Übersicht

Texte

11. April 2025Angelus Eisinger
Stefan Wülser
werk, bauen + wohnen

«Nicht hinter jeder Hecke muss die ganze Welt simuliert werden.»

Einfamilienhäuser bilden die Hälfte des Gebäudebestands der Schweiz. Sie sind eine Knacknuss für die Raumplanung und ein Entwurfslabor für Architekturschaffende. Wir reflektieren Wohnform und Typologie und diskutieren deren Weiterentwicklung. Angelus Eisinger und Stefan Wülser im Gespräch mit Lucia Gratz und Christoph Ramisch

Einfamilienhäuser bilden die Hälfte des Gebäudebestands der Schweiz. Sie sind eine Knacknuss für die Raumplanung und ein Entwurfslabor für Architekturschaffende. Wir reflektieren Wohnform und Typologie und diskutieren deren Weiterentwicklung. Angelus Eisinger und Stefan Wülser im Gespräch mit Lucia Gratz und Christoph Ramisch

Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Zeitschriften
werk, bauen + wohnen 2025-4 Einfamilienhäuser

05. Januar 2016Angelus Eisinger
TEC21

Kaleidoskop Basel: ein städtebauliches Porträt

Wie in einem Brennglas bündelt sich am Rheinknie eine Vielfalt von aktuellen Themen und Herausforderungen der Stadtentwicklung: Aufzeichnungen zu einem Miniaturenkabinett der Stadt der Gegenwart.

Wie in einem Brennglas bündelt sich am Rheinknie eine Vielfalt von aktuellen Themen und Herausforderungen der Stadtentwicklung: Aufzeichnungen zu einem Miniaturenkabinett der Stadt der Gegenwart.

Basel spiegelt auf engstem Raum die condition urbaine der Gegenwart wider. Denn der Blick auf den Stadtkanton gleicht einem Kaleidoskop, das mit jeder Drehung neue Perspektiven auf die Existenz- und Produktionsbedingungen der Stadt von heute erlaubt. Im Folgenden wird sieben Mal an diesem Kaleidoskop gedreht. Daraus entstehen sieben Kristallisationen, die sich zu einem bewusst lückenhaften Porträt der Stadt Basel und ihres Umlands fügen.

Gemeinsam lassen sie ein Nebeneinander von Themen, Realitäten und Reaktionen erkennen, die in Basel gleichsam unter dem Brennglas deutlich hervortreten: Die planerische und städtebauliche Agenda der Stadt der Gegenwart ist darin ebenso zu erkennen wie die Modi, mit denen sie verhandelt wird.

1. Drehung am Kaleidoskop: Basel als trinationaler Alltagsraum

Die Fakten kennt jedes Schulkind: Basel liegt an der nordwestlichen Spitze der Schweiz und grenzt an Südbaden und das Elsass. Längst vereinen sich die drei Regionen zu einem Alltagsraum, der durch den täglichen Gebrauch, durch die Berufspendler und über den Freizeit- und Einkaufsverkehr die Teilräume eng miteinander verwoben ist.

Es ist nicht nur ein exemplarischer Fall eines Funktionalraums, der sich durch räumliche Arbeitsteilungen charakterisiert, sondern die trinationale Agglomeration ist auch gekennzeichnet durch scharfe Kontraste: Die hohe wirtschaftliche Dynamik in und um Basel ist nur wenig entfernt von einer der strukturschwächsten Regionen Frankreichs, und Badens Süden liegt fernab von den Entscheidungsräumen der Politik in Stuttgart und Berlin.

Das Grenzüberschreitende hat aber in Basel nicht einfach nur die normative Kraft des Faktischen, die dazu drängt, Infrastrukturvorhaben abzustimmen und in grösseren räumlichen Zusammenhängen zu planen. Die Trinationalität hat kulturelle Tradition.

Die hier erfolgte Ausrufung der ersten europäischen Agglomeration vor mehr als fünfzig Jahren zeugt von einem weitsichtigen politischen Programm. Im biederen Alltag verheddert sich der Vollzug dieser Vision allerdings – wie auch anderswo – bis heute oft genug im Gefüge unterschiedlicher nationaler Planungskulturen, rechtlicher Vorgaben und Zuständigkeiten.

2. Drehung: 3Land – Leuchtturmprojekte auf den Boden der Realität bringen

Die vergangenen gut zwei Jahrzehnte waren in vielen europäischen Städten von Hamburg bis Helsinki, von Lyon bis Kopenhagen geprägt von städtebaulichen Grossvorhaben, die aus der Zeit und Nutzung gefallene Stadtgebiete durch ambitionierte Planungen unter ­Beizug von Stararchitekten zu Motoren der Stadtentwicklung zu machen versuchten. Das Projekt 3Land am Dreiländereck schien, so zumindest sahen es viele Kommentatoren, diesen Geist nach Basel tragen zu wollen.

Die Skyline auf der neuen Rheininsel vor dem heutigen Hafengebiet erinnerte an ähnliche Projekte rheinabwärts. Das von Winy Maas und den beiden oft unkon­ventionell agierenden Basler Planern Philippe Cabane und Martin Josephy formulierte Konzept hat sich aber in der Zwischenzeit weit vom Vorwurf autistischer Star­architektur entfernt.

Basel wagt in dieser Entwicklungsvision heute den Quantensprung, indem es die Insel mittlerweile explizit als Nukleus eines trinationalen Herzstücks begreift, das Basel, Huningue und Weil am Rhein enger miteinander verzahnt. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Konzeption der öffentlichen Räume und der Wegverbindungen.

Sie nutzt das Vorhaben als Hebel, um Aufenthalts- und Bewegungsräume für Menschen aus allen Teilen des Basler Grossraums zu schaffen und damit die unterschiedlichen nationalen Seiten stärker in den Agglomerationsraum zu integrieren.

3. Drehung: Novartis und die Roche-Towers – markante Prioritätensetzungen

Das auf einem Masterplan von Vittorio Magnago Lampugnani beruhende Novartis-Areal und die beiden ­Roche-Türme von Herzog & de Meuron schreiben die Unerbittlichkeit eines längst global gewordenen Standortwettbewerbs um Innovationsfähigkeit und kluge Köpfe mit markanten architektonischen Setzungen in den Basler Stadtraum ein.

Während das Novartis-Areal seine urbanistisch als Stadtquartier idealisierte Campus-Realität über im strengen stadträumlichen Raster eingefasste, gestalterisch ambitionierte Ge­bäude konkretisiert und durch eine Mauer von den Zugriffen und Blicken der umliegenden Stadt abschottet, ist der gerade erst fertig gestellte erste Roche-Tower ein schon aus grosser Distanz unübersehbarer Stadtbaustein, der schon bald durch einen zweiten Turm ergänzt werden dürfte.

Beim Novartis-Areal wie bei den Roche-Türmen übersetzt Architektur Unternehmensstrategien vor dem Hintergrund harter unternehmerischer Fakten in urbanistische Konzepte der Konzentration von Ressourcen und Kompetenzen. Sie manifestieren nicht einfach nur die Präsenz der viel beschworenen Wissensgesellschaft in der Stadt.

Die daraus resultierenden markanten baulichen Verdichtungen machen deutlich, was solche Unternehmensstrategien heutigen Städten abverlangen. Der Autor dieser Zeilen kann sich in diesem Zusammenhang noch gut an eine Podiumsveranstaltung im baz-­Forum vor einigen Jahren erinnern, an der Herzog & de Meuron ihr Vorgehen und die Überlegungen dahinter en détail darlegten.

Die Herleitung der Stapelungen von Terrassen und der Einsatz der Horizonalität der Brüstungsbänder plausibilisierten dem Publikum triftig die innere Logik der Formfindung und der Organisation des Gebäudes. So kam es an der anschliessenden Diskus­sion im Plenum auch keineswegs zu den von einem Ausstehenden wie mir erwarteten Wortgefechten um die Umwertung der bisherigen Hierarchie im Weichbild der Stadt, hatte doch das Grossmünster mit diesem Vorhaben endgültig seine dominante Position in der Stadtsilhouette aufzugeben.

Das Publikum schien um die Prioritäten zu wissen, mit denen diese sich auf den Planwelten ankündigenden Friktionen zwischen aktuellen Herausforderungen an die Stadtentwicklung und der Bewahrung der gewachsenen und lieb gewonnenen Konturen des Stadtbilds zu behandeln sind. Heute mag die nicht mehr zu leugnende Präsenz des Turms im Stadtbild bei nicht wenigen ob der auf Schritt und Tritt sichtbaren Folgen dieser Prioritätensetzung Irritationen ausgelöst haben. An der nüchternen Faktenlage freilich verändert sich nichts.

4. Drehung: das Tram 3 nach Saint-Louis

Dieser Tage erfolgte der Spatenstich für die Tramlinie 3, die Basel bald mit dem Bahnhof Saint-Louis im Elsass verbinden wird. Das Projekt vernetzt nicht nur verkehrs­infrastrukturell zukunftsfähig, was im Alltagsleben seit Jahrzehnten zusammengehört.

Verschiedene Beispiele aus dem In- und Ausland, von der Glattalbahn bis zu neuen Strassenbahnen in Strasbourg, Karlsruhe oder Bordeaux haben deutlich gemacht, dass solche Verkehrsprojekte als Katalysatoren für städtebauliche Aufgabenstellungen genutzt werden müssen, indem entlang der Linienführungen an den Haltepunkten Chancen zu einer städtebaulichen Neuorientierung unter den Vorzeichen von Verdichtung und Nutzungsmischung entstehen.

Die Strassenbahnlinie 3 erlaubt in diesem Zusammenhang gar einen konzeptionellen Quantensprung: Entlang der Linie und um den Endpunkt am Bahnhof von Saint-Louis lassen sich Stadtquartiere aus einem trinationalen Zusammenhang denken. Über solche Bestrebungen erhält der Funktionalraum robustere urbanistische Texturen, indem er Teilräume baulich stärker an den Gesamtzusammenhänge anschliesst.

5. Drehung: z. B. DB-Areal, Gundeldinger Feld – Transformation weiter denken

Die planerischen buzzwords unserer Tage sind wohl Partizipation und zivilgesellschaftliche Initiative. Beide Begriffe gelten als Hauptingredienzen einer Trans­formationspolitik, die die Zukunft von Stadträumen nicht mehr länger nur Experten überlassen möchte, sondern Bestand im weitesten Sinn als ele­mentare Ressource der Stadtentwicklung begreift, die es sorgsam zu aktivieren gilt.

Diese projektorientierte Vorgehensweise hat in Basel eine lange Tradition. Dabei sind besonders der Umbau von unten einer ehemaligen Maschinenfabrik im Gundeldinger Feld in einen neuen Brennpunkt des Quartierlebens zu nennen – oder der Transformationsprozess auf dem ehemaligen DB-Areal, wo über Zwischennutzungen das Gebiet neu auf der mental map verortet wurde und somit die Grundlagen für den Wettbewerb formte.

6. Drehung: Birspark-Landschaft – urbane Zukunft von der Landschaft her denken

Im Birstal verdichten sich Gedanken zu urbanistischen und landschaftsplanerischen Konzepten, die eine scheinbar generische Gebrauchslandschaft zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Stärkung der räumlichen Identität machen. Dass wir es im Birstal mit der Landschaft des Jahres 2012 der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz zu tun haben, unterstreicht, wie wenig romantische Landschaftserwartungen und oder Vorstellungen von Harmonie Orientierungspunkte eines tragfähigen Landschaftsverständnisses sein können.

Dort, wo die Grenzen mehrerer Gemeinden zusammenstossen, haben über die Jahre Autobahnbau, expandierende Siedlungsgebiete und öffentliche Zweckbauten einen bewaldeten Flusslauf zu einem landschaftlichen Torso verkommen lassen, wie man ihn vielerorts findet. Die aktuellen planerischen Aktivitäten im Birstal sind eine überzeugende Illustration dafür, welche Chancen aus empathischen Annäherungen an solche Resträume resultieren können.

Sie wandeln diese Räume zum wichtigsten Einsatz bei der Qualifizierung der umliegenden Siedlungsräume, weil sie die landschaftlichen Qualitäten der Zukunft aus der Verwebung der Resträume mit ihrer Umgebung denken. Damit findet eine elementare Erkenntnis der letzten Jahre zum öffentlichen Raum von den Innenstädten ihren Weg in die verstädterten Landschaften: Erst in der konzeptionell reflektierten Verwebung von Innen und Aussen können solche der Öffentlichkeit zugedachten Räume die ihnen zugewiesenen Aufgaben tatsächlich übernehmen. Landschaft und Siedlung werden so eins.

7. Drehung: die IBA Basel 2020 – Arbeiten an der Software der Stadt

«Au-delà des frontières, ensemble – Gemeinsam über Grenzen wachsen» lautet das Motto der IBA Basel 2020. Basel wird damit nicht nur die erste Internationale Bauausstellung ausserhalb Deutschlands ausrichten, es stellt sich damit explizit der Herausforderung, einen trinationalen Alltags- und Lebensraum zu entwickeln. Die IBA tut dies als Ausnahmezustand auf Zeit.

Sie entwickelt sich ausserhalb der üblichen Logiken und Sachzwänge des planerischen Business as usual und kann deshalb aussergewöhnliche Prozesse anstossen. Mit der IBA Basel erhält der trinationale Raum aber keine Immobilienmaschine, die Grossvorhaben umsetzt und ganze Landschaftszüge neu ausrichtet. Die IBA in Basel fokussiert anstelle der Hardware der Stadt auf neue Formen ihrer Programmierung.

Sie begreift sich als Plattform, die zwischen Verwaltungseinheiten, aber auch zwischen privater und öffentlicher Seite Katalysatoren für neue Formen der Zusammenarbeit ermöglicht. Sie trägt die Option des Experiments und die Option neuer Allianzen in den Lebensraum im Dreiländereck, indem sie das terrain vague der Agglomeration zu ihrem erklärten Arbeitsfeld erhebt.

Die IBA kann so in Basel den gedanklichen Freiraum für Politik und Behörden schaffen, der anderen Stadtlandschaften fehlt. Auf diese Weise lassen sich über IBA-Projekte entlang des Rheins oder des Flusslaufs der Wiese übergeordnete räumliche Zusammenhänge wiederherstellen, die über Jahrzehnte unterbrochen worden waren, oder sie tragen im Projekt «Aktive Bahnhöfe» die Optionen der Verdichtung und Durchmischung in die Verzweigungen des trinationalen öV-Systems.

Basel in sieben Motiven – eine Gesamtschau

Die sieben Drehungen am Kaleidoskop der Stadt Basel haben drängende Arbeitsfelder an der Stadt der Gegenwart zum Vorschein gebracht. Planerisch verbindet sie die Einsicht, dass der anstehende Um- und Weiterbau der sich aus diesen (und anderen, hier nicht thematisierten) Elementen konstituierenden widersprüchlichen Stadtlandschaft nicht mehr in die Ordnungen von Masterplänen und Richtplänen zurückziehen kann.

Von der Tramlinie 3 über die öffentlichen Räume und Verkehrsinfrastrukturen im 3Land zur Weiterentwicklung der fragmentierten Landschaftsräume an der Birs wird deutlich, dass die Antworten immer lokal und spezifisch ausfallen müssen, unter Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren, die das Wort Beteiligung wirklich verdient – verbindlich, kontinuierlich und materialisiert in konkreten Projekten.

Doch bei aller Einsicht in die Notwendigkeit einer projektorientierten Planung: Die Stadt der Gegenwart in Basel wie anderswo verlangt nach mehr als einer Sequenz von virtuos geschaffenen Akupunkturen. Sie verlangt nach einem belastbaren, weit geteilten übergeordneten und Konzept gewordenen Konsens für die Zukunft dieses Agglomerationsraums, der es versteht, die hier genannten und andere «Chantiers» aufzunehmen und ihnen eine übergeordnete Orientierung zu geben.

Dass diese Vorstellung in ausreichender Konkretion in Basel wie anderswo in Europa noch fehlt, belegt noch einmal, wie klar uns die Konturen der gegenwärtigen Stadtbedingungen in Europa entgegentreten, wenn wir uns vertieft auf Basel und sein Umland einlassen.

TEC21, Di., 2016.01.05



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|01-02 Basel – Stadt im Dreiländereck

19. Dezember 2014Angelus Eisinger
Neue Zürcher Zeitung

Sankt Moritz ist überall

In der Hochsaison leben im Grossraum St. Moritz mehr als 100 000 Menschen. Mit dem Boom kamen die baulichen Banalitäten, so dass das Oberengadin mitunter wie eine Agglomeration im Mittelland aussieht.

In der Hochsaison leben im Grossraum St. Moritz mehr als 100 000 Menschen. Mit dem Boom kamen die baulichen Banalitäten, so dass das Oberengadin mitunter wie eine Agglomeration im Mittelland aussieht.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

London plant wieder

Im Londoner Osten findet zwei Jahrzehnte nach dem Umbau der Docklands zum Finanzzentrum erneut ein Umbruch statt. Bis 2012, wenn hier die Olympischen Spiele stattfinden, soll das East End, die «schmutzige Seite der Stadt», ein «attraktiver Standort» werden. Die Renaissance der Planung unter Mayor Ken Living-stone und die im «London Plan» publizierten Szenarien der Stadtregierung vermitteln das Bild einer Metropole, die nach dem Laisser-faire der Thatcher-Ära wieder Verantwortung für das Gemeinwohl übernimmt. Doch ist unsicher, ob das gelingt; die Spielräume der Planung sind klein, die Interessen vielschichtig.

Im Londoner Osten findet zwei Jahrzehnte nach dem Umbau der Docklands zum Finanzzentrum erneut ein Umbruch statt. Bis 2012, wenn hier die Olympischen Spiele stattfinden, soll das East End, die «schmutzige Seite der Stadt», ein «attraktiver Standort» werden. Die Renaissance der Planung unter Mayor Ken Living-stone und die im «London Plan» publizierten Szenarien der Stadtregierung vermitteln das Bild einer Metropole, die nach dem Laisser-faire der Thatcher-Ära wieder Verantwortung für das Gemeinwohl übernimmt. Doch ist unsicher, ob das gelingt; die Spielräume der Planung sind klein, die Interessen vielschichtig.

Aldgate, ein Verkehrskreisel, dessen bauliche Umgebung allen Aufwertungsmassnahmen zu trotzen scheint, markiert den östlichen Zugang zum Nervenzentrum der Global City. Bis 1761 stand hier ein Stadttor, und auch heute wird der Eintritt zur «Square Mile» streng kontrolliert: Strassenmarkierungen und Videoüberwachung sorgen dafür, dass alle, die mit ihrem Auto passieren, die Congestion Charge entrichten, jene Gebühr für den motorisierten Individualverkehr, die Londons Innenstadt ein wenig vom Stauchaos befreit hat. Hier verläuft auch der Ring of Steel, den die Sicherheitsbehörden nach dem IRA-Bombenterror der 1980er- und frühen 1990er-Jahre rund um den Finanzdistrikt errichtet haben, mit Kameras, Wachhäuschen und Fahrbahnverengungen an den Einfahrten. Unter dem Asphalt liegt ein Gleisdreieck des U-Bahn-Netzes, hier zweigt die District Line vom Stammnetz der Circle Line ins East End ab. Am 7. Juli 2005 war es einer der Schauplätze der Anschläge islamistischer Attentäter auf Londons öffentlichen Nahverkehr (Bild 11).

Aldgate ist das Scharnier zwischen Innenstadt und East End. Hier treffen die unterschiedlichen Interessen und Lebenswelten der 7.3 Mio. Londoner aufeinander. Auf der einen Seite steht das boomende Geschäftsviertel mit seiner global orientierten, hochqualifizierten Klasse von Managern und seinen Armeen von Angestellten. Auf der anderen beginnen die deindustrialisierten Aussenquartiere mit einer Bewohnerschaft, die häufig über eine geringe Berufsqualifikation verfügt und schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs nachgeht.
Bereits Brick Lane, eine Strasse, die unweit von Aldgate in Nord-Süd-Richtung durch das East End verläuft, liegt im Schatten der City. Sie stellt einen «liminal space» dar, wie die Stadtforscherin Sharon Zukin diese Schnittpunkte der unterschiedlichen Logiken, Dynamiken und Realitäten einer postindustriellen Stadt nennt.[1] Seit Jahrhunderten wird hier der Textilhandel abgewickelt, doch seine Bedeutung hat stark abgenommen. Zuerst wurde der Markt von Hugenotten, später von Juden kontrolliert. Seit den 1960er-Jahren haben ihn muslimische Einwanderer aus Bangladesch übernommen, von denen heute rund 40000 im East End leben. Die Synagoge wurde schon 1976 zur Moschee umgenutzt, nur eine Bagel-Bäckerei erinnert noch an die ehemals jüdische Einwohnerschaft der heutigen «Banglatown».

Einen kritischen Blick auf die gelebte Multikulturalität in «Banglatown» lieferte 2003 der Roman «Brick Lane» von Monica Ali. Ihre Darstellung eines Frauenschicksals kam zwar beim britischen Publikum gut an. Einige Wortführer der muslimischen Gemeinde betrachteten den Roman aber als verunglimpfende Darstellung ihrer Lebensweise und blockieren derzeit seine Verfilmung vor Ort.
Noch immer ist das East End für viele Londoner eine Terra incognita. Doch in den letzten Jahren hat sich die Gegend um Brick Lane immer mehr zu einem Schwerpunkt des Nachtlebens und zur Touristenattraktion entwickelt. Zahlreiche Clubs und um Kundschaft kämpfende Curry-Restaurants bieten einen ersten Zugang zum Londoner Osten. Der Gentrifizierungsprozess gewann an Fahrt, als der Spitalfield’s Market, eine alte Obst- und Gemüsemarkthalle, von Trödelhändlern übernommen und die ehemalige Truman-Brauerei zum Kulturzentrum mit Szenecafés und Boutiquen umgenutzt wurde. Inzwischen stösst man unweit der Brick Lane auf die Dependance der Zürcher Galerie Hauser & Wirth, die wie andere Galerien die Gegend als Adresse für zeitgenössische Kunst erschliesst. Das Gelände des Güterbahnhofs Bishopsgate ist leergeräumt, hier soll eine grosse Büroüberbauung nach Plänen von Kees Christiaanse entstehen.

Der rote Ken – Kaiser ohne Land?

Der Ausbau der East London Line dürfte das East End über «Banglatown» hinaus zum attraktiven Stadtviertel machen. Ihre bisherige Endstation Shoreditch wird seit Juni wegen der Baumassnahmen nicht mehr angefahren. Hinter Brick Lane versteckt, kündet der Zustand dieses Bahnhofs von der jahrzehntelangen Unterfinanzierung von London Underground und erinnert daran, dass die traditionellen Arbeiterbezirke einst nur zögerlich in den Einzugsbereich des U-Bahn-Netzes integriert worden waren. Um die East London Line ins ebenfalls ärmliche Hackney zu verlängern, sollen nun stillgelegte Bahnstrecken reaktiviert und zusammengeschlossen werden. Eine langfristige Planung beabsichtigt, die East London Line mit weiteren Bahnstrecken im Norden, Süden und Westen zu verknüpfen und in einem neuen innerstädtischen S-Bahn-Ring (Orbirail) aufgehen zu lassen
(vgl.Kasten Bahnverkehr in London, S.13).

In den überlasteten Zügen von Londons U-Bahn-Netz ist einer allgegenwärtig: Ken Livingstone, Mayor of London. Sein Konterfei und sein fast schon zur Marke gewordener Name erwecken nach den Jahren, in denen die Alltagsbelange von den 33 Stadtbezirksverwaltungen geregelt wurden, die wichtigen Entscheidungen über Londons Zukunft aber die britische Regierung traf, den Eindruck: «London regiert sich wieder selbst». 1986 hatte Premierministerin Margaret Thatcher den Greater London Council (GLC), den damals vom linken Labour-Flügel dominierten Londoner Magistrat, kurzerhand abgeschafft, weil er sich ihren Angriffen auf den Sozialstaat widersetzte. Der Name des GLC-Vorstehers lautete – Ken Livingstone.

An die politische Spitze der Stadt zurückgekehrt, besitzt der «rote Ken», eingezwängt zwischen dem Zentralismus von Westminster und den Ansprüchen von Stadtbezirken mit bis zu 340000 Einwohnern, bisher nur eingeschränkte Macht. De facto unterstehen dem Mayor Polizei, Feuerwehr, Teile des Strassennetzes sowie der Grossteil des öffentlichen Verkehrssystems. Im Londoner Alltag sind es jedoch weiterhin die 33 Boroughs, in denen sich die Stadt für ihre Einwohner verkörpert. Sie haben ihre eigenen Parlamente, die Councils, sind für Volksschulen, Biblio­theken und die medizinische Grundversorgung zuständig und verwalten den sozialen Wohnungsbau. Auch die Council Tax, die von Thatcher eingeführte, je nach Stadtteil unterschiedlich hohe Kopfsteuer, wird von den Boroughs erhoben. Alex Bax, Senior Policy Advisor von Ken Livingstone, behauptet, dass der Londoner Bürgermeister nur 10% der Kompetenzen seiner Kollegen in anderen europäischen Grossstädten besitze. Die seit 1997 in Grossbritannien regierende Labour-Partei hat sich trotz ihres Bekenntnisses zur Dezentralisierung lange gescheut, Befugnisse von der nationalen auf die regionale oder die städtische Ebene zu übertragen. Im Zuge einer Überprüfung ihrer regionalpolitischen Ziele beabsichtigt sie jetzt, Londons Rathaus mit mehr Entscheidungsgewalt auszustatten. Die wichtigste Änderung: In Zukunft kann der Bürgermeister über das bislang national verwaltete, 850 Mio. Pfund schwere Budget für die Wohnbauförderung in London verfügen. Für die Verbesserung der beruflichen Ausbildung und Qualifikation der Arbeitskräfte soll demnächst ein von Livingstone geführtes Skills and Employment Board zuständig sein.

Die Vertreter der Boroughs kritisieren, dass die Neuausrichtung der kommunalen Zuständigkeiten die Autonomie der Bezirke beschneide. Denn bisher liegt auch das Recht zur Ausschreibung und Genehmigung von Bauprojekten in ihrer Hand. Der Bürgermeister kann auf planerische Entscheidungen der Bezirke nur über Leitbilder, Empfehlungen und Richtpläne einwirken. Als stärkste Handhabe bleibt ihm die Möglichkeit, Vorhaben zu stoppen, die der gesamtstädtischen Planungsstrategie zuwiderlaufen. Künftig soll der Mayor aber Entwicklungsprojekte, die von stadtweiter Bedeutung sind, selbst in die Wege leiten können – auch über Einsprüche der Bezirke hinweg. Livingstone hat jedoch verlauten lassen, dass er diese Befugnis nur sparsam und vor allem zum dringend nötigen Bau von erschwinglichem Wohnraum in Anspruch nehmen will.

Der «London Plan»

Die hinzugewonnene Entscheidungsgewalt ist die Anerkennung Westminsters für Livingstones starke Regierungsleistung während der letzten sechs Jahre. So betreibt Londons Stadtoberhaupt mit beschränkten Mitteln eine äusserst ambitionierte Stadtplanung, die er 2004 im «London Plan» bündelte. Dieser soll die künftige Entwicklung Londons in eine sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltige Richtung lenken. Drei Jahre dauerte die Arbeit an dem Planwerk, das sich 2006 in der Vernehmlassung befindet. Den eigentlichen Anstoss dazu gab das Gesetz zur Schaffung der Greater London Authority (GLA). Es verpflichtete die Stadtregierung, eine Strategie zur räumlichen Entwicklung Londons für die nächsten 15bis20 Jahre zu entwerfen, die das Stückwerk aus bisher existierenden Plänen ersetzen soll.

Die GLA geht bei ihrer Planung von der Annahme aus, der in der Globalisierung begründete Zentralisierungsdruck werde über die nächsten Dekaden anhalten. Sie rechnet von 2003 bis 2016 mit einer Zunahme der Londoner Bevölkerung um 810000 Einwohner. Um dieses Wachstum aufzufangen, müssten pro Jahr rund 30000 neue Wohnungen errichtet werden. Die Planer kalkulieren auch mit 636000 neuen Jobs vor allem im Finanz- und Firmendienstleistungssektor in der City und in den Docklands sowie in der Freizeit-, Tourismus- und Kulturindustrie.

Livingstone problematisiert die Wachstumsprognosen nicht. Im Gegenteil: Jeder Versuch, das Wachstum zu bremsen und London die zum Erhalt seiner Wettbewerbsfähigkeit notwendigen Ressourcen zu verweigern, würde, so sein Vorwort zum 2002 erschienenen ersten Entwurf des London Plan, «die ökonomische Effizienz der Stadt schwächen, die Lebensqualität der Londoner mindern und Londons Umwelt zerstören».2 Denn aus Livingstones Sicht bietet der Zentralisierungsdruck die Chance, den ökologisch bedenklichen Suburbanisierungstendenzen der vergangenen Jahrzehnte zu begegnen. Keinesfalls sollen die neuen Wohnungen und Arbeitsplätze den Green Belt, den nach 1945 um London gelegten Grüngürtel, tangieren. Vielmehr soll innerhalb des Green Belt zwischen schon vorhandenen Bebauungen oder auf stillgelegten Industriearealen verdichtet werden, und zwar mit Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr.

Der London Plan weist die grössten dieser spezifischen Lagen als «Opportunity Areas» aus. Sie sollten mindes-tens 5000 Jobs, 2500 Wohnungen oder eine Mischung aus beidem beherbergen und mit Einkaufs-, Freizeit- und Bildungseinrichtungen ausgestattet sein. Daneben werden Gebiete, die unter einem hohen Mass an sozialer Ausgrenzung und ökonomischem Niedergang leiden, zu «Areas of Regeneration» erklärt. Planung soll hier mit gesundheits-, sicherheits-, bildungs-, arbeits- und wohnungspolitischen Programmen verzahnt werden, um die durch den Wohnort bedingten Benachteiligungen der Bevölkerung dieser Quartiere innerhalb der nächsten zehn bis zwanzig Jahre zu beseitigen.[3]

Diese strategischen Vorgaben mit ihren stadtweiten Effekten erfordern die koordinierte Anstrengung der 33 Boroughs. Deren Entwicklungspläne müssen den neuen gesetzlichen Grundlagen der GLA zufolge eine «generelle Konformität zum Gesamtplan» aufweisen. Um die Zusammenarbeit zu forcieren, teilt der London Plan die Stadt in die fünf Subregionen West-, North-, Central-, South- und East-London ein, für die es konkretere Planungsrahmen zu erarbeiten gilt.

Den Osten regenerieren

Ein solcher Planungsrahmen liegt für den Londoner Osten seit Mai 2005 vor. Die Stadtregierung weist der Entwicklung dieser Subregion oberste Priorität zu, denn ihr haftet nach wie vor der Ruf an, die «schmutzige Seite» der Stadt zu sein, obwohl der Hafen, die Werften und der überwiegende Teil der Fabrikation, die den Osten über Jahrhunderte zum wirtschaftlichen Motor Londons gemacht hatten, spätestens Ende der 1970er-Jahre stillgelegt wurden (Bild 12). Nach 1980 entstanden in den Docklands, dem von der Thatcher-Regierung angeschobenen Stadtentwicklungsprojekt, zwar 17000 neue Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Doch der Bezirk Tower Hamlets, in dem die Docklands liegen, gehört wie Hackney und Newham weiterhin zu den zehn ärmsten Verwaltungseinheiten Englands. Die drei Boroughs weisen mit bis zu 16% die höchsten Arbeitslosenzahlen des Landes auf. Nirgendwo sonst in London leben so viele Menschen in derart vernachlässigten Sozialbausiedlungen – eine Folge des ebenfalls unter Thatcher vollzogenen Rückzugs des Staates aus der Verantwortung für ihren Unterhalt (vgl. Kasten Das gentrifizierte Hochhaus»», S.16). Deshalb identifiziert der London Plan weite Teile der drei Bezirke als «Areas of Regeneration».
In deren unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich aber auch die meisten der «Opportunity Areas», die der London Plan für den Osten markiert, wie etwa das Gelände der Olympischen Spiele 2012. Nicht zuletzt die erklärte Absicht der Stadtregierung, die Ausrichtung der Spiele als aktives Instrument zur Aufwertung des vernachlässigten East End einzusetzen, überzeugte das IOC von Londons Bewerbung, weshalb die Stadt überraschend den Zuschlag vor der Favoritin Paris bekam. Wenige Kilometer östlich von Brick Lane entstehen nun innerhalb von sechs Jahren im ehemals stark industrialisierten Lower Lea Valley ein neues Olympiastadion und Wettkampfarenen für Schwimmen, Hockey, Basketball, Handball und Radsport (vgl. Kasten Die Olympischen Spiele 2012, S.17).

Die Kandidatur Londons war auch deshalb erfolgreich, weil die Sportstättenplanung sich auf schon fast fertig gestellte Verbesserungen des öffentlichen Transportsystems gründen kann. So wird 2007 mitten auf dem zukünftigen Olympiagelände der Bahnhof Stratford International eröffnet, eine Haltestelle auf dem Channel Tunnel Link für die Züge vom Kontinent, der dann weiter bis in den erneuerten Bahnhof St.Pancras am nördlichen Innenstadtrand führt. Von St.Pancras soll 2012 die unterirdische Shuttle-Verbindung Zehntausende Olympiabesucher in nur sieben Minuten ins Lower Lea Valley befördern.

Südöstlich von Stratford International und des Olympiageländes entsteht ein komplett neues Büro- und Geschäftsviertel, das nach der City und den Docklands als dritter Londoner Standort für global agierende Finanz- und Firmendienstleistungen vorgesehen ist. Hier sollen 30000 der rund 213000 Jobs angesiedelt werden, für die in den «Opportunity Areas» des Ostens laut London Plan Kapazität besteht.[4]

Planung als Symbolpolitik

Die Greater London Authority versucht mit Hilfe des London Plan der zunehmenden sozialräumlichen Polarisierung der Stadt entgegenzutreten, die nach 1980 im Gefolge von Deregulierung und dem Aufstieg Londons zur prosperierenden Global City einsetzte. Der Banken- und Firmendienstleistungssektor der Stadt erwirtschaftet heute rund ein Fünftel des britischen Bruttosozialprodukts. Doch dem Londoner Stadtforscher und Planer Michael Edwards zufolge wirkte das metropolitane Wachstum der vergangenen zwei Jahrzehnte ebenso als Armuts- wie als Wohlstandsmaschine. Statistiken legen die Schattenseiten der Entwicklung rasch frei: So leben über 40% der Kinder Londons in Armut, um nur ein Beispiel zu nennen.[5]
Livingstone will von nun an ökonomisches Wachstum nachhaltig gestalten und alle Bewohner daran teilhaben lassen. Diese Zielsetzung lässt sich heute nicht mehr mit flächendeckenden und starren Konzepten und noch viel weniger mit in Architektur und Städtebau verfestigten Bildern einer Stadt oder Region verfolgen. Planung als Antwort auf die Effekte der Globalisierung und vergangener Privatisierungspolitiken erfordert vor allem Moderation, Vertrauensbildung und Kommunikation – erst recht in London, wo nationalstaatliche Ministerien und Behören, die Verwaltungen der 33 Boroughs, Nichtregierungsorganisationen und Nachbarschaftsinitiativen und natürlich auch die Privatwirtschaft im Planungsprozess mitreden. Livingstone versucht mit seiner für die kommunale Politik ungewöhnlich gut geölten PR-Maschinerie und Schlagwörtern wie «accessible city», «inclusive city» oder «examplary sustainable world city» die Hoheit über den Planungsdiskurs zu erlangen. Dabei wendet er auch geschickt die Taktik der Personalisierung und Symbolisierung an. So realisierte Norman Forster 2002 Livingstones Amtssitz an der Themse gegenüber dem Tower of London als futuristisch transparentes Objekt, das zugleich Zukunftsorientierung und Verschlankung der Bürokratie demonstrieren soll. Ein weiterer Etablierter der britischen Architekturszene, Sir Richard Rogers, ist Chef der Architecture and Urbanism Unit des Rathauses. Diese übernimmt die Funktion einer Ratgeberin für «good urban design» und hat jüngst eine Richtschnur für Behörden zur Durchführung von – bisher praktisch unbekannten – Architektur- und Städtebauwettbewerben formuliert.

Livingstones Planwerk: offene Fragen

Es entbehrt nicht der Ironie, dass die Kritik an Livingstones Entwicklungsstrategie sich ausgerechnet daran entzündet, dass diese das Prunkstück der Londoner Planungsgeschichte, den Green Belt, für sakrosankt erklärt. Generationen europäischer Planer haben ihre britischen Kollegen um das Amalgam von Siedlungstrenngürtel, Erholungsraum und Agrarfläche beneidet. Heute sind es gerade die älteren britischen Planer wie Sir Peter Hall, Michael Edwards oder Drummond Robson, die den Green Belt als mittlerweile sinnentleertes Relikt einer längst vergangenen Ära taxieren. Für sie steht seine Unantastbarkeit besseren Lösungen im Weg. Diese Sichtweise wird leicht nachvollziehbar, betrachtet man die Entwicklung der durchschnittlichen Reisezeit zum Arbeitsplatz in der Metropolregion. Zwischen 1991 und 2001 haben die Pendeldistanzen – durchaus im Einklang mit dem europaweiten Trend – erheblich zugenommen, und zwar gerade in den Distrikten, die am weitesten von der Londoner City entfernt sind. Mit anderen Worten: Der Green Belt hat die Sogwirkung des Zentrums nicht unterbinden können. Vielmehr hat er, weil er viel potenzielles Siedlungsgebiet besetzt, zu einer beträchtlichen Verteuerung der Immobilien geführt.
Mit der Erhaltung des Green Belt vergibt der heutige London Plan nach Ansicht seiner Kritiker die Chance, die monozentristische Tendenz des jüngsten Entwicklungsschubs aufzubrechen. Alternative Wege zu beschreiten hiesse aber, den Fokus auf die Stadt aufzugeben und ein grossräumiges Vorgehen anzustreben, wie dies 1944 der Greater London Plan tat (vgl. Kasten S.16). Vorschläge dieser Art liegen vor, so das Orbinet-Konzept, das mehrere Verkehrsknoten in den äusseren Stadtteilen effizient miteinander zu verbinden sucht. Damit liesse sich nicht nur das Zentrum entlasten, sondern die Planer könnten sich direkt der Aufgabe stellen, an welcher sich nach Ansicht vieler Experten die Zukunft Londons entscheiden wird: der Entwicklung der Suburbs, in denen heute der grösste Teil der Londoner Bevölkerung zuhause ist.[6]
Livingstones London Plan, meinen seine Kritiker, weiche dieser Herausforderung aus. Stattdessen entfache er eine unerquickliche Debatte über die Verdichtung der City mit weiteren, diesmal jedoch ökologisch korrekten Hochhaus-Ikonen. Livingstones Politik vertraue auf eine Fortsetzung des ökonomischen Booms und treffe keine Vorkehrungen für den Fall, dass die Wachstumsmotoren der Londoner Entwicklung ins Stottern kommen sollten.

Kooperationen innerhalb begrenzter Spielräume

Livingstone untersteht ein Gebiet, dessen Einwohnerzahl jene der Schweiz übertrifft. Doch anders als die Eidgenossenschaft hat London innerhalb eines knappen halben Jahrhunderts vier unterschiedliche Regierungsformen erfahren (vgl. Chonik S.12). Politische und wirtschaftliche Umbrüche haben aus London einen fragmentierten Raum gemacht, in dem sich die Machtsphären lokaler, regionaler und nationaler Institutionen überschneiden, blockieren und teilweise wieder auflösen. In diesem Gebilde fehlt es dem Mayor an Macht, um direkt auf die Triebkräfte der Stadtentwicklung einzuwirken, wie dies seinen Vorgängern nach 1945 z.B. über Investitionslenkungen und grossflächigen so-zialen Wohnungsbau möglich war. In den sechs Jahren seiner Amtszeit hat Livingstone jedoch demonstrieren können, dass die wichtigsten Mittel der Planung längst nicht mehr das Reissbrett und die grossen Entwürfe sind, sondern mediale Präsenz und ein moderierender Regierungsstil, der die unterschiedlichsten Akteure in Entscheidungsprozesse einbindet. So lassen sich trotz des beschränkten Handlungsspielraums Dinge in Bewegung setzen. Beispielsweise schafft der London Plan eine stadträumliche Wahrnehmung über die Grenzen der Boroughs hinweg und befördert so die Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit und neue Formen der Kooperation. Oder er legt Orientierungslinien für Standards im Wohnungsbau fest und präsentiert in den von Richard Rogers orchestrierten Arbeiten Typologien höherer Dichte.

Der London Plan ist voll von Absichtserklärungen zu allen zentralen Belangen der Londoner Stadtwirklichkeit. Doch die Umsetzung, insbesondere von Livingstones sozialpolitischen Zielen, hängt wesentlich davon ab, inwieweit es der Greater London Authority gelingt, stabile Kompromisse zu etablieren zwischen den stark divergierenden Interessen der Privatwirtschaft und einer breiten, auf staatliche Unterstützung angewiesenen Bevölkerung. Ein letzter Blick auf das East End macht den Balanceakt deutlich, den die GLA vollführen will. Ohne eigene Ressourcen ist die Stadt auf Developer angewiesen, um den Raum östlich von Aldgate baulich weiterzuentwickeln. Doch mit ihren auf grösstmögliche Rendite ausgerichteten Inszenierungen einer exklusiven Urbanität waren Developer in der Vergangenheit treibende Kräfte bei der Verdrängung ärmerer Bevölkerungsgruppen. Die Frage stellt sich, ob der Bau des Olympiageländes im Lower Lea Valley oder des neuen Geschäftsviertels in Stratford dieses Muster durchbrechen kann. Es bleibt abzuwarten, ob es dem Bürgermeister mit der erweiterten Planungsbefugnis und seiner neu gewonnenen Zuständigkeit über die Wohnungsbauförderung gelingt, der sozialräumlichen Polarisierung Einhalt zu gebieten. Mit der Verkehrspolitik hält Livingstone jedoch einen Trumpf in der Hand, den er jetzt schon im Sinne der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit der Stadtentwicklung einzusetzen versucht. Die Eindämmung der allgegenwärtigen Staus mit Hilfe der Congestion Charge, der Ausbau des öffentlichen Verkehrs und erste Tarifermässigungen haben der Stadt schon jetzt eine neue Prägung verliehen. Die Massnahmen zielen nicht zuletzt darauf ab, den Lebens- und Arbeitsalltag der Londoner mit geringerem Einkommen zu erleichtern. Ihr Erfolg und ihre Popularität könnten für jenen Rückhalt in der Bevölkerung sorgen, den die Stadtregierung braucht, um die ambitionierten Ziele des London Plan zu erreichen. Angesichts der vielschichtigen Machtfelder und Interessenlagen, die in der Global City aufeinanderstossen, ist Planung hier ein Moderieren instabiler Koalitionen in einem unberechenbaren Kräftespiel.


Zusatz 1:
Vier Regierungsformen Londons

1888 –1964 London County Council (LCC): erste Londoner Zentralbehörde
1965 –1985 Greater London Council (GLC): Reorganisation Grossraum London zu 33 Bezirken (bis heute gültige Einteilung)
1986 –1999 London Planning Authority Committee: Rumpfbehörde nach Abschaffung von GLC (Aufteilung der Kompetenzen zwischen Nationalregierung und 33 Stadtbezirken)
seit 2000 Greater London Authority (GLA) unter Mayor Ken Livingstone (erste Direktwahl eines Bürgermeisters in Londons Geschichte)


Chronik

1944 Veröffentlichung des Greater London Plan im Hinblick auf den Wiederaufbau, Verfasser Patrick Abercrombie im Auftrag der Churchill-Regierung, Entscheid zur Gründung von 10 New Towns in der Agglomeration
1947 Town and Country Planning Act der Atlee-Regierung: Stärkung der Planungshoheit von LCC, Eindämmung von Sonderprivilegien der City, Unterbindung von Grundstückspekulation
1951 Festival of Britain im Jubiläumsjahr der Weltausstellung von 1851: Ankurbelung von Regeneration am deindustrialisierten Südufer der Themse (Southbank-Kulturzentrum) und von Wohnungsbau im East End (Wohnbauausstellung Lansbury Estate)
1956 – 1968 nationale Wohnungsbaupolitik: Subventionierung von Wohnhochhäusern («tower flats», umfangreiche Flächen-sanierung und Wohnungsbauproduktion im East End
ab 1969 Umwandlung stillgelegter Hafenanlagen im East End, Landverkauf finanziert neuen Containerhafen an der Themsemündung
1970 Baubeginn Thamesmead: letzte GLC-Grosssiedlung mit 60  000 Einwohnern
1973 erste Docklands-Planungen unter GLC
1976 Annahme Greater London Development Plan (Vorgänger des aktuellen London Plan)
1981 Rückzug von GLC aus sozialem Wohnungsbau, schrittweise Übertragung des Bestands an Bezirke, Right to Buy (Privatisierung von 177  000 Einheiten in 10 Jahren)
1981 Gründung London Docklands Development Corpora-tion durch Thatcher-Regierung: marktwirtschaftlich orientierte Regeneration von East-End-Hafenbrachen, GLC und Bezirk Tower Hamlets verlieren Planungshoheit
1985 Local Government Act der Thatcher-Regierung: Beschluss zur Abschaffung von GLC
1987 Eröffnung London City Airport und Docklands Light Railway (privat erstellte Hochbahn zur Verbindung des Regenera-tionsgebiets mit der City)
1988 Baubeginn Docklands-Finanzzentrum Canary Wharf, Hauptmieter Credit Suisse First Boston
1994 Schaffung des Amts «Minister for London» im nationalen Umweltministerium
1999 Greater London Authority Act der Blair-Regierung: Beschluss zur Schaffung einer Londoner Zentralbehörde mit Bürgermeister
2000 Wahl von Ken Livingstone zum Mayor of London
2001 Schaffung von Transport for London: Zuständigkeit für
U-Bahn, Busse, Strassen, ab 2006 S-Bahn auf Stadtgebiet
2003 Einführung der Congestion Charge (Strassenmaut im Stadtzentrum, 2007 Verdoppelung nach Westen)
2004 Veröffentlichung London Plan, Wiederwahl von Ken Livingstone
2005 (6. / 7.  Juli) IOC-Entscheid für London als Austragungsort der Olymischen Spiele 2012
2005 Attentate islamistischer Terroristen auf öffentlichen Verkehr in London mit 52 Todesopfern
2007 unterirdische Schnellverbindung zum Kanaltunnel, neuer Eurostar-Terminal in London St.  Pancras, Stratford International als Zwischenstation im East End (Fahrzeit nach Brüssel: 1. 45 h)



Zusatz 2:
Bahnverkehr in London

London war nie eine Metropole aus einem Guss, sondern in den Worten des Schriftstellers Henry James «a tremendous chapter of accidents». Stadträumliche Orientierung hängt hier weniger von städtebaulichen Hierarchien als von individuellen Interessen ab. Im Unterschied zu Paris, Wien oder Berlin verfügt London über keine «eindeutige» Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie. Nach einem übergeordneten Strukturprinzip wurde jedoch in der Moderne gesucht: Im Hinblick auf den Wiederaufbau nach Kriegsende erfand der Greater London Plan von 1944 eher willkürlich eine konzentrische Struktur für den Londoner Grossraum. Immerhin erhielt der zweitäusserste von vier Ringen eine Bestätigung, als dort die Ringautobahn M25 gebaut wurde. Dass London heute als Stadt mit Kern und Rand wahrgenommen wird, hängt vor allem mit dem in den 1970er-Jahren eingeführten Tarifsystem des öffentlichen Verkehrs zusammen. So berechnet London Underground die Fahrpreise nicht nach zurückgelegter Distanz, sondern nach starren Tarifzonen. Diese legen sich als Ringe um das Herz von Greater London. Angesichts der horrenden Tarife kann sich ein Leben innerhalb oder ausserhalb von «Zone 1» auf das persönliche Budget ähnlich auswirken wie der Steuerfuss einer Schweizer Gemeinde.
Eher von infrastrukturellen als von stadtmorphologischen Ordnungen diktiert, erscheint die Modellierung des Grossraums London manchmal beinah japanisch. Ihre «Abstraktheit» ist Ausdruck schierer Grösse und Komplexität, aber auch die Folge einer britischen Tradition: Stets stand die Hauptstadt Machtdemonstrationen einzelner Akteure in Gestalt von städtebaulichen Inszenierungen skeptisch gegenüber. In diesem Vakuum wird Städtebau über Verkehrssysteme betrieben, seit Mitte des 19.  Jahrhunderts private Unternehmer die Grundlagen zu «London Underground» legten. Weil diese den Ausbau des Netzes zum wohlhabenden Westen und Norden forcierten, bekamen der Osten und der Süden erst mit grosser Verspätung U-Bahn-Anschluss.
Eine leistungsfähige und moderne Verkehrsinfrastruktur erhielt das East End erst im Zug der Docklands-Planungen. Als frühe Formen von Public-Private-Partnerships sind die Docklands Light Railway (DLR) und die Jubilee Line Beiprodukte von Thatchers privatisierter Stadtentwicklung. Sie waren als reine Direktverbindungen zwischen dem Dienstleistungszentrum Canary Wharf und dem Westen vorgesehen, konnten aber nach langen Verhandlungen zu Verteilern für das East End aufgewertet werden. Über die Docklands hinaus verlängert, bilden DLR und Jubilee Line nun das künftige Rückgrat für den Ausbau Stratfords zum metropolitanen Geschäftszentrum. Die weitere Erschliessung des Londoner Ostens beabsichtigt auch das seit kurzem aufliegende Crossrail-Projekt: Eine neue S-Bahn-Durchmesserlinie soll die U-Bahn entlasten und im Grossraum London eine grössere Mobilität in ost-westlicher Richtung ermöglichen. Dazu ist ein leistungsfähiger Innenstadttunnel mit vielen neuen Haltestellen bis hinaus zum Flughafen Heathrow vorgesehen. Allerdings bestehen erhebliche finanzielle und politische Unwägbarkeiten auf dem Weg zur Realisierung des Vorhabens, das ausserhalb von Livingstones Einflussbereich auf nationaler Ebene verhandelt wird. Umstritten ist Crossrail gerade auch im East End, würde doch seine Sogwirkung den wirtschaftlichen Druck auf Viertel wie Brick Lane weiter steigern.


Zusatz 3:
Greater London Plan 1944

Livingstones London Plan lässt Erinnerungen an den Greater London Plan wach werden – einen Meilenstein der Planungsgeschichte. Seine Verfasser, Patrick Abercrombie und John Henry Forshaw, legten 1944 im Auftrag der Churchill-Regierung ein Wiederaufbaukonzept für die massiv durch deutsche Bomben geschädigte Hauptstadt vor. Dabei erachteten sie die Zerstörungen als Chance zu einer grundlegenden Neuorganisation des Londoner Grossraums. Kernstück bildete ein Konzept von vier konzentrischen Ringen, deren entscheidender der Green Belt war. Dieser in einem Umkreis von 25 bis 35 Meilen um die City gelegte Landschaftsgürtel trennte die Stadt und den ersten Vorortering markant vom Umland ab. So sollte die seit Jahrzehnten anhaltende wirtschaftliche und demografische Sogwirkung der Hauptstadt gebrochen werden. Ausserhalb dieses Gürtels sah der Plan autarke Städte von bescheidener Grösse vor, wie sie dann nach 1947 mit den «New Towns» realisiert wurden.
Im Greater London Plan konkretisierte sich das an der Kleinstadt orientierte Stadtideal der britischen Planer jener Zeit, das auch Abercrombies Reorganisationsvorschläge für die inneren Zonen anleitete. Zugleich war der Plan Ausdruck eines sich seit der Jahrhundertwende verfestigenden planerischen Denkens, wonach gesellschaftliche Probleme wie die Dominanz Londons, die anhaltend prekären Lebensverhältnisse in der Stadt und die Strukturkrisen in Nord- und Mittelengland durch Raumpolitik zu lösen waren. Der Greater London Plan beabsichtigte eine regionale Umverteilung von Zehntausenden von Arbeitsplätzen und Wohnungen für über eine Million Menschen. Unter Planung verstand man damals massive bauliche Eingriffe: Abercrombie und sein Team entwarfen das städtische Leben auf dem Reissbrett, formulierten «Neighbourhoods» als ideale, überschaubare Wohneinheiten, definierten maximale bauliche Dichten, verteilten Quartiere und Stadtteile und konzipierten dafür neue Zent-ren mit allen notwendigen Einrichtungen.
Diese Form von Planung prägte die britische Politik bis Mitte der 1970er-Jahre. Doch bereits seit den 1960er-Jahren mehrten sich in den grossen Sozialbausiedlungen in London oder Liverpool die Zeichen dafür, dass es unmöglich war, gesellschaftliche Entwicklungen allein mit physischer Planung langfristig positiv zu beeinflussen. Erfolglos waren auch die Bemühungen, die New Towns als neue Wachstumskerne in Krisenregionen zu etablieren.
Der Greater London Plan fokussierte auf die Anforderungen der traditionellen britischen Industriegesellschaft und schuf dafür ein prägnantes räumliches Bild. Als gesellschaftliches Entwicklungsszenario hatte er aber für Probleme der Nachkriegszeit wie Massenmotorisierung oder Deindustrialisierung keine Antworten parat. Nach 1970 wurde seine Logik der technokratischen Bearbeitung und Standardisierung örtlicher Belange von lokalen Protestbewegungen in Frage gestellt. Die Konservativen warfen schliesslich den Stadtplanern vor, jede unternehmerische Initiative im Keim zu ersticken. In ihrer zweiten Amtszeit entmachtete Thatcher den Greater London Council und riss planerische Kompetenzen an sich. Die Umrüstung Londons in eine Schaltzentrale globalisierter Kapitalströme geschah nun mittels Entscheidungen hinter verschlossenen Türen, privaten Sonderwirtschaftszonen und Public-Private-Partnership-Projekten.


Zusatz 4:
Das gentrifizierte Hochhaus

Mit seinen exorbitanten Wohnpreisen steht London heute bei den Lebenskosten an der Weltspitze. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Nach Jahrzehnten des Bevölkerungsrückgangs begann 1984 die Einwohnerzahl von Greater London wieder zu wachsen. Zugleich befand sich damals der Staat auf dem Rückzug aus der Wohnungsbauförderung. Mietern wurde der Kauf ihrer Sozialwohnung ermöglicht, was den Wohnungsbesitz in öffentlicher Hand in zehn Jahren um beinah 200  000 Einheiten reduzierte. Das Wohnen wurde vom Kräftespiel des freien Marktes erst richtig erfasst, als sich im folgenden Jahrzehnt die Konjunktur erholte und die Zuwanderung zunahm, seit 2004 auch aus den neuen EU-Ländern in Osteuropa. Im East End spürt man diese gesteigerte Nachfrage lange vor den Aufwertungsmassnahmen, die im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen von 2012 zu erwarten sind. Bereits heute reagieren Immobilienfirmen mit spektakulären Instandsetzungen, so etwa in Whitechapel hinter der East London Mosque. Dort wird das ehemalige Männerwohnheim Tower House zu Lofts umgebaut. In dieser denkmalgeschützten viktorianischen Trutzburg logierte einst Stalin, als er, wie viele andere Russen, nach der fehlgeschlagenen Revolution von 1905 im East End unterkam.
Denkmalgeschützt ist auch das Keeling House in Bethnal Green (Bild 17). Das 1959 nach Plänen von Denys Lasdun errichtete Wohnhochhaus gehört zu den wenigen innovativen Beispielen der Baugattung «Tower Flats», die damals dank staatlichen Zuschüssen im ganzen Land starke Verbreitung fand. Keeling House war der Versuch, Eigenschaften der lokalen Reihenhausviertel in ein skulptural moduliertes System vertikaler «Nachbarschaften» zu übertragen. Dazu stapelte Lasdun 64 Duplexwohnungen an Laubengängen kleeblattförmig um einen offenen Erschliessungskern. Dieses von strukturalistischen Theorien inspirierte Cluster-Prinzip vermochte dennoch nicht den Herausforderungen standzuhalten, mit denen die britische Wohnungsbaupolitik in den folgenden Jahrzehnten konfrontiert war. Die Schwierigkeiten im Viertel, die sozialen Probleme der Mieterschaft, unzureichender Unterhalt und zunehmender Vandalismus in den öffentlich zugänglichen Bereichen des Gebäudes liessen Lasduns Turmexperiment schliesslich scheitern. Ohne den Eingriff des Denkmalschutzes wäre das Keeling House 1993 gesprengt worden. Von einem Developer grundlegend saniert und umgebaut, erscheint es heute wie ein Design-Fetisch aus dem Lifestyle-Magazin «Wallpaper». Den Sockel umgeben nun ein Gitter und ein japanisierender Teich mit schicker Beleuchtung; in der neu zugefügten Eingangshalle sitzt ein Portier. Eine mehrheitlich in der City tätige Bewohnerschaft ist bereit, für eine Zweizimmerwohnung über dem harten Pflaster von Bethnal Green 700  000 Franken zu bezahlen.


Zusatz 5:
Die Olympischen Spiele 2012

Die Queen stand schon hier oben, um sich ein Bild von der Zukunft des East End zu machen: Der Blick von der Kabine auf dem Dach des Holden Point, einem 21-stöckigen Altersheim im Bezirk Newham, fällt gegen Westen auf eine planierte Brache, die vom Channel Tunnel Rail Link durchschnitten wird (Bild 14). Dahinter erstreckt sich ein Wirrwarr aus Fabrikruinen, kleinen Werkstätten, Schrottplätzen, Busdepots, Wiesen und Gestrüpp entlang des River Lea. In sechs Jahren finden auf dem rund 438 ha grossen Areal die Olympischen Spiele statt. 86 % der Fläche befinden sich schon im Besitz der Organisatoren, und diese hoffen, dass bis Ende Dezember eine Einigung mit den rund 100 Betrieben erzielt sein wird, die sich der Räumungsanordnung noch widersetzen. 2007 soll der Bau der Sportstätten beginnen.
Politiker und Planer versprechen sich von dem Mega-Event, dass es die verarmten Stadtteile des Ostens in eine blühende Landschaft verwandelt, und verweisen dabei auf Barcelona, das die Ausrichtung der Olympiade 1992 mit einer allseits als gelungen betrachteten Stadterneuerung verband. Stets wird betont: Für den Erfolg der Londoner Spiele sei entscheidend, was nach ihrem Ende für die Bewohner in der Nachbarschaft übrig bleibt. Schon jetzt ist der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs östlich der City sichtbar, in den bis 2012 7 Mrd. Pfund investiert werden. Um die Lebensqualität im East End zu steigern, wird das Olympiagelände nach dem Ereignis zum grössten Stadtpark umfunktioniert, der in Europa in den letzten 150 Jahren entstanden ist. Das olympische Dorf soll dann 4000 Wohnungen bieten; weitere 35  000 Wohnungen sollen später hinzukommen, die Hälfte für Haushalte mit geringem Einkommen. Kritiker befürchten jedoch, dass es schon vorher zu einer Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsteile kommen wird. Kurz nachdem London den Zuschlag für die Spiele erhalten hatte, zogen in Newham die Immobilienpreise massiv an.
Für die Vergabe einzelner Bauprojekte an Architekten werden keine Wettbewerbe durchgeführt. Einzig für das Schwimmstadion ist aus mehreren Entwürfen jener von Zaha Hadid ausgewählt worden. Der Olympiapark wird vom EDAW-Konsortium in Zusammenarbeit mit Arup und Atkins gestaltet, das schon den Masterplan für die Bewerbung entworfen hat (Bild 16). Unklar ist noch, wer das neue Olympiastadion baut. Es soll 80  000 Zuschauer fassen, nach den Spielen auf 25  000 Plätze reduziert werden und als Leichtathletikarena dienen.
Die Kosten für die Spiele werden derzeit auf 3.5 Mrd. Pfund geschätzt. Neben Geldern von privaten Sponsoren werden Mittel aus der staatlichen Lotterie fliessen. Zudem zahlt jeder Londoner Haushalt bis 2012 eine jährliche Olympiasteuer von 20 Pfund.
Für Unmut sorgt bei vielen Bürgern, dass sie Olympia wegen steigender Lohnkosten im Bausektor und verstärkter Sicherheitsmassnahmen noch teurer zu stehen kommen könnte. Bereits rechnet die Bauindustrie mit 400 statt wie ursprünglich mit 280 Mio. Pfund für das Stadion. Alle Mehrkosten muss die Stadt übernehmen. Dieser Tage wird entschieden, welches Unternehmen die Aufsicht über den Bau des Olympiageländes führen soll.

TEC21, Mi., 2006.10.04



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2006|40 The London Plan

29. Mai 2006Werner Spillmann
Angelus Eisinger
Neue Zürcher Zeitung

Vom Wachsen und Schrumpfen der Städte

Während in Deutschland über schrumpfende Städte diskutiert wird, boomen hierzulande die Zentren. Das ETH-Studio Basel machte nun aber alpine Regionen aus, die sich immer schneller entvölkern. Obwohl die Schweiz mit Subventionen schon gegen das Schrumpfen kämpfte, als dieses für die Feuilletons noch kein Thema war, wird das kreative Nachdenken über das Verhältnis von Zentrum und Peripherie immer dringender.

Während in Deutschland über schrumpfende Städte diskutiert wird, boomen hierzulande die Zentren. Das ETH-Studio Basel machte nun aber alpine Regionen aus, die sich immer schneller entvölkern. Obwohl die Schweiz mit Subventionen schon gegen das Schrumpfen kämpfte, als dieses für die Feuilletons noch kein Thema war, wird das kreative Nachdenken über das Verhältnis von Zentrum und Peripherie immer dringender.

Seit einigen Jahren geht in Europa ein Gespenst um, und hinter vorgehaltener Hand flüstert man sich zu, es auch schon in der Schweiz gesichtet zu haben. Es handelt sich um das Gespenst des Schrumpfens. Dieses ist nicht immer leicht zu erkennen, da es viele Verkleidungen trägt: In Ostdeutschland beispielsweise schwebt es über den seit der Wiedervereinigung dramatisch entleerten Städten, in den alten Industriegebieten Frankreichs oder Englands taucht es in Form der strukturellen Arbeitslosigkeit auf. Nicht nur die Masken wechseln häufig, auch die Geschwindigkeit seines Auftauchens variiert. Manchmal rast es - wie in den neuen deutschen Bundesländern - wie ein Wirbelwind über die offene Landschaft, dann wieder bewegt es sich kaum wahrnehmbar, tut aber doch unablässig seine Arbeit.

Urbanes Rollenverständnis

In der Schweiz haben in den letzten Jahren verschiedene Beobachter seine Schatten und Spuren ausgemacht und daraus Empfehlungen abgeleitet. So diagnostizierte das ETH-Studio Basel vor kurzem alpine Brachen und meinte damit grosse Gebiete vornehmlich im Alpenraum, deren wirtschaftlicher und kultureller Fortbestand akut in Frage gestellt sei. Avenir Suisse sorgt sich um die sinkende Wettbewerbsfähigkeit des Werk- und Denkplatzes Schweiz und macht dafür vor allem die übermässige staatliche Regulierung verantwortlich. Gleichzeitig hat der Think-Tank eine Föderalismusdebatte lanciert, die an Grundwerten der schweizerischen Demokratie rüttelt. Auf politischem Parkett läuft momentan gerade eine Debatte um die Rolle der Agglomerationen an, in welchen die Mehrheit der Bevölkerung lebt. Im Zentrum stehen dabei die Etablierung eines neuen Rollenverständnisses für Städte und Agglomerationen und die bessere Berücksichtigung ihrer Anliegen in der Bundespolitik.

All diesen Initiativen ist gemeinsam, dass sie Veränderungen ansprechen, die tief in das Selbstverständnis der Schweiz, ihre politische Organisation und räumliche Entwicklung eingreifen. Dabei geraten auch die in der Verfassung verankerten Ziele der dezentralen Besiedlung und des wirtschaftlichen Ausgleichs ins Visier. Ein Blick über die Grenzen liefert einige Hinweise, wie die Entwicklung ohne diese Ziele hätte verlaufen können. Während in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten die Bevölkerung in den peripheren Gebieten insgesamt gehalten werden konnte, haben sich im französischen Zentralmassiv oder in den italienischen Alpentälern im gleichen Zeitraum ganze Landstriche entleert. Diese Transformationen waren weitgehend wirtschaftlich bedingt. Stehen nun der Schweiz ähnliche Entwicklungen bevor?

Dynamik heisst Veränderung

Wachstum verändert Räume, es sucht sich neue Brennpunkte im Raum, gibt alte, lange etablierte auf. Wesentliche Einsichten in die Mechanik wirtschaftlicher Prozesse verdanken wir Joseph Schumpeter, der diese schon Anfang des letzten Jahrhunderts sehr gut beschrieben hat, ohne sich allerdings mit deren räumlichen Ausprägungen zu beschäftigen. Nach Schumpeter kommt dem innovativen Unternehmer bei der Initiierung wirtschaftlichen Wachstums eine zentrale Rolle zu. Seine technischen und prozessualen Innovationen, seine neuen Produkte stimulieren die wirtschaftliche Entwicklung und bewirken strukturelle und räumliche Veränderungen. Auch die Schweiz hat verschiedentlich ihre Erfahrungen mit den wandernden Brennpunkten des wirtschaftlichen Wachstums gemacht. Denken wir beispielsweise an das Schicksal der Textilindustrie, die in vielen Gebieten eine grosse wirtschaftliche Bedeutung hatte und noch in der Zwischenkriegszeit eine wichtige Exportbranche darstellte, heute allerdings nur mehr einen Schatten ihrer einstigen Grösse darstellt. Ähnliches galt später für die Uhrenbranche und teilweise auch für die Maschinenindustrie, deren neuere Entwicklungen aber belegen, dass Krisen auch Chancen für zukunftsfähige Neuanfänge sein können.

Obwohl sich diese Phänomene seit Beginn der Industrialisierung immer wieder in den Raum einschreiben, waren ihre Auswirkungen auf die Siedlungsstruktur und auf das Landschaftsbild bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Dabei reicht schon ein Blick auf das Mittelland, um drastische Veränderungen wahrzunehmen. Industriebrachen in den Städten und in deren Umland erzählen von tiefgreifenden Umwälzungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur. Allein: Die räumliche Nähe zu den städtischen Wachstumspolen lässt diese Krisen nicht als tiefgreifende Erschütterungen spürbar werden.

Verlagerungen und Transformationen im Mittelland machen noch auf einen anderen Punkt aufmerksam: Weil vom anhaltenden Wachstum fast alle profitieren konnten, waren Schrumpfungsprozesse für die Gesellschaft als Ganzes kaum ein Problem - die Anpassungsprozesse betrafen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung, und der Staat konnte diese dank Subventionen und anderen Unterstützungsmechanismen sozial verträglich gestalten. Stichworte dazu sind Infrastrukturpolitik, Agrarpolitik, Investitionshilfegesetz oder Tourismusförderung. Sie belegen für die Schweiz ein politisches Engagement gegen das Schrumpfen, lange bevor das Wort überhaupt in Feuilletons und wissenschaftlichen Debatten auftauchte.

Heute scheint sich aber ein Wandel abzuzeichnen. Der Konsens, die wirtschaftlich schwächeren Regionen und Branchen weiterhin zu unterstützen, welcher die Siedlungsrealität der Schweiz von heute erst möglich machte, ist in Frage gestellt. Der Wettbewerb erfolgt immer weniger zwischen Nationalstaaten, sondern zwischen Grossregionen mit innovativen Produktions- und Dienstleistungsangeboten. Damit verbunden ist eine zunehmende Schwächung der traditionellen Politik, aber auch ein Ruf nach politischer Innovation. Weiter werden in Zeiten leerer Kassen der öffentlichen Hand Subventionen immer mehr kritisch hinterfragt, und es mehren sich die empirischen Belege für die bescheidene Wirksamkeit sektoraler Förderungsstrategien.

Wie schwierig der Grundsatz des räumlichen Ausgleichs umzusetzen ist, zeigt sich schon darin, dass die Verhältnisse trotz der Kleinräumigkeit der Schweiz überaus unterschiedlich sind und somit nach differenzierten Vorgehensweisen rufen. Das Investitionshilfegesetz ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel. Dieses Gesetz verfolgt seit den frühen 1970er Jahren die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Berggebieten und industriellen Krisengebieten. Schon seine statistischen Kenngrössen sind beunruhigend, da sie zeigen, wie hoch der Anteil der Regionen in der Schweiz ist, von denen keine nennenswerten wirtschaftlichen Impulse ausgehen. So fallen heute 66 Prozent der Fläche, 43 Prozent der Gemeinden, 24 Prozent der Einwohner, 19 Prozent der Beschäftigten und 23 Prozent der Unternehmungen im 1. und 2. Sektor unter das Gesetz. Studiert man die Evaluationen zum Gesetz, so sind Zweifel an seiner Wirkung angebracht.

Zunächst fällt auf, wie unterschiedlich sich die Lage in den Gebieten präsentiert, die unter das Gesetz fallen. Neben wachsenden Gegenden gibt es Gegenden mit anhaltenden Schwierigkeiten; jede Region hat ihre eigene Branchenstruktur, ihre Eigenheiten und ihre spezifischen Probleme. So gibt es Gebiete, die, wie z. B. Nidwalden, das Malcantone oder die Valli di Lugano, seit Mitte der achtziger Jahre ein kräftiges demographisches Wachstum von 40 bis über 80 Prozent erfahren haben, während sich andere Alpentäler und alte Industrieregionen wie der Jurabogen und der Kanton Glarus schrittweise entleeren. Auch bei der Arbeitsentwicklung zeigt sich eine ähnliche Zweiteilung: Im Durchschnitt hinken die geförderten Gebiete seit Mitte der achtziger Jahre hinter der restlichen Entwicklung her, es gibt aber auch hier prosperierende Gegenden - sie befinden sich mehrheitlich in unmittelbarer Nähe zu städtischen Zentren und sind stark mit ihnen verflochten. Zugunsten des Investitionshilfegesetzes liesse sich deshalb anführen, es sei gelungen, die fortschreitende Entleerung peripherer, strukturschwacher Gebiete abzubremsen. Gemessen an den eigenen Zielsetzungen konnte das Gesetz allerdings nur bescheidene Erfolge verbuchen.

Was können wir aus diesen Erfahrungen lernen? Die Entwicklung bestätigt die Vermutung, dass die durch wirtschaftliche und technische Innovationen ausgelösten Strukturveränderungen von der Politik letztlich nicht aufgehalten werden können. Eine ähnlich zwiespältige Bilanz der staatlichen Unterstützungsmassnahmen weisen auch andere Bereiche auf: So sind die Beiträge der Agrarpolitik zur Aufrechterhaltung einer dezentralen Besiedlung recht bescheiden, und die Verkehrsinfrastrukturpolitik erweist sich als zweischneidiges Schwert: Wegen des Ausbaus der Autobahnen und Hochleistungsstrassen konnte die Erreichbarkeit der Randregionen zwar beträchtlich erhöht werden. Nur sind Strassen kommunizierende Röhren, die in zwei Richtungen gleichzeitig führen. Ein Blick auf die Pendlerentwicklung macht deutlich, dass mit dem verbesserten Strassennetz nicht primär neue Absatzmärkte für Produkte aus den peripheren Regionen erschlossen worden sind, sondern vor allem Pendler aus immer weiter entfernten Orten mit den Wirtschaftsräumen des Mittellandes verbunden werden.

Veränderte Wettbewerbsbedingungen

Gemäss Artikel 73 der Bundesverfassung sollen Bund und Kantone ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits anstreben. Bund und Kantone haben aber noch nie detailliert geklärt, was dieser wegweisende Grundsatz konkret bedeuten könnte und ob nicht Zielkonflikte mit anderen Verfassungsbestimmungen bestehen. Es gibt aber kaum Zweifel, dass wir heute in der Schweiz weit von einer nachhaltigen Entwicklung entfernt sind. Dieses Faktum wird in räumlicher Hinsicht vom Raumentwicklungsbericht 2005 des Bundesamtes für Raumentwicklung klar festgehalten; dort wird auch eingeräumt, dass in verschiedenen Gebieten Handlungsbedarf bestehe. Leider gehen die zurzeit laufenden Reformen aber in eine andere Richtung, so sollen im Raumplanungsgesetz die Landwirtschaftszonen für diverse neue Nutzungen geöffnet werden. Dabei stellt die Trennung von Bauzonen und Nichtbauzonen historisch wohl die wichtigste Errungenschaft der Raumplanung dar, und deren Verwässerung wäre für die Schweiz eine gravierende Fehlentwicklung.

Die wirtschaftliche Entwicklung kann nur dann dauernden Wohlstand generieren, wenn sie nicht auf Kosten von Natur und Landschaft geht. Die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz leidet nämlich nicht unter zu strengen Raumplanungs- und Umweltschutzvorschriften. Das heisst aber nicht, dass es keinen Reformbedarf gibt: Es wäre dringend nötig, die Wirksamkeit und Konsistenz verschiedener Regelungsbereiche zu überprüfen und beispielsweise Widersprüche zwischen Raumplanungs- und Umweltschutzvorschriften zu eliminieren. Auch müssen die Ziele veränderten Fakten angepasst und die Instrumente der Raumplanung angepasst werden. So sollten etwa ökonomische Anreize geschaffen werden für einen sparsameren Umgang mit der in der Schweiz sehr knappen Ressource Boden. Solche Massnahmen sind die Voraussetzung dafür, dass langfristig nicht auch noch die letzten attraktiven Landwirtschaftsflächen im Mittelland verbaut und zersiedelt werden.

Damit ist aber erst eine Stossrichtung einer nachhaltigen Raumentwicklung skizziert. Weitere zentrale Aspekte liegen im Umgang mit der räumlichen Dynamik selbst und der Organisation unseres Landes mit den vielen kleinen Kantonen und Gemeinden. Die OECD hat schon 2002 in ihrem Prüfbericht über die schweizerische Raumentwicklung auf diesbezügliche Defizite hingewiesen, da hierzulande traditionellerweise häufig Kirchturmpolitik das Vorgehen der Verantwortlichen präge. Gemäss OECD dürfe Raumentwicklung sich nicht mehr länger auf Richt- und Nutzungsplanung beschränken, sondern müsse vermehrt mit der Wirtschafts- und Standortförderung koordiniert werden, um attraktive Standortvoraussetzungen für Wirtschaft und Bevölkerung zu schaffen. Das verlange auch, die städtischen Grossregionen als Motoren der Entwicklung - beispielsweise durch bessere Verbindungen im öffentlichen Verkehr - zu stärken und nicht in ihrer Entfaltung zu hindern.

Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass erfolgreiche Raumentwicklung grenzüberschreitend agieren muss. Eine nachhaltige Standortförderung kann nicht auf Kosten der Nachbargemeinde oder des Nachbarkantons gehen. Es sind grossräumigere Ansätze notwendig, welche problem- und fallbezogen die Gemeinde- bzw. die Kantons- und in gewissen Fällen auch die Landesgrenzen überwinden. Diese Notwendigkeit sollte nach dem Fallbeispiel Galmiz eigentlich allen klar geworden sein. Politische Veränderungen in diese Richtung sind bisher aber erst wenige auszumachen, weil die Erhaltung des Status quo beziehungsweise kurzfristige Konkurrenzvorteile immer noch höher gewichtet werden. Bestes Beispiel dafür ist der zunehmende Steuerwettbewerb zwischen Kantonen und Gemeinden, der nur Verlierer generieren wird. Denn ohne Soft Factors wie Bildungswesen oder Kultur sind langfristig keine attraktiven Standorte möglich.

Neue Bilder der Schweiz

Es gilt Abschied zu nehmen vom Traum eines anhaltenden Wirtschaftswachstums in allen Regionen. Die Wirtschaftsgeschichte legt eine andere Betrachtungsweise nahe: Wirtschaftliche Entwicklung umfasst Schrumpfen und Neuanfang. Entziehen kann man sich dieser Logik nicht, aber man kann ihr durch intelligente Anpassungsprozesse begegnen. Schumpeters Idee des innovativen Unternehmers, welcher die Zukunft immer wieder neu gestaltet, kann hier wichtige Anstösse liefern. Innovative Unternehmer sind aber nicht beliebig vermehrbar, und investive Mittel sind keine hinreichenden Voraussetzungen für langfristigen Erfolg. So dürften finanzkräftige Investoren, die an verschiedenen Stellen der Schweiz riesige Tourismuszentren aus dem Boden stampfen wollen, wohl kaum die Probleme ihrer Regionen lösen können. Nachhaltige Entwicklung bedarf nämlich immer auch der Eigeninitiative und der Einbindung der Menschen vor Ort. Erst wenn es gelingt, solche Investitionen mit den Besonderheiten und Wirtschaftskreisläufen eines Tals oder einer Region zu verknüpfen, also die lokale Wirtschaft und Landwirtschaft zu Pfeilern eines umfassenden Konzepts werden zu lassen, kann den strukturellen Schwierigkeiten solcher Gebiete wirksam begegnet werden.

Dahinter steckt eine allgemeine Erkenntnis: Die räumliche Zukunft der Schweiz kann und soll mehr Ideen und unterschiedliche Entwicklungen zulassen. Allgemeine Leitbilder reichen dazu nicht mehr aus. Hier entstehen neue Aufgabenfelder für die Gesellschaft als Ganzes und für die direkt betroffenen Regionen: Planung ist ein kreatives Nachdenken über Zukunft, das wichtige Akteure einzubinden versteht. Für einen erfolgreichen Transformationsprozess braucht es auch die Einsicht, dass Wettbewerb allein keine taugliche Lösung ist. Eine nachhaltige Entwicklung muss auch auf Solidarität in ihren verschiedenen Ausprägungen und besonders zwischen Zentren und Peripherie aufbauen, weil Stadt und Land voneinander abhängig sind und sich gegenseitig stützen können. Städtische Zentren und Lebensformen bedürfen ebenso der Wertschätzung wie ländliche Räume und Siedlungsstrukturen. Ohne diese Einsicht ist eine erfolgreiche Entwicklung des Landes nicht möglich.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2006.05.29

07. Januar 2000Angelus Eisinger
Neue Zürcher Zeitung

Gestaltung einer urbanen Zukunft

Die gegenwärtigen städtebaulichen Debatten und neue Planungsverfahren zeigen eine grundlegende Reorientierung im Umgang mit der Stadt. Dabei wird aber oft zuwenig beachtet, mit welchen Unwägbarkeiten die Schaffung funktionsfähigen urbanen Raumes verbunden ist. Dieser Prozess kann jedoch als Chance für die Architektur begriffen werden.

Die gegenwärtigen städtebaulichen Debatten und neue Planungsverfahren zeigen eine grundlegende Reorientierung im Umgang mit der Stadt. Dabei wird aber oft zuwenig beachtet, mit welchen Unwägbarkeiten die Schaffung funktionsfähigen urbanen Raumes verbunden ist. Dieser Prozess kann jedoch als Chance für die Architektur begriffen werden.

Die Architektur des 20. Jahrhunderts hat wiederholt ihre Zuständigkeit für die baulichen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Stadt erklärt. Die aktuellen Debatten um Stadtplanung und Städtebau deuten aber auf ein anhaltend schwieriges Verhältnis von Architektur und Stadt hin. Bei zunehmend kürzeren Halbwertszeiten - als Beispiel sei auf die Auseinandersetzung mit der Postmoderne hingewiesen - bleiben die Debatten vorwiegend bei Fragen des Erscheinungsbildes stehen. In der Diskrepanz zwischen urbaner Realität und architektonisch-städtebaulichen Ansprüchen zeigt sich eine Überforderung des Fachgebietes durch seinen Gegenstand. Die letzten Jahrzehnte haben wiederholt gezeigt, dass die einfache Beziehung von Architektur und Stadt, wie sie sich in städtebaulichen Lehrbüchern, peinlich genau gearbeiteten Laubsägemodellen und didaktisch vorbildlich eingefärbten Lage- und Stadtplänen niederschlägt, an der komplexen Bestimmung von urbaner Wirklichkeit zerbricht. Es geht dabei um bedeutend mehr als um blosse Überempfindlichkeiten einer Berufsgattung. Auf dem Spiel steht nicht zuletzt die Zukunftsfähigkeit städtischer Lebenswelten.


Eine Diagnose

In den letzten Jahrzehnten hat sich einiges im Verhältnis der Architekten zur bestehenden Stadt geändert. Zunächst demontierte die disziplininterne Kritik die Fiktion des geschichtslosen, neutralen städtischen Raumes der modernen Städtebau-Utopien, der nach Richard Sennett zur Verfügungsmasse der Architekten und Stadtplaner degradiert worden war. Durch Aldo Rossi mündete diese Kritik dann in die Vorstellung einer den architektonischen Entwurf anleitenden Tiefenstruktur der Stadt. Zudem haben verschiedene Veränderungen ausserhalb der Architektur und des Städtebaus ihre Rückwirkungen auf die Fachgebiete gehabt: Der epistemologische Verlust des Zentrums, die Auflösung bisheriger gesellschaftlicher Orientierungen, die Globalisierung ökonomischer Prozesse, die ökologischen Debatten und die Neuverteilungen privater und öffentlicher Aufgabenfelder - oft mit dem ungeschickten Sammelbegriff «Postmoderne» versehen - beeinflussten den städtebaulichen und architektonischen Handlungsspielraum massgeblich.

Die moderne Vorstellung einer demokratisch abgesicherten Stadtgestalt, wie sie in der Schweiz ironischerweise gerade in der antiurbanen Formel von der «gebauten Stadt» zuletzt aufflackerte, wirkt deshalb gelegentlich wie eine Fata Morgana aus grauer Vorzeit. Ihre mit Hilfe einer Flut von Baugesetzen und Verordnungen, Zonen- und Quartierplänen aus den Büros der Bauämter orchestrierten Stadtvorstellungen greifen gleich mehrfach nicht mehr. Neben den Veränderungen der städtischen Öffentlichkeit müssen hier vor allem die veränderten politisch-ökonomischen Bedingungen der Stadtentwicklung und schliesslich die vermehrt aufbrechenden Konflikte zwischen unterschiedlichen Zeitanforderungen genannt werden.

Eine homogene städtische Öffentlichkeit mit uniformen Interessen existierte immer nur in den Phantasien der Stadtplaner, Architekten und Behörden - die Rede von der multikulturellen Stadt hat dies nur noch mehr verdeutlicht. Das heisst aber auch, dass heute die gesellschaftspolitische Zentralachse städtebaulicher Orientierung und Legitimierung fehlt. Statt dessen herrschen unauflösbare Zielkonflikte: Die Stadt als Agora, als Ort des Disputes, oder die Interessen von Familien lassen sich nur schwer mit den Anforderungen an internationale Wettbewerbsfähigkeit, den Bedürfnissen multinationaler Konzerne oder verkehrspolitischen Erfordernissen in Einklang bringen. Eine zunehmende Verwischung der bestehenden Stadtstrukturen ist die Folge. Während die alten Stadtzentren auch für die eigenen Bewohner immer mehr zu Ausflugszielen werden, kommt es in der Peripherie zu erstaunlichen Umwertungen.

Dabei werden bisherige Arbeitsteilungen zwischen Zentrum und Peripherie unterlaufen: An Autobahnknotenpunkten und in der Nähe von Flughäfen etablieren sich durch Baugesetze eher schlecht als recht geordnete, architektonisch gesichtslose Wachstumspole einer globalen Stadtvernetzung. Zusätzlich entzieht die die internationale Standortkonkurrenz begleitende Kapitalmobilität die Stadtentwicklung zunehmend der Kontrolle durch lokale Instanzen. Ausserdem wirken sich unterschiedliche Zeitbedürfnisse oft fatal aus. Die mit der ökonomischen Globalisierung dramatisch gestiegene Mobilität der Investoren und der erbitterte Standortwettbewerb zwischen den Städten verlangen Ausnahmeregelungen, beschleunigte Bewilligungsverfahren und rasche Entscheidungsfindung. Die daraus resultierende Architektur ignoriert die jeder Stadt eigene Zeitlogik, die sich aus ihrer Geschichte ergibt, ihre Unverwechselbarkeit konstituiert und den architektonischen Entwurf anleitet.


Kooperative Stadtplanung

Im Kontext der gerade eben aufgeworfenen Probleme halten heute nicht wenige die kooperative Stadtplanung für das Abrakadabra, das die bisherige regulative Politik um eine flexible, innovative Dimension erweitern soll. Die Stadtbehörde dekretiert dabei nicht mehr ein festes Stadtbild. Bisher auf das gesamte Stadtgebiet ausgerichtete städtebauliche Ordnungsvorstellungen werden durch eine auf die Bauparzelle begrenzte Schaffung einer Stadtrealität ersetzt. Die Behörden verstehen sich dabei als Vermittler - ständig darum bemüht, potentielle Investoren und Grundstückeigentümer an einen Tisch zu bringen und zu Vertragsabschlüssen zu bewegen. Stadtplanung ist somit nicht mehr technisch-bürokratische Verfahrensabwicklung, sondern Stadtmanagement. - Eine raschere Abwicklung bürokratischer Prozesse und die Enthierarchisierung der Entscheidungsfindung mögen zweifelsfrei Vorzüge dieses Vorgehens sein. Dadurch, dass die städtischen Verhandlungspositionen oft von der Notwendigkeit wirtschaftlicher Revitalisierung geprägt sind, können sich städtebauliche Aspekte - allen publizistischen Paukenschlägen bei international prominent besetzten Ideenwettbewerben oder bei Eröffnungen von Kulturzentren, Ausstellungsgebäuden usw. zum Trotz - nur wenig Geltung verschaffen. Ebenso können hinter den verschlossenen Türen der Sitzungszimmer die Interessen der Allgemeinheit wie auch Fragen der demokratischen Kontrolle über die verfolgten Ziele und ihre Umsetzung nur schwer durchgesetzt werden.


Boomende ehemalige Industrieviertel

Der mit kooperativen Modellen eingeleitete planungspolitische Kurswechsel bleibt nicht ohne Auswirkung auf das Verhältnis von Architektur und Stadt. Die Schaffung urbaner Räume ist ein mit erheblichen Unsicherheiten behafteter, von spezifischen Bedingungen vor Ort abhängiger Prozess: Allenthalben entstehen seit einigen Jahren auf stillgelegten Industriearealen neue, für Investoren, aber auch für die Wohnansprüche von Familien und Singles sowie für die Freizeitbedürfnisse vor allem einer jungen Bevölkerung gleichermassen attraktive Stadtteile. Dabei fehlen diesen Gebieten zwischen Stadtautobahnen und leeren Industriehallen eigentlich alle Qualitäten, welche einst mit entwicklungsfähigen Stadträumen assoziiert wurden. Wie lässt sich dieses scheinbare Paradox erklären? Wenn man Anfang der achtziger Jahre einen Bauinvestor auf die dichtbefahrene Hardbrücke im Zürcher Kreis 5 gestellt und ihn über das unförmige Gebirge von Baukörpern hätte schauen lassen, hätte er eine jener unzähligen, perspektivlosen Industrieruinen wahrgenommen. Die Tristesse dieses innerstädtischen Ödlandes hätte nur ein Abreissen der Anlagen und eine Öffnung des Gebietes für die Expansionsbedürfnisse des Banken- und Dienstleistungssektors beenden können.

Heute wird der gleiche Investor an derselben Stelle bei einem nur wenig geänderten baulichen Erscheinungsbild ein Feld voller attraktiver Anlagemöglichkeiten in einem boomenden Stadtkreis erkennen. Offenbar hat in der Zwischenzeit eine Neubewertung dieses Stadtteiles stattgefunden. Derartige Wahrnehmungsrevisionen gründen auf kollektiv verfügbaren Vorstellungsmustern, die auf einer Vielzahl unterschiedlicher Handlungen, Debatten und Interventionen aufbauen. Sie sind nicht das Ergebnis simpler Manipulationen, sondern entziehen sich wesenhaft der Bestimmung durch einzelne Interessenvertreter oder Organisationen. In iterativen Prozessen von gruppenspezifischen Wahrnehmungsmustern, örtlichen Eingriffen, diskursiven Angeboten, Reinterpretationen, Verfestigungen und Angleichungen der Stadtvorstellungen können städtische Räume zu Orten vitaler Urbanität werden.


Und die Architektur?

Was resultiert nun daraus für den architektonisch-städtebaulichen Entwurf? Urbanität lässt sich zwar nicht von der architektonischen Intervention trennen, das Ergebnis hängt aber im wesentlichen von einem Interaktionsprozess zwischen Raum, Erfahrung und Gebautem ab, der weder von der Architektur noch von einer anderen Instanz kontrolliert werden kann. Wenn wir akzeptieren, dass die Produktion von städtischem Raum ein offener und risikobehafteter Prozess ist, kann damit auch eine beträchtliche Aufwertung der Rolle der Architektur einhergehen. Was an einem Ort geschieht, lässt sich immer weniger im modernen Imperativ der Bauordnungen und Zonenpläne vorwegnehmen, sondern wird Teil eines Prozesses von Aushandlungen zwischen Investor, Grundstückbesitzer, Architekt und Öffentlichkeit.

Es gibt keine Patentrezepte, die eine revitalisierte Urbanität garantieren, und eine überall gültige Standardlösung gibt es nicht. Hier deckt sich potentiell das Interesse des Investors mit den Intentionen der Architektur. Dieses an eine architektonische Idee zu binden ist eine Herausforderung, welche die Architektur vermehrt annehmen muss, sollen Städte weiterhin Orte lebendiger Öffentlichkeit bleiben. Damit lässt sich zumindest punktuell das Versprechen der Architektur des 20. Jahrhunderts, die Stadt als lebenswertes und zeitgemässes Zentrum auszubilden, einlösen. Deren Attribute heissen - anders als die Ordnungssucht der Moderne es anstrebte - dynamisch, widersprüchlich und flexibel.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.01.07

Publikationen

Presseschau 12

11. April 2025Angelus Eisinger
Stefan Wülser
werk, bauen + wohnen

«Nicht hinter jeder Hecke muss die ganze Welt simuliert werden.»

Einfamilienhäuser bilden die Hälfte des Gebäudebestands der Schweiz. Sie sind eine Knacknuss für die Raumplanung und ein Entwurfslabor für Architekturschaffende. Wir reflektieren Wohnform und Typologie und diskutieren deren Weiterentwicklung. Angelus Eisinger und Stefan Wülser im Gespräch mit Lucia Gratz und Christoph Ramisch

Einfamilienhäuser bilden die Hälfte des Gebäudebestands der Schweiz. Sie sind eine Knacknuss für die Raumplanung und ein Entwurfslabor für Architekturschaffende. Wir reflektieren Wohnform und Typologie und diskutieren deren Weiterentwicklung. Angelus Eisinger und Stefan Wülser im Gespräch mit Lucia Gratz und Christoph Ramisch

Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Zeitschriften
werk, bauen + wohnen 2025-4 Einfamilienhäuser

05. Januar 2016Angelus Eisinger
TEC21

Kaleidoskop Basel: ein städtebauliches Porträt

Wie in einem Brennglas bündelt sich am Rheinknie eine Vielfalt von aktuellen Themen und Herausforderungen der Stadtentwicklung: Aufzeichnungen zu einem Miniaturenkabinett der Stadt der Gegenwart.

Wie in einem Brennglas bündelt sich am Rheinknie eine Vielfalt von aktuellen Themen und Herausforderungen der Stadtentwicklung: Aufzeichnungen zu einem Miniaturenkabinett der Stadt der Gegenwart.

Basel spiegelt auf engstem Raum die condition urbaine der Gegenwart wider. Denn der Blick auf den Stadtkanton gleicht einem Kaleidoskop, das mit jeder Drehung neue Perspektiven auf die Existenz- und Produktionsbedingungen der Stadt von heute erlaubt. Im Folgenden wird sieben Mal an diesem Kaleidoskop gedreht. Daraus entstehen sieben Kristallisationen, die sich zu einem bewusst lückenhaften Porträt der Stadt Basel und ihres Umlands fügen.

Gemeinsam lassen sie ein Nebeneinander von Themen, Realitäten und Reaktionen erkennen, die in Basel gleichsam unter dem Brennglas deutlich hervortreten: Die planerische und städtebauliche Agenda der Stadt der Gegenwart ist darin ebenso zu erkennen wie die Modi, mit denen sie verhandelt wird.

1. Drehung am Kaleidoskop: Basel als trinationaler Alltagsraum

Die Fakten kennt jedes Schulkind: Basel liegt an der nordwestlichen Spitze der Schweiz und grenzt an Südbaden und das Elsass. Längst vereinen sich die drei Regionen zu einem Alltagsraum, der durch den täglichen Gebrauch, durch die Berufspendler und über den Freizeit- und Einkaufsverkehr die Teilräume eng miteinander verwoben ist.

Es ist nicht nur ein exemplarischer Fall eines Funktionalraums, der sich durch räumliche Arbeitsteilungen charakterisiert, sondern die trinationale Agglomeration ist auch gekennzeichnet durch scharfe Kontraste: Die hohe wirtschaftliche Dynamik in und um Basel ist nur wenig entfernt von einer der strukturschwächsten Regionen Frankreichs, und Badens Süden liegt fernab von den Entscheidungsräumen der Politik in Stuttgart und Berlin.

Das Grenzüberschreitende hat aber in Basel nicht einfach nur die normative Kraft des Faktischen, die dazu drängt, Infrastrukturvorhaben abzustimmen und in grösseren räumlichen Zusammenhängen zu planen. Die Trinationalität hat kulturelle Tradition.

Die hier erfolgte Ausrufung der ersten europäischen Agglomeration vor mehr als fünfzig Jahren zeugt von einem weitsichtigen politischen Programm. Im biederen Alltag verheddert sich der Vollzug dieser Vision allerdings – wie auch anderswo – bis heute oft genug im Gefüge unterschiedlicher nationaler Planungskulturen, rechtlicher Vorgaben und Zuständigkeiten.

2. Drehung: 3Land – Leuchtturmprojekte auf den Boden der Realität bringen

Die vergangenen gut zwei Jahrzehnte waren in vielen europäischen Städten von Hamburg bis Helsinki, von Lyon bis Kopenhagen geprägt von städtebaulichen Grossvorhaben, die aus der Zeit und Nutzung gefallene Stadtgebiete durch ambitionierte Planungen unter ­Beizug von Stararchitekten zu Motoren der Stadtentwicklung zu machen versuchten. Das Projekt 3Land am Dreiländereck schien, so zumindest sahen es viele Kommentatoren, diesen Geist nach Basel tragen zu wollen.

Die Skyline auf der neuen Rheininsel vor dem heutigen Hafengebiet erinnerte an ähnliche Projekte rheinabwärts. Das von Winy Maas und den beiden oft unkon­ventionell agierenden Basler Planern Philippe Cabane und Martin Josephy formulierte Konzept hat sich aber in der Zwischenzeit weit vom Vorwurf autistischer Star­architektur entfernt.

Basel wagt in dieser Entwicklungsvision heute den Quantensprung, indem es die Insel mittlerweile explizit als Nukleus eines trinationalen Herzstücks begreift, das Basel, Huningue und Weil am Rhein enger miteinander verzahnt. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Konzeption der öffentlichen Räume und der Wegverbindungen.

Sie nutzt das Vorhaben als Hebel, um Aufenthalts- und Bewegungsräume für Menschen aus allen Teilen des Basler Grossraums zu schaffen und damit die unterschiedlichen nationalen Seiten stärker in den Agglomerationsraum zu integrieren.

3. Drehung: Novartis und die Roche-Towers – markante Prioritätensetzungen

Das auf einem Masterplan von Vittorio Magnago Lampugnani beruhende Novartis-Areal und die beiden ­Roche-Türme von Herzog & de Meuron schreiben die Unerbittlichkeit eines längst global gewordenen Standortwettbewerbs um Innovationsfähigkeit und kluge Köpfe mit markanten architektonischen Setzungen in den Basler Stadtraum ein.

Während das Novartis-Areal seine urbanistisch als Stadtquartier idealisierte Campus-Realität über im strengen stadträumlichen Raster eingefasste, gestalterisch ambitionierte Ge­bäude konkretisiert und durch eine Mauer von den Zugriffen und Blicken der umliegenden Stadt abschottet, ist der gerade erst fertig gestellte erste Roche-Tower ein schon aus grosser Distanz unübersehbarer Stadtbaustein, der schon bald durch einen zweiten Turm ergänzt werden dürfte.

Beim Novartis-Areal wie bei den Roche-Türmen übersetzt Architektur Unternehmensstrategien vor dem Hintergrund harter unternehmerischer Fakten in urbanistische Konzepte der Konzentration von Ressourcen und Kompetenzen. Sie manifestieren nicht einfach nur die Präsenz der viel beschworenen Wissensgesellschaft in der Stadt.

Die daraus resultierenden markanten baulichen Verdichtungen machen deutlich, was solche Unternehmensstrategien heutigen Städten abverlangen. Der Autor dieser Zeilen kann sich in diesem Zusammenhang noch gut an eine Podiumsveranstaltung im baz-­Forum vor einigen Jahren erinnern, an der Herzog & de Meuron ihr Vorgehen und die Überlegungen dahinter en détail darlegten.

Die Herleitung der Stapelungen von Terrassen und der Einsatz der Horizonalität der Brüstungsbänder plausibilisierten dem Publikum triftig die innere Logik der Formfindung und der Organisation des Gebäudes. So kam es an der anschliessenden Diskus­sion im Plenum auch keineswegs zu den von einem Ausstehenden wie mir erwarteten Wortgefechten um die Umwertung der bisherigen Hierarchie im Weichbild der Stadt, hatte doch das Grossmünster mit diesem Vorhaben endgültig seine dominante Position in der Stadtsilhouette aufzugeben.

Das Publikum schien um die Prioritäten zu wissen, mit denen diese sich auf den Planwelten ankündigenden Friktionen zwischen aktuellen Herausforderungen an die Stadtentwicklung und der Bewahrung der gewachsenen und lieb gewonnenen Konturen des Stadtbilds zu behandeln sind. Heute mag die nicht mehr zu leugnende Präsenz des Turms im Stadtbild bei nicht wenigen ob der auf Schritt und Tritt sichtbaren Folgen dieser Prioritätensetzung Irritationen ausgelöst haben. An der nüchternen Faktenlage freilich verändert sich nichts.

4. Drehung: das Tram 3 nach Saint-Louis

Dieser Tage erfolgte der Spatenstich für die Tramlinie 3, die Basel bald mit dem Bahnhof Saint-Louis im Elsass verbinden wird. Das Projekt vernetzt nicht nur verkehrs­infrastrukturell zukunftsfähig, was im Alltagsleben seit Jahrzehnten zusammengehört.

Verschiedene Beispiele aus dem In- und Ausland, von der Glattalbahn bis zu neuen Strassenbahnen in Strasbourg, Karlsruhe oder Bordeaux haben deutlich gemacht, dass solche Verkehrsprojekte als Katalysatoren für städtebauliche Aufgabenstellungen genutzt werden müssen, indem entlang der Linienführungen an den Haltepunkten Chancen zu einer städtebaulichen Neuorientierung unter den Vorzeichen von Verdichtung und Nutzungsmischung entstehen.

Die Strassenbahnlinie 3 erlaubt in diesem Zusammenhang gar einen konzeptionellen Quantensprung: Entlang der Linie und um den Endpunkt am Bahnhof von Saint-Louis lassen sich Stadtquartiere aus einem trinationalen Zusammenhang denken. Über solche Bestrebungen erhält der Funktionalraum robustere urbanistische Texturen, indem er Teilräume baulich stärker an den Gesamtzusammenhänge anschliesst.

5. Drehung: z. B. DB-Areal, Gundeldinger Feld – Transformation weiter denken

Die planerischen buzzwords unserer Tage sind wohl Partizipation und zivilgesellschaftliche Initiative. Beide Begriffe gelten als Hauptingredienzen einer Trans­formationspolitik, die die Zukunft von Stadträumen nicht mehr länger nur Experten überlassen möchte, sondern Bestand im weitesten Sinn als ele­mentare Ressource der Stadtentwicklung begreift, die es sorgsam zu aktivieren gilt.

Diese projektorientierte Vorgehensweise hat in Basel eine lange Tradition. Dabei sind besonders der Umbau von unten einer ehemaligen Maschinenfabrik im Gundeldinger Feld in einen neuen Brennpunkt des Quartierlebens zu nennen – oder der Transformationsprozess auf dem ehemaligen DB-Areal, wo über Zwischennutzungen das Gebiet neu auf der mental map verortet wurde und somit die Grundlagen für den Wettbewerb formte.

6. Drehung: Birspark-Landschaft – urbane Zukunft von der Landschaft her denken

Im Birstal verdichten sich Gedanken zu urbanistischen und landschaftsplanerischen Konzepten, die eine scheinbar generische Gebrauchslandschaft zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Stärkung der räumlichen Identität machen. Dass wir es im Birstal mit der Landschaft des Jahres 2012 der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz zu tun haben, unterstreicht, wie wenig romantische Landschaftserwartungen und oder Vorstellungen von Harmonie Orientierungspunkte eines tragfähigen Landschaftsverständnisses sein können.

Dort, wo die Grenzen mehrerer Gemeinden zusammenstossen, haben über die Jahre Autobahnbau, expandierende Siedlungsgebiete und öffentliche Zweckbauten einen bewaldeten Flusslauf zu einem landschaftlichen Torso verkommen lassen, wie man ihn vielerorts findet. Die aktuellen planerischen Aktivitäten im Birstal sind eine überzeugende Illustration dafür, welche Chancen aus empathischen Annäherungen an solche Resträume resultieren können.

Sie wandeln diese Räume zum wichtigsten Einsatz bei der Qualifizierung der umliegenden Siedlungsräume, weil sie die landschaftlichen Qualitäten der Zukunft aus der Verwebung der Resträume mit ihrer Umgebung denken. Damit findet eine elementare Erkenntnis der letzten Jahre zum öffentlichen Raum von den Innenstädten ihren Weg in die verstädterten Landschaften: Erst in der konzeptionell reflektierten Verwebung von Innen und Aussen können solche der Öffentlichkeit zugedachten Räume die ihnen zugewiesenen Aufgaben tatsächlich übernehmen. Landschaft und Siedlung werden so eins.

7. Drehung: die IBA Basel 2020 – Arbeiten an der Software der Stadt

«Au-delà des frontières, ensemble – Gemeinsam über Grenzen wachsen» lautet das Motto der IBA Basel 2020. Basel wird damit nicht nur die erste Internationale Bauausstellung ausserhalb Deutschlands ausrichten, es stellt sich damit explizit der Herausforderung, einen trinationalen Alltags- und Lebensraum zu entwickeln. Die IBA tut dies als Ausnahmezustand auf Zeit.

Sie entwickelt sich ausserhalb der üblichen Logiken und Sachzwänge des planerischen Business as usual und kann deshalb aussergewöhnliche Prozesse anstossen. Mit der IBA Basel erhält der trinationale Raum aber keine Immobilienmaschine, die Grossvorhaben umsetzt und ganze Landschaftszüge neu ausrichtet. Die IBA in Basel fokussiert anstelle der Hardware der Stadt auf neue Formen ihrer Programmierung.

Sie begreift sich als Plattform, die zwischen Verwaltungseinheiten, aber auch zwischen privater und öffentlicher Seite Katalysatoren für neue Formen der Zusammenarbeit ermöglicht. Sie trägt die Option des Experiments und die Option neuer Allianzen in den Lebensraum im Dreiländereck, indem sie das terrain vague der Agglomeration zu ihrem erklärten Arbeitsfeld erhebt.

Die IBA kann so in Basel den gedanklichen Freiraum für Politik und Behörden schaffen, der anderen Stadtlandschaften fehlt. Auf diese Weise lassen sich über IBA-Projekte entlang des Rheins oder des Flusslaufs der Wiese übergeordnete räumliche Zusammenhänge wiederherstellen, die über Jahrzehnte unterbrochen worden waren, oder sie tragen im Projekt «Aktive Bahnhöfe» die Optionen der Verdichtung und Durchmischung in die Verzweigungen des trinationalen öV-Systems.

Basel in sieben Motiven – eine Gesamtschau

Die sieben Drehungen am Kaleidoskop der Stadt Basel haben drängende Arbeitsfelder an der Stadt der Gegenwart zum Vorschein gebracht. Planerisch verbindet sie die Einsicht, dass der anstehende Um- und Weiterbau der sich aus diesen (und anderen, hier nicht thematisierten) Elementen konstituierenden widersprüchlichen Stadtlandschaft nicht mehr in die Ordnungen von Masterplänen und Richtplänen zurückziehen kann.

Von der Tramlinie 3 über die öffentlichen Räume und Verkehrsinfrastrukturen im 3Land zur Weiterentwicklung der fragmentierten Landschaftsräume an der Birs wird deutlich, dass die Antworten immer lokal und spezifisch ausfallen müssen, unter Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren, die das Wort Beteiligung wirklich verdient – verbindlich, kontinuierlich und materialisiert in konkreten Projekten.

Doch bei aller Einsicht in die Notwendigkeit einer projektorientierten Planung: Die Stadt der Gegenwart in Basel wie anderswo verlangt nach mehr als einer Sequenz von virtuos geschaffenen Akupunkturen. Sie verlangt nach einem belastbaren, weit geteilten übergeordneten und Konzept gewordenen Konsens für die Zukunft dieses Agglomerationsraums, der es versteht, die hier genannten und andere «Chantiers» aufzunehmen und ihnen eine übergeordnete Orientierung zu geben.

Dass diese Vorstellung in ausreichender Konkretion in Basel wie anderswo in Europa noch fehlt, belegt noch einmal, wie klar uns die Konturen der gegenwärtigen Stadtbedingungen in Europa entgegentreten, wenn wir uns vertieft auf Basel und sein Umland einlassen.

TEC21, Di., 2016.01.05



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2016|01-02 Basel – Stadt im Dreiländereck

19. Dezember 2014Angelus Eisinger
Neue Zürcher Zeitung

Sankt Moritz ist überall

In der Hochsaison leben im Grossraum St. Moritz mehr als 100 000 Menschen. Mit dem Boom kamen die baulichen Banalitäten, so dass das Oberengadin mitunter wie eine Agglomeration im Mittelland aussieht.

In der Hochsaison leben im Grossraum St. Moritz mehr als 100 000 Menschen. Mit dem Boom kamen die baulichen Banalitäten, so dass das Oberengadin mitunter wie eine Agglomeration im Mittelland aussieht.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

London plant wieder

Im Londoner Osten findet zwei Jahrzehnte nach dem Umbau der Docklands zum Finanzzentrum erneut ein Umbruch statt. Bis 2012, wenn hier die Olympischen Spiele stattfinden, soll das East End, die «schmutzige Seite der Stadt», ein «attraktiver Standort» werden. Die Renaissance der Planung unter Mayor Ken Living-stone und die im «London Plan» publizierten Szenarien der Stadtregierung vermitteln das Bild einer Metropole, die nach dem Laisser-faire der Thatcher-Ära wieder Verantwortung für das Gemeinwohl übernimmt. Doch ist unsicher, ob das gelingt; die Spielräume der Planung sind klein, die Interessen vielschichtig.

Im Londoner Osten findet zwei Jahrzehnte nach dem Umbau der Docklands zum Finanzzentrum erneut ein Umbruch statt. Bis 2012, wenn hier die Olympischen Spiele stattfinden, soll das East End, die «schmutzige Seite der Stadt», ein «attraktiver Standort» werden. Die Renaissance der Planung unter Mayor Ken Living-stone und die im «London Plan» publizierten Szenarien der Stadtregierung vermitteln das Bild einer Metropole, die nach dem Laisser-faire der Thatcher-Ära wieder Verantwortung für das Gemeinwohl übernimmt. Doch ist unsicher, ob das gelingt; die Spielräume der Planung sind klein, die Interessen vielschichtig.

Aldgate, ein Verkehrskreisel, dessen bauliche Umgebung allen Aufwertungsmassnahmen zu trotzen scheint, markiert den östlichen Zugang zum Nervenzentrum der Global City. Bis 1761 stand hier ein Stadttor, und auch heute wird der Eintritt zur «Square Mile» streng kontrolliert: Strassenmarkierungen und Videoüberwachung sorgen dafür, dass alle, die mit ihrem Auto passieren, die Congestion Charge entrichten, jene Gebühr für den motorisierten Individualverkehr, die Londons Innenstadt ein wenig vom Stauchaos befreit hat. Hier verläuft auch der Ring of Steel, den die Sicherheitsbehörden nach dem IRA-Bombenterror der 1980er- und frühen 1990er-Jahre rund um den Finanzdistrikt errichtet haben, mit Kameras, Wachhäuschen und Fahrbahnverengungen an den Einfahrten. Unter dem Asphalt liegt ein Gleisdreieck des U-Bahn-Netzes, hier zweigt die District Line vom Stammnetz der Circle Line ins East End ab. Am 7. Juli 2005 war es einer der Schauplätze der Anschläge islamistischer Attentäter auf Londons öffentlichen Nahverkehr (Bild 11).

Aldgate ist das Scharnier zwischen Innenstadt und East End. Hier treffen die unterschiedlichen Interessen und Lebenswelten der 7.3 Mio. Londoner aufeinander. Auf der einen Seite steht das boomende Geschäftsviertel mit seiner global orientierten, hochqualifizierten Klasse von Managern und seinen Armeen von Angestellten. Auf der anderen beginnen die deindustrialisierten Aussenquartiere mit einer Bewohnerschaft, die häufig über eine geringe Berufsqualifikation verfügt und schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs nachgeht.
Bereits Brick Lane, eine Strasse, die unweit von Aldgate in Nord-Süd-Richtung durch das East End verläuft, liegt im Schatten der City. Sie stellt einen «liminal space» dar, wie die Stadtforscherin Sharon Zukin diese Schnittpunkte der unterschiedlichen Logiken, Dynamiken und Realitäten einer postindustriellen Stadt nennt.[1] Seit Jahrhunderten wird hier der Textilhandel abgewickelt, doch seine Bedeutung hat stark abgenommen. Zuerst wurde der Markt von Hugenotten, später von Juden kontrolliert. Seit den 1960er-Jahren haben ihn muslimische Einwanderer aus Bangladesch übernommen, von denen heute rund 40000 im East End leben. Die Synagoge wurde schon 1976 zur Moschee umgenutzt, nur eine Bagel-Bäckerei erinnert noch an die ehemals jüdische Einwohnerschaft der heutigen «Banglatown».

Einen kritischen Blick auf die gelebte Multikulturalität in «Banglatown» lieferte 2003 der Roman «Brick Lane» von Monica Ali. Ihre Darstellung eines Frauenschicksals kam zwar beim britischen Publikum gut an. Einige Wortführer der muslimischen Gemeinde betrachteten den Roman aber als verunglimpfende Darstellung ihrer Lebensweise und blockieren derzeit seine Verfilmung vor Ort.
Noch immer ist das East End für viele Londoner eine Terra incognita. Doch in den letzten Jahren hat sich die Gegend um Brick Lane immer mehr zu einem Schwerpunkt des Nachtlebens und zur Touristenattraktion entwickelt. Zahlreiche Clubs und um Kundschaft kämpfende Curry-Restaurants bieten einen ersten Zugang zum Londoner Osten. Der Gentrifizierungsprozess gewann an Fahrt, als der Spitalfield’s Market, eine alte Obst- und Gemüsemarkthalle, von Trödelhändlern übernommen und die ehemalige Truman-Brauerei zum Kulturzentrum mit Szenecafés und Boutiquen umgenutzt wurde. Inzwischen stösst man unweit der Brick Lane auf die Dependance der Zürcher Galerie Hauser & Wirth, die wie andere Galerien die Gegend als Adresse für zeitgenössische Kunst erschliesst. Das Gelände des Güterbahnhofs Bishopsgate ist leergeräumt, hier soll eine grosse Büroüberbauung nach Plänen von Kees Christiaanse entstehen.

Der rote Ken – Kaiser ohne Land?

Der Ausbau der East London Line dürfte das East End über «Banglatown» hinaus zum attraktiven Stadtviertel machen. Ihre bisherige Endstation Shoreditch wird seit Juni wegen der Baumassnahmen nicht mehr angefahren. Hinter Brick Lane versteckt, kündet der Zustand dieses Bahnhofs von der jahrzehntelangen Unterfinanzierung von London Underground und erinnert daran, dass die traditionellen Arbeiterbezirke einst nur zögerlich in den Einzugsbereich des U-Bahn-Netzes integriert worden waren. Um die East London Line ins ebenfalls ärmliche Hackney zu verlängern, sollen nun stillgelegte Bahnstrecken reaktiviert und zusammengeschlossen werden. Eine langfristige Planung beabsichtigt, die East London Line mit weiteren Bahnstrecken im Norden, Süden und Westen zu verknüpfen und in einem neuen innerstädtischen S-Bahn-Ring (Orbirail) aufgehen zu lassen
(vgl.Kasten Bahnverkehr in London, S.13).

In den überlasteten Zügen von Londons U-Bahn-Netz ist einer allgegenwärtig: Ken Livingstone, Mayor of London. Sein Konterfei und sein fast schon zur Marke gewordener Name erwecken nach den Jahren, in denen die Alltagsbelange von den 33 Stadtbezirksverwaltungen geregelt wurden, die wichtigen Entscheidungen über Londons Zukunft aber die britische Regierung traf, den Eindruck: «London regiert sich wieder selbst». 1986 hatte Premierministerin Margaret Thatcher den Greater London Council (GLC), den damals vom linken Labour-Flügel dominierten Londoner Magistrat, kurzerhand abgeschafft, weil er sich ihren Angriffen auf den Sozialstaat widersetzte. Der Name des GLC-Vorstehers lautete – Ken Livingstone.

An die politische Spitze der Stadt zurückgekehrt, besitzt der «rote Ken», eingezwängt zwischen dem Zentralismus von Westminster und den Ansprüchen von Stadtbezirken mit bis zu 340000 Einwohnern, bisher nur eingeschränkte Macht. De facto unterstehen dem Mayor Polizei, Feuerwehr, Teile des Strassennetzes sowie der Grossteil des öffentlichen Verkehrssystems. Im Londoner Alltag sind es jedoch weiterhin die 33 Boroughs, in denen sich die Stadt für ihre Einwohner verkörpert. Sie haben ihre eigenen Parlamente, die Councils, sind für Volksschulen, Biblio­theken und die medizinische Grundversorgung zuständig und verwalten den sozialen Wohnungsbau. Auch die Council Tax, die von Thatcher eingeführte, je nach Stadtteil unterschiedlich hohe Kopfsteuer, wird von den Boroughs erhoben. Alex Bax, Senior Policy Advisor von Ken Livingstone, behauptet, dass der Londoner Bürgermeister nur 10% der Kompetenzen seiner Kollegen in anderen europäischen Grossstädten besitze. Die seit 1997 in Grossbritannien regierende Labour-Partei hat sich trotz ihres Bekenntnisses zur Dezentralisierung lange gescheut, Befugnisse von der nationalen auf die regionale oder die städtische Ebene zu übertragen. Im Zuge einer Überprüfung ihrer regionalpolitischen Ziele beabsichtigt sie jetzt, Londons Rathaus mit mehr Entscheidungsgewalt auszustatten. Die wichtigste Änderung: In Zukunft kann der Bürgermeister über das bislang national verwaltete, 850 Mio. Pfund schwere Budget für die Wohnbauförderung in London verfügen. Für die Verbesserung der beruflichen Ausbildung und Qualifikation der Arbeitskräfte soll demnächst ein von Livingstone geführtes Skills and Employment Board zuständig sein.

Die Vertreter der Boroughs kritisieren, dass die Neuausrichtung der kommunalen Zuständigkeiten die Autonomie der Bezirke beschneide. Denn bisher liegt auch das Recht zur Ausschreibung und Genehmigung von Bauprojekten in ihrer Hand. Der Bürgermeister kann auf planerische Entscheidungen der Bezirke nur über Leitbilder, Empfehlungen und Richtpläne einwirken. Als stärkste Handhabe bleibt ihm die Möglichkeit, Vorhaben zu stoppen, die der gesamtstädtischen Planungsstrategie zuwiderlaufen. Künftig soll der Mayor aber Entwicklungsprojekte, die von stadtweiter Bedeutung sind, selbst in die Wege leiten können – auch über Einsprüche der Bezirke hinweg. Livingstone hat jedoch verlauten lassen, dass er diese Befugnis nur sparsam und vor allem zum dringend nötigen Bau von erschwinglichem Wohnraum in Anspruch nehmen will.

Der «London Plan»

Die hinzugewonnene Entscheidungsgewalt ist die Anerkennung Westminsters für Livingstones starke Regierungsleistung während der letzten sechs Jahre. So betreibt Londons Stadtoberhaupt mit beschränkten Mitteln eine äusserst ambitionierte Stadtplanung, die er 2004 im «London Plan» bündelte. Dieser soll die künftige Entwicklung Londons in eine sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltige Richtung lenken. Drei Jahre dauerte die Arbeit an dem Planwerk, das sich 2006 in der Vernehmlassung befindet. Den eigentlichen Anstoss dazu gab das Gesetz zur Schaffung der Greater London Authority (GLA). Es verpflichtete die Stadtregierung, eine Strategie zur räumlichen Entwicklung Londons für die nächsten 15bis20 Jahre zu entwerfen, die das Stückwerk aus bisher existierenden Plänen ersetzen soll.

Die GLA geht bei ihrer Planung von der Annahme aus, der in der Globalisierung begründete Zentralisierungsdruck werde über die nächsten Dekaden anhalten. Sie rechnet von 2003 bis 2016 mit einer Zunahme der Londoner Bevölkerung um 810000 Einwohner. Um dieses Wachstum aufzufangen, müssten pro Jahr rund 30000 neue Wohnungen errichtet werden. Die Planer kalkulieren auch mit 636000 neuen Jobs vor allem im Finanz- und Firmendienstleistungssektor in der City und in den Docklands sowie in der Freizeit-, Tourismus- und Kulturindustrie.

Livingstone problematisiert die Wachstumsprognosen nicht. Im Gegenteil: Jeder Versuch, das Wachstum zu bremsen und London die zum Erhalt seiner Wettbewerbsfähigkeit notwendigen Ressourcen zu verweigern, würde, so sein Vorwort zum 2002 erschienenen ersten Entwurf des London Plan, «die ökonomische Effizienz der Stadt schwächen, die Lebensqualität der Londoner mindern und Londons Umwelt zerstören».2 Denn aus Livingstones Sicht bietet der Zentralisierungsdruck die Chance, den ökologisch bedenklichen Suburbanisierungstendenzen der vergangenen Jahrzehnte zu begegnen. Keinesfalls sollen die neuen Wohnungen und Arbeitsplätze den Green Belt, den nach 1945 um London gelegten Grüngürtel, tangieren. Vielmehr soll innerhalb des Green Belt zwischen schon vorhandenen Bebauungen oder auf stillgelegten Industriearealen verdichtet werden, und zwar mit Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr.

Der London Plan weist die grössten dieser spezifischen Lagen als «Opportunity Areas» aus. Sie sollten mindes-tens 5000 Jobs, 2500 Wohnungen oder eine Mischung aus beidem beherbergen und mit Einkaufs-, Freizeit- und Bildungseinrichtungen ausgestattet sein. Daneben werden Gebiete, die unter einem hohen Mass an sozialer Ausgrenzung und ökonomischem Niedergang leiden, zu «Areas of Regeneration» erklärt. Planung soll hier mit gesundheits-, sicherheits-, bildungs-, arbeits- und wohnungspolitischen Programmen verzahnt werden, um die durch den Wohnort bedingten Benachteiligungen der Bevölkerung dieser Quartiere innerhalb der nächsten zehn bis zwanzig Jahre zu beseitigen.[3]

Diese strategischen Vorgaben mit ihren stadtweiten Effekten erfordern die koordinierte Anstrengung der 33 Boroughs. Deren Entwicklungspläne müssen den neuen gesetzlichen Grundlagen der GLA zufolge eine «generelle Konformität zum Gesamtplan» aufweisen. Um die Zusammenarbeit zu forcieren, teilt der London Plan die Stadt in die fünf Subregionen West-, North-, Central-, South- und East-London ein, für die es konkretere Planungsrahmen zu erarbeiten gilt.

Den Osten regenerieren

Ein solcher Planungsrahmen liegt für den Londoner Osten seit Mai 2005 vor. Die Stadtregierung weist der Entwicklung dieser Subregion oberste Priorität zu, denn ihr haftet nach wie vor der Ruf an, die «schmutzige Seite» der Stadt zu sein, obwohl der Hafen, die Werften und der überwiegende Teil der Fabrikation, die den Osten über Jahrhunderte zum wirtschaftlichen Motor Londons gemacht hatten, spätestens Ende der 1970er-Jahre stillgelegt wurden (Bild 12). Nach 1980 entstanden in den Docklands, dem von der Thatcher-Regierung angeschobenen Stadtentwicklungsprojekt, zwar 17000 neue Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Doch der Bezirk Tower Hamlets, in dem die Docklands liegen, gehört wie Hackney und Newham weiterhin zu den zehn ärmsten Verwaltungseinheiten Englands. Die drei Boroughs weisen mit bis zu 16% die höchsten Arbeitslosenzahlen des Landes auf. Nirgendwo sonst in London leben so viele Menschen in derart vernachlässigten Sozialbausiedlungen – eine Folge des ebenfalls unter Thatcher vollzogenen Rückzugs des Staates aus der Verantwortung für ihren Unterhalt (vgl. Kasten Das gentrifizierte Hochhaus»», S.16). Deshalb identifiziert der London Plan weite Teile der drei Bezirke als «Areas of Regeneration».
In deren unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich aber auch die meisten der «Opportunity Areas», die der London Plan für den Osten markiert, wie etwa das Gelände der Olympischen Spiele 2012. Nicht zuletzt die erklärte Absicht der Stadtregierung, die Ausrichtung der Spiele als aktives Instrument zur Aufwertung des vernachlässigten East End einzusetzen, überzeugte das IOC von Londons Bewerbung, weshalb die Stadt überraschend den Zuschlag vor der Favoritin Paris bekam. Wenige Kilometer östlich von Brick Lane entstehen nun innerhalb von sechs Jahren im ehemals stark industrialisierten Lower Lea Valley ein neues Olympiastadion und Wettkampfarenen für Schwimmen, Hockey, Basketball, Handball und Radsport (vgl. Kasten Die Olympischen Spiele 2012, S.17).

Die Kandidatur Londons war auch deshalb erfolgreich, weil die Sportstättenplanung sich auf schon fast fertig gestellte Verbesserungen des öffentlichen Transportsystems gründen kann. So wird 2007 mitten auf dem zukünftigen Olympiagelände der Bahnhof Stratford International eröffnet, eine Haltestelle auf dem Channel Tunnel Link für die Züge vom Kontinent, der dann weiter bis in den erneuerten Bahnhof St.Pancras am nördlichen Innenstadtrand führt. Von St.Pancras soll 2012 die unterirdische Shuttle-Verbindung Zehntausende Olympiabesucher in nur sieben Minuten ins Lower Lea Valley befördern.

Südöstlich von Stratford International und des Olympiageländes entsteht ein komplett neues Büro- und Geschäftsviertel, das nach der City und den Docklands als dritter Londoner Standort für global agierende Finanz- und Firmendienstleistungen vorgesehen ist. Hier sollen 30000 der rund 213000 Jobs angesiedelt werden, für die in den «Opportunity Areas» des Ostens laut London Plan Kapazität besteht.[4]

Planung als Symbolpolitik

Die Greater London Authority versucht mit Hilfe des London Plan der zunehmenden sozialräumlichen Polarisierung der Stadt entgegenzutreten, die nach 1980 im Gefolge von Deregulierung und dem Aufstieg Londons zur prosperierenden Global City einsetzte. Der Banken- und Firmendienstleistungssektor der Stadt erwirtschaftet heute rund ein Fünftel des britischen Bruttosozialprodukts. Doch dem Londoner Stadtforscher und Planer Michael Edwards zufolge wirkte das metropolitane Wachstum der vergangenen zwei Jahrzehnte ebenso als Armuts- wie als Wohlstandsmaschine. Statistiken legen die Schattenseiten der Entwicklung rasch frei: So leben über 40% der Kinder Londons in Armut, um nur ein Beispiel zu nennen.[5]
Livingstone will von nun an ökonomisches Wachstum nachhaltig gestalten und alle Bewohner daran teilhaben lassen. Diese Zielsetzung lässt sich heute nicht mehr mit flächendeckenden und starren Konzepten und noch viel weniger mit in Architektur und Städtebau verfestigten Bildern einer Stadt oder Region verfolgen. Planung als Antwort auf die Effekte der Globalisierung und vergangener Privatisierungspolitiken erfordert vor allem Moderation, Vertrauensbildung und Kommunikation – erst recht in London, wo nationalstaatliche Ministerien und Behören, die Verwaltungen der 33 Boroughs, Nichtregierungsorganisationen und Nachbarschaftsinitiativen und natürlich auch die Privatwirtschaft im Planungsprozess mitreden. Livingstone versucht mit seiner für die kommunale Politik ungewöhnlich gut geölten PR-Maschinerie und Schlagwörtern wie «accessible city», «inclusive city» oder «examplary sustainable world city» die Hoheit über den Planungsdiskurs zu erlangen. Dabei wendet er auch geschickt die Taktik der Personalisierung und Symbolisierung an. So realisierte Norman Forster 2002 Livingstones Amtssitz an der Themse gegenüber dem Tower of London als futuristisch transparentes Objekt, das zugleich Zukunftsorientierung und Verschlankung der Bürokratie demonstrieren soll. Ein weiterer Etablierter der britischen Architekturszene, Sir Richard Rogers, ist Chef der Architecture and Urbanism Unit des Rathauses. Diese übernimmt die Funktion einer Ratgeberin für «good urban design» und hat jüngst eine Richtschnur für Behörden zur Durchführung von – bisher praktisch unbekannten – Architektur- und Städtebauwettbewerben formuliert.

Livingstones Planwerk: offene Fragen

Es entbehrt nicht der Ironie, dass die Kritik an Livingstones Entwicklungsstrategie sich ausgerechnet daran entzündet, dass diese das Prunkstück der Londoner Planungsgeschichte, den Green Belt, für sakrosankt erklärt. Generationen europäischer Planer haben ihre britischen Kollegen um das Amalgam von Siedlungstrenngürtel, Erholungsraum und Agrarfläche beneidet. Heute sind es gerade die älteren britischen Planer wie Sir Peter Hall, Michael Edwards oder Drummond Robson, die den Green Belt als mittlerweile sinnentleertes Relikt einer längst vergangenen Ära taxieren. Für sie steht seine Unantastbarkeit besseren Lösungen im Weg. Diese Sichtweise wird leicht nachvollziehbar, betrachtet man die Entwicklung der durchschnittlichen Reisezeit zum Arbeitsplatz in der Metropolregion. Zwischen 1991 und 2001 haben die Pendeldistanzen – durchaus im Einklang mit dem europaweiten Trend – erheblich zugenommen, und zwar gerade in den Distrikten, die am weitesten von der Londoner City entfernt sind. Mit anderen Worten: Der Green Belt hat die Sogwirkung des Zentrums nicht unterbinden können. Vielmehr hat er, weil er viel potenzielles Siedlungsgebiet besetzt, zu einer beträchtlichen Verteuerung der Immobilien geführt.
Mit der Erhaltung des Green Belt vergibt der heutige London Plan nach Ansicht seiner Kritiker die Chance, die monozentristische Tendenz des jüngsten Entwicklungsschubs aufzubrechen. Alternative Wege zu beschreiten hiesse aber, den Fokus auf die Stadt aufzugeben und ein grossräumiges Vorgehen anzustreben, wie dies 1944 der Greater London Plan tat (vgl. Kasten S.16). Vorschläge dieser Art liegen vor, so das Orbinet-Konzept, das mehrere Verkehrsknoten in den äusseren Stadtteilen effizient miteinander zu verbinden sucht. Damit liesse sich nicht nur das Zentrum entlasten, sondern die Planer könnten sich direkt der Aufgabe stellen, an welcher sich nach Ansicht vieler Experten die Zukunft Londons entscheiden wird: der Entwicklung der Suburbs, in denen heute der grösste Teil der Londoner Bevölkerung zuhause ist.[6]
Livingstones London Plan, meinen seine Kritiker, weiche dieser Herausforderung aus. Stattdessen entfache er eine unerquickliche Debatte über die Verdichtung der City mit weiteren, diesmal jedoch ökologisch korrekten Hochhaus-Ikonen. Livingstones Politik vertraue auf eine Fortsetzung des ökonomischen Booms und treffe keine Vorkehrungen für den Fall, dass die Wachstumsmotoren der Londoner Entwicklung ins Stottern kommen sollten.

Kooperationen innerhalb begrenzter Spielräume

Livingstone untersteht ein Gebiet, dessen Einwohnerzahl jene der Schweiz übertrifft. Doch anders als die Eidgenossenschaft hat London innerhalb eines knappen halben Jahrhunderts vier unterschiedliche Regierungsformen erfahren (vgl. Chonik S.12). Politische und wirtschaftliche Umbrüche haben aus London einen fragmentierten Raum gemacht, in dem sich die Machtsphären lokaler, regionaler und nationaler Institutionen überschneiden, blockieren und teilweise wieder auflösen. In diesem Gebilde fehlt es dem Mayor an Macht, um direkt auf die Triebkräfte der Stadtentwicklung einzuwirken, wie dies seinen Vorgängern nach 1945 z.B. über Investitionslenkungen und grossflächigen so-zialen Wohnungsbau möglich war. In den sechs Jahren seiner Amtszeit hat Livingstone jedoch demonstrieren können, dass die wichtigsten Mittel der Planung längst nicht mehr das Reissbrett und die grossen Entwürfe sind, sondern mediale Präsenz und ein moderierender Regierungsstil, der die unterschiedlichsten Akteure in Entscheidungsprozesse einbindet. So lassen sich trotz des beschränkten Handlungsspielraums Dinge in Bewegung setzen. Beispielsweise schafft der London Plan eine stadträumliche Wahrnehmung über die Grenzen der Boroughs hinweg und befördert so die Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit und neue Formen der Kooperation. Oder er legt Orientierungslinien für Standards im Wohnungsbau fest und präsentiert in den von Richard Rogers orchestrierten Arbeiten Typologien höherer Dichte.

Der London Plan ist voll von Absichtserklärungen zu allen zentralen Belangen der Londoner Stadtwirklichkeit. Doch die Umsetzung, insbesondere von Livingstones sozialpolitischen Zielen, hängt wesentlich davon ab, inwieweit es der Greater London Authority gelingt, stabile Kompromisse zu etablieren zwischen den stark divergierenden Interessen der Privatwirtschaft und einer breiten, auf staatliche Unterstützung angewiesenen Bevölkerung. Ein letzter Blick auf das East End macht den Balanceakt deutlich, den die GLA vollführen will. Ohne eigene Ressourcen ist die Stadt auf Developer angewiesen, um den Raum östlich von Aldgate baulich weiterzuentwickeln. Doch mit ihren auf grösstmögliche Rendite ausgerichteten Inszenierungen einer exklusiven Urbanität waren Developer in der Vergangenheit treibende Kräfte bei der Verdrängung ärmerer Bevölkerungsgruppen. Die Frage stellt sich, ob der Bau des Olympiageländes im Lower Lea Valley oder des neuen Geschäftsviertels in Stratford dieses Muster durchbrechen kann. Es bleibt abzuwarten, ob es dem Bürgermeister mit der erweiterten Planungsbefugnis und seiner neu gewonnenen Zuständigkeit über die Wohnungsbauförderung gelingt, der sozialräumlichen Polarisierung Einhalt zu gebieten. Mit der Verkehrspolitik hält Livingstone jedoch einen Trumpf in der Hand, den er jetzt schon im Sinne der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit der Stadtentwicklung einzusetzen versucht. Die Eindämmung der allgegenwärtigen Staus mit Hilfe der Congestion Charge, der Ausbau des öffentlichen Verkehrs und erste Tarifermässigungen haben der Stadt schon jetzt eine neue Prägung verliehen. Die Massnahmen zielen nicht zuletzt darauf ab, den Lebens- und Arbeitsalltag der Londoner mit geringerem Einkommen zu erleichtern. Ihr Erfolg und ihre Popularität könnten für jenen Rückhalt in der Bevölkerung sorgen, den die Stadtregierung braucht, um die ambitionierten Ziele des London Plan zu erreichen. Angesichts der vielschichtigen Machtfelder und Interessenlagen, die in der Global City aufeinanderstossen, ist Planung hier ein Moderieren instabiler Koalitionen in einem unberechenbaren Kräftespiel.


Zusatz 1:
Vier Regierungsformen Londons

1888 –1964 London County Council (LCC): erste Londoner Zentralbehörde
1965 –1985 Greater London Council (GLC): Reorganisation Grossraum London zu 33 Bezirken (bis heute gültige Einteilung)
1986 –1999 London Planning Authority Committee: Rumpfbehörde nach Abschaffung von GLC (Aufteilung der Kompetenzen zwischen Nationalregierung und 33 Stadtbezirken)
seit 2000 Greater London Authority (GLA) unter Mayor Ken Livingstone (erste Direktwahl eines Bürgermeisters in Londons Geschichte)


Chronik

1944 Veröffentlichung des Greater London Plan im Hinblick auf den Wiederaufbau, Verfasser Patrick Abercrombie im Auftrag der Churchill-Regierung, Entscheid zur Gründung von 10 New Towns in der Agglomeration
1947 Town and Country Planning Act der Atlee-Regierung: Stärkung der Planungshoheit von LCC, Eindämmung von Sonderprivilegien der City, Unterbindung von Grundstückspekulation
1951 Festival of Britain im Jubiläumsjahr der Weltausstellung von 1851: Ankurbelung von Regeneration am deindustrialisierten Südufer der Themse (Southbank-Kulturzentrum) und von Wohnungsbau im East End (Wohnbauausstellung Lansbury Estate)
1956 – 1968 nationale Wohnungsbaupolitik: Subventionierung von Wohnhochhäusern («tower flats», umfangreiche Flächen-sanierung und Wohnungsbauproduktion im East End
ab 1969 Umwandlung stillgelegter Hafenanlagen im East End, Landverkauf finanziert neuen Containerhafen an der Themsemündung
1970 Baubeginn Thamesmead: letzte GLC-Grosssiedlung mit 60  000 Einwohnern
1973 erste Docklands-Planungen unter GLC
1976 Annahme Greater London Development Plan (Vorgänger des aktuellen London Plan)
1981 Rückzug von GLC aus sozialem Wohnungsbau, schrittweise Übertragung des Bestands an Bezirke, Right to Buy (Privatisierung von 177  000 Einheiten in 10 Jahren)
1981 Gründung London Docklands Development Corpora-tion durch Thatcher-Regierung: marktwirtschaftlich orientierte Regeneration von East-End-Hafenbrachen, GLC und Bezirk Tower Hamlets verlieren Planungshoheit
1985 Local Government Act der Thatcher-Regierung: Beschluss zur Abschaffung von GLC
1987 Eröffnung London City Airport und Docklands Light Railway (privat erstellte Hochbahn zur Verbindung des Regenera-tionsgebiets mit der City)
1988 Baubeginn Docklands-Finanzzentrum Canary Wharf, Hauptmieter Credit Suisse First Boston
1994 Schaffung des Amts «Minister for London» im nationalen Umweltministerium
1999 Greater London Authority Act der Blair-Regierung: Beschluss zur Schaffung einer Londoner Zentralbehörde mit Bürgermeister
2000 Wahl von Ken Livingstone zum Mayor of London
2001 Schaffung von Transport for London: Zuständigkeit für
U-Bahn, Busse, Strassen, ab 2006 S-Bahn auf Stadtgebiet
2003 Einführung der Congestion Charge (Strassenmaut im Stadtzentrum, 2007 Verdoppelung nach Westen)
2004 Veröffentlichung London Plan, Wiederwahl von Ken Livingstone
2005 (6. / 7.  Juli) IOC-Entscheid für London als Austragungsort der Olymischen Spiele 2012
2005 Attentate islamistischer Terroristen auf öffentlichen Verkehr in London mit 52 Todesopfern
2007 unterirdische Schnellverbindung zum Kanaltunnel, neuer Eurostar-Terminal in London St.  Pancras, Stratford International als Zwischenstation im East End (Fahrzeit nach Brüssel: 1. 45 h)



Zusatz 2:
Bahnverkehr in London

London war nie eine Metropole aus einem Guss, sondern in den Worten des Schriftstellers Henry James «a tremendous chapter of accidents». Stadträumliche Orientierung hängt hier weniger von städtebaulichen Hierarchien als von individuellen Interessen ab. Im Unterschied zu Paris, Wien oder Berlin verfügt London über keine «eindeutige» Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie. Nach einem übergeordneten Strukturprinzip wurde jedoch in der Moderne gesucht: Im Hinblick auf den Wiederaufbau nach Kriegsende erfand der Greater London Plan von 1944 eher willkürlich eine konzentrische Struktur für den Londoner Grossraum. Immerhin erhielt der zweitäusserste von vier Ringen eine Bestätigung, als dort die Ringautobahn M25 gebaut wurde. Dass London heute als Stadt mit Kern und Rand wahrgenommen wird, hängt vor allem mit dem in den 1970er-Jahren eingeführten Tarifsystem des öffentlichen Verkehrs zusammen. So berechnet London Underground die Fahrpreise nicht nach zurückgelegter Distanz, sondern nach starren Tarifzonen. Diese legen sich als Ringe um das Herz von Greater London. Angesichts der horrenden Tarife kann sich ein Leben innerhalb oder ausserhalb von «Zone 1» auf das persönliche Budget ähnlich auswirken wie der Steuerfuss einer Schweizer Gemeinde.
Eher von infrastrukturellen als von stadtmorphologischen Ordnungen diktiert, erscheint die Modellierung des Grossraums London manchmal beinah japanisch. Ihre «Abstraktheit» ist Ausdruck schierer Grösse und Komplexität, aber auch die Folge einer britischen Tradition: Stets stand die Hauptstadt Machtdemonstrationen einzelner Akteure in Gestalt von städtebaulichen Inszenierungen skeptisch gegenüber. In diesem Vakuum wird Städtebau über Verkehrssysteme betrieben, seit Mitte des 19.  Jahrhunderts private Unternehmer die Grundlagen zu «London Underground» legten. Weil diese den Ausbau des Netzes zum wohlhabenden Westen und Norden forcierten, bekamen der Osten und der Süden erst mit grosser Verspätung U-Bahn-Anschluss.
Eine leistungsfähige und moderne Verkehrsinfrastruktur erhielt das East End erst im Zug der Docklands-Planungen. Als frühe Formen von Public-Private-Partnerships sind die Docklands Light Railway (DLR) und die Jubilee Line Beiprodukte von Thatchers privatisierter Stadtentwicklung. Sie waren als reine Direktverbindungen zwischen dem Dienstleistungszentrum Canary Wharf und dem Westen vorgesehen, konnten aber nach langen Verhandlungen zu Verteilern für das East End aufgewertet werden. Über die Docklands hinaus verlängert, bilden DLR und Jubilee Line nun das künftige Rückgrat für den Ausbau Stratfords zum metropolitanen Geschäftszentrum. Die weitere Erschliessung des Londoner Ostens beabsichtigt auch das seit kurzem aufliegende Crossrail-Projekt: Eine neue S-Bahn-Durchmesserlinie soll die U-Bahn entlasten und im Grossraum London eine grössere Mobilität in ost-westlicher Richtung ermöglichen. Dazu ist ein leistungsfähiger Innenstadttunnel mit vielen neuen Haltestellen bis hinaus zum Flughafen Heathrow vorgesehen. Allerdings bestehen erhebliche finanzielle und politische Unwägbarkeiten auf dem Weg zur Realisierung des Vorhabens, das ausserhalb von Livingstones Einflussbereich auf nationaler Ebene verhandelt wird. Umstritten ist Crossrail gerade auch im East End, würde doch seine Sogwirkung den wirtschaftlichen Druck auf Viertel wie Brick Lane weiter steigern.


Zusatz 3:
Greater London Plan 1944

Livingstones London Plan lässt Erinnerungen an den Greater London Plan wach werden – einen Meilenstein der Planungsgeschichte. Seine Verfasser, Patrick Abercrombie und John Henry Forshaw, legten 1944 im Auftrag der Churchill-Regierung ein Wiederaufbaukonzept für die massiv durch deutsche Bomben geschädigte Hauptstadt vor. Dabei erachteten sie die Zerstörungen als Chance zu einer grundlegenden Neuorganisation des Londoner Grossraums. Kernstück bildete ein Konzept von vier konzentrischen Ringen, deren entscheidender der Green Belt war. Dieser in einem Umkreis von 25 bis 35 Meilen um die City gelegte Landschaftsgürtel trennte die Stadt und den ersten Vorortering markant vom Umland ab. So sollte die seit Jahrzehnten anhaltende wirtschaftliche und demografische Sogwirkung der Hauptstadt gebrochen werden. Ausserhalb dieses Gürtels sah der Plan autarke Städte von bescheidener Grösse vor, wie sie dann nach 1947 mit den «New Towns» realisiert wurden.
Im Greater London Plan konkretisierte sich das an der Kleinstadt orientierte Stadtideal der britischen Planer jener Zeit, das auch Abercrombies Reorganisationsvorschläge für die inneren Zonen anleitete. Zugleich war der Plan Ausdruck eines sich seit der Jahrhundertwende verfestigenden planerischen Denkens, wonach gesellschaftliche Probleme wie die Dominanz Londons, die anhaltend prekären Lebensverhältnisse in der Stadt und die Strukturkrisen in Nord- und Mittelengland durch Raumpolitik zu lösen waren. Der Greater London Plan beabsichtigte eine regionale Umverteilung von Zehntausenden von Arbeitsplätzen und Wohnungen für über eine Million Menschen. Unter Planung verstand man damals massive bauliche Eingriffe: Abercrombie und sein Team entwarfen das städtische Leben auf dem Reissbrett, formulierten «Neighbourhoods» als ideale, überschaubare Wohneinheiten, definierten maximale bauliche Dichten, verteilten Quartiere und Stadtteile und konzipierten dafür neue Zent-ren mit allen notwendigen Einrichtungen.
Diese Form von Planung prägte die britische Politik bis Mitte der 1970er-Jahre. Doch bereits seit den 1960er-Jahren mehrten sich in den grossen Sozialbausiedlungen in London oder Liverpool die Zeichen dafür, dass es unmöglich war, gesellschaftliche Entwicklungen allein mit physischer Planung langfristig positiv zu beeinflussen. Erfolglos waren auch die Bemühungen, die New Towns als neue Wachstumskerne in Krisenregionen zu etablieren.
Der Greater London Plan fokussierte auf die Anforderungen der traditionellen britischen Industriegesellschaft und schuf dafür ein prägnantes räumliches Bild. Als gesellschaftliches Entwicklungsszenario hatte er aber für Probleme der Nachkriegszeit wie Massenmotorisierung oder Deindustrialisierung keine Antworten parat. Nach 1970 wurde seine Logik der technokratischen Bearbeitung und Standardisierung örtlicher Belange von lokalen Protestbewegungen in Frage gestellt. Die Konservativen warfen schliesslich den Stadtplanern vor, jede unternehmerische Initiative im Keim zu ersticken. In ihrer zweiten Amtszeit entmachtete Thatcher den Greater London Council und riss planerische Kompetenzen an sich. Die Umrüstung Londons in eine Schaltzentrale globalisierter Kapitalströme geschah nun mittels Entscheidungen hinter verschlossenen Türen, privaten Sonderwirtschaftszonen und Public-Private-Partnership-Projekten.


Zusatz 4:
Das gentrifizierte Hochhaus

Mit seinen exorbitanten Wohnpreisen steht London heute bei den Lebenskosten an der Weltspitze. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Nach Jahrzehnten des Bevölkerungsrückgangs begann 1984 die Einwohnerzahl von Greater London wieder zu wachsen. Zugleich befand sich damals der Staat auf dem Rückzug aus der Wohnungsbauförderung. Mietern wurde der Kauf ihrer Sozialwohnung ermöglicht, was den Wohnungsbesitz in öffentlicher Hand in zehn Jahren um beinah 200  000 Einheiten reduzierte. Das Wohnen wurde vom Kräftespiel des freien Marktes erst richtig erfasst, als sich im folgenden Jahrzehnt die Konjunktur erholte und die Zuwanderung zunahm, seit 2004 auch aus den neuen EU-Ländern in Osteuropa. Im East End spürt man diese gesteigerte Nachfrage lange vor den Aufwertungsmassnahmen, die im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen von 2012 zu erwarten sind. Bereits heute reagieren Immobilienfirmen mit spektakulären Instandsetzungen, so etwa in Whitechapel hinter der East London Mosque. Dort wird das ehemalige Männerwohnheim Tower House zu Lofts umgebaut. In dieser denkmalgeschützten viktorianischen Trutzburg logierte einst Stalin, als er, wie viele andere Russen, nach der fehlgeschlagenen Revolution von 1905 im East End unterkam.
Denkmalgeschützt ist auch das Keeling House in Bethnal Green (Bild 17). Das 1959 nach Plänen von Denys Lasdun errichtete Wohnhochhaus gehört zu den wenigen innovativen Beispielen der Baugattung «Tower Flats», die damals dank staatlichen Zuschüssen im ganzen Land starke Verbreitung fand. Keeling House war der Versuch, Eigenschaften der lokalen Reihenhausviertel in ein skulptural moduliertes System vertikaler «Nachbarschaften» zu übertragen. Dazu stapelte Lasdun 64 Duplexwohnungen an Laubengängen kleeblattförmig um einen offenen Erschliessungskern. Dieses von strukturalistischen Theorien inspirierte Cluster-Prinzip vermochte dennoch nicht den Herausforderungen standzuhalten, mit denen die britische Wohnungsbaupolitik in den folgenden Jahrzehnten konfrontiert war. Die Schwierigkeiten im Viertel, die sozialen Probleme der Mieterschaft, unzureichender Unterhalt und zunehmender Vandalismus in den öffentlich zugänglichen Bereichen des Gebäudes liessen Lasduns Turmexperiment schliesslich scheitern. Ohne den Eingriff des Denkmalschutzes wäre das Keeling House 1993 gesprengt worden. Von einem Developer grundlegend saniert und umgebaut, erscheint es heute wie ein Design-Fetisch aus dem Lifestyle-Magazin «Wallpaper». Den Sockel umgeben nun ein Gitter und ein japanisierender Teich mit schicker Beleuchtung; in der neu zugefügten Eingangshalle sitzt ein Portier. Eine mehrheitlich in der City tätige Bewohnerschaft ist bereit, für eine Zweizimmerwohnung über dem harten Pflaster von Bethnal Green 700  000 Franken zu bezahlen.


Zusatz 5:
Die Olympischen Spiele 2012

Die Queen stand schon hier oben, um sich ein Bild von der Zukunft des East End zu machen: Der Blick von der Kabine auf dem Dach des Holden Point, einem 21-stöckigen Altersheim im Bezirk Newham, fällt gegen Westen auf eine planierte Brache, die vom Channel Tunnel Rail Link durchschnitten wird (Bild 14). Dahinter erstreckt sich ein Wirrwarr aus Fabrikruinen, kleinen Werkstätten, Schrottplätzen, Busdepots, Wiesen und Gestrüpp entlang des River Lea. In sechs Jahren finden auf dem rund 438 ha grossen Areal die Olympischen Spiele statt. 86 % der Fläche befinden sich schon im Besitz der Organisatoren, und diese hoffen, dass bis Ende Dezember eine Einigung mit den rund 100 Betrieben erzielt sein wird, die sich der Räumungsanordnung noch widersetzen. 2007 soll der Bau der Sportstätten beginnen.
Politiker und Planer versprechen sich von dem Mega-Event, dass es die verarmten Stadtteile des Ostens in eine blühende Landschaft verwandelt, und verweisen dabei auf Barcelona, das die Ausrichtung der Olympiade 1992 mit einer allseits als gelungen betrachteten Stadterneuerung verband. Stets wird betont: Für den Erfolg der Londoner Spiele sei entscheidend, was nach ihrem Ende für die Bewohner in der Nachbarschaft übrig bleibt. Schon jetzt ist der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs östlich der City sichtbar, in den bis 2012 7 Mrd. Pfund investiert werden. Um die Lebensqualität im East End zu steigern, wird das Olympiagelände nach dem Ereignis zum grössten Stadtpark umfunktioniert, der in Europa in den letzten 150 Jahren entstanden ist. Das olympische Dorf soll dann 4000 Wohnungen bieten; weitere 35  000 Wohnungen sollen später hinzukommen, die Hälfte für Haushalte mit geringem Einkommen. Kritiker befürchten jedoch, dass es schon vorher zu einer Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsteile kommen wird. Kurz nachdem London den Zuschlag für die Spiele erhalten hatte, zogen in Newham die Immobilienpreise massiv an.
Für die Vergabe einzelner Bauprojekte an Architekten werden keine Wettbewerbe durchgeführt. Einzig für das Schwimmstadion ist aus mehreren Entwürfen jener von Zaha Hadid ausgewählt worden. Der Olympiapark wird vom EDAW-Konsortium in Zusammenarbeit mit Arup und Atkins gestaltet, das schon den Masterplan für die Bewerbung entworfen hat (Bild 16). Unklar ist noch, wer das neue Olympiastadion baut. Es soll 80  000 Zuschauer fassen, nach den Spielen auf 25  000 Plätze reduziert werden und als Leichtathletikarena dienen.
Die Kosten für die Spiele werden derzeit auf 3.5 Mrd. Pfund geschätzt. Neben Geldern von privaten Sponsoren werden Mittel aus der staatlichen Lotterie fliessen. Zudem zahlt jeder Londoner Haushalt bis 2012 eine jährliche Olympiasteuer von 20 Pfund.
Für Unmut sorgt bei vielen Bürgern, dass sie Olympia wegen steigender Lohnkosten im Bausektor und verstärkter Sicherheitsmassnahmen noch teurer zu stehen kommen könnte. Bereits rechnet die Bauindustrie mit 400 statt wie ursprünglich mit 280 Mio. Pfund für das Stadion. Alle Mehrkosten muss die Stadt übernehmen. Dieser Tage wird entschieden, welches Unternehmen die Aufsicht über den Bau des Olympiageländes führen soll.

TEC21, Mi., 2006.10.04



verknüpfte Zeitschriften
tec21 2006|40 The London Plan

29. Mai 2006Werner Spillmann
Angelus Eisinger
Neue Zürcher Zeitung

Vom Wachsen und Schrumpfen der Städte

Während in Deutschland über schrumpfende Städte diskutiert wird, boomen hierzulande die Zentren. Das ETH-Studio Basel machte nun aber alpine Regionen aus, die sich immer schneller entvölkern. Obwohl die Schweiz mit Subventionen schon gegen das Schrumpfen kämpfte, als dieses für die Feuilletons noch kein Thema war, wird das kreative Nachdenken über das Verhältnis von Zentrum und Peripherie immer dringender.

Während in Deutschland über schrumpfende Städte diskutiert wird, boomen hierzulande die Zentren. Das ETH-Studio Basel machte nun aber alpine Regionen aus, die sich immer schneller entvölkern. Obwohl die Schweiz mit Subventionen schon gegen das Schrumpfen kämpfte, als dieses für die Feuilletons noch kein Thema war, wird das kreative Nachdenken über das Verhältnis von Zentrum und Peripherie immer dringender.

Seit einigen Jahren geht in Europa ein Gespenst um, und hinter vorgehaltener Hand flüstert man sich zu, es auch schon in der Schweiz gesichtet zu haben. Es handelt sich um das Gespenst des Schrumpfens. Dieses ist nicht immer leicht zu erkennen, da es viele Verkleidungen trägt: In Ostdeutschland beispielsweise schwebt es über den seit der Wiedervereinigung dramatisch entleerten Städten, in den alten Industriegebieten Frankreichs oder Englands taucht es in Form der strukturellen Arbeitslosigkeit auf. Nicht nur die Masken wechseln häufig, auch die Geschwindigkeit seines Auftauchens variiert. Manchmal rast es - wie in den neuen deutschen Bundesländern - wie ein Wirbelwind über die offene Landschaft, dann wieder bewegt es sich kaum wahrnehmbar, tut aber doch unablässig seine Arbeit.

Urbanes Rollenverständnis

In der Schweiz haben in den letzten Jahren verschiedene Beobachter seine Schatten und Spuren ausgemacht und daraus Empfehlungen abgeleitet. So diagnostizierte das ETH-Studio Basel vor kurzem alpine Brachen und meinte damit grosse Gebiete vornehmlich im Alpenraum, deren wirtschaftlicher und kultureller Fortbestand akut in Frage gestellt sei. Avenir Suisse sorgt sich um die sinkende Wettbewerbsfähigkeit des Werk- und Denkplatzes Schweiz und macht dafür vor allem die übermässige staatliche Regulierung verantwortlich. Gleichzeitig hat der Think-Tank eine Föderalismusdebatte lanciert, die an Grundwerten der schweizerischen Demokratie rüttelt. Auf politischem Parkett läuft momentan gerade eine Debatte um die Rolle der Agglomerationen an, in welchen die Mehrheit der Bevölkerung lebt. Im Zentrum stehen dabei die Etablierung eines neuen Rollenverständnisses für Städte und Agglomerationen und die bessere Berücksichtigung ihrer Anliegen in der Bundespolitik.

All diesen Initiativen ist gemeinsam, dass sie Veränderungen ansprechen, die tief in das Selbstverständnis der Schweiz, ihre politische Organisation und räumliche Entwicklung eingreifen. Dabei geraten auch die in der Verfassung verankerten Ziele der dezentralen Besiedlung und des wirtschaftlichen Ausgleichs ins Visier. Ein Blick über die Grenzen liefert einige Hinweise, wie die Entwicklung ohne diese Ziele hätte verlaufen können. Während in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten die Bevölkerung in den peripheren Gebieten insgesamt gehalten werden konnte, haben sich im französischen Zentralmassiv oder in den italienischen Alpentälern im gleichen Zeitraum ganze Landstriche entleert. Diese Transformationen waren weitgehend wirtschaftlich bedingt. Stehen nun der Schweiz ähnliche Entwicklungen bevor?

Dynamik heisst Veränderung

Wachstum verändert Räume, es sucht sich neue Brennpunkte im Raum, gibt alte, lange etablierte auf. Wesentliche Einsichten in die Mechanik wirtschaftlicher Prozesse verdanken wir Joseph Schumpeter, der diese schon Anfang des letzten Jahrhunderts sehr gut beschrieben hat, ohne sich allerdings mit deren räumlichen Ausprägungen zu beschäftigen. Nach Schumpeter kommt dem innovativen Unternehmer bei der Initiierung wirtschaftlichen Wachstums eine zentrale Rolle zu. Seine technischen und prozessualen Innovationen, seine neuen Produkte stimulieren die wirtschaftliche Entwicklung und bewirken strukturelle und räumliche Veränderungen. Auch die Schweiz hat verschiedentlich ihre Erfahrungen mit den wandernden Brennpunkten des wirtschaftlichen Wachstums gemacht. Denken wir beispielsweise an das Schicksal der Textilindustrie, die in vielen Gebieten eine grosse wirtschaftliche Bedeutung hatte und noch in der Zwischenkriegszeit eine wichtige Exportbranche darstellte, heute allerdings nur mehr einen Schatten ihrer einstigen Grösse darstellt. Ähnliches galt später für die Uhrenbranche und teilweise auch für die Maschinenindustrie, deren neuere Entwicklungen aber belegen, dass Krisen auch Chancen für zukunftsfähige Neuanfänge sein können.

Obwohl sich diese Phänomene seit Beginn der Industrialisierung immer wieder in den Raum einschreiben, waren ihre Auswirkungen auf die Siedlungsstruktur und auf das Landschaftsbild bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Dabei reicht schon ein Blick auf das Mittelland, um drastische Veränderungen wahrzunehmen. Industriebrachen in den Städten und in deren Umland erzählen von tiefgreifenden Umwälzungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur. Allein: Die räumliche Nähe zu den städtischen Wachstumspolen lässt diese Krisen nicht als tiefgreifende Erschütterungen spürbar werden.

Verlagerungen und Transformationen im Mittelland machen noch auf einen anderen Punkt aufmerksam: Weil vom anhaltenden Wachstum fast alle profitieren konnten, waren Schrumpfungsprozesse für die Gesellschaft als Ganzes kaum ein Problem - die Anpassungsprozesse betrafen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung, und der Staat konnte diese dank Subventionen und anderen Unterstützungsmechanismen sozial verträglich gestalten. Stichworte dazu sind Infrastrukturpolitik, Agrarpolitik, Investitionshilfegesetz oder Tourismusförderung. Sie belegen für die Schweiz ein politisches Engagement gegen das Schrumpfen, lange bevor das Wort überhaupt in Feuilletons und wissenschaftlichen Debatten auftauchte.

Heute scheint sich aber ein Wandel abzuzeichnen. Der Konsens, die wirtschaftlich schwächeren Regionen und Branchen weiterhin zu unterstützen, welcher die Siedlungsrealität der Schweiz von heute erst möglich machte, ist in Frage gestellt. Der Wettbewerb erfolgt immer weniger zwischen Nationalstaaten, sondern zwischen Grossregionen mit innovativen Produktions- und Dienstleistungsangeboten. Damit verbunden ist eine zunehmende Schwächung der traditionellen Politik, aber auch ein Ruf nach politischer Innovation. Weiter werden in Zeiten leerer Kassen der öffentlichen Hand Subventionen immer mehr kritisch hinterfragt, und es mehren sich die empirischen Belege für die bescheidene Wirksamkeit sektoraler Förderungsstrategien.

Wie schwierig der Grundsatz des räumlichen Ausgleichs umzusetzen ist, zeigt sich schon darin, dass die Verhältnisse trotz der Kleinräumigkeit der Schweiz überaus unterschiedlich sind und somit nach differenzierten Vorgehensweisen rufen. Das Investitionshilfegesetz ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel. Dieses Gesetz verfolgt seit den frühen 1970er Jahren die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Berggebieten und industriellen Krisengebieten. Schon seine statistischen Kenngrössen sind beunruhigend, da sie zeigen, wie hoch der Anteil der Regionen in der Schweiz ist, von denen keine nennenswerten wirtschaftlichen Impulse ausgehen. So fallen heute 66 Prozent der Fläche, 43 Prozent der Gemeinden, 24 Prozent der Einwohner, 19 Prozent der Beschäftigten und 23 Prozent der Unternehmungen im 1. und 2. Sektor unter das Gesetz. Studiert man die Evaluationen zum Gesetz, so sind Zweifel an seiner Wirkung angebracht.

Zunächst fällt auf, wie unterschiedlich sich die Lage in den Gebieten präsentiert, die unter das Gesetz fallen. Neben wachsenden Gegenden gibt es Gegenden mit anhaltenden Schwierigkeiten; jede Region hat ihre eigene Branchenstruktur, ihre Eigenheiten und ihre spezifischen Probleme. So gibt es Gebiete, die, wie z. B. Nidwalden, das Malcantone oder die Valli di Lugano, seit Mitte der achtziger Jahre ein kräftiges demographisches Wachstum von 40 bis über 80 Prozent erfahren haben, während sich andere Alpentäler und alte Industrieregionen wie der Jurabogen und der Kanton Glarus schrittweise entleeren. Auch bei der Arbeitsentwicklung zeigt sich eine ähnliche Zweiteilung: Im Durchschnitt hinken die geförderten Gebiete seit Mitte der achtziger Jahre hinter der restlichen Entwicklung her, es gibt aber auch hier prosperierende Gegenden - sie befinden sich mehrheitlich in unmittelbarer Nähe zu städtischen Zentren und sind stark mit ihnen verflochten. Zugunsten des Investitionshilfegesetzes liesse sich deshalb anführen, es sei gelungen, die fortschreitende Entleerung peripherer, strukturschwacher Gebiete abzubremsen. Gemessen an den eigenen Zielsetzungen konnte das Gesetz allerdings nur bescheidene Erfolge verbuchen.

Was können wir aus diesen Erfahrungen lernen? Die Entwicklung bestätigt die Vermutung, dass die durch wirtschaftliche und technische Innovationen ausgelösten Strukturveränderungen von der Politik letztlich nicht aufgehalten werden können. Eine ähnlich zwiespältige Bilanz der staatlichen Unterstützungsmassnahmen weisen auch andere Bereiche auf: So sind die Beiträge der Agrarpolitik zur Aufrechterhaltung einer dezentralen Besiedlung recht bescheiden, und die Verkehrsinfrastrukturpolitik erweist sich als zweischneidiges Schwert: Wegen des Ausbaus der Autobahnen und Hochleistungsstrassen konnte die Erreichbarkeit der Randregionen zwar beträchtlich erhöht werden. Nur sind Strassen kommunizierende Röhren, die in zwei Richtungen gleichzeitig führen. Ein Blick auf die Pendlerentwicklung macht deutlich, dass mit dem verbesserten Strassennetz nicht primär neue Absatzmärkte für Produkte aus den peripheren Regionen erschlossen worden sind, sondern vor allem Pendler aus immer weiter entfernten Orten mit den Wirtschaftsräumen des Mittellandes verbunden werden.

Veränderte Wettbewerbsbedingungen

Gemäss Artikel 73 der Bundesverfassung sollen Bund und Kantone ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits anstreben. Bund und Kantone haben aber noch nie detailliert geklärt, was dieser wegweisende Grundsatz konkret bedeuten könnte und ob nicht Zielkonflikte mit anderen Verfassungsbestimmungen bestehen. Es gibt aber kaum Zweifel, dass wir heute in der Schweiz weit von einer nachhaltigen Entwicklung entfernt sind. Dieses Faktum wird in räumlicher Hinsicht vom Raumentwicklungsbericht 2005 des Bundesamtes für Raumentwicklung klar festgehalten; dort wird auch eingeräumt, dass in verschiedenen Gebieten Handlungsbedarf bestehe. Leider gehen die zurzeit laufenden Reformen aber in eine andere Richtung, so sollen im Raumplanungsgesetz die Landwirtschaftszonen für diverse neue Nutzungen geöffnet werden. Dabei stellt die Trennung von Bauzonen und Nichtbauzonen historisch wohl die wichtigste Errungenschaft der Raumplanung dar, und deren Verwässerung wäre für die Schweiz eine gravierende Fehlentwicklung.

Die wirtschaftliche Entwicklung kann nur dann dauernden Wohlstand generieren, wenn sie nicht auf Kosten von Natur und Landschaft geht. Die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz leidet nämlich nicht unter zu strengen Raumplanungs- und Umweltschutzvorschriften. Das heisst aber nicht, dass es keinen Reformbedarf gibt: Es wäre dringend nötig, die Wirksamkeit und Konsistenz verschiedener Regelungsbereiche zu überprüfen und beispielsweise Widersprüche zwischen Raumplanungs- und Umweltschutzvorschriften zu eliminieren. Auch müssen die Ziele veränderten Fakten angepasst und die Instrumente der Raumplanung angepasst werden. So sollten etwa ökonomische Anreize geschaffen werden für einen sparsameren Umgang mit der in der Schweiz sehr knappen Ressource Boden. Solche Massnahmen sind die Voraussetzung dafür, dass langfristig nicht auch noch die letzten attraktiven Landwirtschaftsflächen im Mittelland verbaut und zersiedelt werden.

Damit ist aber erst eine Stossrichtung einer nachhaltigen Raumentwicklung skizziert. Weitere zentrale Aspekte liegen im Umgang mit der räumlichen Dynamik selbst und der Organisation unseres Landes mit den vielen kleinen Kantonen und Gemeinden. Die OECD hat schon 2002 in ihrem Prüfbericht über die schweizerische Raumentwicklung auf diesbezügliche Defizite hingewiesen, da hierzulande traditionellerweise häufig Kirchturmpolitik das Vorgehen der Verantwortlichen präge. Gemäss OECD dürfe Raumentwicklung sich nicht mehr länger auf Richt- und Nutzungsplanung beschränken, sondern müsse vermehrt mit der Wirtschafts- und Standortförderung koordiniert werden, um attraktive Standortvoraussetzungen für Wirtschaft und Bevölkerung zu schaffen. Das verlange auch, die städtischen Grossregionen als Motoren der Entwicklung - beispielsweise durch bessere Verbindungen im öffentlichen Verkehr - zu stärken und nicht in ihrer Entfaltung zu hindern.

Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass erfolgreiche Raumentwicklung grenzüberschreitend agieren muss. Eine nachhaltige Standortförderung kann nicht auf Kosten der Nachbargemeinde oder des Nachbarkantons gehen. Es sind grossräumigere Ansätze notwendig, welche problem- und fallbezogen die Gemeinde- bzw. die Kantons- und in gewissen Fällen auch die Landesgrenzen überwinden. Diese Notwendigkeit sollte nach dem Fallbeispiel Galmiz eigentlich allen klar geworden sein. Politische Veränderungen in diese Richtung sind bisher aber erst wenige auszumachen, weil die Erhaltung des Status quo beziehungsweise kurzfristige Konkurrenzvorteile immer noch höher gewichtet werden. Bestes Beispiel dafür ist der zunehmende Steuerwettbewerb zwischen Kantonen und Gemeinden, der nur Verlierer generieren wird. Denn ohne Soft Factors wie Bildungswesen oder Kultur sind langfristig keine attraktiven Standorte möglich.

Neue Bilder der Schweiz

Es gilt Abschied zu nehmen vom Traum eines anhaltenden Wirtschaftswachstums in allen Regionen. Die Wirtschaftsgeschichte legt eine andere Betrachtungsweise nahe: Wirtschaftliche Entwicklung umfasst Schrumpfen und Neuanfang. Entziehen kann man sich dieser Logik nicht, aber man kann ihr durch intelligente Anpassungsprozesse begegnen. Schumpeters Idee des innovativen Unternehmers, welcher die Zukunft immer wieder neu gestaltet, kann hier wichtige Anstösse liefern. Innovative Unternehmer sind aber nicht beliebig vermehrbar, und investive Mittel sind keine hinreichenden Voraussetzungen für langfristigen Erfolg. So dürften finanzkräftige Investoren, die an verschiedenen Stellen der Schweiz riesige Tourismuszentren aus dem Boden stampfen wollen, wohl kaum die Probleme ihrer Regionen lösen können. Nachhaltige Entwicklung bedarf nämlich immer auch der Eigeninitiative und der Einbindung der Menschen vor Ort. Erst wenn es gelingt, solche Investitionen mit den Besonderheiten und Wirtschaftskreisläufen eines Tals oder einer Region zu verknüpfen, also die lokale Wirtschaft und Landwirtschaft zu Pfeilern eines umfassenden Konzepts werden zu lassen, kann den strukturellen Schwierigkeiten solcher Gebiete wirksam begegnet werden.

Dahinter steckt eine allgemeine Erkenntnis: Die räumliche Zukunft der Schweiz kann und soll mehr Ideen und unterschiedliche Entwicklungen zulassen. Allgemeine Leitbilder reichen dazu nicht mehr aus. Hier entstehen neue Aufgabenfelder für die Gesellschaft als Ganzes und für die direkt betroffenen Regionen: Planung ist ein kreatives Nachdenken über Zukunft, das wichtige Akteure einzubinden versteht. Für einen erfolgreichen Transformationsprozess braucht es auch die Einsicht, dass Wettbewerb allein keine taugliche Lösung ist. Eine nachhaltige Entwicklung muss auch auf Solidarität in ihren verschiedenen Ausprägungen und besonders zwischen Zentren und Peripherie aufbauen, weil Stadt und Land voneinander abhängig sind und sich gegenseitig stützen können. Städtische Zentren und Lebensformen bedürfen ebenso der Wertschätzung wie ländliche Räume und Siedlungsstrukturen. Ohne diese Einsicht ist eine erfolgreiche Entwicklung des Landes nicht möglich.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2006.05.29

07. Januar 2000Angelus Eisinger
Neue Zürcher Zeitung

Gestaltung einer urbanen Zukunft

Die gegenwärtigen städtebaulichen Debatten und neue Planungsverfahren zeigen eine grundlegende Reorientierung im Umgang mit der Stadt. Dabei wird aber oft zuwenig beachtet, mit welchen Unwägbarkeiten die Schaffung funktionsfähigen urbanen Raumes verbunden ist. Dieser Prozess kann jedoch als Chance für die Architektur begriffen werden.

Die gegenwärtigen städtebaulichen Debatten und neue Planungsverfahren zeigen eine grundlegende Reorientierung im Umgang mit der Stadt. Dabei wird aber oft zuwenig beachtet, mit welchen Unwägbarkeiten die Schaffung funktionsfähigen urbanen Raumes verbunden ist. Dieser Prozess kann jedoch als Chance für die Architektur begriffen werden.

Die Architektur des 20. Jahrhunderts hat wiederholt ihre Zuständigkeit für die baulichen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Stadt erklärt. Die aktuellen Debatten um Stadtplanung und Städtebau deuten aber auf ein anhaltend schwieriges Verhältnis von Architektur und Stadt hin. Bei zunehmend kürzeren Halbwertszeiten - als Beispiel sei auf die Auseinandersetzung mit der Postmoderne hingewiesen - bleiben die Debatten vorwiegend bei Fragen des Erscheinungsbildes stehen. In der Diskrepanz zwischen urbaner Realität und architektonisch-städtebaulichen Ansprüchen zeigt sich eine Überforderung des Fachgebietes durch seinen Gegenstand. Die letzten Jahrzehnte haben wiederholt gezeigt, dass die einfache Beziehung von Architektur und Stadt, wie sie sich in städtebaulichen Lehrbüchern, peinlich genau gearbeiteten Laubsägemodellen und didaktisch vorbildlich eingefärbten Lage- und Stadtplänen niederschlägt, an der komplexen Bestimmung von urbaner Wirklichkeit zerbricht. Es geht dabei um bedeutend mehr als um blosse Überempfindlichkeiten einer Berufsgattung. Auf dem Spiel steht nicht zuletzt die Zukunftsfähigkeit städtischer Lebenswelten.


Eine Diagnose

In den letzten Jahrzehnten hat sich einiges im Verhältnis der Architekten zur bestehenden Stadt geändert. Zunächst demontierte die disziplininterne Kritik die Fiktion des geschichtslosen, neutralen städtischen Raumes der modernen Städtebau-Utopien, der nach Richard Sennett zur Verfügungsmasse der Architekten und Stadtplaner degradiert worden war. Durch Aldo Rossi mündete diese Kritik dann in die Vorstellung einer den architektonischen Entwurf anleitenden Tiefenstruktur der Stadt. Zudem haben verschiedene Veränderungen ausserhalb der Architektur und des Städtebaus ihre Rückwirkungen auf die Fachgebiete gehabt: Der epistemologische Verlust des Zentrums, die Auflösung bisheriger gesellschaftlicher Orientierungen, die Globalisierung ökonomischer Prozesse, die ökologischen Debatten und die Neuverteilungen privater und öffentlicher Aufgabenfelder - oft mit dem ungeschickten Sammelbegriff «Postmoderne» versehen - beeinflussten den städtebaulichen und architektonischen Handlungsspielraum massgeblich.

Die moderne Vorstellung einer demokratisch abgesicherten Stadtgestalt, wie sie in der Schweiz ironischerweise gerade in der antiurbanen Formel von der «gebauten Stadt» zuletzt aufflackerte, wirkt deshalb gelegentlich wie eine Fata Morgana aus grauer Vorzeit. Ihre mit Hilfe einer Flut von Baugesetzen und Verordnungen, Zonen- und Quartierplänen aus den Büros der Bauämter orchestrierten Stadtvorstellungen greifen gleich mehrfach nicht mehr. Neben den Veränderungen der städtischen Öffentlichkeit müssen hier vor allem die veränderten politisch-ökonomischen Bedingungen der Stadtentwicklung und schliesslich die vermehrt aufbrechenden Konflikte zwischen unterschiedlichen Zeitanforderungen genannt werden.

Eine homogene städtische Öffentlichkeit mit uniformen Interessen existierte immer nur in den Phantasien der Stadtplaner, Architekten und Behörden - die Rede von der multikulturellen Stadt hat dies nur noch mehr verdeutlicht. Das heisst aber auch, dass heute die gesellschaftspolitische Zentralachse städtebaulicher Orientierung und Legitimierung fehlt. Statt dessen herrschen unauflösbare Zielkonflikte: Die Stadt als Agora, als Ort des Disputes, oder die Interessen von Familien lassen sich nur schwer mit den Anforderungen an internationale Wettbewerbsfähigkeit, den Bedürfnissen multinationaler Konzerne oder verkehrspolitischen Erfordernissen in Einklang bringen. Eine zunehmende Verwischung der bestehenden Stadtstrukturen ist die Folge. Während die alten Stadtzentren auch für die eigenen Bewohner immer mehr zu Ausflugszielen werden, kommt es in der Peripherie zu erstaunlichen Umwertungen.

Dabei werden bisherige Arbeitsteilungen zwischen Zentrum und Peripherie unterlaufen: An Autobahnknotenpunkten und in der Nähe von Flughäfen etablieren sich durch Baugesetze eher schlecht als recht geordnete, architektonisch gesichtslose Wachstumspole einer globalen Stadtvernetzung. Zusätzlich entzieht die die internationale Standortkonkurrenz begleitende Kapitalmobilität die Stadtentwicklung zunehmend der Kontrolle durch lokale Instanzen. Ausserdem wirken sich unterschiedliche Zeitbedürfnisse oft fatal aus. Die mit der ökonomischen Globalisierung dramatisch gestiegene Mobilität der Investoren und der erbitterte Standortwettbewerb zwischen den Städten verlangen Ausnahmeregelungen, beschleunigte Bewilligungsverfahren und rasche Entscheidungsfindung. Die daraus resultierende Architektur ignoriert die jeder Stadt eigene Zeitlogik, die sich aus ihrer Geschichte ergibt, ihre Unverwechselbarkeit konstituiert und den architektonischen Entwurf anleitet.


Kooperative Stadtplanung

Im Kontext der gerade eben aufgeworfenen Probleme halten heute nicht wenige die kooperative Stadtplanung für das Abrakadabra, das die bisherige regulative Politik um eine flexible, innovative Dimension erweitern soll. Die Stadtbehörde dekretiert dabei nicht mehr ein festes Stadtbild. Bisher auf das gesamte Stadtgebiet ausgerichtete städtebauliche Ordnungsvorstellungen werden durch eine auf die Bauparzelle begrenzte Schaffung einer Stadtrealität ersetzt. Die Behörden verstehen sich dabei als Vermittler - ständig darum bemüht, potentielle Investoren und Grundstückeigentümer an einen Tisch zu bringen und zu Vertragsabschlüssen zu bewegen. Stadtplanung ist somit nicht mehr technisch-bürokratische Verfahrensabwicklung, sondern Stadtmanagement. - Eine raschere Abwicklung bürokratischer Prozesse und die Enthierarchisierung der Entscheidungsfindung mögen zweifelsfrei Vorzüge dieses Vorgehens sein. Dadurch, dass die städtischen Verhandlungspositionen oft von der Notwendigkeit wirtschaftlicher Revitalisierung geprägt sind, können sich städtebauliche Aspekte - allen publizistischen Paukenschlägen bei international prominent besetzten Ideenwettbewerben oder bei Eröffnungen von Kulturzentren, Ausstellungsgebäuden usw. zum Trotz - nur wenig Geltung verschaffen. Ebenso können hinter den verschlossenen Türen der Sitzungszimmer die Interessen der Allgemeinheit wie auch Fragen der demokratischen Kontrolle über die verfolgten Ziele und ihre Umsetzung nur schwer durchgesetzt werden.


Boomende ehemalige Industrieviertel

Der mit kooperativen Modellen eingeleitete planungspolitische Kurswechsel bleibt nicht ohne Auswirkung auf das Verhältnis von Architektur und Stadt. Die Schaffung urbaner Räume ist ein mit erheblichen Unsicherheiten behafteter, von spezifischen Bedingungen vor Ort abhängiger Prozess: Allenthalben entstehen seit einigen Jahren auf stillgelegten Industriearealen neue, für Investoren, aber auch für die Wohnansprüche von Familien und Singles sowie für die Freizeitbedürfnisse vor allem einer jungen Bevölkerung gleichermassen attraktive Stadtteile. Dabei fehlen diesen Gebieten zwischen Stadtautobahnen und leeren Industriehallen eigentlich alle Qualitäten, welche einst mit entwicklungsfähigen Stadträumen assoziiert wurden. Wie lässt sich dieses scheinbare Paradox erklären? Wenn man Anfang der achtziger Jahre einen Bauinvestor auf die dichtbefahrene Hardbrücke im Zürcher Kreis 5 gestellt und ihn über das unförmige Gebirge von Baukörpern hätte schauen lassen, hätte er eine jener unzähligen, perspektivlosen Industrieruinen wahrgenommen. Die Tristesse dieses innerstädtischen Ödlandes hätte nur ein Abreissen der Anlagen und eine Öffnung des Gebietes für die Expansionsbedürfnisse des Banken- und Dienstleistungssektors beenden können.

Heute wird der gleiche Investor an derselben Stelle bei einem nur wenig geänderten baulichen Erscheinungsbild ein Feld voller attraktiver Anlagemöglichkeiten in einem boomenden Stadtkreis erkennen. Offenbar hat in der Zwischenzeit eine Neubewertung dieses Stadtteiles stattgefunden. Derartige Wahrnehmungsrevisionen gründen auf kollektiv verfügbaren Vorstellungsmustern, die auf einer Vielzahl unterschiedlicher Handlungen, Debatten und Interventionen aufbauen. Sie sind nicht das Ergebnis simpler Manipulationen, sondern entziehen sich wesenhaft der Bestimmung durch einzelne Interessenvertreter oder Organisationen. In iterativen Prozessen von gruppenspezifischen Wahrnehmungsmustern, örtlichen Eingriffen, diskursiven Angeboten, Reinterpretationen, Verfestigungen und Angleichungen der Stadtvorstellungen können städtische Räume zu Orten vitaler Urbanität werden.


Und die Architektur?

Was resultiert nun daraus für den architektonisch-städtebaulichen Entwurf? Urbanität lässt sich zwar nicht von der architektonischen Intervention trennen, das Ergebnis hängt aber im wesentlichen von einem Interaktionsprozess zwischen Raum, Erfahrung und Gebautem ab, der weder von der Architektur noch von einer anderen Instanz kontrolliert werden kann. Wenn wir akzeptieren, dass die Produktion von städtischem Raum ein offener und risikobehafteter Prozess ist, kann damit auch eine beträchtliche Aufwertung der Rolle der Architektur einhergehen. Was an einem Ort geschieht, lässt sich immer weniger im modernen Imperativ der Bauordnungen und Zonenpläne vorwegnehmen, sondern wird Teil eines Prozesses von Aushandlungen zwischen Investor, Grundstückbesitzer, Architekt und Öffentlichkeit.

Es gibt keine Patentrezepte, die eine revitalisierte Urbanität garantieren, und eine überall gültige Standardlösung gibt es nicht. Hier deckt sich potentiell das Interesse des Investors mit den Intentionen der Architektur. Dieses an eine architektonische Idee zu binden ist eine Herausforderung, welche die Architektur vermehrt annehmen muss, sollen Städte weiterhin Orte lebendiger Öffentlichkeit bleiben. Damit lässt sich zumindest punktuell das Versprechen der Architektur des 20. Jahrhunderts, die Stadt als lebenswertes und zeitgemässes Zentrum auszubilden, einlösen. Deren Attribute heissen - anders als die Ordnungssucht der Moderne es anstrebte - dynamisch, widersprüchlich und flexibel.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.01.07

Profil

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1