Übersicht

Texte

30. Oktober 2021Laurent Stalder
Neue Zürcher Zeitung

Warum die Architektur den Unfall braucht

Ohne kaputte Häuser wäre die Baukunst nicht vorangekommen. Erst mit dem Fehler öffnet sich der Weg zum Fortschritt.

Ohne kaputte Häuser wäre die Baukunst nicht vorangekommen. Erst mit dem Fehler öffnet sich der Weg zum Fortschritt.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

12. Dezember 2015Laurent Stalder
Neue Zürcher Zeitung

Verwaltete Architektur

Die 1970er Jahre werden in der Schweizer Architektur gerne als Beginn einer neuen Entwicklung gesehen. Diese hat in der Gegenwart ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden.

Die 1970er Jahre werden in der Schweizer Architektur gerne als Beginn einer neuen Entwicklung gesehen. Diese hat in der Gegenwart ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden.

Mit einem Bau oder einem Ereignis den Anfang einer architektonischen Entwicklung einzuläuten, ist – bis zu einem gewissen Grade – immer mit einer gewissen Beliebigkeit verbunden. Doch kaum ein anderer Wettbewerb vermag den Stand der Architektur in der Schweiz zu Beginn der 1970er Jahre besser zu veranschaulichen als jener für den neuen Campus der Ecole Polytechnique Fédérale in Lausanne (EPFL). Es war die letzte Konkurrenz, die einen gesamtschweizerischen Überblick vermittelte, hatte doch die Schweizerische Eidgenossenschaft sieben die Grossregionen der Schweiz repräsentierende Büros zur Teilnahme eingeladen. Die von ihnen gewählten Entwurfsansätze – vom rasterförmigen «Richtplan» der siegreich aus der Ausschreibung hervorgegangenen Arbeitsgruppe «Zürich» um Jakob Zweifel über den «Planungsraster» von Paul Waltenspühl (Genf) und die scheinbar unendlich erweiterbare Struktur der Gruppe «Basel» bis hin zur «Matrix» der Gruppe «Solothurn» um Fritz Haller, Alfons Barth und Hans Zaugg – beruhten auf einem gemeinsamen Verständnis der Universität als Produktionsanlage von Wissen, welche sich – vergleichbar mit einer industriellen Produktionsanlage – durch ihre flexible, offene Struktur den wechselnden Bedingungen anzupassen hatte.

Problem der Form

Auch wenn sich im Projekt der Tessiner Gruppe mit Mario Botta, Tita Carloni, Aurelio Galfetti, Flora Ruchat und Luigi Snozzi durchaus vergleichbare Tendenzen zur Grossform verorten lassen, stellt das, was in diesem Projekt trotz seinem Massstab in einer einzigartigen Klarheit zum Ausdruck kommt, einen Paradigmenwechsel dar, der in der Schweizer Architektur nach wie vor wirksam ist. Die Vorstellung der Architektur als einer anpassbaren, veränderbaren, erweiterbaren Umgebung ist hier ersetzt durch ein Verständnis der Architektur als ein Problem der Form. Ausgangspunkt des Entwurfs ist die physische Wirklichkeit, sei es die der Stadt oder des Territoriums. Sie bildet den Beginn jeder Analyse, aber auch den Kontext, an dem jeder neue Eingriff gemessen werden muss.

Der Entwurf der Tessiner Gruppe zeigt zum ersten Mal in einer gesamtschweizerischen Konkurrenz, dass die Thesen zur «Autonomie», wie sie in der Schweiz ab den 1970er Jahren in der theoretischen Debatte aufgestellt worden waren, als überzeugende Alternative auch in der architektonischen und städtebaulichen Wirklichkeit Bestand hatten. Mit der Forderung nach Autonomie war hier zuerst und vor allem der Anspruch auf ein Verständnis der Architektur als Disziplin – mit ihren eigenen formalen Regeln – beschrieben. Damit waren die Grundlagen für eine äusserst differenzierte ästhetische Auseinandersetzung festgelegt, die das architektonische Schaffen der Schweiz bis heute massgebend bestimmt und an der Schnittstelle zur bildenden Kunst und den damit einhergehenden wahrnehmungsästhetischen Diskursen bis heute erfolgreich geführt wird.

Aus dieser Perspektive würden die 1970er Jahre einen Bruch mit einem Neuanfang bedeuten. Doch solche Erklärungen, die architektonische Entwicklungen an Daten oder Bruchstellen festzumachen versuchen, sind immer vereinfachend. Sie scheinen ein modernistisches Verständnis von Geschichte weiterzutragen, welches über Brüche und Neuanfänge argumentiert und gerade in einer Disziplin, die sich durch ihre Langatmigkeit auszeichnet, nicht glaubwürdig ist und in der Regel mehr über die Autoren, die diesen Bruch feststellen und propagieren, als über die Wirklichkeit aussagt. Wenn man jedoch die 1970er Jahre nicht nur auf eine architekturtheoretische Debatte reduziert, sondern politisch mit dem Aufkommen einer Verwaltungs- und Kontrollgesellschaft verknüpft oder ökonomisch mit der umfassenden Kommerzialisierung der Kultur in all ihren Bereichen verbindet, dann erweist sich diese Entwicklung als etwas komplizierter.

Tessin und Solothurn

In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass das Projekt der Solothurner Gruppe für die EPFL gerne und mit guten Gründen als Gegenprojekt zum Tessiner Wettbewerbsbeitrag verstanden worden ist. Drei Aspekte können beim Solothurner Projekt beispielhaft hervorgehoben werden: Zunächst ein Verständnis der Architektur als technisches Ensemble von Bauteilen, Infrastrukturen, Apparaten und anderen Elementen, die miteinander koordiniert werden müssen und deren Leistungsfähigkeit bemessen und kontrolliert werden kann. Dann der Versuch, die Architektur in ihrer zeitlichen Dimension zu planen und entsprechend auch in ihrer zukünftigen Entwicklung rational zu verwalten. Und schliesslich ein Verständnis der Architektur, das sich nicht auf das einzelne Objekt beschränkt, sondern die gesamte Umwelt, die künstliche wie die natürliche, als ein Problem der Gestaltung versteht.

Was diese Entwicklung, zu Ende gedacht, bedeuten konnte, hat Fritz Haller in seiner Studie der «Totalen Stadt» gezeigt, die 1968 in erster und 1975 in zweiter Auflage erschien. Sie kann als optimistische und technokratische Antwort auf die kulturkritische Betrachtung des «Bauens als Umweltzerstörung» verstanden werden. In ihrem umfassenden Anspruch, die Probleme technisch-infrastrukturell zu lösen, ist sie zu Recht in eine moderne Tradition gestellt worden. Doch wenn die Stadt der Moderne die Stadt der Industriegesellschaft ist, ist das, was Haller hier auf der territorialen Ebene beschreibt, die architektonische Antwort auf die Verwaltungsgesellschaft der späten Nachkriegszeit, deren Merkmal in einer zunehmenden Regulierung von Menschen, Ressourcen, Produkten, Handlungsabläufen, aber auch von architektonischen Prozessen und der Kontrolle der damit erbrachten Leistung mündet.

In der Tat ist das, was sich bei Haller in den atemberaubenden Zeichnungen einer fünf Milliarden Einwohner grossen, netzwerkartig organisierten Stadt abspielt, die zu Ende gedachte Formulierung einer umfassenderen Entwicklung in der Gesellschaft, die Architektur und Städtebau in der späten Nachkriegszeit bestimmt und sich weniger in der invasiven Technik des Hallerschen Modells äussert, sondern viel allgemeiner in den Weisungen, Normen und Gesetzen einer Verwaltungsgesellschaft zeigt. Was Hallers Studie für die damalige Zeit so zukunftsweisend und noch heute so bedeutsam macht, ist nicht ihr vermeintlicher utopischer Charakter, sondern ihre schonungslose Darstellung von Prozessen und Entwicklungen, die sich vorerst noch diskret und unter der kulturellen Wahrnehmungsschwelle abspielen, aber zunehmend sichtbar und für die Architektur ab den 1970er Jahren bestimmend werden.

Welt der Normen

Zielten die Normalisierungsbemühungen bis in die frühen 1960er Jahre darauf, das Bauen in einem rationalen, steuerbaren Rahmen zusammenzufassen, und wurden damit vorerst qualitative Argumente ins Feld geführt, zeigt sich ab der Mitte der 1960er Jahre eine zunehmende Institutionalisierung des Normwesens mit der damit verbundenen Tendenz zur Quantifizierung der Architektur nach ihrer messbaren Leistungsfähigkeit. Diese Bemühungen umfassen nicht nur technische Normen, etwa zu Wärme- oder Schallschutz, sondern betreffen so unterschiedliche Bereiche wie das behindertengerechte Wohnen, die Kunst am Bau oder auch raumplanerische Fragen. Doch unabhängig davon, wie relativ diese vermeintlich objektiven, aber wieder neu verhandelten Kriterien formuliert und wie weit davon entfernt sie sind, sich in ihrer eigenen Kontradiktion aufzulösen, erweisen sich die Bemühungen zur Normalisierung der Architektur als eine zunehmend eigenständige Entwicklung, die im Laufe der späten 1980er und in den 1990er Jahren durch die Forderungen einer europaweiten Vereinheitlichung verstärkt werden.

Die Norm jedoch, welche die veränderte Berufsauffassung des Architekten am deutlichsten widerspiegelt, ist ohne Zweifel jene, welche die «Allgemeinen Bedingungen für Bauarbeiten» beschreibt. Sie wird im Laufe der 1970er Jahre vor dem Hintergrund der zunehmend bestimmenden Rolle der Generalunternehmer revidiert, um die neuen Organisationsformen in Planung und Ausführung – Totalunternehmer, Generalunternehmer, Generalplaner und Architekt/Ingenieur – zu unterscheiden. Unabhängig von den unterschiedlichen Positionen, die im Laufe dieser Debatte formuliert wurden, war das, was zur Diskussion stand, die Frage, wer in Planung und Führung die leitende Rolle übernehmen sollte: der Architekt oder der Apparat des Managers, der zunehmend in den Entwurfsprozess eingreifen konnte.

Zur gleichen Zeit, in welcher die Frage der Autonomie in der Architekturtheorie den Diskurs zu bestimmen beginnt, fängt eine parallele Entwicklung an, welche die Autonomie in der Architektur zu untergraben beziehungsweise ihre Grenzen legal und ökonomisch, administrativ und juristisch zu definieren beginnt. Dabei wird die Rolle des Architekten zunehmend – wie Franz Füeg es 1980 bereits festgestellt hatte – zu der eines Spezialisten.

Autonome Disziplin

Damit verbunden ist eine umfassende Transformation des Konzeptes der Autorschaft in der Architektur sanktioniert, vom singulären Autor, der den Entwurf autorisiert und von anderen umsetzen lässt, zur multiplen Autorschaft, in der der Entwurf von verschiedenen Autoren, dem Architekten, dem Ingenieur, dem Produzenten, dem Bauphysiker, dem Unternehmen und anderen, mit signiert und in der die unterschiedlichen Phasen von Entwurf und Umsetzung überlagert sind.

Diese Verschiebung ist oft mit der digitalen Revolution in Verbindung gebracht worden. Doch wie ein Blick in die jüngste Vergangenheit zeigt, ist diese Verschiebung Ausdruck einer viel umfassenderen Entwicklung in Architektur und Gesellschaft, die in sicherheitstechnischen, energetischen, feuerpolizeilichen und anderen Gesetzen und Normen ihre Bürokratisierung, aber auch in der polytechnischen Forschung ihre Akademisierung erfahren hat. Denn diese Entwicklungen sind sozial, bevor sie technisch oder architektonisch sind.

Sosehr die Vorstellung der Architektur als autonome Disziplin für die Architekturdebatte in der Schweiz der letzten 40 Jahre von Bedeutung gewesen ist, so spiegelt sie, zu Ende gedacht, eine weitere Spezialisierung der Disziplin, in deren Folge die Architektur auf ein Formproblem reduziert wird: Zeitschriften und Monografien, Campus-Anlagen wie diejenige von Novartis, Signature-Buildings wie die Flag-Ship-Stores von Prada oder das Guggenheim-Museum in Bilbao zeugen davon.

Es ist wohl kein Zufall, dass die zeitgenössische Schweizer Architektur von Mario Botta über Herzog & de Meuron bis Peter Zumthor dank ihrer verfeinerten Bildhaftigkeit auf diesem medialen Markt, auf dem die Architektur als eine spezifische Form der Wertschöpfung gesehen wird, eine besondere Aufmerksamkeit erfährt. Dabei wird der Anspruch auf Autonomie des architektonischen Objekts gerade wegen seiner Autonomie als – vermarktbares – Artefakt unterwandert und werden die Grenzen zwischen der architektonischen Form und ihrer ökonomischen Wertschöpfung beziehungsweise Leistung (um noch einmal diesen Begriff zu verwenden) verwischt.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2015.12.12

15. Juli 2012Laurent Stalder
Neue Zürcher Zeitung

Raphael Zubers beispielhaftes Schulhaus

International wird die Schweizer Architektur bewundert. Doch hierzulande kritisiert man sie neuerdings als langweilig. Dass gute Architektur jedoch mehr als ein Gaumenkitzel ist und auch eines politischen Rahmens bedarf, zeigt das Schulhaus von Raphael Zuber in Grono.

International wird die Schweizer Architektur bewundert. Doch hierzulande kritisiert man sie neuerdings als langweilig. Dass gute Architektur jedoch mehr als ein Gaumenkitzel ist und auch eines politischen Rahmens bedarf, zeigt das Schulhaus von Raphael Zuber in Grono.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

09. April 1999Laurent Stalder
Neue Zürcher Zeitung

Un cadavre exquis

1858 bewilligte Napoleon III. die Schleifung der Befestigungsanlage von Lille. Auf dem Gelände wurde ein Boulevard mit öffentlichen Bauten angelegt. 1988 ist der östliche Bereich des ehemaligen Befestigungsgürtels für den Bau von Euralille zum Wettbewerb ausgeschrieben worden. 1994 wurde diese zweite Erweiterung abgeschlossen. Heute herrschen geteilte Meinungen darüber, was Rem Koolhaas in Euralille erreichte.

1858 bewilligte Napoleon III. die Schleifung der Befestigungsanlage von Lille. Auf dem Gelände wurde ein Boulevard mit öffentlichen Bauten angelegt. 1988 ist der östliche Bereich des ehemaligen Befestigungsgürtels für den Bau von Euralille zum Wettbewerb ausgeschrieben worden. 1994 wurde diese zweite Erweiterung abgeschlossen. Heute herrschen geteilte Meinungen darüber, was Rem Koolhaas in Euralille erreichte.

Das Gelände östlich der Stadt, durch den alten Bahnhof Lille-Flandres vom Zentrum getrennt, war ein typisches Stück Peripherie. Dort wollte der Bürgermeister von Lille, Pierre Mauroy, ein neues europäisches Handelszentrum errichten. Schliesslich sollte seine Stadt dank dem neuen TGV-Eurostar bald in einer Stunde von Paris und London, einer halben Stunde von Brüssel und anderthalb Stunden von Frankfurt und Rotterdam aus zu erreichen sein. Rund um den neuen TGV-Bahnhof sollten 80 000 Quadratmeter Land mit einem Kongresszentrum, einer Ausstellungshalle, einer Konzerthalle, einem Hotel, Läden, Büroräumen und Wohnungen überbaut werden. Vor vier Jahren wurde die erste Etappe von Euralille fertiggestellt. Das Gelände östlich der Altstadt ist aber immer noch Peripherie.

Der gordische Knoten

Ein gordischer Knoten aus Infrastrukturen sei zu lösen gewesen, schreibt der Planer von Euralille, Rem Koolhaas, zur vorgefundenen Situation im Osten der Stadt. Die geplante TGV-Linie, die vorhandene Umfahrungsstrasse von Lille, die Metro und die Hauptstrasse nach Norden sollten hier zusammentreffen. Um den verstrickten Knäuel zu lösen, wurden die unterschiedlichen Verkehrswege neben- und übereinander angelegt: unter Tag die Metro, quer darüber die Umfahrungsstrasse, die zugleich die Grenze des Gebietes bildet, und daneben die TGV-Linie. Über den Bahnhof, das Dach zerschneidend, führt die Hauptstrasse. Dadurch wird das Gelände in verschiedene Bereiche aufgeteilt, die mit unterschiedlichen Nutzungen besetzt wurden. Mehr als die Hälfte des Bauprogramms – mit dem Bahnhof, dem zwei Hektaren grossen Einkaufszentrum, den Büroräumen und dem Wohnblock – füllt das dreieckige Grundstück zwischen neuem und altem Bahnhof und der Hauptstrasse aus. Ein Erholungsgebiet besetzt die Fläche westlich davon. Im Süden, durch das Geleisefeld des alten Bahnhofs getrennt, liegt das Kongresszentrum.

Der Bebauungsplan ist graphisch, einfach: Linien und Flächen oder Verkehrsadern und Bauland. In der Überbauung dominiert das Körperhafte der stehenden oder liegenden, langen oder breiten Bauten. Einer wechselseitigen räumlichen Beziehung der Gebäude steht die Überlagerung von einzelnen Volumina entgegen. Sie erfüllen auf der zugeteilten Fläche das Raumprogramm und scheinen, auf sich selbst bezogen, von der Umgebung weitgehend unabhängig zu sein. Auch die neuen Verkehrsadern sind eigenständig. Geradlinig gewährleisten sie die schnellste Verbindung. Verkehr und Bebauung bilden gleichwertige Elemente, die immer wieder anderen Gesetzen zu folgen scheinen. Weder vermögen die Strassen die Abmessungen der Bauten festzulegen noch bestimmen diese die Ausrichtung der Verkehrswege. Sie überlagern sich oder überschneiden sich einfach. Vor dem Bahnhof ist ein dreieckiger Platz freigeblieben, der unter der Brücke in einen weiten Park nach Westen ausläuft. Er füllt mit seinem Grün die Freiräume zwischen der Altstadt und der Umfahrungsstrasse auf. Platz und Park sind Flächen geblieben, die sich einzig durch ihren Belag unterscheiden.

Dieses Erscheinungsbild ist uns bekannt. Es ist das Bild der Peripherie, die man in den Vorstädten Europas mit Zug oder Auto durchfährt, das Bild von Verkehrswegen und dazwischen brachliegenden Flächen, auf denen isolierte Bauten stehen, die den ökonomischen Schwankungen folgend wachsen oder verschwinden. Es ist das Bild einer provisorischen Bebauung.

Vertikale und horizontale Hochhäuser

Auf Brückenkonstruktionen über dem TGV- Bahnhof erheben sich zwei Hochhäuser. Sie bilden zugleich den Rücken von Euralille und deuten von weitem durch ihre Anordnung auf das Trassee des Schnellzuges. Der L-förmige Turm von Christian de Portzamparc hebt sich durch seine skulpturale Eleganz hervor. Die geschlossene Form und die Geometrie des Körpers, der sich nach oben ausweitet, betonen das Zeichenhafte des Turmes. (Man wäre geneigt die Form als Markenzeichen für den Crédit Lyonnais oder die Stadt Lille zu lesen.) Das benachbarte World Trade Center hingegen spricht eine sanfte anonyme High-Tech-Sprache. Beide Hochhäuser sind von der Bahnhofsvorfahrt aus leicht erreichbar.

Südlich davon, durch das Geleisefeld des alten Bahnhofes getrennt, von Umfahrungsstrassen umgeben, liegt Congrexpo, den die Lillois beharrlich Grand Palais nennen. Das im Plan eiförmige Gebäude, dessen Form auf das Verkehrsgewirr der Umgebung zu antworten scheint, bezeichnet Rem Koolhaas als horizontales Hochhaus. Statt übereinander werden die einzelnen Funktionen nebeneinander angeordnet. In der Spitze liegt ein Saal für Rockkonzerte, in der Mitte Kongresssäle und in der südlichen Hälfte die grosse Ausstellungshalle. Einzig das grosse Dach und die gemeinsame Parkgarage halten die drei verschiedenen Bereiche zusammen. Im Hauptgeschoss war die Verbindung zwischen dem Rocksaal und dem Kongresszentrum vom Bauträger nicht erwünscht.

Das traditionelle Hochhaus ist ein städtischer Typ. Seine Qualität liegt in der unmittelbaren Erreichbarkeit seiner unterschiedlichen, übereinander gestapelten Funktionen. In einem vertikalen Schacht verbindet der Aufzug die verschiedenen Stockwerke. Die Höhe des Hochhauses entspricht den ökonomischen Bedürfnissen einer maximalen Bodenausnutzung, gleichzeitig aber auch einer leichten Zugänglichkeit für seine verschiedenen Benutzer, die Fussgänger, die Autofahrer oder gar die Benutzer des Helikopters. Diesen Erfordernissen scheinen die beiden Türme über dem Bahnhof gerecht zu werden.

Doch Congrexpo wird nie ein «Hochhaus» sein können, sondern eine riesige Halle in der Peripherie bleiben. Denn dem Gebäude fehlt, ohne die unmittelbare Verbindung der einzelnen Bereiche durch den (horizontalen) Aufzug, das Hauptmerkmal des Hochhauses. Dem Gebäude fehlt der gemeinsame Eingang. Von Brüssel aus kann man zwar in einer halben Stunde in der Tiefgarage sein, doch vom einen Ende der Halle zum anderen braucht man 5 Minuten. Auch ist das Gebäude zu Fuss von Euralille oder vom alten Bahnhof Lille-Flandres her nur über Autobahnbrücken oder durch eine Vorstadtzone mit administrativen Bauten zu erreichen. Mit dem Auto ist der Zugang leichter, denn Congrexpo liegt – wie gesagt – in der Peripherie und wird deshalb am besten über das Parkhaus erschlossen.

Bilder

Der Turm von Christian de Portzamparc wirkt von weitem wie ein Signal. Auch das Einkaufszentrum von Jean Nouvel spielt mit Bildassoziationen. Zur Stadt hin dominieren drei gedrungene Türme den 350 Meter langen Bau aus Stahl und Glas. Zwei weitere sollen zu einem späteren Zeitpunkt dazukommen. Die Gliederung der Fassade ist durch die Farbgestaltung gegeben. Die liegenden und die stehenden Baukörper sind durch rote, gegeneinander versetzte Platten in der Art von Eckquadern seitlich gefasst worden. Die Fassadenfläche der liegenden Baukörper ist zudem mit Holoshine-Film belegt. Dieser verwandelt die Aussenwände in grosse Farbbilder. Auf den Türmen sollen in Zukunft Werbeschriften – «wie in Tokio» – angebracht werden. Diese stadtseitige Fassade ist in ihrer Erscheinung elegant. Die Gebäudekörper sind gut proportioniert, Gliederung und Effekte vielfältig. Doch bleibt sie eine Kulisse. Der hohe Sockel weist kaum Öffnungen auf. Das Körperhafte, die Lichtspiele, die Tiefenwirkung, die unterschiedlichen Eindrücke, die den Reichtum der Architektur auszumachen scheinen, verflachen sich von nahem zu einer glatten Rasterfassade aus Glas und Eisen.

Das grosse Dach, welches das Einkaufszentrum überdeckt, sollte in den Vorstellungen Jean Nouvelles auf seiner Oberseite die Bildhaftigkeit einer Fluglandepiste haben, auf seiner Unterseite hingegen wie die «gesponserten Objekte der Formel 1» Werbungen aufnehmen. Diese Zeichensprache einer Welt der Bewegung hat sich alleine im Innern des Gebäudes niedergeschlagen. Die roten Streifen der Landepiste gliedern nun den Fussboden der Galerien, und die verkleideten Stützen verschwinden in den Regenbogenfarben ihrer Holoshine-Filme. Das Bodenmuster der «Fluglandebahn» ist auf der Deckenunterseite übernommen und durch rote Lampen ergänzt worden. Die Architektur des Einkaufszentrums hat sich auf das Optische, Zeichenhafte reduziert. Die räumlichen Dimensionen und das Haptische des Materials sind dem Visuellen, dem Virtuellen gewichen. Es ist kein Ort zum Verweilen.

Immer noch Peripherie

Das Kongresszentrum sticht im Vergleich zu den übrigen Bauten von Euralille aus Eisen, Glas und Beton durch seinen Materialreichtum hervor. Die drei unterschiedlichen Funktionen des Gebäudes sind auch verschieden behandelt worden. Die Ausstellungshalle kleidet eine elegant gewellte Haut aus transluzentem Polyester und Blech. Das Kongresszentrum zeigt eine Fassade aus Glas und Beton, und der Musiksaal hat ein Bossenmauerwerk aus schwarz bemaltem Beton, der auch für den Sockelbereich der Halle verwendet worden ist. Die Material-, Farb- und Lichtwirkung ist beeindruckend. Unterschiedliche Grade von Transparenz, Flächen- und Tiefenwirkungen – mit billigen und leichten Materialien erzielt – beleben den riesigen Baukörper. Doch gleichzeitig verliert das liegende Hochhaus seine Einheit. Der Bau zerfällt in einzelne unterschiedlich gekleidete Schuppen. Die billigen, aus der Peripherie bekannten alltäglichen Materialien erwecken den Eindruck der Vergänglichkeit. Flickstellen, Erneuerungen, Änderungen würden am Charakter des Baues nichts ändern. Congrexpo könnte schon immer dagewesen sein. Aber wo ist der Grand Palais?

Die Lage von Euralille ist weniger durch die Nachbarschaft zur Altstadt bestimmt als durch die Erreichbarkeit mit TGV und Auto. Es liegt zwar 20 Minuten von der Place Charles de Gaulle in Lille entfernt, aber wichtiger erscheint seine TGV- Distanz zu Paris, London, Brüssel, Frankfurt oder Rotterdam. Dadurch wird Euralille zum virtuellen Zentrum einer Region mit 50 Millionen Einwohnern. Gleichwohl liegt dieses Zentrum von Europa nur an der Peripherie von Lille. Und wie die Peripherie, die man schnell durchfährt, wird hier die Architektur nicht durch das Begehen, durch das räumliche Wahrnehmen erfasst, sondern von aussen her beobachtet. Objekthaft stehen die Bauten wie einzelne isolierte Körper am Rande der Stadt und widersetzen sich einer geschlossenen Erscheinung. Sogar die neue Parkanlage hebt sich als selbständige Fläche von der Bebauung ab. Zeichenhaft unterscheiden sich die Gebäude durch ihre Form, ihre Verkleidung und ihre Werbeschriften. Sie sind einzig für die kurze optische Erfassung entworfen und entsprechend auf die Erscheinung ihrer äusseren Hülle und inneren Verkleidung reduziert. Euralille ist ein Ort der Durchfahrt, denn beim Verweilen würde die Maske, die dem Reisenden zulächelt, zerfallen. In dieser Bildhaftigkeit und in der Vergänglichkeit seiner Architektur findet das Projekt Euralille als Verkehrsknotenpunkt Europas zu seiner letzten Konsequenz. Doch ist es dabei eine Metapher geblieben.

1858 wurde mit der Schleifung der Befestigungsmauer eine dauerhafte Stadterweiterung im Süden von Lille geschaffen. Den neuen Verkehrsbedingungen wurden die Planer mit einem breiten städtischen Boulevard gerecht. Auch wenn sich damals die neuen Bauten durch ihren Massstab und die Quartiere durch ihre Morphologie durchaus vom alten Zentrum unterschieden, so sollten sie doch zur gleichen dauerhaften Stadt gehören. Demgegenüber steht Euralille nicht in der Stadt. Es liegt in der Peripherie und ist auch nach vier Jahren immer noch Peripherie. Es scheint anderen Gesetzen zu gehorchen als die Altstadt und ihre Erweiterung aus dem 19. Jahrhundert. Vielleicht erwartet es das gleiche Schicksal wie einst der alte Bahnhof von Lille, die ehemalige Pariser Gare du Nord, die früh schon einem Neubau weichen musste und hier 1865 Stein für Stein wiedererrichtet wurde. Vielleicht wird Euralille eines Tages ebenfalls Teil für Teil abgebaut und versetzt werden, wenn man feststellen wird, dass das Zentrum Europas irgendwo anders liegt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.04.09

Publikationen

Alle 4 Publikationen ansehen

Presseschau 12

30. Oktober 2021Laurent Stalder
Neue Zürcher Zeitung

Warum die Architektur den Unfall braucht

Ohne kaputte Häuser wäre die Baukunst nicht vorangekommen. Erst mit dem Fehler öffnet sich der Weg zum Fortschritt.

Ohne kaputte Häuser wäre die Baukunst nicht vorangekommen. Erst mit dem Fehler öffnet sich der Weg zum Fortschritt.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

12. Dezember 2015Laurent Stalder
Neue Zürcher Zeitung

Verwaltete Architektur

Die 1970er Jahre werden in der Schweizer Architektur gerne als Beginn einer neuen Entwicklung gesehen. Diese hat in der Gegenwart ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden.

Die 1970er Jahre werden in der Schweizer Architektur gerne als Beginn einer neuen Entwicklung gesehen. Diese hat in der Gegenwart ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden.

Mit einem Bau oder einem Ereignis den Anfang einer architektonischen Entwicklung einzuläuten, ist – bis zu einem gewissen Grade – immer mit einer gewissen Beliebigkeit verbunden. Doch kaum ein anderer Wettbewerb vermag den Stand der Architektur in der Schweiz zu Beginn der 1970er Jahre besser zu veranschaulichen als jener für den neuen Campus der Ecole Polytechnique Fédérale in Lausanne (EPFL). Es war die letzte Konkurrenz, die einen gesamtschweizerischen Überblick vermittelte, hatte doch die Schweizerische Eidgenossenschaft sieben die Grossregionen der Schweiz repräsentierende Büros zur Teilnahme eingeladen. Die von ihnen gewählten Entwurfsansätze – vom rasterförmigen «Richtplan» der siegreich aus der Ausschreibung hervorgegangenen Arbeitsgruppe «Zürich» um Jakob Zweifel über den «Planungsraster» von Paul Waltenspühl (Genf) und die scheinbar unendlich erweiterbare Struktur der Gruppe «Basel» bis hin zur «Matrix» der Gruppe «Solothurn» um Fritz Haller, Alfons Barth und Hans Zaugg – beruhten auf einem gemeinsamen Verständnis der Universität als Produktionsanlage von Wissen, welche sich – vergleichbar mit einer industriellen Produktionsanlage – durch ihre flexible, offene Struktur den wechselnden Bedingungen anzupassen hatte.

Problem der Form

Auch wenn sich im Projekt der Tessiner Gruppe mit Mario Botta, Tita Carloni, Aurelio Galfetti, Flora Ruchat und Luigi Snozzi durchaus vergleichbare Tendenzen zur Grossform verorten lassen, stellt das, was in diesem Projekt trotz seinem Massstab in einer einzigartigen Klarheit zum Ausdruck kommt, einen Paradigmenwechsel dar, der in der Schweizer Architektur nach wie vor wirksam ist. Die Vorstellung der Architektur als einer anpassbaren, veränderbaren, erweiterbaren Umgebung ist hier ersetzt durch ein Verständnis der Architektur als ein Problem der Form. Ausgangspunkt des Entwurfs ist die physische Wirklichkeit, sei es die der Stadt oder des Territoriums. Sie bildet den Beginn jeder Analyse, aber auch den Kontext, an dem jeder neue Eingriff gemessen werden muss.

Der Entwurf der Tessiner Gruppe zeigt zum ersten Mal in einer gesamtschweizerischen Konkurrenz, dass die Thesen zur «Autonomie», wie sie in der Schweiz ab den 1970er Jahren in der theoretischen Debatte aufgestellt worden waren, als überzeugende Alternative auch in der architektonischen und städtebaulichen Wirklichkeit Bestand hatten. Mit der Forderung nach Autonomie war hier zuerst und vor allem der Anspruch auf ein Verständnis der Architektur als Disziplin – mit ihren eigenen formalen Regeln – beschrieben. Damit waren die Grundlagen für eine äusserst differenzierte ästhetische Auseinandersetzung festgelegt, die das architektonische Schaffen der Schweiz bis heute massgebend bestimmt und an der Schnittstelle zur bildenden Kunst und den damit einhergehenden wahrnehmungsästhetischen Diskursen bis heute erfolgreich geführt wird.

Aus dieser Perspektive würden die 1970er Jahre einen Bruch mit einem Neuanfang bedeuten. Doch solche Erklärungen, die architektonische Entwicklungen an Daten oder Bruchstellen festzumachen versuchen, sind immer vereinfachend. Sie scheinen ein modernistisches Verständnis von Geschichte weiterzutragen, welches über Brüche und Neuanfänge argumentiert und gerade in einer Disziplin, die sich durch ihre Langatmigkeit auszeichnet, nicht glaubwürdig ist und in der Regel mehr über die Autoren, die diesen Bruch feststellen und propagieren, als über die Wirklichkeit aussagt. Wenn man jedoch die 1970er Jahre nicht nur auf eine architekturtheoretische Debatte reduziert, sondern politisch mit dem Aufkommen einer Verwaltungs- und Kontrollgesellschaft verknüpft oder ökonomisch mit der umfassenden Kommerzialisierung der Kultur in all ihren Bereichen verbindet, dann erweist sich diese Entwicklung als etwas komplizierter.

Tessin und Solothurn

In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass das Projekt der Solothurner Gruppe für die EPFL gerne und mit guten Gründen als Gegenprojekt zum Tessiner Wettbewerbsbeitrag verstanden worden ist. Drei Aspekte können beim Solothurner Projekt beispielhaft hervorgehoben werden: Zunächst ein Verständnis der Architektur als technisches Ensemble von Bauteilen, Infrastrukturen, Apparaten und anderen Elementen, die miteinander koordiniert werden müssen und deren Leistungsfähigkeit bemessen und kontrolliert werden kann. Dann der Versuch, die Architektur in ihrer zeitlichen Dimension zu planen und entsprechend auch in ihrer zukünftigen Entwicklung rational zu verwalten. Und schliesslich ein Verständnis der Architektur, das sich nicht auf das einzelne Objekt beschränkt, sondern die gesamte Umwelt, die künstliche wie die natürliche, als ein Problem der Gestaltung versteht.

Was diese Entwicklung, zu Ende gedacht, bedeuten konnte, hat Fritz Haller in seiner Studie der «Totalen Stadt» gezeigt, die 1968 in erster und 1975 in zweiter Auflage erschien. Sie kann als optimistische und technokratische Antwort auf die kulturkritische Betrachtung des «Bauens als Umweltzerstörung» verstanden werden. In ihrem umfassenden Anspruch, die Probleme technisch-infrastrukturell zu lösen, ist sie zu Recht in eine moderne Tradition gestellt worden. Doch wenn die Stadt der Moderne die Stadt der Industriegesellschaft ist, ist das, was Haller hier auf der territorialen Ebene beschreibt, die architektonische Antwort auf die Verwaltungsgesellschaft der späten Nachkriegszeit, deren Merkmal in einer zunehmenden Regulierung von Menschen, Ressourcen, Produkten, Handlungsabläufen, aber auch von architektonischen Prozessen und der Kontrolle der damit erbrachten Leistung mündet.

In der Tat ist das, was sich bei Haller in den atemberaubenden Zeichnungen einer fünf Milliarden Einwohner grossen, netzwerkartig organisierten Stadt abspielt, die zu Ende gedachte Formulierung einer umfassenderen Entwicklung in der Gesellschaft, die Architektur und Städtebau in der späten Nachkriegszeit bestimmt und sich weniger in der invasiven Technik des Hallerschen Modells äussert, sondern viel allgemeiner in den Weisungen, Normen und Gesetzen einer Verwaltungsgesellschaft zeigt. Was Hallers Studie für die damalige Zeit so zukunftsweisend und noch heute so bedeutsam macht, ist nicht ihr vermeintlicher utopischer Charakter, sondern ihre schonungslose Darstellung von Prozessen und Entwicklungen, die sich vorerst noch diskret und unter der kulturellen Wahrnehmungsschwelle abspielen, aber zunehmend sichtbar und für die Architektur ab den 1970er Jahren bestimmend werden.

Welt der Normen

Zielten die Normalisierungsbemühungen bis in die frühen 1960er Jahre darauf, das Bauen in einem rationalen, steuerbaren Rahmen zusammenzufassen, und wurden damit vorerst qualitative Argumente ins Feld geführt, zeigt sich ab der Mitte der 1960er Jahre eine zunehmende Institutionalisierung des Normwesens mit der damit verbundenen Tendenz zur Quantifizierung der Architektur nach ihrer messbaren Leistungsfähigkeit. Diese Bemühungen umfassen nicht nur technische Normen, etwa zu Wärme- oder Schallschutz, sondern betreffen so unterschiedliche Bereiche wie das behindertengerechte Wohnen, die Kunst am Bau oder auch raumplanerische Fragen. Doch unabhängig davon, wie relativ diese vermeintlich objektiven, aber wieder neu verhandelten Kriterien formuliert und wie weit davon entfernt sie sind, sich in ihrer eigenen Kontradiktion aufzulösen, erweisen sich die Bemühungen zur Normalisierung der Architektur als eine zunehmend eigenständige Entwicklung, die im Laufe der späten 1980er und in den 1990er Jahren durch die Forderungen einer europaweiten Vereinheitlichung verstärkt werden.

Die Norm jedoch, welche die veränderte Berufsauffassung des Architekten am deutlichsten widerspiegelt, ist ohne Zweifel jene, welche die «Allgemeinen Bedingungen für Bauarbeiten» beschreibt. Sie wird im Laufe der 1970er Jahre vor dem Hintergrund der zunehmend bestimmenden Rolle der Generalunternehmer revidiert, um die neuen Organisationsformen in Planung und Ausführung – Totalunternehmer, Generalunternehmer, Generalplaner und Architekt/Ingenieur – zu unterscheiden. Unabhängig von den unterschiedlichen Positionen, die im Laufe dieser Debatte formuliert wurden, war das, was zur Diskussion stand, die Frage, wer in Planung und Führung die leitende Rolle übernehmen sollte: der Architekt oder der Apparat des Managers, der zunehmend in den Entwurfsprozess eingreifen konnte.

Zur gleichen Zeit, in welcher die Frage der Autonomie in der Architekturtheorie den Diskurs zu bestimmen beginnt, fängt eine parallele Entwicklung an, welche die Autonomie in der Architektur zu untergraben beziehungsweise ihre Grenzen legal und ökonomisch, administrativ und juristisch zu definieren beginnt. Dabei wird die Rolle des Architekten zunehmend – wie Franz Füeg es 1980 bereits festgestellt hatte – zu der eines Spezialisten.

Autonome Disziplin

Damit verbunden ist eine umfassende Transformation des Konzeptes der Autorschaft in der Architektur sanktioniert, vom singulären Autor, der den Entwurf autorisiert und von anderen umsetzen lässt, zur multiplen Autorschaft, in der der Entwurf von verschiedenen Autoren, dem Architekten, dem Ingenieur, dem Produzenten, dem Bauphysiker, dem Unternehmen und anderen, mit signiert und in der die unterschiedlichen Phasen von Entwurf und Umsetzung überlagert sind.

Diese Verschiebung ist oft mit der digitalen Revolution in Verbindung gebracht worden. Doch wie ein Blick in die jüngste Vergangenheit zeigt, ist diese Verschiebung Ausdruck einer viel umfassenderen Entwicklung in Architektur und Gesellschaft, die in sicherheitstechnischen, energetischen, feuerpolizeilichen und anderen Gesetzen und Normen ihre Bürokratisierung, aber auch in der polytechnischen Forschung ihre Akademisierung erfahren hat. Denn diese Entwicklungen sind sozial, bevor sie technisch oder architektonisch sind.

Sosehr die Vorstellung der Architektur als autonome Disziplin für die Architekturdebatte in der Schweiz der letzten 40 Jahre von Bedeutung gewesen ist, so spiegelt sie, zu Ende gedacht, eine weitere Spezialisierung der Disziplin, in deren Folge die Architektur auf ein Formproblem reduziert wird: Zeitschriften und Monografien, Campus-Anlagen wie diejenige von Novartis, Signature-Buildings wie die Flag-Ship-Stores von Prada oder das Guggenheim-Museum in Bilbao zeugen davon.

Es ist wohl kein Zufall, dass die zeitgenössische Schweizer Architektur von Mario Botta über Herzog & de Meuron bis Peter Zumthor dank ihrer verfeinerten Bildhaftigkeit auf diesem medialen Markt, auf dem die Architektur als eine spezifische Form der Wertschöpfung gesehen wird, eine besondere Aufmerksamkeit erfährt. Dabei wird der Anspruch auf Autonomie des architektonischen Objekts gerade wegen seiner Autonomie als – vermarktbares – Artefakt unterwandert und werden die Grenzen zwischen der architektonischen Form und ihrer ökonomischen Wertschöpfung beziehungsweise Leistung (um noch einmal diesen Begriff zu verwenden) verwischt.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2015.12.12

15. Juli 2012Laurent Stalder
Neue Zürcher Zeitung

Raphael Zubers beispielhaftes Schulhaus

International wird die Schweizer Architektur bewundert. Doch hierzulande kritisiert man sie neuerdings als langweilig. Dass gute Architektur jedoch mehr als ein Gaumenkitzel ist und auch eines politischen Rahmens bedarf, zeigt das Schulhaus von Raphael Zuber in Grono.

International wird die Schweizer Architektur bewundert. Doch hierzulande kritisiert man sie neuerdings als langweilig. Dass gute Architektur jedoch mehr als ein Gaumenkitzel ist und auch eines politischen Rahmens bedarf, zeigt das Schulhaus von Raphael Zuber in Grono.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

09. April 1999Laurent Stalder
Neue Zürcher Zeitung

Un cadavre exquis

1858 bewilligte Napoleon III. die Schleifung der Befestigungsanlage von Lille. Auf dem Gelände wurde ein Boulevard mit öffentlichen Bauten angelegt. 1988 ist der östliche Bereich des ehemaligen Befestigungsgürtels für den Bau von Euralille zum Wettbewerb ausgeschrieben worden. 1994 wurde diese zweite Erweiterung abgeschlossen. Heute herrschen geteilte Meinungen darüber, was Rem Koolhaas in Euralille erreichte.

1858 bewilligte Napoleon III. die Schleifung der Befestigungsanlage von Lille. Auf dem Gelände wurde ein Boulevard mit öffentlichen Bauten angelegt. 1988 ist der östliche Bereich des ehemaligen Befestigungsgürtels für den Bau von Euralille zum Wettbewerb ausgeschrieben worden. 1994 wurde diese zweite Erweiterung abgeschlossen. Heute herrschen geteilte Meinungen darüber, was Rem Koolhaas in Euralille erreichte.

Das Gelände östlich der Stadt, durch den alten Bahnhof Lille-Flandres vom Zentrum getrennt, war ein typisches Stück Peripherie. Dort wollte der Bürgermeister von Lille, Pierre Mauroy, ein neues europäisches Handelszentrum errichten. Schliesslich sollte seine Stadt dank dem neuen TGV-Eurostar bald in einer Stunde von Paris und London, einer halben Stunde von Brüssel und anderthalb Stunden von Frankfurt und Rotterdam aus zu erreichen sein. Rund um den neuen TGV-Bahnhof sollten 80 000 Quadratmeter Land mit einem Kongresszentrum, einer Ausstellungshalle, einer Konzerthalle, einem Hotel, Läden, Büroräumen und Wohnungen überbaut werden. Vor vier Jahren wurde die erste Etappe von Euralille fertiggestellt. Das Gelände östlich der Altstadt ist aber immer noch Peripherie.

Der gordische Knoten

Ein gordischer Knoten aus Infrastrukturen sei zu lösen gewesen, schreibt der Planer von Euralille, Rem Koolhaas, zur vorgefundenen Situation im Osten der Stadt. Die geplante TGV-Linie, die vorhandene Umfahrungsstrasse von Lille, die Metro und die Hauptstrasse nach Norden sollten hier zusammentreffen. Um den verstrickten Knäuel zu lösen, wurden die unterschiedlichen Verkehrswege neben- und übereinander angelegt: unter Tag die Metro, quer darüber die Umfahrungsstrasse, die zugleich die Grenze des Gebietes bildet, und daneben die TGV-Linie. Über den Bahnhof, das Dach zerschneidend, führt die Hauptstrasse. Dadurch wird das Gelände in verschiedene Bereiche aufgeteilt, die mit unterschiedlichen Nutzungen besetzt wurden. Mehr als die Hälfte des Bauprogramms – mit dem Bahnhof, dem zwei Hektaren grossen Einkaufszentrum, den Büroräumen und dem Wohnblock – füllt das dreieckige Grundstück zwischen neuem und altem Bahnhof und der Hauptstrasse aus. Ein Erholungsgebiet besetzt die Fläche westlich davon. Im Süden, durch das Geleisefeld des alten Bahnhofs getrennt, liegt das Kongresszentrum.

Der Bebauungsplan ist graphisch, einfach: Linien und Flächen oder Verkehrsadern und Bauland. In der Überbauung dominiert das Körperhafte der stehenden oder liegenden, langen oder breiten Bauten. Einer wechselseitigen räumlichen Beziehung der Gebäude steht die Überlagerung von einzelnen Volumina entgegen. Sie erfüllen auf der zugeteilten Fläche das Raumprogramm und scheinen, auf sich selbst bezogen, von der Umgebung weitgehend unabhängig zu sein. Auch die neuen Verkehrsadern sind eigenständig. Geradlinig gewährleisten sie die schnellste Verbindung. Verkehr und Bebauung bilden gleichwertige Elemente, die immer wieder anderen Gesetzen zu folgen scheinen. Weder vermögen die Strassen die Abmessungen der Bauten festzulegen noch bestimmen diese die Ausrichtung der Verkehrswege. Sie überlagern sich oder überschneiden sich einfach. Vor dem Bahnhof ist ein dreieckiger Platz freigeblieben, der unter der Brücke in einen weiten Park nach Westen ausläuft. Er füllt mit seinem Grün die Freiräume zwischen der Altstadt und der Umfahrungsstrasse auf. Platz und Park sind Flächen geblieben, die sich einzig durch ihren Belag unterscheiden.

Dieses Erscheinungsbild ist uns bekannt. Es ist das Bild der Peripherie, die man in den Vorstädten Europas mit Zug oder Auto durchfährt, das Bild von Verkehrswegen und dazwischen brachliegenden Flächen, auf denen isolierte Bauten stehen, die den ökonomischen Schwankungen folgend wachsen oder verschwinden. Es ist das Bild einer provisorischen Bebauung.

Vertikale und horizontale Hochhäuser

Auf Brückenkonstruktionen über dem TGV- Bahnhof erheben sich zwei Hochhäuser. Sie bilden zugleich den Rücken von Euralille und deuten von weitem durch ihre Anordnung auf das Trassee des Schnellzuges. Der L-förmige Turm von Christian de Portzamparc hebt sich durch seine skulpturale Eleganz hervor. Die geschlossene Form und die Geometrie des Körpers, der sich nach oben ausweitet, betonen das Zeichenhafte des Turmes. (Man wäre geneigt die Form als Markenzeichen für den Crédit Lyonnais oder die Stadt Lille zu lesen.) Das benachbarte World Trade Center hingegen spricht eine sanfte anonyme High-Tech-Sprache. Beide Hochhäuser sind von der Bahnhofsvorfahrt aus leicht erreichbar.

Südlich davon, durch das Geleisefeld des alten Bahnhofes getrennt, von Umfahrungsstrassen umgeben, liegt Congrexpo, den die Lillois beharrlich Grand Palais nennen. Das im Plan eiförmige Gebäude, dessen Form auf das Verkehrsgewirr der Umgebung zu antworten scheint, bezeichnet Rem Koolhaas als horizontales Hochhaus. Statt übereinander werden die einzelnen Funktionen nebeneinander angeordnet. In der Spitze liegt ein Saal für Rockkonzerte, in der Mitte Kongresssäle und in der südlichen Hälfte die grosse Ausstellungshalle. Einzig das grosse Dach und die gemeinsame Parkgarage halten die drei verschiedenen Bereiche zusammen. Im Hauptgeschoss war die Verbindung zwischen dem Rocksaal und dem Kongresszentrum vom Bauträger nicht erwünscht.

Das traditionelle Hochhaus ist ein städtischer Typ. Seine Qualität liegt in der unmittelbaren Erreichbarkeit seiner unterschiedlichen, übereinander gestapelten Funktionen. In einem vertikalen Schacht verbindet der Aufzug die verschiedenen Stockwerke. Die Höhe des Hochhauses entspricht den ökonomischen Bedürfnissen einer maximalen Bodenausnutzung, gleichzeitig aber auch einer leichten Zugänglichkeit für seine verschiedenen Benutzer, die Fussgänger, die Autofahrer oder gar die Benutzer des Helikopters. Diesen Erfordernissen scheinen die beiden Türme über dem Bahnhof gerecht zu werden.

Doch Congrexpo wird nie ein «Hochhaus» sein können, sondern eine riesige Halle in der Peripherie bleiben. Denn dem Gebäude fehlt, ohne die unmittelbare Verbindung der einzelnen Bereiche durch den (horizontalen) Aufzug, das Hauptmerkmal des Hochhauses. Dem Gebäude fehlt der gemeinsame Eingang. Von Brüssel aus kann man zwar in einer halben Stunde in der Tiefgarage sein, doch vom einen Ende der Halle zum anderen braucht man 5 Minuten. Auch ist das Gebäude zu Fuss von Euralille oder vom alten Bahnhof Lille-Flandres her nur über Autobahnbrücken oder durch eine Vorstadtzone mit administrativen Bauten zu erreichen. Mit dem Auto ist der Zugang leichter, denn Congrexpo liegt – wie gesagt – in der Peripherie und wird deshalb am besten über das Parkhaus erschlossen.

Bilder

Der Turm von Christian de Portzamparc wirkt von weitem wie ein Signal. Auch das Einkaufszentrum von Jean Nouvel spielt mit Bildassoziationen. Zur Stadt hin dominieren drei gedrungene Türme den 350 Meter langen Bau aus Stahl und Glas. Zwei weitere sollen zu einem späteren Zeitpunkt dazukommen. Die Gliederung der Fassade ist durch die Farbgestaltung gegeben. Die liegenden und die stehenden Baukörper sind durch rote, gegeneinander versetzte Platten in der Art von Eckquadern seitlich gefasst worden. Die Fassadenfläche der liegenden Baukörper ist zudem mit Holoshine-Film belegt. Dieser verwandelt die Aussenwände in grosse Farbbilder. Auf den Türmen sollen in Zukunft Werbeschriften – «wie in Tokio» – angebracht werden. Diese stadtseitige Fassade ist in ihrer Erscheinung elegant. Die Gebäudekörper sind gut proportioniert, Gliederung und Effekte vielfältig. Doch bleibt sie eine Kulisse. Der hohe Sockel weist kaum Öffnungen auf. Das Körperhafte, die Lichtspiele, die Tiefenwirkung, die unterschiedlichen Eindrücke, die den Reichtum der Architektur auszumachen scheinen, verflachen sich von nahem zu einer glatten Rasterfassade aus Glas und Eisen.

Das grosse Dach, welches das Einkaufszentrum überdeckt, sollte in den Vorstellungen Jean Nouvelles auf seiner Oberseite die Bildhaftigkeit einer Fluglandepiste haben, auf seiner Unterseite hingegen wie die «gesponserten Objekte der Formel 1» Werbungen aufnehmen. Diese Zeichensprache einer Welt der Bewegung hat sich alleine im Innern des Gebäudes niedergeschlagen. Die roten Streifen der Landepiste gliedern nun den Fussboden der Galerien, und die verkleideten Stützen verschwinden in den Regenbogenfarben ihrer Holoshine-Filme. Das Bodenmuster der «Fluglandebahn» ist auf der Deckenunterseite übernommen und durch rote Lampen ergänzt worden. Die Architektur des Einkaufszentrums hat sich auf das Optische, Zeichenhafte reduziert. Die räumlichen Dimensionen und das Haptische des Materials sind dem Visuellen, dem Virtuellen gewichen. Es ist kein Ort zum Verweilen.

Immer noch Peripherie

Das Kongresszentrum sticht im Vergleich zu den übrigen Bauten von Euralille aus Eisen, Glas und Beton durch seinen Materialreichtum hervor. Die drei unterschiedlichen Funktionen des Gebäudes sind auch verschieden behandelt worden. Die Ausstellungshalle kleidet eine elegant gewellte Haut aus transluzentem Polyester und Blech. Das Kongresszentrum zeigt eine Fassade aus Glas und Beton, und der Musiksaal hat ein Bossenmauerwerk aus schwarz bemaltem Beton, der auch für den Sockelbereich der Halle verwendet worden ist. Die Material-, Farb- und Lichtwirkung ist beeindruckend. Unterschiedliche Grade von Transparenz, Flächen- und Tiefenwirkungen – mit billigen und leichten Materialien erzielt – beleben den riesigen Baukörper. Doch gleichzeitig verliert das liegende Hochhaus seine Einheit. Der Bau zerfällt in einzelne unterschiedlich gekleidete Schuppen. Die billigen, aus der Peripherie bekannten alltäglichen Materialien erwecken den Eindruck der Vergänglichkeit. Flickstellen, Erneuerungen, Änderungen würden am Charakter des Baues nichts ändern. Congrexpo könnte schon immer dagewesen sein. Aber wo ist der Grand Palais?

Die Lage von Euralille ist weniger durch die Nachbarschaft zur Altstadt bestimmt als durch die Erreichbarkeit mit TGV und Auto. Es liegt zwar 20 Minuten von der Place Charles de Gaulle in Lille entfernt, aber wichtiger erscheint seine TGV- Distanz zu Paris, London, Brüssel, Frankfurt oder Rotterdam. Dadurch wird Euralille zum virtuellen Zentrum einer Region mit 50 Millionen Einwohnern. Gleichwohl liegt dieses Zentrum von Europa nur an der Peripherie von Lille. Und wie die Peripherie, die man schnell durchfährt, wird hier die Architektur nicht durch das Begehen, durch das räumliche Wahrnehmen erfasst, sondern von aussen her beobachtet. Objekthaft stehen die Bauten wie einzelne isolierte Körper am Rande der Stadt und widersetzen sich einer geschlossenen Erscheinung. Sogar die neue Parkanlage hebt sich als selbständige Fläche von der Bebauung ab. Zeichenhaft unterscheiden sich die Gebäude durch ihre Form, ihre Verkleidung und ihre Werbeschriften. Sie sind einzig für die kurze optische Erfassung entworfen und entsprechend auf die Erscheinung ihrer äusseren Hülle und inneren Verkleidung reduziert. Euralille ist ein Ort der Durchfahrt, denn beim Verweilen würde die Maske, die dem Reisenden zulächelt, zerfallen. In dieser Bildhaftigkeit und in der Vergänglichkeit seiner Architektur findet das Projekt Euralille als Verkehrsknotenpunkt Europas zu seiner letzten Konsequenz. Doch ist es dabei eine Metapher geblieben.

1858 wurde mit der Schleifung der Befestigungsmauer eine dauerhafte Stadterweiterung im Süden von Lille geschaffen. Den neuen Verkehrsbedingungen wurden die Planer mit einem breiten städtischen Boulevard gerecht. Auch wenn sich damals die neuen Bauten durch ihren Massstab und die Quartiere durch ihre Morphologie durchaus vom alten Zentrum unterschieden, so sollten sie doch zur gleichen dauerhaften Stadt gehören. Demgegenüber steht Euralille nicht in der Stadt. Es liegt in der Peripherie und ist auch nach vier Jahren immer noch Peripherie. Es scheint anderen Gesetzen zu gehorchen als die Altstadt und ihre Erweiterung aus dem 19. Jahrhundert. Vielleicht erwartet es das gleiche Schicksal wie einst der alte Bahnhof von Lille, die ehemalige Pariser Gare du Nord, die früh schon einem Neubau weichen musste und hier 1865 Stein für Stein wiedererrichtet wurde. Vielleicht wird Euralille eines Tages ebenfalls Teil für Teil abgebaut und versetzt werden, wenn man feststellen wird, dass das Zentrum Europas irgendwo anders liegt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.04.09

Profil

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1