu retten. Begegnet man einem Buchtitel wie «Die Vollzähligkeit der Sterne», der eine «Sammlung astronoetischer Glossen» von Hans Blumenberg (postum) bekanntmacht, fühlt man sich betroffen von einer romantischen Poesieformel, die jetzt nur noch sarkastisch aufgenommen werden kann. Sieht man in einer Ausstellung wie «Böcklin - De Chirico - Max Ernst» (Kunsthaus Zürich, Winter 1997/98) eine kleine Gouache mit bleichem Sternenhimmel, unter dem ein Mann sich seiner Kleider entledigt, um sich leiblich eins zu fühlen mit dem All -, dann weicht man zurück und glaubt sich verirrt. Indessen: die Gouache ist tatsächlich von Giorgio De Chirico, datiert auf 1968 - er war damals achtzig und betitelte das Stück als «Ekstasis». Das war, ja, das war einmal. Soll man sagen: der letzte gemalte Sternhimmel, gerade noch eingebracht vor der Mondlandung?

Was den Sternhimmel betrifft, den Blick ins Dunkel der Tiefe: dieser Blick kann nicht anders als unter der Erfahrung des Sublimen, des Erhabenen geschehen - ob man derartige Bezeichnungen nun als veraltet oder als halb anrüchig bewertet, gleichviel. Doch Tumult ist angesagt, erst recht, seit uns zu Häupten Müll und Schrott ihre Bahn ziehen. Verblüffend ist nur, dass ausgerechnet jetzt, wo die Widerstände aus einsehbaren Gründen derart erhöht sind, eine Gruppe von Philosophen für eine neue Würdigung des Erhabenen sich einsetzt. Und zwar nicht durch literarische oder musikalische Vermittlung, sondern durch Vermittlung der Bildkunst und Architektur.

Der Amerikaner Richard Rorty fasst in seiner Berliner Rede vom Mai 1998 (abgedruckt in: NZZ 15. 8. 98) nur zusammen, was den Franzosen Jean-François Lyotard seit Jahren umgetrieben hatte und was in Deutschland von Wolfgang Welsch, Christine Pries, Klaus Poenicke und mehreren anderen stets auch auf Adorno zurückgeführt wird. Gerade weil Adorno zur Überzeugung gelangt, dass Kunst sich «immer mehr im Moment des Erhabenen zusammenzieht» und dass dieser «Moment» es ist, der das Kunstwerk «zum Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge» macht. Deshalb wehrt Adorno das «Hohl Erhabene» mit Entschiedenheit ab und wendet sich ebenso entschieden gegen das «Heroisch Erhabene», um diesen «Statthalter» aus dem «Raster von Macht, Übermacht und Bemächtigung» herauszuheben.

Boullée erlebt den Quantensprung in die neue Raumtiefe als Ereignis des naturwissenschaftlichen Aufschwungs seit dem 17. Jahrhundert und als Folge der Erfindungen des Fernrohrs (seit 1610) und des Mikroskops (seit 1590). Isaac Newton, der britische Mathematiker, Physiker und Astronom, erscheint ihm als der überragende Geist, der die neue Erkenntnis zusammenzufassen und zu überwölben vermochte. Newtons Texte kann er nicht selber lesen. Aber er findet einen Vermittler: Jean-Silvain Bailly, den Astronomen, der als Freund von Georges Danton in den Revolutionsjahren das Amt des Bürgermeisters von Paris übernimmt und ein Jahr vor Danton, 1793, wie dieser auf dem Schafott hingerichtet wird. Baillys dreibändige «Histoire de l'Astronomie moderne», 1782 von der Académie des Sciences approbiert, schafft Boullée sich an. Eine gut lesbare Gesamtdarstellung. Im 12. Buch, das Newton gewidmet ist, überrascht Bailly mit der Vorfrage, wie man sich überhaupt angemessen über ihn äussern könne. Über ihn, Newton, der «das Chaos überwunden», «Licht von Finsternis getrennt» habe. So ist es Bailly, der Boullée zum entscheidenden Impuls verhilft, für Newton einen Kenotaph zu entwerfen (1784). Es wird sein Hauptwerk, wie er im Rückblick seines «Essai sur l'Art» selber vermerkt.

«Architecture Majeure»

Als Dozent an der Architekturschule der ETH hat Aldo Rossi seinen Studenten die für ihn wichtige Grundunterscheidung zwischen «Architecture majeure et mineure» nahegebracht. Das, was Pyramiden und Tempel waren, ist für ihn nicht erloschen, denn es taucht auf, da und dort, in anderen Gattungen. Und soll unterschieden werden von der Architektur der Unterkunft, dem Wohnwesen. Die wohl einprägsamste Formulierung zur «Architecture majeure» stammt von Palladio. Dieser schreibt in der Einleitung zum vierten Buch: «Und wenn wir dieses Gebilde der Welt betrachten . . . können wir nicht zweifeln, dass die kleinen Tempel, die wir machen, ähnlich sein sollten jenem ganz grossen (Tempel), welcher vollendet worden ist durch ein einziges Wort Seiner unendlichen Güte (che dovendo esser simili i piccoli Tempii, che noi facciamo, à questo grandissimo . . .).»

Boullée hielt es für selbstverständlich - und das kann man einstufen als grandiose Naivität -, dass er nun auch für den neuen, durch Quantensprung ins Riesengrosse entfalteten «Gravitations-Tempel» eine Similarität, eine Ähnlichkeit, finden könne. Das richtige Abbild hierfür schien ihm die Kugel mit Stollen in der Kalotte, durch die das Aussenlicht eindringt und im dunklen Innenraum wie Sternlicht wirkt. Diese eine Idee der Kugel mit irregulären Lichtstollen für Sterneffekte und die andere Idee der Treppenläufe auf den steilschrägen Böschungshalden der Pyramiden sind besonders wichtige Prägungen im damals neuartigen Formenvokabular von Boullée. Diese Schrägtreppen, halb verglimmend in der Spannung zwischen riesenhaft und winzig, tauchen auf, kreuzen sich diagonal und verschwinden wieder - vergleichbar jenen «Haupt- und Nebenwegen», in denen Paul Klee dieselbe Aufgabe löst, neue Proportionen für neue Grössenordnungen zu suchen.

Rossi und Ungers

Neben Rossi ist auch Oswald Mathias Ungers einer der Architekten, die sich immer wieder auf Boullée bezogen haben. Als er den Auftrag bekam, für die Hamburger Kunsthalle ein drittes Gebäude zu errichten, stellte er - mitten im Getöse einer sechsstrahligen Stadtautobahn und einer zwölfstrahligen Auffächerung von Bahngeleisen - seinen weissen Kubus auf ein Podium aus geböschtem rotem Granit. In diese Böschungen legte er gestaffelt schräge Treppen, so wie sie Boullée konzipiert, aber nie gebaut hatte. Diese Schrägtreppen münden als Rampen auf einem quadratischen Pyramidenstumpf, der als Platz weder Sinn hat noch Funktion erfüllt, doch gerade deshalb (mitten im Getöse) die Leute architektonisch weckt. Die Hamburger haben geknurrt und gebellt - aber sie haben Ungers machen lassen. Von Boullée aus kann man Ungers mühelos verstehen. Und Ungers wird wohl dem einen oder andern helfen, von Hamburg aus Boullée zu verstehen.

Alle jene, die als Kind unter dem Nachthimmel mit der Sternsaat eine kaum formulierbare Erfahrung machten und diese später, wie Julien Green, als «la plus importante minute de ma vie» zu begreifen lernten - sie können diese «Minute» im Besten von Boullées Entwürfen wiederfinden: Verlorenheit im Winzigen wie in der ruchlosen Grösse des Weltraums. Sich selber verlierend und wieder gewinnend unter dieser kosmischen Ferne. Und dadurch voller Bewusstsein von Existenz.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.01.30

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