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09. Januar 2016Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Wenn es schneit in Singapur

Mit einer Fläche von 64 000 Quadratmetern ist die neu eröffnete Nationalgalerie von Singapur das grösste Kunstmuseum Südostasiens.

Mit einer Fläche von 64 000 Quadratmetern ist die neu eröffnete Nationalgalerie von Singapur das grösste Kunstmuseum Südostasiens.

Sie torkelt aus dem Nichts einer sternenlosen Nacht hervor. Noch umgibt sie völlige Stille, noch ahnt sie nicht, wohin sie fällt. Dann tauchen die Spitzen hoher Türme auf, und wenig später schon rauscht sie an den obersten Etagen der Wolkenkratzer vorbei. Um die Uhrzeit sind auch im fleissigen Singapur nur noch wenige im Büro – auf dem schiffförmigen Dach des «Sands» aber planschen die Hotelgäste im Swimmingpool, lassen sich Touristen vor der funkelnden Skyline der Stadt ablichten, kleine Blitze verknistern in der Luft.

Die Schneeflocke weiss nicht, dass sie Schneeflocke ist – und also lässt sie sich vergnügt von einem feinen Windhauch über die Marina Bay tragen, Fragmente indigener Gesänge echoen aus dem Esplanade-Theater zu ihr hoch, die zwei Aluminium-Durians lächeln ihr zu, dann schlägt sie Purzelbäume über einem Kricketfeld, pfeift an einem Palmwedel vorbei und sieht zuletzt noch ein ionisches Kapitell, bevor sie sich auf der Granitmauer des Höchsten Gerichts mit einem kleinen Klatschen in Wasser auflöst.

Wenn es schneit in Singapur, dann tanzen die Flocken wie im Traum zwischen den Hochhäusern hin und her. Tausendfach spiegeln sie sich in den Glasfassaden. Auf den Strassenkreuzungen regeln Schneemänner den Verkehr, die Autos haben sich in pferdegezogene Schlitten verwandelt, und die Taxifahrer kratzen sich die weissen Rauschebärte. Eigentlich müsste man da auch Singapurer sehen können, die Trauben aus edel bedruckten Papiertaschen von Apple über Eu Yan Sang, Ladurée und Louis Vuitton bis Zara durch die Strassen tragen. Denn zur Weihnachtszeit sehnt sich Singapur nicht nur nach Schnee – es gibt wohl auch keine andere Stadt, die so wild ist auf Geschenke.

Die Malls füllen sich wie hungrige Bäuche mit immer mehr Menschen, die Klimaanlagen können die Temperaturen kaum noch halten, in den Kleiderläden tänzeln die jungen Frauen und Männer mit ihren Gelfrisuren wie balzende Kraniche um die Ständer und Gestelle, aus den Parfümerien quillt ein höllischer Patschuli-Zuckerwatte-Mastix-Dunst, und an den Kassen der beliebtesten Geschäfte bilden sich lange Schlangen – auch vor den Türen berühmter Restaurantketten wie Din Tai Fung allerdings stehen die Leute an, um sich bei ein paar mit Suppe gefüllten Teigtaschen (Xiǎolóngbāo) von den Strapazen des Einkaufs-Kung-Fu zu erholen.

Denn wenn die Singapurer zur Weihnachtszeit verrückt sind nach Schnee und Shopping, scharf aufs Essen sind sie das ganze Jahr hindurch – und fast alle würden wohl jenem Spruch zustimmen, den ein berühmtes Bak-Kut-Teh-Restaurant neben seiner Kasse an die Wand geschrieben hat: «A good bowl of soup is the most beautiful gift you can make – including to yourself.» Das Essen als ein Geschenk an sich selbst – eine schöne Vorstellung, auch wenn Konfuzius wohl die Stirne runzeln würde.

Investitionen in die Kunst

Singapur ist gut darin, sich selbst Geschenke zu machen, das hat die Stadt in den letzten Jahren immer wieder bewiesen – so auch kurz vor Weihnachten mit der Eröffnung einer National Gallery. Dass eine Wirtschaftsmetropole wie Singapur auch Kunst braucht, um sich zu definieren, um den Bewohnern ein Gefühl von Lebensqualität und den Touristen einen vernünftigen Grund für einen Besuch zu geben, haben die Stadtväter längst schon begriffen: Seit 1986 gibt es das Institute of Contemporary Arts der Lasalle-Universität, 1996 wurde das Singapore Art Museum eröffnet, 2006 fand die erste Singapore Biennale statt, seit 2011 lockt die Kunstmesse Art Stage Singapore Sammler an, und 2012 wurde in einem ehemals britischen Militärlager im Süden der Insel, den sogenannten Gillman Barracks, ein grosses Galerienquartier eingerichtet, in dem sich international renommierte Häuser wie Arndt aus Berlin, Shangart aus Schanghai, Mizuma aus Tokio oder Tagore aus New York niedergelassen haben. 2013 nahm auf diesem Gelände ausserdem das ehrgeizige NTU Centre for Contemporary Art seinen Betrieb auf.

Auffällig ist, dass ausgerechnet in Singapur, wo ständig aufsehenerregende Neubauten aus dem Boden schiessen, für die Kunst bisher kaum frischer Beton angemischt wurde. Das gilt auch für die National Gallery Singapore, die im ehemaligen Rathaus (eröffnet 1929) und im früheren Supreme Court von 1937 ihren Platz fand. Ob es stimmt, dass die Kunst hier berücksichtigt wurde, weil die Stadt keine andere Verwendung für die zwei postneoklassizistischen Kästen gefunden hat, sei dahingestellt. Der Franzose Jean François Milou, der nach einem Architekturwettbewerb den Auftrag erhielt, aus den zwei denkmalgeschützten Häusern ein Museum zu machen, hat sich vor allem im Raum zwischen den beiden Klötzen verwirklicht. Hier hat er eine Art Glaskasten errichtet, der von grossen Metallsegeln beschattet wird, deren Lichtdurchlässigkeit an Sonnendächer aus Palmwedeln erinnert. Treppen und Passerellen verwandeln diesen Zwischenraum in einen luftigen, auf mehreren Etagen belebten Platz – ein Eindruck, der von den baumartigen Strukturen noch verstärkt wird, die das weite Glasdach stützen.

Garderobe, Ticketschalter und diverse Serviceräume wurden im Untergeschoss eingerichtet, wo jeder Besuch der Galerie zwingend seinen Anfang nimmt. Die Fassaden und auch die Innenräume der beiden historischen Gebäude wurden nach Möglichkeit unverändert belassen und sehr sorgfältig restauriert. Namentlich im Gerichtsgebäude ist noch viel zu spüren von der einstigen Atmosphäre – nicht nur im zentralen Gerichtshof, wo der oberste Richter einst unter einem Baldachin thronte, sondern auch in den kleinen Verhörräumen, in die Angeklagte über eine Bodenklappe geführt wurden. Wer mag, kann sich auch in eine der Zellen setzen, die vollständig konserviert wurden, sogar mit Klosett – wobei das Loch mit Beton aufgefüllt wurde, man weiss ja nie, auf was für Ideen die Leute kommen. Solche Erlebnis-Ecken erhöhen natürlich die Attraktivität des Hauses – genauso wie die vier Gourmetrestaurants, mit denen das Museum zusätzliche Besucher anlocken möchte.

Singapur und Südostasien

Wenigstens eine Million Gäste will die Galerie pro Jahr empfangen, manche rechnen sogar mit zwei. Gut 532 Millionen Singapur-Dollar (etwa 373 Millionen Franken) haben Umbau und Restaurierung gekostet. Die Galerie verfügt über 64 000 Quadratmeter nutzbare Fläche, von der im Moment erst ein Teil bespielt wird. Was mit diesem Haus aufgestellt wurde, wird jedenfalls auch in der heissen Wirtschaftsatmosphäre der Stadt so schnell nicht davonschmelzen.

Die Ausstellungen können auch aus den 8000 Objekten der eigenen Sammlung generiert werden, die sich weitgehend auf Kunst aus Singapur und Südostasien konzentriert. Die Eröffnungsausstellungen zeigen teilweise Kunst aus der Kolonialzeit, die mehrheitlich eher westlichen Vorstellungen entspricht – das Bedürfnis nach Exotik aber voll befriedigt. Die Abteilungen mit Kunst aus Moderne und Gegenwart wiederum lassen erkennen, wie mit der Ausbildung einer nationalen Identität auch die Bemühung einherging, spezifisch asiatische Elemente stärker in den Vordergrund treten zu lassen – ohne auf die Offenheit westlicher Konzepte zu verzichten.

Zeitgleich mit thematischen Ausstellungen können Direktor Eugene Tan und sein Team in dem grossen Haus auch stattliche Einzelpräsentationen einrichten. Zum Auftakt werden zwei Meister der Tuschmalerei gezeigt. Wu Guanzhong (1919–2010) gilt als Künstler, dem die Synthese zwischen östlichen und westlichen Elementen besonders gut gelungen ist – vor allem seine stark horizontal ausgerichteten Landschaften sind berührend schön. Eindrücklicher noch ist die Einzelpräsentation von Chua Ek Kay (1947–2008), dessen Strichgewitter zugleich unglaublich zart und gewaltig sind. Ganz mit schwarzer Tinte ausgeführt, dann und wann mit ein bisschen Farbe akzentuiert, bewegen sich seine Bilder durchgängig an der Grenze zwischen Abstraktion und Darstellung, man könnte sie gut auch als Schriftzeichen ansehen oder als Spuren eines virtuosen Tanzes im Raum des Papiers. «After the Rain» heisst die Schau und passt so perfekt in die gegenwärtige Regenzeit.

Denn dass es regnet um Weihnachten herum, ist normal – aber wenn es schneit im tropischen Singapur, dann ist natürlich etwas faul mit dem Klima. In unserem Fall wird das Wetter ja auch in einer fast zwei Meter breiten Glaskugel gemacht, die vor dem Geschäft von Fāmíng Yuán steht. Die auf chinesische Heilkräuter spezialisierte Firma lässt hier künstliche Flocken über ein mächtiges, lasergefrästes Modell der Stadt rieseln – und hat die Strassen mit Weihnachtsmännern, Jaks und spielenden Kindern bevölkert. Jeden guten Geschmack dürfte sie damit nicht treffen – aber die grosse Schneekugel erinnert auch an ein Kurzgedicht von Ai Dong Shen, das sich wie eine gedankliche Ranke um die tropische Sehnsucht nach Schnee legt – und frei übersetzt etwa lautet: «Es schneit auch in Singapur / nur ist es so, dass die Flocken / den Augenblick nie erreichen.»

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2016.01.09

25. Januar 2013Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Weiter Blickwinkel

«Die Hunde bellen – die Karawane zieht weiter», so übertitelte Adolf Max Vogt 2003 einen Beitrag in der NZZ, der sich mit der «Unbeirrbarkeit der Zürcher...

«Die Hunde bellen – die Karawane zieht weiter», so übertitelte Adolf Max Vogt 2003 einen Beitrag in der NZZ, der sich mit der «Unbeirrbarkeit der Zürcher...

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verknüpfte Akteure
Vogt Adolf Max

08. November 2012Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Die Weichen richtig stellen

Am 25. November stimmt die Stadt Zürich über eine geplante Erweiterung ihres Kunsthauses ab. Im Vorfeld kursieren Vorstellungen dieser neuen Institution, die nicht jedermanns Sache sind. Es geht indes bei der Abstimmung nicht um diese Visionen, sondern darum, für eine weitere Zukunft die Weichen richtig zu stellen.

Am 25. November stimmt die Stadt Zürich über eine geplante Erweiterung ihres Kunsthauses ab. Im Vorfeld kursieren Vorstellungen dieser neuen Institution, die nicht jedermanns Sache sind. Es geht indes bei der Abstimmung nicht um diese Visionen, sondern darum, für eine weitere Zukunft die Weichen richtig zu stellen.

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verknüpfte Bauwerke
Kunsthaus Zürich - Erweiterungsbau

20. November 2010Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Kleine Suche mit grossem Knall

Unter dem Titel «The Promised City» geht das Goethe-Institut der Frage nach, warum Menschen in Städte kommen und was sie sich dort für ihre Zukunft erhoffen – nach Berlin und Warschau trägt das Projekt nun in Mumbai Früchte.

Unter dem Titel «The Promised City» geht das Goethe-Institut der Frage nach, warum Menschen in Städte kommen und was sie sich dort für ihre Zukunft erhoffen – nach Berlin und Warschau trägt das Projekt nun in Mumbai Früchte.

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13. Oktober 2010Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

In der Zwischenzeit

Nach sieben Jahren Renovation öffnet das Stedelijk-Museum Amsterdam mit der Ausstellung «Taking Place» wieder seine Tore fürs Publikum, um sie Ende Jahr erneut für Monate zu schliessen – eine Gelegenheit, die Institution in einem einzigartigen Zustand zwischen Baustelle und fertigem Museum zu erleben.

Nach sieben Jahren Renovation öffnet das Stedelijk-Museum Amsterdam mit der Ausstellung «Taking Place» wieder seine Tore fürs Publikum, um sie Ende Jahr erneut für Monate zu schliessen – eine Gelegenheit, die Institution in einem einzigartigen Zustand zwischen Baustelle und fertigem Museum zu erleben.

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verknüpfte Bauwerke
Stedelijk Museum

15. September 2010Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Mehr als Möbel für die Weltvorstellung

Die heftigen Diskussionen rund um zwei neue Projekte für die Strassen der Stadt Zürich zeigen, dass Kunst, sobald sie im öffentlichen Raum in Szene gesetzt wird, viel schneller provoziert als etwa in einem Museum. Die neue Aufregung folgt jedoch einer altbekannten Mechanik.

Die heftigen Diskussionen rund um zwei neue Projekte für die Strassen der Stadt Zürich zeigen, dass Kunst, sobald sie im öffentlichen Raum in Szene gesetzt wird, viel schneller provoziert als etwa in einem Museum. Die neue Aufregung folgt jedoch einer altbekannten Mechanik.

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31. Juli 2010Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Ordnung im Dorf

Nach dreijähriger Umbauzeit hat das Israel Museum in Jerusalem seine Pforten wieder geöffnet - und führt den Besucher nun mit grosser Eleganz an seine überaus vielfältigen Sammlungen heran.

Nach dreijähriger Umbauzeit hat das Israel Museum in Jerusalem seine Pforten wieder geöffnet - und führt den Besucher nun mit grosser Eleganz an seine überaus vielfältigen Sammlungen heran.

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08. Mai 2010Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Das veilchenblaue Wunder

In drei Städten geht das Projekt «The Promised City» der Frage nach, warum Menschen in Städte kommen und was sie sich dort von ihrer Zukunft erhoffen – eine dieser Städte ist Warschau.

In drei Städten geht das Projekt «The Promised City» der Frage nach, warum Menschen in Städte kommen und was sie sich dort von ihrer Zukunft erhoffen – eine dieser Städte ist Warschau.

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Presseschau 12

09. Januar 2016Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Wenn es schneit in Singapur

Mit einer Fläche von 64 000 Quadratmetern ist die neu eröffnete Nationalgalerie von Singapur das grösste Kunstmuseum Südostasiens.

Mit einer Fläche von 64 000 Quadratmetern ist die neu eröffnete Nationalgalerie von Singapur das grösste Kunstmuseum Südostasiens.

Sie torkelt aus dem Nichts einer sternenlosen Nacht hervor. Noch umgibt sie völlige Stille, noch ahnt sie nicht, wohin sie fällt. Dann tauchen die Spitzen hoher Türme auf, und wenig später schon rauscht sie an den obersten Etagen der Wolkenkratzer vorbei. Um die Uhrzeit sind auch im fleissigen Singapur nur noch wenige im Büro – auf dem schiffförmigen Dach des «Sands» aber planschen die Hotelgäste im Swimmingpool, lassen sich Touristen vor der funkelnden Skyline der Stadt ablichten, kleine Blitze verknistern in der Luft.

Die Schneeflocke weiss nicht, dass sie Schneeflocke ist – und also lässt sie sich vergnügt von einem feinen Windhauch über die Marina Bay tragen, Fragmente indigener Gesänge echoen aus dem Esplanade-Theater zu ihr hoch, die zwei Aluminium-Durians lächeln ihr zu, dann schlägt sie Purzelbäume über einem Kricketfeld, pfeift an einem Palmwedel vorbei und sieht zuletzt noch ein ionisches Kapitell, bevor sie sich auf der Granitmauer des Höchsten Gerichts mit einem kleinen Klatschen in Wasser auflöst.

Wenn es schneit in Singapur, dann tanzen die Flocken wie im Traum zwischen den Hochhäusern hin und her. Tausendfach spiegeln sie sich in den Glasfassaden. Auf den Strassenkreuzungen regeln Schneemänner den Verkehr, die Autos haben sich in pferdegezogene Schlitten verwandelt, und die Taxifahrer kratzen sich die weissen Rauschebärte. Eigentlich müsste man da auch Singapurer sehen können, die Trauben aus edel bedruckten Papiertaschen von Apple über Eu Yan Sang, Ladurée und Louis Vuitton bis Zara durch die Strassen tragen. Denn zur Weihnachtszeit sehnt sich Singapur nicht nur nach Schnee – es gibt wohl auch keine andere Stadt, die so wild ist auf Geschenke.

Die Malls füllen sich wie hungrige Bäuche mit immer mehr Menschen, die Klimaanlagen können die Temperaturen kaum noch halten, in den Kleiderläden tänzeln die jungen Frauen und Männer mit ihren Gelfrisuren wie balzende Kraniche um die Ständer und Gestelle, aus den Parfümerien quillt ein höllischer Patschuli-Zuckerwatte-Mastix-Dunst, und an den Kassen der beliebtesten Geschäfte bilden sich lange Schlangen – auch vor den Türen berühmter Restaurantketten wie Din Tai Fung allerdings stehen die Leute an, um sich bei ein paar mit Suppe gefüllten Teigtaschen (Xiǎolóngbāo) von den Strapazen des Einkaufs-Kung-Fu zu erholen.

Denn wenn die Singapurer zur Weihnachtszeit verrückt sind nach Schnee und Shopping, scharf aufs Essen sind sie das ganze Jahr hindurch – und fast alle würden wohl jenem Spruch zustimmen, den ein berühmtes Bak-Kut-Teh-Restaurant neben seiner Kasse an die Wand geschrieben hat: «A good bowl of soup is the most beautiful gift you can make – including to yourself.» Das Essen als ein Geschenk an sich selbst – eine schöne Vorstellung, auch wenn Konfuzius wohl die Stirne runzeln würde.

Investitionen in die Kunst

Singapur ist gut darin, sich selbst Geschenke zu machen, das hat die Stadt in den letzten Jahren immer wieder bewiesen – so auch kurz vor Weihnachten mit der Eröffnung einer National Gallery. Dass eine Wirtschaftsmetropole wie Singapur auch Kunst braucht, um sich zu definieren, um den Bewohnern ein Gefühl von Lebensqualität und den Touristen einen vernünftigen Grund für einen Besuch zu geben, haben die Stadtväter längst schon begriffen: Seit 1986 gibt es das Institute of Contemporary Arts der Lasalle-Universität, 1996 wurde das Singapore Art Museum eröffnet, 2006 fand die erste Singapore Biennale statt, seit 2011 lockt die Kunstmesse Art Stage Singapore Sammler an, und 2012 wurde in einem ehemals britischen Militärlager im Süden der Insel, den sogenannten Gillman Barracks, ein grosses Galerienquartier eingerichtet, in dem sich international renommierte Häuser wie Arndt aus Berlin, Shangart aus Schanghai, Mizuma aus Tokio oder Tagore aus New York niedergelassen haben. 2013 nahm auf diesem Gelände ausserdem das ehrgeizige NTU Centre for Contemporary Art seinen Betrieb auf.

Auffällig ist, dass ausgerechnet in Singapur, wo ständig aufsehenerregende Neubauten aus dem Boden schiessen, für die Kunst bisher kaum frischer Beton angemischt wurde. Das gilt auch für die National Gallery Singapore, die im ehemaligen Rathaus (eröffnet 1929) und im früheren Supreme Court von 1937 ihren Platz fand. Ob es stimmt, dass die Kunst hier berücksichtigt wurde, weil die Stadt keine andere Verwendung für die zwei postneoklassizistischen Kästen gefunden hat, sei dahingestellt. Der Franzose Jean François Milou, der nach einem Architekturwettbewerb den Auftrag erhielt, aus den zwei denkmalgeschützten Häusern ein Museum zu machen, hat sich vor allem im Raum zwischen den beiden Klötzen verwirklicht. Hier hat er eine Art Glaskasten errichtet, der von grossen Metallsegeln beschattet wird, deren Lichtdurchlässigkeit an Sonnendächer aus Palmwedeln erinnert. Treppen und Passerellen verwandeln diesen Zwischenraum in einen luftigen, auf mehreren Etagen belebten Platz – ein Eindruck, der von den baumartigen Strukturen noch verstärkt wird, die das weite Glasdach stützen.

Garderobe, Ticketschalter und diverse Serviceräume wurden im Untergeschoss eingerichtet, wo jeder Besuch der Galerie zwingend seinen Anfang nimmt. Die Fassaden und auch die Innenräume der beiden historischen Gebäude wurden nach Möglichkeit unverändert belassen und sehr sorgfältig restauriert. Namentlich im Gerichtsgebäude ist noch viel zu spüren von der einstigen Atmosphäre – nicht nur im zentralen Gerichtshof, wo der oberste Richter einst unter einem Baldachin thronte, sondern auch in den kleinen Verhörräumen, in die Angeklagte über eine Bodenklappe geführt wurden. Wer mag, kann sich auch in eine der Zellen setzen, die vollständig konserviert wurden, sogar mit Klosett – wobei das Loch mit Beton aufgefüllt wurde, man weiss ja nie, auf was für Ideen die Leute kommen. Solche Erlebnis-Ecken erhöhen natürlich die Attraktivität des Hauses – genauso wie die vier Gourmetrestaurants, mit denen das Museum zusätzliche Besucher anlocken möchte.

Singapur und Südostasien

Wenigstens eine Million Gäste will die Galerie pro Jahr empfangen, manche rechnen sogar mit zwei. Gut 532 Millionen Singapur-Dollar (etwa 373 Millionen Franken) haben Umbau und Restaurierung gekostet. Die Galerie verfügt über 64 000 Quadratmeter nutzbare Fläche, von der im Moment erst ein Teil bespielt wird. Was mit diesem Haus aufgestellt wurde, wird jedenfalls auch in der heissen Wirtschaftsatmosphäre der Stadt so schnell nicht davonschmelzen.

Die Ausstellungen können auch aus den 8000 Objekten der eigenen Sammlung generiert werden, die sich weitgehend auf Kunst aus Singapur und Südostasien konzentriert. Die Eröffnungsausstellungen zeigen teilweise Kunst aus der Kolonialzeit, die mehrheitlich eher westlichen Vorstellungen entspricht – das Bedürfnis nach Exotik aber voll befriedigt. Die Abteilungen mit Kunst aus Moderne und Gegenwart wiederum lassen erkennen, wie mit der Ausbildung einer nationalen Identität auch die Bemühung einherging, spezifisch asiatische Elemente stärker in den Vordergrund treten zu lassen – ohne auf die Offenheit westlicher Konzepte zu verzichten.

Zeitgleich mit thematischen Ausstellungen können Direktor Eugene Tan und sein Team in dem grossen Haus auch stattliche Einzelpräsentationen einrichten. Zum Auftakt werden zwei Meister der Tuschmalerei gezeigt. Wu Guanzhong (1919–2010) gilt als Künstler, dem die Synthese zwischen östlichen und westlichen Elementen besonders gut gelungen ist – vor allem seine stark horizontal ausgerichteten Landschaften sind berührend schön. Eindrücklicher noch ist die Einzelpräsentation von Chua Ek Kay (1947–2008), dessen Strichgewitter zugleich unglaublich zart und gewaltig sind. Ganz mit schwarzer Tinte ausgeführt, dann und wann mit ein bisschen Farbe akzentuiert, bewegen sich seine Bilder durchgängig an der Grenze zwischen Abstraktion und Darstellung, man könnte sie gut auch als Schriftzeichen ansehen oder als Spuren eines virtuosen Tanzes im Raum des Papiers. «After the Rain» heisst die Schau und passt so perfekt in die gegenwärtige Regenzeit.

Denn dass es regnet um Weihnachten herum, ist normal – aber wenn es schneit im tropischen Singapur, dann ist natürlich etwas faul mit dem Klima. In unserem Fall wird das Wetter ja auch in einer fast zwei Meter breiten Glaskugel gemacht, die vor dem Geschäft von Fāmíng Yuán steht. Die auf chinesische Heilkräuter spezialisierte Firma lässt hier künstliche Flocken über ein mächtiges, lasergefrästes Modell der Stadt rieseln – und hat die Strassen mit Weihnachtsmännern, Jaks und spielenden Kindern bevölkert. Jeden guten Geschmack dürfte sie damit nicht treffen – aber die grosse Schneekugel erinnert auch an ein Kurzgedicht von Ai Dong Shen, das sich wie eine gedankliche Ranke um die tropische Sehnsucht nach Schnee legt – und frei übersetzt etwa lautet: «Es schneit auch in Singapur / nur ist es so, dass die Flocken / den Augenblick nie erreichen.»

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2016.01.09

25. Januar 2013Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Weiter Blickwinkel

«Die Hunde bellen – die Karawane zieht weiter», so übertitelte Adolf Max Vogt 2003 einen Beitrag in der NZZ, der sich mit der «Unbeirrbarkeit der Zürcher...

«Die Hunde bellen – die Karawane zieht weiter», so übertitelte Adolf Max Vogt 2003 einen Beitrag in der NZZ, der sich mit der «Unbeirrbarkeit der Zürcher...

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verknüpfte Akteure
Vogt Adolf Max

08. November 2012Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Die Weichen richtig stellen

Am 25. November stimmt die Stadt Zürich über eine geplante Erweiterung ihres Kunsthauses ab. Im Vorfeld kursieren Vorstellungen dieser neuen Institution, die nicht jedermanns Sache sind. Es geht indes bei der Abstimmung nicht um diese Visionen, sondern darum, für eine weitere Zukunft die Weichen richtig zu stellen.

Am 25. November stimmt die Stadt Zürich über eine geplante Erweiterung ihres Kunsthauses ab. Im Vorfeld kursieren Vorstellungen dieser neuen Institution, die nicht jedermanns Sache sind. Es geht indes bei der Abstimmung nicht um diese Visionen, sondern darum, für eine weitere Zukunft die Weichen richtig zu stellen.

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verknüpfte Bauwerke
Kunsthaus Zürich - Erweiterungsbau

20. November 2010Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Kleine Suche mit grossem Knall

Unter dem Titel «The Promised City» geht das Goethe-Institut der Frage nach, warum Menschen in Städte kommen und was sie sich dort für ihre Zukunft erhoffen – nach Berlin und Warschau trägt das Projekt nun in Mumbai Früchte.

Unter dem Titel «The Promised City» geht das Goethe-Institut der Frage nach, warum Menschen in Städte kommen und was sie sich dort für ihre Zukunft erhoffen – nach Berlin und Warschau trägt das Projekt nun in Mumbai Früchte.

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13. Oktober 2010Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

In der Zwischenzeit

Nach sieben Jahren Renovation öffnet das Stedelijk-Museum Amsterdam mit der Ausstellung «Taking Place» wieder seine Tore fürs Publikum, um sie Ende Jahr erneut für Monate zu schliessen – eine Gelegenheit, die Institution in einem einzigartigen Zustand zwischen Baustelle und fertigem Museum zu erleben.

Nach sieben Jahren Renovation öffnet das Stedelijk-Museum Amsterdam mit der Ausstellung «Taking Place» wieder seine Tore fürs Publikum, um sie Ende Jahr erneut für Monate zu schliessen – eine Gelegenheit, die Institution in einem einzigartigen Zustand zwischen Baustelle und fertigem Museum zu erleben.

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verknüpfte Bauwerke
Stedelijk Museum

15. September 2010Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Mehr als Möbel für die Weltvorstellung

Die heftigen Diskussionen rund um zwei neue Projekte für die Strassen der Stadt Zürich zeigen, dass Kunst, sobald sie im öffentlichen Raum in Szene gesetzt wird, viel schneller provoziert als etwa in einem Museum. Die neue Aufregung folgt jedoch einer altbekannten Mechanik.

Die heftigen Diskussionen rund um zwei neue Projekte für die Strassen der Stadt Zürich zeigen, dass Kunst, sobald sie im öffentlichen Raum in Szene gesetzt wird, viel schneller provoziert als etwa in einem Museum. Die neue Aufregung folgt jedoch einer altbekannten Mechanik.

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31. Juli 2010Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Ordnung im Dorf

Nach dreijähriger Umbauzeit hat das Israel Museum in Jerusalem seine Pforten wieder geöffnet - und führt den Besucher nun mit grosser Eleganz an seine überaus vielfältigen Sammlungen heran.

Nach dreijähriger Umbauzeit hat das Israel Museum in Jerusalem seine Pforten wieder geöffnet - und führt den Besucher nun mit grosser Eleganz an seine überaus vielfältigen Sammlungen heran.

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08. Mai 2010Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Das veilchenblaue Wunder

In drei Städten geht das Projekt «The Promised City» der Frage nach, warum Menschen in Städte kommen und was sie sich dort von ihrer Zukunft erhoffen – eine dieser Städte ist Warschau.

In drei Städten geht das Projekt «The Promised City» der Frage nach, warum Menschen in Städte kommen und was sie sich dort von ihrer Zukunft erhoffen – eine dieser Städte ist Warschau.

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05. Dezember 2009Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Basler Eintracht

Krisen schaffen Raum. Büros, in denen eben noch Verkaufsstrategien ausgeheckt wurden, stehen plötzlich leer. Und auf dem Parkplatz, wo früher der Aston...

Krisen schaffen Raum. Büros, in denen eben noch Verkaufsstrategien ausgeheckt wurden, stehen plötzlich leer. Und auf dem Parkplatz, wo früher der Aston...

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18. Juni 2005Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Eine kulturelle Wellness-Zone

Nach drei Jahren Bauzeit und einigem Palaver ist es nun endlich so weit: Ab kommendem Montag steht das Zentrum Paul Klee in Schöngrün bei Bern der Öffentlichkeit zur Verfügung - als Museum für Erwachsene und Kinder, als Ort musikalischer Freuden und wissenschaftlicher Studien, als architektonisches Monument.

Nach drei Jahren Bauzeit und einigem Palaver ist es nun endlich so weit: Ab kommendem Montag steht das Zentrum Paul Klee in Schöngrün bei Bern der Öffentlichkeit zur Verfügung - als Museum für Erwachsene und Kinder, als Ort musikalischer Freuden und wissenschaftlicher Studien, als architektonisches Monument.

Die Adresse ist Programm: «Monument im Fruchtland» heisst die Strasse, an der sich die drei glitzernden Bögen des Zentrums Paul Klee in den Himmel über dem Berner Stadtrand erheben. Der Strassenname geht auf ein Bild zurück, das Klee 1929 schuf. Das «ZPK», wie es die Berner bereits liebevoll nennen, ist wahrlich weit mehr als nur ein Museum für den 1940 gestorbenen Künstler: Ausgestattet mit einem grossen Auditorium, einem Saal für Seminarien, einem Kindermuseum, einem Atelier für Besucher, Bibliothek und Archiv, einem Restaurant mit Anspruch auf Michelin-Sterne usw., ist das Zentrum Paul Klee tatsächlich ein «Monument» mit Mehrzweckcharakter. Und das muss es auch sein, denn wer den Weg vom Stadtzentrum hierher unternimmt, der will auch was geboten haben. Für das in der Adresse genannte «Fruchtland» sorgt ein Biobauer, der rund um das Zentrum Gerste und andere Nützlichkeiten anbaut. Das sind geradezu paradiesische Zustände - da vergisst man fast schon die Autobahn, auf der sich wenige Meter vor dem Zentrum der Pendlerverkehr durch eine Schall- und Sichtgrube schiebt.

Vielfältiges Angebot

Und wer dann die breite Museumsstrasse betritt, an der sich auch noch Verführungen wie ein gut ausgebauter Shop, ein Café oder eine wohlsortierte Handbibliothek befinden, der vergisst auch das ganze Palaver, das die Entstehung dieses Hauses begleitet hat - von der Schenkung Livia Klee-Meyer im Jahre 1997 über die Schenkung von Land und Baugeld durch Maurice E. Müller und Martha Müller-Lüthi bis zu den ganzen Abstimmungen und Verträgen. Vergessen ist das Gerangel zwischen dem Kunstmuseum Bern und dem Zentrum Paul Klee um das Recht, über einzelne Bilder des Meisters zu verfügen. Vergessen ist auch der Umstand, dass das Zentrum Paul Klee die öffentliche Hand jährlich mehr als vier Millionen Franken kostet - Geld, das an anderer Stelle im Kulturbetrieb eingespart werden muss. Ja, in Renzo Pianos wie ein Pinselstrich in die Landschaft gelegten Wellen mag man auch nicht daran denken, dass das Budget vermutlich um etwa zwei Millionen zu knapp berechnet wurde, die Öffentlichkeit also wohl noch wesentlich tiefer in die Tasche wird greifen müssen. - Erst wird eröffnet, dann gerechnet, soll die Devise heute lauten. Und eine kulturelle Wellness-Zone wie dieses Zentrum Paul Klee bringt der Tourismusindustrie ja auch einiges ein.

Trotz allem, was hier sonst noch geboten wird, darf natürlich auch ein Raum für die Präsentation der Sammlung nicht fehlen, die über rund viertausend Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen aus allen Schaffensperioden des Künstlers verfügt. Dieser Sammlungsraum befindet sich an prominenter Stelle in der mittleren Welle. Hier hat Tilman Osterwold, der künstlerische Leiter des Zentrums Paul Klee, aus den Beständen der Sammlung und angereichert durch einige Leihgaben aus dem Kunstmuseum Bern eine Ausstellung zusammengestellt, die in einer sehr offenen Weise mehr oder weniger chronologisch durch das gesamte Werk von Paul Klee mäandert. Von Frühwerken wie der auf einen fünfteiligen Paravent gemalten «Aarelandschaft» (um 1900) über Aquarelle, die um 1914 im Zusammenhang mit der legendären Tunis-Reise entstanden, bis zu den Bildarchitekturen der zwanziger Jahre. Und weiter von den «pointillierten» Bildern der frühen dreissiger Jahre über surreale Landschaften und Zeichenbilder bis zum «Letzten Stillleben» von 1940, das auch als ein nicht ganz ironiefreier Rückblick auf viele Elemente von Klees Schaffen verstanden werden kann. Klee erscheint in dieser Ausstellung als ein Künstler, der wahrlich viele Dinge ausprobiert hat - und doch in allem seine eigene Handschrift spürbar machen konnte.

Eine ganz eigene Handschrift hat allerdings auch die Architektur dieses Zentrums Paul Klee - und man durfte gespannt sein, wie sich die kleinformatigen Werke des Künstlers in einer derart riesigen und auffälligen Halle präsentieren würden. Im ersten Moment zieht die Architektur denn auch tatsächlich alles Interesse auf sich: Unter den weit und elegant geschwungenen Stahlträgern hängt der Raum voller Schienen, Drähte und Lampen - so dass man sich fast wie unter einer Zirkuskuppel fühlt und jeden Moment mit dem Auftritt der Trapezkünstler rechnet. Mit der Zeit jedoch schiebt sich all dies mehr und mehr in den Hintergrund. Das mag sich dem Umstand verdanken, dass ein sehr schöner Rhythmus den Raum durchatmet. In der Mitte der Halle, unter der Weite der offen sichtbaren Bögen, hat Osterwold mehrheitlich Einzelbildern von Klee auf eigenen Wänden schier unendlich viel Platz gegeben. In den Randbereichen indes sind Segel herabgelassen, was intimere Raumzonen schafft - hier werden Arbeiten auf Papier gezeigt und Staffeln von stilistisch ähnlichen Werken. Dieses rhythmische Spiel von Einzelbild und Suite, von Velum und offen sichtbarer Raumkonstruktion schafft es tatsächlich, zwischen der extrovertierten Architektur und den introvertierten Werken von Klee zu vermitteln.

Unerwartete Konkurrenz

Erheblich mehr Konkurrenz als durch die Architektur erhalten die Werke von Klee derzeit allerdings durch eine didaktische Zone, die sich über die Längswände der Halle zieht. Hier wurden Zitate von Paul Klee, Fotos und Zeichnungen aus seinen Skizzenbüchern zu einer im Prinzip recht interessanten Einführung in Leben und Denken des Künstlers zusammengestellt. Die Skizzen wurden indes so stark vergrössert, dass sie den Originalen von Klee an diversen Stellen im wahrsten Sinne des Wortes die Schau stehlen. Auch der Abschluss der Halle, wo vier Schriftbilder von Rémy Zaugg das Unsichtbare thematisieren, ist noch nicht überzeugend gelöst - wirkt die Zone doch seltsam leer, beinahe unfertig.

Ganz und gar nicht leer wirkt hingegen die Schau im Untergeschoss der Mittelwelle, wo ein etwas kleinerer Raum für Wechselausstellungen zur Verfügung steht. Hier hat Osterwold unter dem Titel «Nulla dies sine linea» eine Ausstellung zu den letzten Schaffensjahren des Künstlers zusammengestellt, in denen dieser ganz besonders fleissig war. Zwölfhundert Werke sind allein im Jahr 1939 entstanden - eine Menge, die auch Klee selbst zu der Bemerkung veranlasst hat, das sein nun «aber doch eine Recordleistung». Und das könnte man auf eine bestimmte Weise ja wohl auch über das ihm gewidmete Zentrum sagen.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2005.06.18



verknüpfte Bauwerke
Zentrum Paul Klee

20. November 2004Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Diskret erregter Schwindel

Nach dreijähriger Bauzeit wird heute das neu gestaltete New Yorker Museum of Modern Art wieder eröffnet. Der japanische Architekt Yoshio Taniguchi hat für die wohl bedeutendste Moderne-Sammlung ein zurückhaltendes Heim geschaffen.

Nach dreijähriger Bauzeit wird heute das neu gestaltete New Yorker Museum of Modern Art wieder eröffnet. Der japanische Architekt Yoshio Taniguchi hat für die wohl bedeutendste Moderne-Sammlung ein zurückhaltendes Heim geschaffen.

Museen sind hollywoodianische Orte. Es sind Tempel, die man wie die grossen Filmtheater betritt, um den trockenen Alltag hinter sich zu lassen und einzufliessen in eine Welt des etwas Schöneren, etwas Besseren und bei allem Illusionismus doch hoffentlich auch etwas Wahreren. Die meisten Museumsneubauten der letzten Jahre stellen solche Zauberwelten dar: Frank Gehrys funkelndes Guggenheim-Museum in Bilbao ebenso wie Peter Zumthors weisser Wunderwürfel in Bregenz oder das Schaulager von Herzog & de Meuron bei Basel, dieses aus den Fugen geratene Erdmännchen-Heim. Auch die Neue Galerie in Graz, das Lentos-Kunstmuseum in Linz oder die Pinakothek der Moderne in München betritt man wie Alice das Märchenland der Kunst.

Auf Entführung in andere Welten sind ebenso die meisten New Yorker Museen aus: So saugt uns etwa das Guggenheim durch seine Spirale ein, und beim Metropolitan müssen wir uns über eine gigantische Treppenanlage die Höhen der Kunst erkeuchen. Da wäre es wohl naheliegend gewesen, auch für den Umbau des Museum of Modern Art (von den New Yorkern zärtlich MoMA genannt) einen Architekten zu engagieren, der mitten in der etwas gesichtslosen Welt der Bürotürme von Midtown Manhattan einen spektakulären Akzent gesetzt, einen verführerischen Kunstkörper hingezaubert hätte. Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas oder auch Frank Gehry hätten an dieser Stelle sicher für Aufsehen gesorgt.

Keine Entführung in die Kunstwelt

Der Architekt jedoch, der nach einem in mehreren Etappen durchgeführten Wettbewerb 1997 zur Überraschung vieler Beobachter mit der Aufgabe betraut wurde, ist einen anderen Weg gegangen: Yoshio Taniguchi (geb. 1937), der zuvor hauptsächlich in Japan tätig war (Tokyo Sea Life Park, Toyota Museum of Art), hat einen Gebäudekomplex geschaffen, der sich geradezu unauffällig in die Umgebung einfügt. Die Fassade ist eher diskret - nur die edlen Materialien und die handwerkliche Perfektion vieler Details lassen erahnen, dass dies ein ganz besonderes Haus für eine ganz besondere Sammlung ist. Der wesentlichste Unterschied zu vielen anderen Museen aber besteht darin, dass Taniguchi einen Bau geschaffen hat, der den Besucher eben gerade nicht in eine andere Welt entführt, nie vollständig in die Kunst eintauchen lässt - im Gegenteil: Immer wieder werden wir hier daran erinnert, dass wir mitten in Manhattan sind.

Das beginnt schon mit der Eingangshalle, die sich neu auf die 52. und die 53. Strasse hin öffnet und also wie ein Durchgang funktioniert. Damit tut sich das Museum nicht nur symbolisch für die Menschenmassen auf, die täglich durch Manhattan strömen - denn nichts hindert Passanten daran, diese Halle als Abkürzung vom Büro zum Deli, vom «Starbucks» zur Subway zu nutzen. Über ein paar Stufen gelangt man zu einer gläsernen Wand, vor der sich der 1953 von Philip Johnson entworfene und 1984 von Cesar Pelli aufpolierte Skulpturengarten ausbreitet - dieses Fenster ist allerdings so gross angelegt, dass auch die Bürotürme mit zum «Bild» gehören. Eine Rolltreppe führt in das erste Stockwerk und damit in das riesige Atrium, das Zentrum des Neubaus: Um diese von oben und von der Seite mit Tageslicht beleuchtete Halle sind die fünf Ausstellungsgeschosse angelegt. Auch das Atrium selbst dient als Schauraum für besonders grossformatige Werke aus der Sammlung wie Claude Monets rund zwanzig Meter lange «Wasserlilien» oder den «Broken Obelisk» von Barnett Newman.

Im Übergangsbereich zwischen dem neuen Museumsteil und den sorgfältig renovierten Bauten von Goodwin & Stone und Johnson sind die Lifte und Rolltreppen eingerichtet. Von diesem selbst völlig kunstfreien Verteiler aus kann jede Sektion des Museums separat angesteuert werden. Der Bereich ist etwas düster geraten - umso heller und freundlicher empfindet man das direkte Tageslicht, wenn man seine Visite im sechsten und obersten Stockwerk beginnt. Von hier aus tut sich ein schwindelerregender Blick in das Atrium auf. Über eine Art Passerelle, wo ein spätes Triptychon von Francis Bacon sehr effektvoll in Szene gesetzt ist, gelangt man in den Ausstellungsraum. Die riesige und sehr flexibel unterteilbare Halle soll dereinst für Wechselausstellungen genutzt werden.

Im fünften Stock präsentiert das MoMA in einer Suite von mittelgrossen Sälen einen Querschnitt durch seine Reichtümer im Bereich der klassischen Moderne - die MoMA-Kollektion gilt als die grösste und exklusivste Moderne-Sammlung der Welt. Mehr oder weniger chronologisch werden hier zunächst hauptsächlich die künstlerischen Heldentaten der Europäer vom Postimpressionismus bis zum Zweiten Weltkrieg vorgeführt - fast ausnahmslos Werke, die Kunstgeschichte geschrieben haben. So sind zum Beispiel in einem Raum Bilder aus verschiedenen Schaffensperioden von Picasso rund um die «Demoiselles d'Avignon» versammelt, diese Inkunabel des Kubismus. Ein anderer Saal ist Henri Matisse gewidmet - und auch hier stossen wir auf Schlüsselwerke des Fauvismus wie das «Rote Studio» von 1911. Die Futuristen, die Surrealisten und die Maler der Neuen Sachlichkeit haben einen eigenen Saal - Marcel Duchamp ist recht geschickt mit russischen Konstruktivisten und kleineren Werken von Jean Arp, Max Ernst und Man Ray kombiniert.

Grosse und kleine Klassiker

Wie auf allen Etagen stossen wir auch hier immer wieder auf raumhohe Fenster mit leicht getöntem Glas, die den Blick auf die umstehenden Hochhäuser freigeben und mitunter gar Einblicke in Büros bieten. Aus der heroischen Geschichte der Moderne werden wir so immer wieder in die prosaische Gegenwart zurückgeholt, wo Geschäftsleute gähnend Sitzungen abhalten und Sekretärinnen Berge von Akten kopieren. Da und dort haben die Ausstellungsmacher auch sehr schöne Bezüge zu dieser Aussenwelt hergestellt: So treffen wir vor einem Fenster zum Beispiel auf Umberto Boccionis Bronzeplastik «Entwicklung einer Flasche im Raum» von 1912 - und dahinter schiessen in einer ganz ähnlichen Dynamik die Hochhäuser New Yorks in einen elektrifizierten Himmel, wie ihn sich die Futuristen wohl selbst in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt haben.

Der vierte Stock ist den Klassikern der Nachkriegskunst gewidmet - auch hier jagt ein Höhepunkt den nächsten. Da durchschreiten wir einen Raum mit lauter «Drip-Paintings» von Jackson Pollock, und nebenan heizt uns Barnett Newman mit seinem tiefroten Riesengemälde «Vir Heroicus Sublimis» von 1950/51 ein. Erhabenes bieten auch Mark Rothko, Cy Twombly und Clifford Still - nationale Symbole greifen Jasper Johns und Robert Rauschenberg auf. In einem besonders originellen Saal sind Gesten und Konzepte versammelt, treffen sich Yves Klein, Piero Manzoni, Lucio Fontana, John Chamberlain, Günter Uecker und Dieter Roth. Klassischer kommt da die Gruppe der Minimal-Künstler oder die der Pop-Artisten daher.

Architektur und Design teilen sich den dritten Stock - hier geht es selbstverständlich ebenso gediegen zu. Vom Thonet-Stuhl über den «Side Chair» von Charles Rennie Mackintosh bis zur «Chaise Longue» von Charles Eames reicht etwa das Spektrum der Sitzmöbel. Da gibt es kleine Klassiker wie die Minox-Kamera oder das «Ericofon» - und grössere wie das rote Rennauto «Cisitalia» von Pininfarina oder einen Helikopter von Arthur Young. Bei der Architektur gibt es Klassiker von heute zu sehen - wunderbare Entwurfszeichnungen etwa von Ludwig Mies van der Rohe, Raimund Abraham oder Louis Kahn. Und Klassiker von morgen wie zum Beispiel das Modell für das kupferne Stellwerk von Herzog & de Meuron in Basel. Halb im «Altbau» sind auf dieser dritten Etage auch ein Zeichnungskabinett und eine mittelgrosse Fotogalerie eingerichtet.

Auf Etage zwei schliesslich befinden sich die «Contemporary Galleries», in denen das MoMA zeigt, was es an neuester Kunst gesammelt hat. Im Unterschied zu den klassischeren Galerien, die uns recht schlüssig und anregend durch die künstlerischen Gedankenwelten der Moderne und Nachmoderne schreiten lassen, herrscht hier eine gewisse Ratlosigkeit. Das hat vermutlich damit zu tun, dass offenbar ganz unterschiedliche Kriterien das Zusammenspiel der Exponate bewirkt haben: Einmal waren es die Inhalte, dann eher Material oder Form, dann wieder Zeitgenossenschaft oder schlicht Grösse der Kunstwerke, die ausschlaggebend waren. Die Namen sind allesamt wohlbekannt, sie reichen in der älteren Generation von Richard Serra über Robert Gober bis zu Gordon Matta-Clark und Martin Kippenberger, in der jüngeren von Matthew Barney über Chris Ofili bis zu Toba Khedoori. Ungenügend ist sicher auch die angeschlossene Galerie für neue Medien - steht dieser kleine Raum doch in keinem Verhältnis zu der Bedeutung, die elektronische Bilder heute haben. Doch das wird sich sicher noch ändern lassen, so wie sich alles bei diesem Museum ständig verändern soll und wird - sofern das in den letzten Jahren etwas statisch gewordene Haus seine ursprüngliche Bestimmung wieder aufzunehmen bereit ist. Wurde das MoMA doch vor 75 Jahren als ein Laboratorium gegründet, als ein Ort für die aktuellen Bewegungen der Kunst und die Veränderungen, die wir bei der Beschäftigung mit ihr erfahren.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.11.20



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MoMA

19. September 2002Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Gegen die Vergangenheit der Vergangenheit

Mit der Pinakothek der Moderne ist diese Woche einer der grössten Museumsbauten Europas eröffnet worden. Nebst Design, Architektur und Grafik zeigt das Haus vor allem Kunst aus allen Epochen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Mit der Pinakothek der Moderne ist diese Woche einer der grössten Museumsbauten Europas eröffnet worden. Nebst Design, Architektur und Grafik zeigt das Haus vor allem Kunst aus allen Epochen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das Projekt der Moderne ist längst abgeschlossen, und niemand erwartet heute noch ernsthaft von der Kunst, dass sie Visionen einer besseren Zukunft verbreite, dem noch Unsagbaren einer kommenden Zeit mit ersten Formulierungen entgegeneile oder gar die Zeitgenossen grundlegend verändere. Das Fortschritts- oder besser Forschungsprojekt des Menschenmöglichen, das die Moderne war, hat im zwanzigsten Jahrhundert seinen Aufstieg und - mit all den blutigen Kriegen - auch seinen Fall erlebt. Dieses zwanzigste Jahrhundert ist zu Ende gegangen - und dieser arbiträre Schlusspunkt einer Epoche hat in unseren Köpfen mit seiner Symbolkraft wohl mehr bewirkt, als wir voraussehen konnten. Plötzlich scheint es, als seien wir nun wirklich aus einer Zeit herausgetreten, in der sich zumindest in der Kunst noch alles mit dem heroischen Zeitalter der klassischen Moderne zu messen hatte.


Startrampe klassische Moderne

Daher rührt wohl auch das leichte Befremden ob der in dieser Woche mit Staatsakten und Publikumsfesten grossartig gefeierten Eröffnung einer Pinakothek der Moderne in München. Nun ist eine Pinakothek ja ein Museum - und solche Häuser haben traditionell die Aufgabe, Dinge vor dem Verschwinden und Vergessen zu bewahren. Die neue Pinakothek stellt sich jedoch nicht als ein Haus dar, das vorrangig Vergangenheit konserviert, sondern versteht sich als eine Institution mit Ausrichtung in die Zukunft. Die klassische Moderne, die hier zur Hauptsache gezeigt wird, erscheint somit nach wie vor als die Startrampe für alles, was mit Zukunft zu tun hat. Um dies plausibel zu machen, wurde mit Bernhart Schwenk gar ein Konservator für die Kunst der Gegenwart engagiert (NZZ 16. 9. 02), der nun in einem Raum mit Positionen der Jetztzeit den ständigen Beweis der anhaltenden Aktualität des Vergangenen erbringen muss.

Dass diese Pinakothek sich heute als Zukunftshaus darstellt, obwohl sie zur Hauptsache Vergangenheit sichtbar macht, hat allerdings auch mit ihrer Geschichte zu tun. Eigentlich hätte das Haus nämlich bereits vor rund hundert Jahren gebaut werden sollen - als eine Art Katapult, das die Avantgarde von damals noch schneller in die Zukunft vorausschleudern sollte. Dann aber kam der Erste Weltkrieg dazwischen, es kamen die mageren Jahre danach und schliesslich die Nazis. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sammlung auf ein paar wenige Bilder geschrumpft - ironischerweise fand sie ausgerechnet im Haus der Kunst, diesem Tempel aus der Hitlerzeit, wieder zu einer stattlichen Form. Hier bekam die Staatsgalerie moderner Kunst 1980 auch ihren provisorischen Ort. Das Ringen um einen Neubau für die Schätze der Moderne dauerte mehrere Jahrzehnte, und die verschiedensten Standorte wurden ins Auge gefasst. Als dann die Technische Universität ihre Lokalitäten auf dem Areal der Türkenkaserne verliess, war der ideale Ort in unmittelbarer Nachbarschaft zur Alten und zur Neuen Pinakothek gefunden. 165 Architekten bewarben sich 1991 um den Bauauftrag, der schliesslich an den Münchner Stephan Braunfels vergeben wurde. Es vergingen weitere fünf Jahre bis zum Baubeginn. Und auch der Bauverlauf war begleitet von Rechtsstreitigkeiten, politischem Geplänkel, Mehrkosten und anderen Hindernissen.


Landung am Ort der Türkenkaserne

Nun aber steht sie da, die Pinakothek der Moderne. Die Alte und die Neue Pinakothek sind keinen Steinwurf entfernt, und auch die Glyptothek, die Antikensammlung und das Lenbachhaus mitsamt seinem Kunstbau liegen in unmittelbarer Nähe. München verfügt somit über ein Museumsareal, das Kunst von der Antike bis heute in manch edler Hülle und schier unermesslicher Fülle bereithält. Die Pinakothek der Moderne präsentiert sich zunächst als weisser Kubus, der bei Sonneneinstrahlung leuchtet wie ein Kykladendorf. Zwei auf einer Diagonale zum Zentrum hin angelegte Eingänge führen den Besucher unter ein gigantisches Kuppelgewölbe - 25 Meter hoch, 30 Meter weit. Von allen Seiten und von oben dringt Licht in diese Halle. Hier sind wir im Zentrum des ganzen Baus, daran kann kein Zweifel bestehen. Von der Kunst gibt es an dieser Stelle noch nicht viel zu sehen, hier ist die Architektur ganz bei sich selbst. Hat sich das Auge erst einmal an diesem Pantheon gesättigt, findet es weitere Nahrung in der Form von zwei monumentalen, keilförmig zugeschnittenen Treppen. Die eine führt hinab in das lichte Untergeschoss, die andere hinauf - und da, auf den letzten Stufen, entdecken wir denn auch die erste Kunst: Ein «Oxydation Painting» von Andy Warhol und eine riesige Skulptur von Olaf Metzel - leuchtend farbige Plasticbahnen, die von der Decke herabzuhängen scheinen. Ein gewaltiger Kunst-Auftakt - zu rücksichtslos für den Architekten Stephan Braunfels, der Metzels Arbeit gegenüber dem «Spiegel» als «Faschingsgirlande» bezeichnet hat.

Die Pinakothek der Moderne versteht sich als ein Haus, das vier Museen unter einem Dach vereint: Das Architekturmuseum der Technischen Universität liegt im Erdgeschoss, daneben befinden sich die Galerien der Staatlichen Graphischen Sammlung. Die «Neue Sammlung» zeigt in einer quirligen Schau im Untergeschoss einen Teil der rund 60 000 Designobjekte, die sie ihr eigen nennt. Den grössten Raum aber nehmen die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen ein, die das ganze Obergeschoss besetzen.

Sosehr sich die Architektur in der zentralen Rotunde ganz in den Vordergrund drängt, so sehr nimmt sie sich in diesen Sammlungsräumen zurück. Die Oberlichter sind unauffällig, die Einteilung des Raumes ist nüchtern, der Boden macht sich mit einem leichten Grau diskret - in diesen klassischen «White Cubes» kann die Geschichte der Moderne störungsfrei erzählt werden. Diese Geschichte hat in München allerdings einige Lücken. Dass ausgerechnet eine Münchner Pinakothek der Moderne die frühe Entwicklung der abstrakten Kunst heute nicht nachzeichnen kann, ist wohl auf die Geschehnisse während der Nazi- Zeit zurückzuführen. Dass aber auch die Nachkriegs-Abstraktion, die russischen wie auch die amerikanischen Beiträge zur Kunst des letzten Jahrhunderts fast völlig fehlen, muss auf spätere Versäumnisse in der Sammlungspolitik zurückgeführt werden.

Generaldirektor Reinhold Baumstark und sein Konservatorenteam haben jedoch nicht versucht, diese Lücken zu verbergen - sie zeigen, was sie haben. Der Rundgang beginnt mit dem erwähnten Gegenwartsraum, wo sich die Berliner John Bock und Michel Majerus breit gemacht haben. Dann springen wir, quasi von Stein zu Stein, durch die vergangenen Jahrzehnte: Donald Judd, Sigmar Polke, Joseph Beuys, Georg Baselitz, Jeff Wall und ein halbes Dutzend weiterer Stars der Nachkriegskunst werden hier meist in Einzelräumen vorgestellt - repräsentativ ist das nicht, doch erlaubt es eine gewisse Konzentration. Im Bereich der klassischen Moderne sind die Maler der Brücke mit einer Reihe prominenter Werke vertreten. Der Auftritt des Blauen Reiters indes wirkt im Vergleich zur Präsentation im nahen Lenbachhaus eher disparat. Exklusiv wirkt der Saal mit Werken von Max Beckmann: Grossartige Bilder wie die «Versuchung» von 1936/37 oder die «Frau mit Mandoline in Gelb» sind hier geschickt mit zwei seiner weniger prominenten Plastiken kombiniert. Auch der Picasso-Saal ist elegant, und ein Kabinett mit kleinformatigen Bildern von Max Ernst bietet einen delikaten Auftakt zum Thema Surrealismus, das mit Dalí, Magritte und Giorgio de Chirico weitergeführt wird.

In der Pinakothek der Moderne hüpfen wir also, wenn auch nur auf einem Bein, von der Jetztzeit durch die Kunstgeschichte bis zu den Anfängen der Moderne zurück. Mit dieser Inszenierung wird eine kontingente Geschichte angedeutet, die durch die Zeiten hindurch alles mit allem auf geheimnisvolle Weise verknüpft. Die ewige Wiedergeburt des Kindes im Manne, die John Bock seit einigen Jahren erfolgreich inszeniert, und die «Grosse Sterbeszene», die Max Beckmann 1906 gemalt hat - beides ist Kunst. Doch zu welchen Gedanken sollen wir angeregt werden, wenn Bock und Beckmann in denselben Bezugsrahmen einer Pinakothek der Moderne gestellt sind? Krampfhafte Aktualisierung des Vergangenen auf der einen, Historisierung der Gegenwart auf der anderen Seite - beides dient letztlich auch der Suggestion geheimer Kunst- Wirkkräfte, stützt die Macht der Theorie und verstellt den Blick auf das, was es zu sehen gibt.


[Handbuch zur Pinakothek der Moderne, Euro 16.80. Kurzführer Malerei, Skulptur. Neue Medien, Euro 24.80.]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2002.09.19



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Pinakothek der Moderne

07. Mai 2002Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Erste Bewegungen

„Le Plateau“ - Pariser Kunstraum mit Quartiergeschichte

„Le Plateau“ - Pariser Kunstraum mit Quartiergeschichte

Die kulturelle Lebendigkeit einer Stadt hängt nicht allein von den grossen Häusern ab, - es braucht auch Strukturen, die für Experimente offen sind. Das gilt für Theater, Film, Musik und auch für den Bereich der bildenden Kunst. Gerade diesbezüglich hatte Paris bisher wenig zu bieten. Nun aber wurden zwei neue Institutionen eröffnet, die sich der zeitgenössischen Kunst verschrieben haben. Der Palais de Tokyo im Westen der Stadt (NZZ 25. 1. und 20. 3. 02) und im Osten der Kunstraum «Le Plateau».

Die beiden Pariser Kunstinstitutionen, diejenige im Palais de Tokyo wie auch der neue Kunstraum «Le Plateau», definieren sich als Laboratorien - ansonsten aber sind sie sehr unterschiedlich. Der «Site de création contemporaine» im Westflügel des Palais de Tokyo verfügt über eine riesige Ausstellungsfläche, viel Personal, einige Mittel, und seine Gründung geht auf eine Initiative des Kulturministeriums zurück.

«Le Plateau» hingegen ist in jeder Beziehung rund zehnmal kleiner und entstand aus dem Engagement der Quartierbevölkerung heraus. Dass sich die eigenwillige Geschichte rund um die Entstehung von «Le Plateau» ausgerechnet im neunzehnten Arrondissement abspielte, erstaunt kaum, war dieses Quartier doch immer schon ein Ort des Widerstandes: Hier in Belleville kämpfte die Pariser Kommune für ihre Rechte, hier wehrten sich die Anwohner in den letzten Jahrzehnten immer wieder mal - wenn auch nur teilweise mit Erfolg - gegen die Pläne einer zentralistischen Bürokratie.


Leben im Quartier

Die Geschichte von «Le Plateau» nahm ihren Anfang 1993, als die im Fernsehgeschäft tätige Société française de production (SFP) ihre Lokalitäten bei den Buttes-Chaumont im neunzehnten Arrondissement aufgab, um in einen billigeren Pariser Vorort zu ziehen. Auf dem drei Hektaren grossen Grundstück, das die SFP an der Rue des Alouettes hinterliess, plante daraufhin eine Tochtergesellschaft des französischen Bauunternehmens Bouygues die Errichtung von mehr als siebenhundert Luxuswohnungen in elfstöckigen Häusern - umgeben von aufwendigen Sicherheitsanlagen. Dies nun alarmierte die Quartierbewohner: Sie befürchteten, dass sich ihre lebendige und recht durchmischte Wohngegend in eine Art Edelschlafplatz verwandeln würde. Um das zu vermeiden, gründeten sie die Vereinigung «Vivre aux Buttes-Chaumont» - angeführt von Eric Corne, einem im Quartier wohnhaften Künstler.

1995 sprachen sich im Rahmen eines Referendums fünfundachtzig Prozent der Quartierbevölkerung gegen die Pläne von Bouygues aus und zwangen den Bauriesen so an den Verhandlungstisch mit dem kleinen Quartierverein. Verhindert wurde das Grossprojekt zwar nicht, und bald schon waren die ehrwürdigen Gebäude der SFP dem Erdboden gleichgemacht. Dem Verein gelang es jedoch, erhebliche Modifikationen des ursprünglichen Projektes durchzusetzen: So hat das neue Gebäude nun nur noch acht anstatt elf Etagen, ein Teil der Wohnungen soll sozialen Zwecken zugeführt werden, eine grosse Kinderkrippe sowie ein Raum für die Quartiervereine sind geplant, und nicht zuletzt stehen im Parterre des Neubaus sechshundert Quadratmeter Raum für ein Kulturzentrum zur Verfügung - unentgeltlich, auf dreissig Jahre hinaus.


Fragile Bezüge

Dass aus diesem Raum für Kultur ein Raum für zeitgenössische Kunst werden würde, war nicht von Anfang an klar: Der Entscheid wurde erst nach verschiedenen Umfragen unter der Quartierbevölkerung gefällt. Etwas mehr als eine halbe Million Euro von öffentlicher Hand stehen dem Zentrum mit seinen fünf Mitarbeitern pro Jahr zur Verfügung. Geleitet wird «Le Plateau» von Eric Corne und Bernard Goy vom Fonds régional d'art contemporain (FRAC) d'Ile de France.

Eine solche Entstehungsgeschichte eines Kunstraumes, die so eng mit dem soziokulturellen Umfeld verknüpft ist, schafft natürlich auch eine Reihe von impliziten Verpflichtungen. Und das merkt man auch der ersten grossen Ausstellung an, die sich unter dem Titel «premiers mouvements - fragiles correspondances» streckenweise vielleicht allzu umständlich bemüht, Brücken zwischen dem Alltag und der Kunst zu schlagen.

Überzeugend ist die Arbeit von Francisco Ruiz de Infante. Er hat eine Holzarchitektur in den Raum eingebaut und sie mit allerlei Überwachungskameras und Monitoren ausgerüstet: Beobachtet und beobachtend zugleich, irritiert von seltsamen Geräuschen, dringen wir mit jedem Schritt tiefer in diesen nach Tannenholz duftenden Körper ein - um schliesslich in einer Art Kellerverlies auf die Grossprojektion einer Ameise zu stossen, die de Infantes Welt im Innersten zusammenhält. Dokumentarspezialist Harun Farocki analysiert in der Doppelprojektion «Eye/Machine» die technikfreudige Verharmlosung in den Berichten rund um den Golfkrieg. Und Dana Wyse führt in einer Vitrine verschiedene Kleinstgegenstände zu einer ziemlich mädchenhaften Erzählung zusammen.


Absenz - Präsenz

Sehr gegensätzlich sind die Beiträge der zwei Schweizer Künstler in dieser Schau. Während sich Eric Hattan in die Absenz begibt, um seinen Platz per Postkarte an eine Künstlerin abzutreten, war Hans Jürg Kupper überaus präsent im Quartier: Auf Spaziergängen durch das Arrondissement hat er systematisch einzelne Architekturelemente photographiert und diese Bilder von Strassenschildern oder Fenstern zu grossen Bögen voller raffinierter Überschneidungen zusammengestellt.

Neben solch aktuellen Positionen allerdings, die teilweise mehr oder weniger direkt mit dem Leben im Quartier verknüpft sind, präsentiert die Schau quasi als ihr Zentrum eine grosse Anzahl von Arbeiten des 1987 verstorbenen Robert Filliou. Die meisten dieser Werke stammen aus den sechziger oder siebziger Jahren und sind durchwegs hochinteressant als Dokumente von Fillious Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen einer Kunst, die im Alltag Verantwortung übernehmen will. Im Rahmen dieser Ausstellung aber mutieren diese Dokumente - wohl auch wegen der ihnen anhaftenden Spuren der Zeit - zu auratischen Vitrinenobjekten, die quasi zur Verbeugung zwingen.

Und genau da wird diese Ausstellung sich selbst und der Geschichte des Ortes auch nicht gerecht. Denn es wäre etwas ganz anderes gewesen, hätte man Ansätze von Filliou für die aktuelle Situation neu entwickelt, anstatt sie in dieser historischen Weise vorzuführen. Die Kunst sei dazu da, das Leben schöner zu machen als die Kunst, war Filliou überzeugt - sicher wird es «Le Plateau» in Zukunft gelingen, das Leben in Belleville auf noch überzeugendere Weise schöner zu machen als mit dieser ersten fragilen Bewegung.


[Premiers mouvements - fragiles correspondances. Le Plateau, Paris. Bis 1. Juni. Katalog Euro 7.50.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.05.07

28. Dezember 1999Samuel Herzog
Neue Zürcher Zeitung

Und plötzlich riecht es nach feuchtem Pulver

Selten werden einem Metaphern so sehr aufgedrängt wie derzeit in Karlsruhe. Hier hat kürzlich das Museum für Neue Kunst seine Tore geöffnet, und zwar am nördlichen Ende eines mehr als dreihundert Meter langen Baus, der einst als Munitionsfabrik diente und heute nebst der Städtischen Galerie Karlsruhe und der Hochschule für Gestaltung das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) beherbergt, dem auch das neue Museum organisatorisch zugehört.

Selten werden einem Metaphern so sehr aufgedrängt wie derzeit in Karlsruhe. Hier hat kürzlich das Museum für Neue Kunst seine Tore geöffnet, und zwar am nördlichen Ende eines mehr als dreihundert Meter langen Baus, der einst als Munitionsfabrik diente und heute nebst der Städtischen Galerie Karlsruhe und der Hochschule für Gestaltung das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) beherbergt, dem auch das neue Museum organisatorisch zugehört.

Die Architektur dieser Fabrik zeichnet sich vor allem durch das weitgehende Fehlen von Wänden aus: Die Konstruktion über Pfeilern und die fast vollständige Durchfensterung der Fassaden sollten den Bau im Falle einer versehentlichen Explosion vor einem Kollaps bewahren - der Druck sollte lediglich die Glasscheiben bersten lassen. Angesichts einer solchen Anlage liegt es natürlich nahe, das neue Museum auf seine Sprengkraft hin zu prüfen - zumal die benachbarten Labors und das Medienmuseum des ZKM im Bereich der Forschung zwischen Kunst und neuen Technologien einigen Zündstoff bieten. Und so ist man denn im ersten Moment auch versucht, die Explosionsmetaphorik gnadenlos auszureizen und im Zusammenhang mit dem neuen Museum von einer «schwierigen Zündung» zu reden oder, treffender wohl, das Fehlen einer «Lunte» zu konstatieren.


Problem «Sammlermuseum»

Als das ZKM vor gut zwei Jahren eröffnet wurde, nahmen nicht nur das Medienmuseum und die diversen Labors ihren Betrieb offiziell auf, sondern für kurze Zeit auch ein Museum für Neue Kunst. Dieses wurde zunächst essentiell aus den Beständen jener Sammlung alimentiert, die der kürzlich verstorbene Heinrich Klotz als Gründer und erster Direktor des ZKM zusammengetragen hatte. Dass die mit einem Budget von wenig mehr als zehn Millionen angekauften Werke vorwiegend aus dem Bereich der Medienkunst jedoch nicht ausreichen würden, um einen regelmässigen Betrieb des Instituts zu garantieren, war von Anfang an klar. Also war bald von einem «Sammlermuseum» die Rede, welches, so schrieb Klotz, «die grossen privaten Kunstsammlungen im Lande der Öffentlichkeit zugänglich machen» sollte. In der Euphorie, welche die Gründung des ZKM weit über die Grenzen von Karlsruhe hinaus auslöste, war zu hören, dass mitunter renommierte Sammlungen wie die des italienischen Grafen Panza di Buomo oder jene von Frieder Burda dem Museum zur Verfügung stehen würden. Nun aber baut Burda ein eigenes Museum in Baden-Baden, und der Name Panza di Buomo ist wie das Schäumchen auf dem Espresso mit der Zeit aus dem Gerede verschwunden.

Die Sammler, die dem Museum nun bei seiner Wiedereröffnung noch hold sind, stammen aus Baden-Württemberg und heissen Rentschler, Weisshaupt oder Grässlin. Für die Eröffnungsausstellung immerhin standen dem Museum aber auch einige Werke aus den Sammlungen Froehlich und Burda zur Verfügung - und im Falle von Burda etwa sei auch weiterhin mit gelegentlichen Leihgaben zu rechnen, versichert Kurator Ralph Melcher, zumal dessen Museum nur von bescheidener Grösse sein werde.

Dass sich dieses Museum für Neue Kunst nun nicht mit den Glanzstücken weltweit bekannter Sammlungen schmücken kann, ist nicht eigentlich das Problem. Die Schwierigkeit der neuen Institution liegt vielmehr darin, dass es ihr an einer erkennbaren Haltung sowohl gegenüber den Sammlungen als auch - innerhalb des Hauses - gegenüber den Aktivitäten der Labors und des Medienmuseums fehlt. In seiner Eröffnungsausstellung jedenfalls präsentiert sich das Museum für Neue Kunst weniger als ein Haus, das über Werke aus Sammlungen verfügt und mit ihnen arbeitet, sondern eher als ein Museum im Dienste der Sammler.

Wer das Museum betritt, nimmt auf einen Blick den Grossteil der Anlage wahr, denn die rund siebentausend Quadratmeter Ausstellungsfläche sind auf drei luftigen Etagen rund um zwei Lichthöfe verteilt. Die erwähnte Offenheit der Architektur machte den Einbau von zahlreichen beweglichen Stellwänden nötig. Und auf diesen Wänden nun breiten sich - einem Kunstkalender ähnlich - die ganzen prachtvollen Namen der amerikanischen und der europäischen Kunst seit dem Zweiten Weltkrieg aus - lose gruppiert nach Sammlungen.

Pop-art und Farbfeldmalerei bilden die Schwerpunkte der Sammlung Siegfried Weishaupt: Da gibt es etwa Andy Warhols «Last supper» mit dem multiplen Jesus nach Leonardo zu sehen, und rund um drei pulsierende Quadrate von Josef Albers sind die fliessenden Farbfelder von Kenneth Noland, Mark Rothko oder Morris Louis gruppiert. Ähnliche Tendenzen weist die Sammlung Froehlich auf, erweitert etwa durch gewichtige Stücke von Bruce Naumann, die zu einem kleinen Schwerpunkt zusammengestellt sind. Frieder Burda hat Bilder der neuen deutschen Klassiker Sigmar Polke und Gerhard Richter beigesteuert, und in der Sammlung Friedrich E. Rentschler wird der Bogen von Frank Stellas «Shaped Canvases» über Minimal-Künstler wie Sol Le Witt und Donald Judd, die reduzierte Malerei von Daniel Buren und Niele Toroni bis zu den Konzepten von Giulio Paolini oder einer Plastik von Jeff Koons geschlagen. Die jüngsten Werke schliesslich stammen aus der Sammlung Grässlin: Bilder und Objekte von Martin Kippenberger, ein Porträt aus Blumenvasen der Sammlerfamilie von Tobias Rehberger, Installationen von Georg Herold, Objekte von Asta Gröting oder «The sick soul II» von Clegg & Guttmann.


Keine Überraschungen

All dies ist von stabiler Qualität und wird auch durchaus so präsentiert, dass der Gang durch die Ausstellung ein kaum beschwertes Vergnügen ist. Die Enttäuschung stellt sich eigentlich erst beim Verlassen des Museums ein, wenn man feststellt, dass man kaum Unbekanntes, nichts Überraschendes gesehen hat - und von der Kaufkraft der reichen Sammler mehr beeindruckt ist als vom Konzept der Ausstellung oder von einer originellen Auseinandersetzung mit den Exponaten.

Man mag es verstehen, dass Götz Adriani, der Leiter des neuen Museums, keinen «chronologischen Gänsemarsch der Stile» inszenieren wollte, der «die Erfahrung des Werks einer geschichts- philosophischen Konstruktion opfert». Man glaubt ihm auch gerne, wenn er schreibt, dass es ihm «im Sinne von Michel Foucaults Reaktion auf Linné nicht so sehr um System und Methode, sondern um eine Struktur, ein tableau» gehe. Was man hingegen nur schwer begreift, ist der Um- stand, dass dieses Tableau so konventionell sein muss und so sehr den Sammler und seinen Geschmack in den Vordergrund setzt - selbst wenn Adriani versichert, dass der Betrachter so «in letzter Konsequenz» nicht nur etwas über «die Zeit, in der er lebt, und ihre Kunst» erfährt, sondern «auch etwas über sich selbst».

Gerade die Nähe zu den ungestümen Versuchen in den benachbarten Labors des ZKM hätte doch auch in diesem neuen Museum dem Geist des Experiments mehr Platz verschaffen müssen: Eine Neubewertung des Gezeigten durch die Konfrontation mit Werken der jüngsten Zeit wäre ebenso denkbar gewesen wie ein Versuch, die Stellung dieser Klassiker etwa gegenüber der Medienkunst zu untersuchen. Doch die Abgrenzung des neuen Museums zu den benachbarten Experimenten ist schon architektonisch nicht zu übersehen: Dort, wo Klotz einst einen durch die ganze Fabrik verlaufenden Weg geplant hatte, erhebt sich jetzt eine dicke weisse Mauer. Der Ruf des ZKM als einer Institution, die sich ohne Angst vor ungesicherten Positionen dem Experiment verschrieben hat, passt gut zum Bild der Munitionsfabrik. Mit dem neuen Museum jedoch riecht es auch in diesem Haus ohne Wände nun plötzlich nach feuchtem Pulver.

[ Museum für Neue Kunst im Zentrum für Kunst und Medientechnologie. Eröffnungsausstellung bis 26. März 2000. Katalogbuch «Die Kunst zu sammeln» DM 49.-, Katalog «Bruce Naumann» DM 39.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.12.28

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