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12. Juli 2019Ákos Moravánszky
TEC21

Das Bauhaus weiterweben

Die Lehre am Bauhaus bezog ihre Energie aus dem erklärten Willen zum Experiment, zum individuellen Handeln. Eine Methode, die heute zwischen digitalen und theoretischen Aspekten der Ausbildung wieder einen prominenten Platz einnehmen muss.

Die Lehre am Bauhaus bezog ihre Energie aus dem erklärten Willen zum Experiment, zum individuellen Handeln. Eine Methode, die heute zwischen digitalen und theoretischen Aspekten der Ausbildung wieder einen prominenten Platz einnehmen muss.

Vor 100 Jahren begründete Walter Gropius mit dem Bauhaus die wichtigste Schule für moderne Gestaltung. In mancher Hinsicht dient sie bis heute als Vorbild. Es sind allerdings weder die neuen Formen noch das Dogma des Funktionalismus, von denen immer noch Impulse ausgehen, sondern die Lehrmethoden: die Pädagogik des Bauhauses.

Man tut sich schwer mit diesem so kostbaren wie streitbaren kulturellen Erbe – das ist wohl die einzige Konstante in der wechselvollen Geschichte der Adaptionen. Im Gründungsjahr 1919 ging es noch vor allem um die Fortsetzung des «alten» Werkbundstreits zwischen den Befürwortern einer sozial wirksamen Serienproduktion und jenen, die nach einem neuen Stil suchten. Der Schweizer Architekturkritiker Peter Meyer warf 1927 dem Bauhaus, das sich für Flachdach und Metallglanz entschied, «klotzige Barbarei» vor.[1] Heute streitet man darüber, ob die «unpolitische Gesinnung des Bauhauses» ein berechtigter Grund für die Absage des Konzerts einer linken Punkrockband im ikonischen Dessauer Gebäude war. Die Sprecherin der Stiftung Bauhaus Dessau wurde jedenfalls entlassen.

Die Kritik am Bauhaus zur NS-Zeit, die 1933 zur Schliessung der Schule am dritten Standort in Berlin führte, ist weniger erstaunlich als die Attacken der Nachkriegszeit. Daran waren sowohl die aus Amerika nach Deutschland zurückgekehrten Ästheten der Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno beteiligt, die vom «barbarischen Zugriff» des Funktionalismus sprachen,[2] wie auch Architekten einer gemässigten Moderne. Rudolf Schwarz warf dem Bauhaus vor allem seine «unerträgliche Phraseologie» vor, jene dogmatische Haltung, die die Schule «immer tiefer in den Sumpf» steuerte.[3] Seine Polemik löste in der Bauhaus-Debatte von 1953 wütende Reaktionen aus. Die Ablehnung oder Annahme des Bauhaus-Gedankens war während des Kalten Kriegs in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland eine Frage der politischen Zuordnung.

Das Leben mit dem Bauhaus ist nicht leicht

Fast 30 Jahre später hatte der amerikanische Essayist Tom Wolfe leichtes Spiel, als er seinen Bestseller «From Bauhaus to Our House» schrieb: Die meisten kritischen Argumente wurden in den deutschen Diskussionen bereits verschossen. Wolfe hat sich aber vor allem darüber aufgeregt, dass eine Architektur, die in Deutschland als Antwort auf die Probleme der Zwischenkriegszeit entwickelt wurde, in den Vereinigten Staaten «nun hoch und breit aufgetürmt, in Form von Kunstgalerie-Anbauten für altehrwürdige Ivy-League-Universitäten, Museen für Kunstmäzene, Eigentumswohnungen für die Reichen, Firmensitzen, Rathäusern, Landhäusern» verwendet wird: «Arbeiterwohnungsbau für jeden Zweck, ausser für Arbeiter zum Wohnen».[4] Im Unterschied zum Originaltitel stellt die deutsche Version («Mit dem Bauhaus leben») resigniert fest, dass wir nun mit dem Bauhaus leben müssen, ob es uns gefällt oder nicht. Es ist eben nicht leicht, das Leben mit dem Bauhaus.

Wäre das Bauhaus zu seiner Blütezeit mit heutigen Kriterien evaluiert worden, hätte die sächsische Regierung die Institution schliessen müssen. In unserer Zeit der verwalteten Hochschulreputation findet die neuhumanistische Idee des Bauhauses – die technische und künstlerische Allgemeinbildung, die am Webstuhl oder in der Metallwerkstatt beginnt – keinen Platz in höheren Bildungsanstalten. Bildung, ursprünglich mit dem Programm der körperlichen und intellektuellen Selbsterziehung des Menschen, war im frühen Bauhaus noch mit Atemübungen und Mazdaznan-Ritualen verbunden und diente der Entfaltung der Begabungen.

Die Idee der Begabung ist jedoch suspekt geworden, weil sie der Gleichheit der Menschen widerspricht. Wir sprechen lieber über Skills, die alle erwerben können. Die moralisch begründete Ablehnung eines Studienkonzepts, das die Förderung und Entfaltung der Begabungen als seine wichtigste Aufgabe betrachtet, und die Kontrolle der Einhaltung von ethischen Grundsätzen im geregelten Studienbetrieb machten die Universität zu einer moralischen Instanz. Das war das Bauhaus nie. Die Schule hat ihren privilegierten Meistern fast unbeschränkte Freiheit und Autonomie gegeben, damit sie die Materialien und Techniken der neuen Realität durch ihr künstlerisches Sensorium und ihre Fantasie interpretieren und die Schüler so zum konstruktiven Denken und zum Erfinden erziehen.

Heute, angesichts der explosionshaften Erweiterung der zur Verfügung stehenden Werkstoffpalette und der technischen Möglichkeiten, erscheint es wichtig, das Potenzial dieser Pädagogik mit der Lehre in unseren Universitäten zu vergleichen.

Mass statt Lust und Neugier

Die europäischen Bildungsminister haben 1999 in Bologna die Übernahme eines nach dem dreistufigen angloamerikanischen System gestalteten Studienmodells beschlossen, um einen einheitlichen Bildungsraum einzurichten, in dem Leistungen verglichen werden und Studierende sich frei bewegen können. Die Umstellung des Architekturunterrichts auf das Bologna-System war keine bildungspolitische Notwendigkeit, aber ohne diese Umstellung wären Rankings kaum möglich gewesen. Messbarkeit hat aber Priorität: Die Studienleistungen werden mit dem European Credit Transfer System (ECTS) bewertet. Die Grundlage ist der Arbeitsaufwand, also die geschätzte Zeit, die ein Student braucht, um ein Lernziel zu erreichen.

Das Sammeln der Kreditpunkte macht es den Studierenden kaum mehr möglich, sich auf Gebiete und Themen zu konzentrieren, die sie interessieren. Die rigide Trennung von Forschung und Lehre im Bologna-Modell und die Verbreitung des Doktoratsstudiums als eigentliche Forschung, die zu einer Unterrichtstätigkeit unbedingt erforderlich ist, führen immer weiter weg von jener Einheit von Forschung, Lehre und Praxis, die die Grundlage der Bauhaus-Idee war. So geht auch jene Lust an der Forschung verloren, die von Neugier getrieben ist und keine notwendige Bedingung für den Beruf darstellt. Die Lust, sich mit Fragen zu beschäftigen, ohne sich Gedanken um ihre Verwendung in einem Curriculum machen zu müssen, gehörte zur Freiheit im Bauhaus – die dann vom Staat als Gefahr erkannt wurde, sonst hätte man die Schule nicht geschlossen. Bis 1927, als Hannes Meyer von Gropius zum Leiter der Architekturabteilung ernannt wurde, gab es im Bauhaus keinen Architekturunterricht – unter «Bauen» verstand man eine umfassende gestalterische und organisatorische Tätigkeit. Die Bauhaus-Diplome haben ihre Besitzer nicht zu gewissen konkreten Berufen befähigt, sondern die von ihnen besuchten Kurse und ihre Fähigkeiten aufgelistet.

Lernen in der Bauhaus-Werkstatt bedeutete etwas anderes als Lernen in einem Vortragsraum, wo auf der Powerpoint-Folie die zentralen Aussagen der Vorlesung hervorgehoben sind. Josef Albers, der 1923 mit László Moholy-Nagy die Leitung des Vorkurses übernahm, wollte keine mechanische Anwendung von erlerntem Wissen. Er bezeichnete seine Lehre als ein «induktives Lernverfahren», das mit dem Erlernen von grundsätzlichen Fertigkeiten beginnt, die dann zur Herstellung von Gegenständen führen. Ihre Kombinierbarkeit, ihr konstruktives Potenzial und ihre Rolle im Ganzen müssen erst dann verstandesmässig reflektiert werden. Seine Frau Anni Albers, die 1931 die Leitung der Bauhaus-Weberei übernahm, wurde nach der Auswanderung des Ehepaars nach Amerika als die wichtigste moderne Textilkünstlerin anerkannt und veröffentlichte auch Texte zur Frage des Webens als eines Konstruierens. Auf diesen Grundlagen, die auf die Schriften von Gottfried Semper zurückgehen, wurde nicht nur in Weimar und Dessau weitergebaut. Sie galten auch in North Carolina – Standort des Black Mountain College (wo neben dem Ehepaar Albers auch John Cage, Richard Buckminster Fuller, Merce Cunningham, Lyonel Feininger und Cy Twombly unterrichteten) –, in Chicago, in Ulm und in vielen anderen experimentellen Schulen.

Eine Gewebe von Studios

An Architekturhochschulen ist diese Arbeit heute vor allem in den Entwurfsstudios möglich. Dies bedeutet keinesfalls einen nostalgischen Handwerkskult. Das Experimentieren schliesst sowohl digitale als auch analoge Methoden ein. Wie im Bauhaus die Industrialisierung und die neuen technischen Prozesse, Standardisierung und Massenfertigung zu neuen Formen der Objektgestaltung und Architektur führten, beeinflussen digitale Entwurfs- und Fabrikationsmethoden die heutige Architektur. Die grössere Flexibilität und Komplexität der Welt der Objekte zeigt sich auch in den Entwurfsstudios, wo die Digitalisierung nicht im Vordergrund steht. Der Architekturgrundkurs der ETH, der auf Andrea Deplazes’ Handbuch «Architektur konstruieren» basiert, und die konstruktiven Experimente in den Studios von Fabio Gramazio und Matthias Kohler, Philippe Block oder Annette Spiro öffnen ein breites Spektrum von Möglichkeiten, das von ihren jüngeren Teamkollegen weitergeführt wird.

So haben Guillaume Othenin-Girard und Amy Perkins, wissenschaftliche Mitarbeitende im Studio Tom Emerson an der ETH Zürich, im März 2019 eine Seminarwoche mit dem Titel «Weaving Scripting Writing» organisiert. Die Teilnehmenden haben etwas über 3D digital knitting gelernt, Textilsammlungen besucht und schon am ersten Tag am Webrahmen gearbeitet. Die Übertragbarkeit der Experimente auf die Architektur zeigt der Schutzbau über einer archäologischen Grabungsstätte in Pachacámac bei Lima in Peru, ein Projekt initiiert am Lehrstuhl von Studio Tom Emerson in Zusammenarbeit mit der Architekturschule PUCP Lima unter der Leitung von Guillaume Othenin-Girard und Vincent Juillerat (PUCP). Dieser «Raum für Archäologen und Kinder» wurde aus Polyesterbahnen buchstäblich zwischen den Holzbalken der Tragkonstruktion gewebt.

Man findet unschwer weitere Beispiele für ein heutiges Bauhaus. Es befindet sich überall dort, wo innerhalb des regulierten Bereichs der Evaluationen und Leistungskontrollen Freiräume für Experimente entstehen können: Räume für Bildung, die man mit den Kriterien der vermarktbaren Kompetenz nicht evaluieren kann.


Anmerkungen:
[01] Peter Meyer, «Moderne Architektur und Tradition», Zürich: H. Girsberger 1927, S.42.
[02] Theodor W. Adorno, «Funktionalismus heute», in ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S.104–127, hier S.110.
[03] Rudolf Schwarz, «Bilde Künstler, rede nicht. Eine (weitere) Betrachtung zum Thema Bauen und Schreiben», in Baukunst und Werkform, Jg. VI (1953), Heft 1, S.9 ff.
[04] Tom Wolfe, «Mit dem Bauhaus leben. Die Diktatur des Rechtecks», Übers. Harry Rowohlt. Königstein/Ts.: Athenäum 1982, S.60 f.

TEC21, Fr., 2019.07.12



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22. September 2017Ákos Moravánszky
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Utopie mit System

In den 1920er-Jahren machte der Architekt Béla Sámsondi Kiss eine Entdeckung: Verlorene Gipsschalungen und eine dünne Betonschicht bilden einen neuartigen, harten Verbundbaustoff. Aus diesem «Gewebebeton» entwickelte er ein Bausystem, das die Synthese von konstruktiven, ­wirtschaftlichen, sozialen und ästhetischen Aspekten zum Ziel hatte.

In den 1920er-Jahren machte der Architekt Béla Sámsondi Kiss eine Entdeckung: Verlorene Gipsschalungen und eine dünne Betonschicht bilden einen neuartigen, harten Verbundbaustoff. Aus diesem «Gewebebeton» entwickelte er ein Bausystem, das die Synthese von konstruktiven, ­wirtschaftlichen, sozialen und ästhetischen Aspekten zum Ziel hatte.

Seit der Erfindung des modernen Stahlbetons herrscht keine Einigung darüber, wie man diesen Baustoff «materialgerecht» verwenden sollte und worin seine «wahre Identität» bestehe. Inspiriert von Gottfried Sempers Theorie des Stoffwechsels behalfen sich Architekten und Ingenieure vorerst meist mit Analogien: Sie konzipierten Betonkonstruktionen nach dem Vorbild von keramischen Lehmbauten, tektonischen Holzrahmen oder stereotomischen Steinbauten.[1]

In der ungarischen Architektur hat diese analoge Denkweise früh zu bemerkenswerten Resultaten geführt. Der Architekt István Medgyaszay (1877–1959), der in der Schule Otto Wagners in Wien studiert hatte, verwendete bereits vor 1910 extrem dünne Betonschalen für die Überdachung seiner Kirchen und Theaterbauten; als Vorbild diente die Holzarchitektur der Siebenbürger Dörfer.[2] Béla Sámsondi Kiss (1899–1972) wählte einige Jahrzehnte später eine andere Analogie: Er wollte eine Konstruktionsmethode entwickeln, die – im Gegensatz zum hohen Materialverbrauch und Gewicht üblicher Betonbauten – eine ähnlich präzise Konstruktion wie der Stahlbau erlaube, allerdings bei einer drastischen Reduktion des Gewichts.

Dünne Schalen als Zufallsprodukt

Béla Sámsondi Kiss, geboren in der siebenbürgischen Stadt Nagykároly (heute Carei, Rumänien), studierte an der TU in Budapest Architektur. In den 1920er-Jahren war er in Siebenbürgen, das nach dem Ersten Weltkrieg zum neuen Grossrumänien gehörte, als Architekt und Bauunternehmer tätig. Als er eine abgehängte Gipsdecke mit einer flüssigen Zement-Sand-Mischung übergoss, machte er eine Entdeckung: Der Gips entzog dem Zementmörtel das zur Bindung nicht notwendige Wasser, und die dünne Betonschicht erhärtete sich blitzschnell. Die so entstandene zweischalige Gips-Beton-Platte erwies sich als hart und widerstandsfähig.

Aus dieser Beobachtung leitete er die Idee von neuartigen Betonkonstruktionen ab: Mit Gipsplatten als verlorener Schalung hergestellte, dünne Betonschalen könnten dazu verwendet werden, leichte, zellenartig gerippte oder gefaltete Tragkonstruktionen mit enormer Spannweite zu bauen. Die flüssige Sand-Zement-Mischung der 1 bis 4 cm dünnen Betonscheiben übt keinen grossen hydrostatischen Druck auf die Gipsschalung aus, der diese verformen könnte, und bedarf auch keiner mechanischen Verdichtung. Die Gipsschicht verbessert die wärmetechnischen Eigenschaften der Konstruktion. Die glatte Oberfläche braucht keine nachträgliche Beschichtung. Die andere Schalung kann z. B. eine Glasplatte oder Wärmedämmung sein, die ebenfalls keine zusätzliche Verstärkung benötigt.

Tragen und Trennen unauflösbar vereint

Diese Betonarchitektur bedingt eine neue Denkweise: Es ging nicht mehr um die Herstellung eines tragenden Gerüsts, auf das in einem zweiten Schritt die raumtrennenden und flächenbildenden Elemente montiert werden. Ziel war nun vielmehr die mechanisierbare Produktion von komplexen Stukturen, bei denen die tragenden und flächenbildenden Funktionen des Materials voneinander untrennbar sind. Sámsondi Kiss bezeichnete seine Erfindung als «Gewebebeton» (szövetbeton). Damit meinte er die Möglichkeit, ein kontinuierliches Betongewebe industriell herzustellen, das aus einem Gewirk von von horizontalen und vertikalen Rippen und Zellen besteht.

Mit dem Begriff wollte er auch die seinem Vorschlag zugrunde liegende Idee der Synthese, des Zusammenwebens von konstruktiven, wirtschaftlichen, sozialen oder ästhetischen Aspekten zum Ausdruck bringen. Sein Hauptaugenmerk galt dem Bau von Wohnhäusern: Er war überzeugt, dass bei dieser Aufgabe die Kombination von neuen Ideen mit tradierten, bereits veralteten Lösungen – deren Rückständigkeit kaum als solche wahrgenommen werden – besonders auffallend sei.

Reichtum an Ideen, Knappheit an Material

1937 übersiedelte Sámsondi Kiss nach Budapest. Es war die Zeit, als Architekten der ungarischen Avantgarde wie Farkas Molnár oder die Zwillingsbrüder Aladár und Viktor Olgyay – die nach ihrer Emigration in die Vereinigten Staaten zu Pionieren des klimagerechten Bauens wurden[3] – ihre Hauptwerke realisierten. Die Olgyays und Sámsondi Kiss arbeiteten in den 1940er-Jahren bei verschiedenen Projekten zusammen. Mit einem Entwurf für Wohntürme am südlichen Donauufer in Budapest gewannen sie 1946 den ersten Preis eines Architekturwettbewerbs. Das Rückgrat der als «Schalenhaus» (Héj–Ház) bezeichneten Konstruktion bildete eine zwischen zwei runden Treppentürmen gespannte zentrale Achse, die Deckenplatten wurden durch vorgefertigte Platten aus Gewebebeton unterstützt (Abbildungen hier, hier und hier).[4]

Die ökonomische Krise in den Vorkriegsjahren hatte der Suche nach wirtschaftlichen und materialsparenden Konstruktionsmethoden Auftrieb gegeben – auch wenn sie in der Ausführung aufwendiger waren, weil sie eine genauere Montage verlangten als traditionelle, schwere Betonkonstruktionen. Sámsondi Kiss errichtete mit seiner Methode in den Kriegsjahren in Budapest seine ersten experimentellen Wohnbauten. Der wichtigste war das Wohnhaus für seine Familie, errichtet in den Jahren 1942–1943.[5]

Gesamtkunstwerk für den Eigengebrauch

Das langgestreckte Einfamilienhaus ist ein zweigeschossiger Zweispänner mit offenem Grundriss. Die Tragkonstruktion ist durch einheitliche Schrankpfeiler gelöst, die in den Kreuzungen der Zellenrippen untergebracht sind. Die Vorspannung mit dünnen Stahlsaiten erfolgte entlang den Rippen der horizontalen Zellenstruktur. Die waagrechten Lamellen der Schrankpfeiler sind als Regale verwendbar, ihre Oberflächen und Kanten sind mit Glas verkleidet. Die symmetrisch belasteten Schrankpfeiler sind im Innenraum so gedreht, dass sie als Stauraum genutzt werden können, jene an der Fassade wurden in wärmedämmende Schalung gegossen. Die Zellenstruktur der Stützen setzt sich als das horizontale Zellensystem der Decke fort. Diese Lösung ermöglicht einen grossen, ungeteilten, zusammenhängenden Innenraum. In den verglasten Deckenkassetten ist die Beleuchtung installiert, verdeckt durch verschiebbare transluzente Glasscheiben (Abbildungen hier, hier und hier).

Die Zentralheizung wurde entlang der mittleren Pfeilerreihe geführt. Anstatt sie zu verstecken, behandelte der Architekt sie als gekachelten, Wärme strahlenden Körper, als zentrales Element des Innenraums. Der horizontal durch die Wohnung geführte Rauchkanal funktioniert wie ein Kachelofen. Zum Innenraum hin wurde eine lange, mit Glasplatten verkleidete Fläche gebildet. Unter dieser horizontalen Abdeckplatte sind die Leitungen der Konvektoren versteckt, die auch die Heizung einzelner Abschnitte erlauben. Bad und Küche sind Teile des offenen Raumgefüges; hier sind die Oberflächen des Gewebebetons mit farbigen Glasplatten verkleidet (Abbildungen hier und hier).

Ein Masssystem über alles

Sámsondi Kiss betonte, dass die Ausführung eines Einfamilienhauses eine «der geistigen Arbeit nahe stehende» Tätigkeit sein müsse. Technisch einigermassen versierte Bauherren sollten ihre Häuser selbst ausführen können. Diese Art körperliche Arbeit sei weder langweilig noch anstrengend, schrieb der Architekt, der in seinen Schriften immer für die Erhöhung des Anteils der geistigen Arbeit und des Erfindungsgeists im Bauen argumentierte. Der Arbeitsprozess – unter Verwendung speziell entwickelter kleiner Maschinen – solle interessant und anregend sein und Ergebnisse produzieren, die mit jenen der industrialisierten Baumethoden gleichwertig sind. Der Bauprozess solle keinesfalls «mechanisch» sein; Sámsondi Kiss kritisierte rigide Arbeitsabläufe, die charakteristisch für automatisierbare Produktionsprozesse seien.

Die Wohnung war für Sámsondi Kiss Teil eines integrierten urbanen Systems, einer Zellenstruktur, die eine Masskoordination aller Elemente – einschliesslich Möbel und Transportfahrzeuge – erforderte. Dabei verwarf er, wie Ernst Neufert oder Le Corbusier vor ihm, das dezimal-metrische System zugunsten eines modularen Systems, das auf der Teilung von 225 cm beruht, was auch der Geschosshöhe seines eigenen Wohnhauses in Budapest entspricht.

Sámsondi Kiss bemängelte, dass die Konstrukteure Fragen, die mit dem Leben in der modernen Wohnung zusammenhängen, als zweitrangig betrachten – etwa die Möglichkeit der Anpassung an neue Anforderungen oder die mechanische Reinigung: Verwinkelte Grundrisse und komplizierte Details erschweren die Verwendung von Reinigungsgeräten oder den Austausch von Komponenten. Er dagegen sah in seinen Wohnhäusern Reinigungsmaschinen vor, deren Dimensionen den vorgefertigten Fussbodenpaneelen und damit dem Modulsystem der Konstruktion entsprachen.

Einfach, aber nicht simpel

Das Frage nach der Einfachheit war zentral im Denken von Sámsondi Kiss; sie theoretisch und praktisch zu beantworten war vor allem für die Gestaltung der Knoten entscheidend. Die «Einfachheit» des Plattenbaus mit geschosshohen Betonpaneelen, der herrschenden Wohnbauweise im Staatssozialismus, lehnte er ab. In seinem Bausystem sollte die Gestaltung der einzelnen Komponenten einem genauen Punkt in der Herstellungskette entsprechen und einem genauen Ort, wo sie eingebaut würden, um eine optimale Montierbarkeit und Brauchbarkeit zu erlauben. Das System beruhte auf der Komplementarität von Vorfertigung und In-situ-Montage: In der Werkstatt sollten Komponenten in verschiedenen Fertigkeitsstufen hergestellt werden, die auf der Baustelle komplettiert, kombiniert bzw. zusammengefügt werden (Abbildung).

1954 überliess Sámsondi Kiss sein Gewebebetonpatent dem ungarischen Staat. Einige begeisterte Mitarbeiter führten seine Experimente weiter; die Ergebnisse wurden zwar publiziert, haben die Baupraxis im Realsozialismus aber kaum beeinflusst. Für die staatliche Bauindustrie, die an der Einhaltung von Planvorgaben und der Massenproduktion von Wohnungen mit ungeschulten Arbeitern interessiert war, erwies sich sein System als viel zu anspruchsvoll und aufwendig.

Inspiration durch Fertigung statt Zwang zum Funktionalismus

Sámsondi Kiss kritisierte, dass die Diskussion über die moderne Wohnung ausschliesslich auf Fragen der Grundrissdisposition und Funktion beschränkt sei. Schlagworte wie «das befreite Wohnen», «die Wohnmaschine» oder die Forschungen von Ernst Neufert oder Le Corbusier seien wohl wichtig, würden aber die Probleme der Technik und der Herstellung als zweitrangig erscheinen lassen.

Im Gegensatz dazu war Sámsondi Kiss überzeugt, dass echte Neuerungen im Entwurf auch neue Konstruktionstechniken voraussetzten. Er schrieb: «Den Architekten war es jahrzehntelang genug, dass sie sich, aus dem Gefängnis der Ziegelmauer befreit, auf dem freien Gebiet der monolithischen Betonarchitektur bewegen konnten […] Für uns erwies sich diese Betonarchitektur als eine genauso bedrückende Last wie die Ziegelmauer für unsere Vorgänger. Wir wollen keine neuen Schlagworte fabrizieren. Wir müssen allerdings die Konseqenzen bedenken. Wir dürfen nicht vergessen, dass auf dem Gebiet der Wohnfunktion jede Erneuerung mit der Konstruktion verbunden ist; nur mit der Entwicklung der Konstruktion können wir neue Grundrisslösungen finden.»[6]

Dabei verwies er die Konstruktion keineswegs in den Dienst des Entwurfs, sondern forderte einen Entwurf aus der Konstruktion, der Fertigung heraus: «Ob eine Wohnung in ihrer Funktionalität gut oder schlecht ist, können wir nur im Betracht auf das konkrete Konstruktionssystem entscheiden. Das heisst, wenn wir auf dem Gebiet der Konstruktion Fortschritte machen und zwischen Entwerfen und Ausführung auch das Kettenglied der industriellen Fertigung einfügen wollen, sollen wir den veralteten Teil unserer funktionalistischen Ansichten vor die Tür setzen.»[7]

Bislang ist keine umfassende Studie über das Werk von Béla Sámsondi Kiss erschienen. Viele seiner Handskizzen, mit denen er sein Gewebebetonsystem weiterzuentwickeln suchte, wurden jedoch als Teil des ungarischen Beitrags zur IX. Architekturbiennale in Venedig (2004) ausgestellt (Abbildung).[8]


Anmerkungen:
[01] Gottfried Semper definiert Stoffwechsel als einen Prozess, der den ursprünglich durch Material und Herstellungstechnik bedingten Konstruktionen kulturelle Bedeutung gibt: Formen, die früher in der Bearbeitungstechnik eines Materials begründet waren, werden später auf andere Stoffe übertragen. So können z.B. Steinkonstruktionen die charakterischen Formen des Holzbaus zeigen. Vgl. Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. Frankfurt am Main/München 1860–1863. Semper klassifiziert das Bauen in textile Kunst, Keramik, Tektonik (Zimmerei), Stereotomie (Steinkonstruktion) und Metallotechnik (Metallarbeiten).
[02] Béla Sámsondi Kiss, Szövetszerkezetes épületek [Bauten mit Gewebekonstruktion]. Budapest: Müszaki Könyvkiadó, 1965, S. 15. Übersetzung des Autors.
[03] Seine Ansichten zur modernen Stahlbetonarchitektur hat Medgyaszay in seinem Vortrag erörtert: István Medgyaszay, «Über die künstlerische Lösung des Eisenbetonbaues». In: Bericht über den VIII. Internationalen Architekten-Kongress Wien 1908. Wien: Verlag von Anton Schroll & Co., S. 538–554.
[04] Victor Olgyay, Design with Climate. Bioclimatic Approach to Architectural Regionalism. Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1963.
[05] Vgl. «Tower apartment houses», in: The work of architects Olgyay Olgyay, New York: Reinhold Publishing Co., o. J. [1952?], S. 17; «Tér és Forma» 10/1946, S. 118; Paul Weidlinger, «Partitions function as columns», in: Architectural Record Vol. 109 No. 1 (Jan. 1951), S. 134–140.
[06] Das Haus wird vom Sohn des Architekten, Prof. em. György Sámsondi Kiss, bewohnt, dem ich wervolle Informationen und Bilder zu diesem Beitrag verdanke.
[07] Sámsondi Kiss, wie Anm. 2, S. 26.
[08] Péter Janesch (Hrsg.), From Beauty to Beauty and Back Again. Exhibition in the Hungarian Pavilion of the Venice Biennial at the 9th International Architectural Exhibition. Budapest: Mücsarnok, 2004, S. 273–649.

TEC21, Fr., 2017.09.22



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Analogien und Attitüden

In den 1980er-Jahren hat die Analoge Architektur an der ETH Zürich die Entwurfsmethoden revolutioniert. Die Projekte und deren Darstellung waren neu und eigenwillig. Ein Versuch, die «Analogen» in Theorie und Geschichte einzuordnen, illustriert mit Bildern ehemaliger Studenten.

In den 1980er-Jahren hat die Analoge Architektur an der ETH Zürich die Entwurfsmethoden revolutioniert. Die Projekte und deren Darstellung waren neu und eigenwillig. Ein Versuch, die «Analogen» in Theorie und Geschichte einzuordnen, illustriert mit Bildern ehemaliger Studenten.

Das Konzept der Analogie begleitet das menschliche Denken seit der Antike. Es beruht auf der Erkenntnis, dass der Verstand die Fülle und Komplexität der Welt nie direkt, sondern nur mit reduzierten, aber mit den Erscheinungen im Proportionsverhältnis stehenden Bildern begreifen und darstellen kann.[1] Vitruv interpretiert Analogie als Übereinstimmung der Proportionen: «Die Formgebung der Tempel beruht auf Symmetrie, an deren Gesetze sich die Architekten peinlich genau halten müssen. Diese aber wird von den Proportionen erzeugt, die die Griechen nennen.»[2] Für die Theologie wurde das Konzept der Analogie besonders wichtig: Sie wurde als Versuch gedeutet, den radikalen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf für das Denken zu bewältigen. Eine Betrachtung «von Angesicht zu Angesicht» bleibt uns versagt; es geht um eine Annäherung, die Repräsentationen müssen immer unvollständig, unangemessen bleiben. Im Spätmittelalter und in der Renaissance entstanden zahlreiche Darstellungen, die die philosophische bzw. theologische Argumentation der ikonografischen und allegorischen Tradition entsprechend vor Augen führten.

Der Massstab als Werkzeug der Projektion aus dem Bereich der Ideen in den Raum der realen Welt der Gegenstände gehört ins Instrumentarium des analogen Denkens, das die Einfügung des gedachten oder entworfenen Objekts in die Wirklichkeit ermöglichen soll.[3] Analogie als Proportionalität entspricht der Harmonie der Welt, die der Renaissancegelehrte Leon Battista Alberti als concinnitas, Ebenmass, die richtige Kombination von Zahl, Dimension und Form bezeichnet wurde.[4] Es ist die Aufgabe der concinnitas, die Verbindung zwischen Naturgesetz und architektonischer Form herzustellen. Analogie ist jedoch der übergeordnete Begriff und erschöpft sich nicht in Harmonielehren. Es gibt organische Analogien neueren Datums, die das harmonische Proportionskonzept verwerfen, um dynamischere Modelle (z.?B. Formen des Wachstums, «Tropismen») vorzuschlagen.[5]

Das poetische Potenzial der Unschärfe

Peter Collins (1920–1981), ein in England geborener und hauptsächlich in Kanada tätiger Architekturtheoretiker, hat in seinem 1965 veröffentlichten Buch «Changing Ideals in Modern Architecture 1750–1950» die Fähigkeit der Architektur betont, Begriffe und Konzepte aus der Biologie, Physik oder Philosophie schwammartig durch Analogien aufzusaugen. Die Unschärfe ist dabei immer Teil des Spiels: «Es scheint, dass die Analogie immer unbestimmt und poetisch sein muss», schreibt Collins.[6]

Gerade wegen ihres unscharfen, approximativen und intuitiven Charakters ermöglicht die Analogie, Lösungen für komplexe Aufgaben zu finden, ohne alle Aspekte des Systems in Erwägung ziehen zu müssen. Der englische Architekturhistoriker Geoffrey Scott (1884–1929) brachte es in seinem Buch «The Architecture of Humanism» auf den Punkt: «Die wissenschaftliche Methode ist nützlich, verstandesmässig und praktisch, aber der naive, der anthropomorphe Weg, der die Welt humanisiert und diese in Analogie mit unseren Körpern und unserem Wollen interpretiert, ist immer noch der Weg der Ästhetik, sie bildet die Basis der Poetik und die Grundlage der Architektur.»[7]

Trotzdem gab es immer wieder Versuche, anstelle der Analogie eine wissenschaftliche Methode zu verwenden. Der 1936 geborene US-amerikanische Architekt, Architekturtheoretiker und Philosoph Christopher Alexander hat in seinen «Notes on the Synthesis of Form» vorgeschlagen, die komplexen Zusammenhänge in Wirtschaft, Kultur, Verkehr, Wohn- und Gesundheitswesen eines indischen Dorfs in einem Katalog von 142 Anforderungen zu erfassen.[8] Die Verbindungen zwischen den einzelnen Anforderungen als Grundlage von Planungsentscheidungen sollten mit einem Computer modelliert und ausgewertet werden. Alexander musste erkennen, dass solche Aufstellungen der Anforderungen, wie ausführlich sie auch immer sein mögen, letzten Endes willkürlich bleiben. Als Konsequenz des Scheiterns ist Alexander zum analogen Denken als Methode zurückgekehrt: In seinen späteren Büchern betrachtet er die feinen Ornamente von alten türkischen Teppichen als Modelle für eine architektonische «Mustersprache».[9]

Aus einer ähnlichen Motivation heraus sieht heute Jean-Pierre Chupin, Forscher an der Universität von Montreal, die Rolle der Analogie in der Architektur: Durch die Zusammenführung der sprachlichen, visuellen und stofflichen Bezüge in einer analogen Matrix kann das architektonische Denken der Komplexität der Aufgabe gerecht werden.[10]

Das Eigenleben des Bilds

Die Entwicklung des Analogiekonzepts in der Architektur zeigt die wesentlichen Züge des erwähnten theologischen Analogiegedankens. Wir können sogar vermuten, dass die philosophische Diskussion von Spekulationen über Projekt und Projektion befruchtet wurde – es geht ja um eine morphologische Erfassung der Dinge der Welt: der Gebrauchsobjekte, Häuser und Städte als erschaffene Dinge, die wir als Projektionen, als «Ent-Würfe» einer grossen, alles bestimmenden Ordnung beziehungsweise eines Plans betrachten können.

Die Fragen der sichtbaren Welt und deren Repräsentationen sind diesbezüglich besonders wichtig, weil Bilder, Entwurfspläne oder Modelle nicht blosse Notationen oder Anweisungen zur Ausführung sind, sondern über eigene analoge Fähigkeiten verfügen. Die Entwürfe der Revolutionsarchitekten Claude-Nicolas Ledoux und Étienne-Louis Boullée, obwohl sie in ihrem gigantischen Massstab uns «verrückt» erscheinen mögen, werden meistens mit Ideen der Aufklärung, der Vernunft, mit dem Rationalismus in der Architektur in Verbindung gebracht, weil strenge Geometrie und Symmetrie seit Platon als bildhaftes Modell der Vernunft und Ordnung gelten.

Rossis ahistorische Permanenz

Aldo Rossis Vorschlag, die Morphologie der Stadt mit der panoptischen Bildstrategie eines Kunstkabinetts zu verbinden, ist diesbezüglich besonders lehrreich und steht ebenfalls mit dem neoplatonisch-christlichen Analogiekonzept in enger Beziehung. Die Entwicklung dieses Konzepts in seinem Werk war für die Schweizer Architektur besonders folgenreich. Rossis analoge Stadt, die città analoga (1976), ist noch ganz in der Tradition der spätmittelalterlichen Emblematik verwurzelt und blendet die Historizität der Stadt zugunsten der Permanenz der Typen aus. Schon die Form der Komposition als Segment eines grosses Rads suggeriert die ewige Wiederkehr der gleichen Grundkonfigurationen. Es ist gerade das enthistorisierende Zusammenfügen des Diokletianspalasts in Split mit Giovanni Battista Piranesis visionärer Archäologie der Stadt Rom und mit Rossis eigenem Entwurf für den Friedhof in Modena, das das Wesen des Städtischen per analogiam sichtbar macht.[11] Die sichtbaren Übereinstimmungen von Formen, die aus verschiedenen Epochen stammen und unterschiedliche Funktionen behausen, sollen einerseits die Autonomie, die Unabhängigkeit der Architektur von solchen geschichtlichen oder nutzungsbedingten Faktoren belegen, andererseits die architektonische Imagination befördern. Die formale Analogie zwischen scheinbar verschiedenen Bauaufgaben wie Wohnhaus, Strandkabine und Grabstätte führen in Rossis Werk diesen Gedanken – und auch die Umwandlung, die Zirkularität der Zeit – suggestiv vor Augen.

Die späteren Texte, Projekte und Grafiken Rossis (vor allem sein Buch «Wissenschaftliche Selbstbiografie»[12]) überschreiben diese Stadtgeschichte ohne Zeitdimension mit einer neuen, vom Psyche-Konzept Sigmund Freuds und vor allem von C.G. Jung beeinflussten Deutung der Analogie. Rossi beschreibt die Stadt nicht mehr als Sammlung der in der kollektiven Erinnerung gespeicherten Formen, sondern als Spur persönlicher Eindrücke. Er deutet Begriffe um, Wissenschaftlichkeit wird zu Kontingenz, Rationalität in Exaltiertheit umgewandelt. Es geht nicht mehr um das Potenzial der Analogie, von der Welt ein Bild zu schaffen, sondern um ihre Unangemessenheit, ihre Unschärfe; um die Erkenntnis, sich von der Wahrheit sogar zunehmend zu entfernen. «Dieses ist lange her», notiert Rossi ein Zitat des österreichischen Dichters Georg Trakl auf eine seiner Radierungen.[13]

Robert Venturis Ironie

In dieser Entwicklung spielt wahrscheinlich die amerikanische Postmoderne eine Rolle, genauer: eine ähnliche Verschiebung in der Theorie von Robert Venturi. Wir können Venturis erstes Buch «Complexity and Contradiction» (1966) als eine Antwort auf die bereits skizzierte Herausforderung verstehen, dem Problem des Entwerfens in seiner ganzen Komplexität gerecht zu werden. Contradiction, die Zulassung und Ästhetisierung von unaufgelösten Widersprüchen im Werk, war hier die Antwort.[14] Dann, in «Learning from Las Vegas» (1972), revidieren Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour diese Position, wahrscheinlich unter dem Einfluss der populistischen Tendenzen jener Zeit. Die durchwegs kommerzialisierte Welt der Vorstädte und sogar die Lehren aus der Glücksspieloase Las Vegas können in der «high architecture» verwendet werden, behaupten Venturi und seine Koautoren.[15]

Was hier als analoges Denken erscheinen mag, erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als Simulacrum. War ein Architekt der Moderne wie Adolf Loos noch überzeugt, dass er mit seinem sicheren Geschmack und seinem schillernden Auftritt (Skandal um das Haus am Michaelerplatz in Wien) die Gesellschaft erziehen könne, lässt sich der postmoderne Architekt in ein «Als-ob-Schauspiel» mit seinem Auftraggeber ein: Er scheint dessen Geschmack zu applaudieren und ist bereit, Formen der «low culture» in seine Architektur einfliessen zu lassen. Andererseits zwinkert er seinen Berufskollegen zu: Es gehe ihm nicht wirklich um die Wertschätzung des Alltäglichen, vielmehr um ironische Kommentare aus der höheren Perspektive des Intellektuellen. Damit wird die Grundlage einer analogen Beziehung unterminiert.

Vom Bild zur Referenz

Hier nehmen die Schweizer «Analogen» den Faden auf. Obwohl Venturis Einfluss in der Schweiz noch zu wenig erforscht ist, können wir annehmen, dass seine Ideen nicht zuletzt dank Stanislaus von Moos und der Zeitschrift archithese präsent waren. Das Themenheft «Las Vegas etc. oder: Realismus in der Architektur» erschien 1975, also genau zwischen den zwei Perioden von Aldo Rossis Lehrtätigkeit an der ETH in Zürich (1972–1974 bzw. 1976–1978).[16] Rossi war in der zweiten Phase bereits ein «Starchitect» – er unterrichtete im Frühjahr 1976 und im Herbst 1979 auch in den Vereinigten Staaten. Seine Ausstellung in Peter Eisenmans «Institute for Architecture and Urban Studies» in New York fand 1979 statt. Seine Zürcher Studenten und Studentinnen, und später jene des Gastprofessors und früheren Rossi- Assistenten Fabio Reinhart beziehungsweise seines Assistenten Miroslav Šik, haben Rossis Analogiekonzept weiter umgewandelt und aus seiner epistemologischen Verankerung in der ersten Phase gelöst. Die Signifikanz des Bilds für den frühen Rossi wird in eine Suche nach Referenzen umgewandelt (Popkultur, Star Wars, Marvel-Comics etc.).

Der Regression entkommen

Referenz hat jedoch mit Analogie nur scheinbar etwas zu tun. Der entscheidende Unterschied ist, dass bei der Referenz das Bewusstsein für die Unangemessenheit der Analogie aufgegeben, ja nicht einmal wahrgenommen wird. Die Dinge der Welt – die Kaffeekannen, Häuser und Städte, die für Rossi den objektiven Tatbestand der erschaffenen Welt darstellten – existierten jetzt für die Schweizer «Analogen» als verinnerlichte, persönliche Fakten, subjektive Erinnerungen, collagiert aufgrund individueller Präferenzen, die nicht weiter begründet werden müssen und deshalb irgendwie immer adäquat sind. Auch die vielbeschworene graue Vorstadt war vor allem Stimmung und damit eher etwas subjektiv Gespürtes als soziale Wirklichkeit. Bereits Rossis Entwicklung nach seiner amerikanischen «Entdeckung» zeigte in diese Richtung. Der Titel seines Beitrags in «Perspecta» von 1997, der Zeitschrift der Architekturschule der Yale-Universität, ist diesbezüglich vielsagend: «Architecture, furniture and some of my dogs».[17] In dem Interview mit dem französischen Architekten und Urbanisten Bernard Huet (1932–2001) zu dieser Sammlung von Zeichnungen und Lithografien verwirft Rossi in seinem Schlusssatz jegliche Verbindung zwischen seiner Arbeit mit Referenzen und dem früheren Analogiegedanken: «For me, architecture is a whole, and I take the good wherever I find it.»[18]

Rossis Kabinett der Espressomaschinen, Pferdeskelette und Strandkabinen wird zunehmend zum Museum der Obsessionen und seine Typenlehre zum Kult der Attitüden, die jederzeit zu Form werden können.[19] Das grosse Versprechen der Postmoderne, aus der Komplexität der Aufgabe und aus den inneren Widersprüchen der Wirklichkeit eine kohärente Ästhetik herauszudestillieren, wurde weder im Werk Venturis noch in den Projekten Rossis eingelöst. Auch die Technik bedeutete für Rossi und die «Analogen» vor allem die «alte» Technik: die Maschine, das Gerüsthafte – und für die «Analogen» die Bilderwelt der Science-Fiction-Filme.

Die Regression in Richtung gepflegter Melancholie, Innerlichkeit und Subjektivität war und bleibt für das analoge Denken eine Gefahr, der aber viele (ehemalige) «Analoge» dadurch entkamen, dass sie die Vorstadt oder die Technik nicht als blosse Bilder betrachteten, sondern das erste als Aufgabengebiet, das andere als Instrument. Die Stadtforschung, die Zusammenarbeit mit Soziologen und Ingenieuren haben es ermöglicht, zur ursprünglichen Bedeutung der Analogie zurückzufinden, die ohne Referenzen auskommt. Die menschliche Kognition kann nämlich durch das Netzwerk der Analogie eine Ranke in Richtung des noch Unbekannten strecken, ohne auf Formen der Vergangenheit zurückgreifen zu müssen.


Anmerkungen:
[01] Vgl. Platons Erklärung des analogen Wesens des Guten und der Verhältnisse im Bereich des Sichtbaren und des Denkbaren in seiner Politeia Buch VI, in: Platon, Sämtliche Werke Band 2, Reinbek 1994, S. 414–417.
[02] Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, übers. von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964, S. 137.
[03] Vgl. Philippe Boudon, Échelle(s). L’architecturologie comme travail d’épistémologue. Paris 2002.
[04] Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, übers. von Max Theuer, Wien 1912, S. 492.
[05] D’Arcy Wentworth Thompson, Über Wachstum und Form, Frankfurt am Main 1982; Ton Verstegen, Tropisms: Metaphoric Animation and Architecture. Rotterdam 2001.
[06] Peter Collins, Changing Ideals in Modern Architecture 1750–1950, London and Montreal, S. 153.
[07] Geoffrey Scott, The Architecture of Humanism: A Study in the History of Taste. 2. Aufl. London 1924, S. 218.
[08] Christopher Alexander, Notes on the Synthesis of Form. Cambridge, Mass. 1964.
[09] Christopher Alexander, A Foreshadowing of 21th Century Art: The Color and Geometry of Very Early Turkish Carpets.
New York, Oxford 1993.
[10] Jean-Pierre Chupin, Analogie et théorie en architecture: De la vie, de la ville, et de la conception, même. Gollion 2010.
[11] Vgl. Carsten Ruhl, «Im Kopf des Architekten: Aldo Rossis La città analoga», in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 69 (2006), Nr. 1, S. 67–98.
[12] Aldo Rossi, Wissenschaftliche Selbstbiografie, übers. von Heinrich Helfenstein, Bern/Berlin 1988.
[13] Vgl. Martin Steinmann, «Dieses ist lange her. Notizen zu Aldo Rossi», in Ákos Moravánszky, Judith Hopfengärtner, Aldo Rossi und die Schweiz. Architektonische Wechselwirkungen. Zürich 2011, S. 183–196.
[14] Robert Venturi, Complexity and Contradiction in Architecture, New York 1966.
[15] Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour, Learning from Las Vegas: The Forgotten Symbolism of Architectural Form. 2nd revised ed.: Cambridge, Mass. 1977.
[16] Vgl. archithese 13 (1975): Las Vegas etc. oder: Realismus in der Architektur.
[17] Aldo Rossi, «Architecture, furniture and some of my dogs», in: Perspecta: The Yale Architectural Journal Nr. 28 (1997), S. 94–113.
[18] Ebenda, S. 111.
[19] «Live in Your Head: When attitudes become form» war der Titel einer wichtigen Ausstellung von Harald Szeemann in der Kunsthalle Bern im Jahre 1969.

TEC21, Fr., 2015.09.11



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04. September 2015Ákos Moravánszky
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Politik, Prozess oder Produkt?

In den 1930er-Jahren grenzte der Begriff «Baukultur» die eigene Tradition gegen die internationale Moderne ab. Später bezeichnete er eine heile Welt als Kontrast zu den Bausünden der Hochkonjunktur.
Heute entfernt er sich vom Gebauten und steht zunehmend für politische Prozesse – eine Entfremdung, die aus der kritischen Sicht der Architekturtheorie nichts Gutes verheisst.

In den 1930er-Jahren grenzte der Begriff «Baukultur» die eigene Tradition gegen die internationale Moderne ab. Später bezeichnete er eine heile Welt als Kontrast zu den Bausünden der Hochkonjunktur.
Heute entfernt er sich vom Gebauten und steht zunehmend für politische Prozesse – eine Entfremdung, die aus der kritischen Sicht der Architekturtheorie nichts Gutes verheisst.

Baukultur ist einer jener deutschen Begriffe, die mit ihrer kommandohaften Dezidiertheit und mit ihrem unübersetzbaren Inhalt bei Fremdsprachigen Achtung, Spott oder Angst auslösen können. «Cultura edilizia» ist ein deutsches Exportwort im italienischen Fachjargon, das fast ausschliesslich von Tessiner und Südtiroler Berufsverbänden verwendet wird. Auch die englische Sprache kennt keinen gleichwertigen Begriff, selbst wenn wir auf den Websites einiger deutscher und Schweizer Hochschulen Äusserungen zur «building culture» finden. «Architecture culture», wie Joan Ockmans Textanthologie der Architekturtheorie betitelt ist, bedeutet und bezweckt eben etwas völlig anderes – nämlich eine Öffnung der Architektur, ihre Einbettung in die grösseren Zusammenhänge der Kultur.[1]

Der Begriff Baukultur verspricht meist keine Öffnung. Im Gegenteil, er ist seit jeher ein Begriff der Verteidigung, obwohl oft nicht klar ist, was verteidigt werden soll. Das einheitliche Stadtbild? Der sichere Geschmack? Die Identität einer Region? Jedenfalls wird Denkmalpflege oder Heimatschutz – ein anderer schwer transferierbarer Begriff, selbst zwischen Deutschland und der Schweiz – oft als die wichtigste Aufgabe der Baukultur genannt. Die von der Stadt Zürich herausgegebene Buchreihe «Baukultur in Zürich» stellt Bauten aus dem «Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte» vor.[2] Dieser Verteidigungsreflex entstand aus der Wahrnehmung eines Verlusts heraus, vergleichbar mit den Klagen am Anfang des 20. Jahrhunderts, die Prozesse der Modernisierung würden das Dorf zum Verschwinden bringen – ein idealisiertes Dorf, das bereits damals nur als Folklore existierte. Der Traum von einer Bau- und Objektkultur, die Leben und gestaltete Umwelt harmonisch vereinigt, war schon damals mit Fluchtversuchen aus der Wirklichkeit verbunden.

Baukultur und Alltag Was den Zauber des Worts Bauk ultur ausmacht, ist seine Aura, die zugleich elitär und demokratisch ist. Elitär, weil Kultur mit Kultus zu tun hat, mit einer ritualisierten und ästhetisierten Form des Umgangs mit der Umwelt, die den kultivierten Menschen von den anderen unterscheidet. Für viele Architektinnen und Architekten ist diese elitäre Auslegung der Baukultur, die unangenehme Resonanzen mit dem unglückseligen Leitkultur-Begriff der späten 1990er-Jahre auslöst, kaum mehr akzeptierbar. Denn die nobilitierende Aura der Kultur wird heute für alles beansprucht, vom Fernsehkochen bis hin zu Ganzkörpertattoos – die der streitbare Wiener Architekt Adolf Loos (1870–1933) bekanntlich noch als Zeichen der Unkultur deutete.[3] Es ist ein Gebot der Toleranz, die demokratische Auslegung des Begriffs zu verwenden und alle Formen der Gesellschaft als Kultur anzuerkennen, sodass man lieber über Baukulturen als über Baukultur sprechen möchte.

Doch wie können wir dann sagen, was jenseits der Baukultur liegt? Die Bau-Unkultur? Die Barbarei? Was ist das Verhältnis der Baukultur zum sogenannten Alltag, den Robert Venturi als «the ordinary» apostrophiert – zum Banalen, Vorgefundenen, Populären? Ist Baukultur «high culture», das Ergebnis von Expertenwissen und somit das Gegenpol zum Alltäglichen? Oder ist es umgekehrt? Ist gerade der Alltag mit seiner «low culture» jene Realität, die über Existenz oder Nichtexistenz der – einer – Baukultur entscheidet? Schon Venturis Stellungnahme zum Alltag («ugly and ordinary») war mit Vorsicht zu geniessen: Sein Alltag war eher für den kultivierten Leser und Berufskollegen als für den Bewohner der amerikanischen Vorstadt konstruiert.[4]

Die Baukultur und ihre Feinde

Das Problem mit der Baukultur wurde dem Begriff sozusagen in die Wiege gelegt. Die deutsche Architektenvereinigung Der Block gab ab 1930 eine Zeitschrift mit dem Titel «Die Baukultur» heraus.[5] Der Block bestand aus Gegnern des Neuen Bauens (dessen Vertreter sich wiederum in der Gruppe Der Ring versammelten). Zu den Block-Mitgliedern gehörten Architekten der Stuttgarter Schule wie Paul Schmitthenner und des Bundes Heimatschutz wie Paul Schultze-Naumburg, die zum Teil auch im Kampfbund für Deutsche Kultur aktiv waren. Schultze-Naumburg hatte sich schon am Anfang des Jahrhunderts in seiner mehrbändigen, weit verbreiteten Buchreihe «Kulturarbeiten» die Verteidigung der «Kultur des Sichtbaren» zur Aufgabe gemacht, um die «entsetzliche Entstellung der Physiognomie unseres Landes» sichtbar zu machen und zu bekämpfen.[6] In eindrucksvollen Bildpaaren zeigte er gute und schlechte Beispiele von Dörfern und Städten, Wohnhäusern, Gärten und Industriebauten.

Baukultur wurde bald zum Schlagwort, um die internationale Moderne zu schlagen. Sie bezeichnete die eigene gute Tradition, im Gegensatz zu den bedrohlichen Ambitionen des Internationalen Stils. Der konkrete Stein des Anstosses war vor allem die Weissenhofsiedlung in Stuttgart (1927): Die Architekten der Stuttgarter Schule errichteten unter der Leitung von Schmitthenner ein Gegenmodell dazu, die Kochenhofsiedlung (1933).

Schon früh hat man also Baukultur mit Baukunst gleichgesetzt oder mit ästhetischen Fragen verbunden. Diese Konfusion lebt weiter und erschwert die Diskussion über Baukultur bis heute. Denn Baukultur ist nicht gleich Architektur: Es ist zum Beispiel möglich, jene Baukultur anzuerkennen, die die Weissenhofsiedlung ermöglicht hat – eine Stadtregierung, die bereit war, eine repräsentative Mustersiedlung zu bauen, die Massstäbe setzt und die Prinzipien des Neuen Bauens festlegt –, ohne deswegen auch Anhänger des Neuen Bauens sein zu müssen. Heute zieht sich der Staat aus dieser aktiven Bauherrenrolle zurück; anstatt repräsentative Bauvorhaben zu fördern, stellt er Stiftungen und Kommissionen zur Baukultur auf. Daher verwundert es nicht, dass Baukultur heute vor allem verfahrenstechnisch verstanden wird – und in Sitzungen, Tagungen, Publikationen oder Sensibilisierungsmassnahmen, aber nicht in Bauten gipfelt.

Seldwyla, eine baukulturelle Utopie

In der Schweiz fand die deutsche Diskussion über Baukultur früh Gehör, nicht zuletzt dank den engagierten Publikationen des «Werk»-Redaktors Peter Meyer, der wie viele Architekten der Stuttgarter Schule ein Student und Verehrer von Theodor Fischer war. Seine scharfsinnige, humorvolle Kritik der Formalismen der Avantgarde fand viel Resonanz. Er konnte bereits mit einer breiten gesellschaftlichen Opposition gegen die (damals gar nicht existierende) Grossstadtarchitektur rechnen. Die Wurzeln dieser Ablehnung reichen historisch zurück bis zu Gottfried Kellers (1853–1875) literarischer Konstruktion «Seldwyla» und anderen Kleinstadtutopien; als Folge davon wurden später tatsächlich Heterotopien wie die Wohnsiedlung Seldwyla in Zumikon gebaut (1967–1976). Die Schweizer Literatur ist voll «verwunschener Orte», die so dargestellt sind, dass sie die brutale Zerstörung einer früheren, humaneren Wirtschaft und Kultur durch die Kräfte der Modernisierung demonstrieren.[7] Der Architekt von Seldwyla, Rolf Keller, veröffentlichte 1973 das Buch «Bauen als Umweltzerstörung: Alarmbilder einer Un-Architektur der Gegenwart». Darin griff er Argumente von Kritikern des Nachkriegszeit- Städtebaus wie Jane Jacobs[8] und Alexander Mitscherlich[9] auf. Die gegensätzlichen Kräfte des Individualismus und der Ordnung, die sich früher die Waage gehalten hätten, seien heute aus den Fugen geraten und führten sowohl zum Chaos als auch zur Monotonie der Umwelt – so lautete die von dramatischen Schwarz- Weiss-Aufnahmen untermauerte Diagnose des Verfassers. Kellers Buch wurde vom Westschweizerischen Werkbund ausgezeichnet und mehrmals nachgedruckt. Den Abschluss des Buchs bildete ein Brief des Obmanns des BSA und des Delegierten für Umweltschutz, die ihr Bedauern darüber ausdrückten, dass «die formschönen Bauten der BSA-Architekten» nur als «‹Alibi-Rosinen› in einer Betonkruste» erschienen, «die unsere Erde überzieht […] Alle müssen kämpfen, denn eine Gesellschaft bekommt die Architektur, die sie verdient.» Als Ergebnis solcher Diagnosen kristallisierte sich die Überzeugung heraus, dass der Baustoff Beton oder die Grosssiedlung die Verkörperung dessen sind, was den Gegensatz zur Baukultur ausmacht.

Kellers Seldwyla steht auf der Liste der schönsten Bauten der Schweizer Heimatschutz[10], hat aber mehr Verwandtschaft mit Touristensiedlungen in Griechenland als mit der örtlichen Architektur. Die Siedlung ist auch von jenem «Hauch von Ungemütlichkeit» bereinigt, den der Schriftsteller Hugo Loetscher in Gottfried Kellers Schilderung des literarischen «Seldwyla» wahrnimmt.[11]

Von der Siedlung Seldwyla in Zumikon aus betrachtet erscheint der Rest der Welt als Junkspace von Shoppingmalls, Zersiedlung und alpinen Brachen. Doch können wir diese gebaute Utopie wirklich als Ort der Baukultur betrachten? Können wir die Berufsorganisationen und die Schulen auffordern, sie in der gesellschaftlichen «Bewusstseinsbildung» und im «Baukulturschaffen» als Vorbild zu verwenden?

Die verwaltete Baukultur

Die Gefahren, die einer schönen Stadt unter einer falschen Regierung drohen, zeigt bereits das berühmte Fresko «Allegorie der Guten und der Schlechten Regierung» (1337–1339) von Ambrogio Lorenzetti im Rathaus von Siena. In der Stadt der guten Regierung herrscht Frieden, ihre Bewohner tummeln sich fröhlich auf den Strassen und Plätzen, die von schönen Häusern gesäumt sind. In der Stadt der schlechten Regierung dagegen herrscht Hungersnot; Moral und Bauten sind dem Zerfall preisgegeben. Die Stadt, an deren Bild die Baukultur immer festgemacht wird, ist das sichtbare Resultat der Politik. Denn die Politik steuert die Prozesse, die unsere sichtbare Umwelt gestalten. Von Regierung spricht man in diesem Zusammenhang allerdings immer weniger. Es ist die Verwaltung, die heute zunehmend Regierungsaufgaben – also solche der Rechtsprechung – übernimmt. Die Öffentlichkeit verbindet «Baukultur» zwar immer noch mit der tatsächlich gebauten Stadt, aber die Politik braucht dieses Bild nicht mehr; aus Sicht der Verwaltung entscheiden letztlich nicht gute Bauten, sondern glatt laufende Verfahren über die Qualität der Baukultur.

Die Grenzen zwischen Verfahren und Ergebnis werden zunehmend unklar: Die Baukultur wird heute als neues Kultur- und Politikfeld bezeichnet, dessen Aufgabe es ist, die Baukultur zu fördern. Die Zirkularität dieser Definition hat den Vorteil, dass der Apparat des Baukulturschaffens in sich geschlossen ist: Er stellt die Aufgaben, entwickelt Verfahren zu ihrer Lösung und löst sie dann, ohne sichtbare Spuren in der gebauten Umgebung zu hinterlassen.

Diese Vorstellung von Baukultur als Verwaltung korrespondiert mit einer ebenfalls eindimensionalen Vorstellung vom städtischen Raum als blosses Nebenprodukt. Weil der Raum unsichtbar ist, spricht man zwar viel von ihm, gebaut werden aber nur Objekte: Mauern, Häuser und Fassaden.

Baukultur sollte mit der Untersuchung der spezifischen Dynamik der Prozesse beginnen, wie die Menschen Raum beanspruchen und besetzen. Entscheidungen werden heute in den wichtigsten Phasen nicht in der Öffentlichkeit geführt. Es gilt, Mechanismen zu schaffen, die solche Prozesse ausbalancieren, beispielsweise durch die Verpflichtung, Expertisen öffentlich zu machen; und es gilt zu vermeiden, dass Fachwissen nur als Legitimation missbraucht wird.

Der Ort der Baukultur

Als Gegenmodell zu einer Praxis, in der der Staat als Moderator zwischen Akteuren vermittelt und seine frühere Aufgabe als Bauherr nicht mehr oder nur noch in Public-Private Partnership wahrnimmt, muss Baukultur im konkreten, gelebten Raum der Stadt verankert werden. Ebenso wichtig ist es, dass unsere mentale Karte der Wirklichkeit vielschichtiger wird; dass wir auch die wirtschaftliche, politische, rechtliche und soziale Umgebung wahrnehmen, in der die Architektur eingebettet ist. Heute ist es üblich, perfekte Renderings als wirklichkeitstreu zu bezeichnen. Doch diese angebliche Wirklichkeitstreue bezieht sich nur auf den optischen Eindruck und nicht auf die vielschichtige städtische Realität. Wichtige Entscheidungen fallen oft auf der Grundlage solcher Darstellungen; besser wäre es, Lösungen zu suchen, die deren reduzierte Wirklichkeit infrage stellen.

Die neuen Räume der virtuellen Realität, die wir mithilfe des Computers betreten können und die als Räume einer neuen Öffentlichkeit dargestellt werden, obwohl sie zunehmend überwacht sind, können uns nicht über den Verlust von betretbaren Räumen in der physischen Stadt hinwegtäuschen. Die Durchlässigkeit der Stadt nimmt immer mehr ab. Wohl die wichtigste Aufgabe der Architektinnen und Architekten wäre es deshalb, das Potenzial urbaner Räume zu erschliessen, kognitive Karten und Grundrisse zu vergleichen und neue Raumnutzungen vorzuschlagen. Wer, wenn nicht die Architekturschaffenden, könnte die aktive Vermessung und Kartografierung von Räumen vorantreiben, die für eine gesellschaftliche Nutzung geöffnet werden können – und sollten?

Aber die Architektinnen und Architekten sind, wie der französische Philosoph Henri Lefebvre (1901–1991) betonte, nicht allein für die Gestaltung des Raums zuständig.[12] Denn der soziale Raum ist ein soziales Produkt. Das bedeutet, dass wir alle an der Produktion, Wahrnehmung, Interpretation und Imagination des gesellschaftlichen Raums teilnehmen. Wir – die Menschen, die in der Stadt leben – können und müssen die Räume der Stadt als Energiereserven betrachten und diese Energien zur Verwirklichung unserer sozialen Ziele verwenden.

Baukultur ist ein Begriff der reduzierten Hoffnungen in einer Zeit, in der der Staat kaum mehr als Bauherr in Erscheinung tritt. Dass es in der Schweizer Baukultur durchaus erfolgreiche, empfehlenswerte und exportfähige Modelle gibt – von der Ausbildung von Architekturschaffenden und anderen Baufachleuten bis hin zum Wettbewerbswesen –, steht ausser Frage. Dass junge Architekten oft kurz nach ihrem Studienabschluss zu Aufträgen kommen und dass ihre Bauten besucht und diskutiert werden, sind Gradmesser für eine Baukultur, die in direktem Zusammenhang mit dem gebauten städtischen Raum steht.

Nur wenn die Baukultur tatsächlich dem Gebauten zugute kommt und sich nicht in einem Diskurs über Vernetzung und Sensibilisierung erschöpft, bekommt der schillernde Begriff einen echten Sinn – anstatt als blosser Platzhalter zu dienen, bis neue Wünsche und Hoffnungen formuliert werden können.


Anmerkungen:
[01] Joan Ockman mit Edward Eigen (Hrsg.), Architecture Culture 1943–1968. A Documentary Anthology. New York 1993.
[02] www.stadtzuerich.ch/hbd/de/index/archaeologie_denkmalpflege_u_baugeschichte/publikationen/baukultur.html
[03] Adolf Loos, «Ornament und Verbrechen», in ders., Trotzdem 1900–1930. Innsbruck 1931, Nachdruck Wien 1982, S. 78–88.
[04] Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour, Learning from Las Vegas: The Forgotten Symbolism of Architectural Form. Revised ed.: Cambridge, Mass. 1977.
[05] Die Baukultur. Nachrichtendienst für zeitgemässes Bauen. Heidelberg 1930–1931.
[06] Paul Schultze-Naumburg, «Vorwort», in: Kulturarbeiten Band I: Hausbau. Einführende Gedanken zu den Kulturarbeiten. 4. Aufl. München 1912, o.?S.
[07] Andreas Mauz und Ulrich Weber, Verwunschene Orte. Raumfiktionen zwischen Paradies und Hölle. Göttingen, Zürich 2014.
[08] Jane Jacobs, The Death and Life of Great American Cities. New York 1961.
[09] Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt am Main 1965.
[10] http://schoenstebauten.heimatschutz.ch/de/seldwyla
[11] Hugo Loetscher, «Mit Gottfried Keller im ungemütlichen Seldwyla», in ders., Lesen statt klettern: Aufsätze zur literarischen Schweiz, Zürich 2003, S. 113–136.
[12] Henri Lefebvre, The Production of Space. Übers. Donald Nicholson-Smith. Malden, Mass.; Oxford 1991.

TEC21, Fr., 2015.09.04



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TEC21 2015|36 Versuche über die Baukultur

14. Dezember 2014Ákos Moravánszky
TEC21

Wie Steine im Fluss der Zeit

Wer das Wort Denkmal hört, sieht meist erst einmal eine Reiterstatue vor dem inneren Auge. Tatsächlich gibt es aber ganz unterschiedliche Denkmäler und Mahnmale – auch heute noch. Was sind ihre Aufgaben, und sind sie überhaupt noch zeitgemäss?

Wer das Wort Denkmal hört, sieht meist erst einmal eine Reiterstatue vor dem inneren Auge. Tatsächlich gibt es aber ganz unterschiedliche Denkmäler und Mahnmale – auch heute noch. Was sind ihre Aufgaben, und sind sie überhaupt noch zeitgemäss?

Mahnmale und Denkmäler gehören zur selben Familie der Monumente; die zwei Begriffe werden oft als Synonyme verwendet, obwohl nicht jedes Denkmal ein Mahnmal ist. Wir bezeichnen auch Bauten der Vergangenheit als Denkmäler, die ursprünglich nicht mit der Absicht der Erinnerung entstanden sind. Das Wort Monument hat seinen Ursprung im lateinischen Verb monere: Es bedeutet mahnen, erinnern und hat mit der schieren ­Grösse, wie wir sie mit Monumentalität assoziieren, zunächst nichts zu tun.

Die wohl scharfsinnigste Analyse der verschiedenen Denkmalkategorien stammt von Alois Riegl (1858–1905). In seiner Studie «Der moderne Denkmalkultus» (1903) unterschied der Wiener Kunsthistoriker zwischen «gewollten Denkmalen», also solchen, die in erinnernder Absicht aufgestellt wurden (den Mahnmalen), und den «historischen Denkmalen», die für einen anderen Zweck errichtet worden sind und erst mit der Zeit einen kommemorativen Wert erlangten – wie z. B. berühmte Bauten oder Kunstwerke.[1] In dieser Studie beschrieb Riegl ein hierarchisches System von verschiedenen Denkmalwerten, die er in zwei grosse, zueinander in dialektischem Verhältnis stehenden Gruppen einordnete. Die Erinnerungswerte schlagen eine Brücke zur Vergangenheit, während die Gegenwartswerte im Heute wurzeln. Ein altes Bauernhaus wird z. B. vor ­allem wegen seines Erinnerungswerts als historisches Dokument geschützt. Wir schätzen allerdings nicht weniger die unmittelbare, unreflektierte, sinnliche Wirkung eines neuen Mahnmals wie die von Peter Zumthors Hexenmonument im norwegischen Vardø (vgl. «Eiskalte Linie und Feuerpunkt», S. 21).

Riegl ging aber noch weiter und definierte verschiedene, einander oft gegenseitig ausschliessende Kategorien innerhalb dieser Gruppen. Die Kategorie der Erinnerungswerte besteht aus dem Alterswert ­(ver­bunden mit der Wertschätzung der direkt wahrnehmbaren Zeichen der Zeit), dem historischen Wert (das Denkmal als Dokument der Geschichte) und dem gewollten Erinnerungswert, verbunden mit seiner ­kommemorativen Funktion. Im Fall der Mahnmale in Vardø und Glarus ist dies die Erinnerung an die Hexenprozesse im 17. und im 18. Jahrhundert. Das National September 11 Memorial in New York will an die Opfer der Anschläge von 9/11 erinnern (vgl. «Sichtbarer Verlust», S. 28).

Gefühl als Schlüssel zur Vergangenheit

Dauerhaftigkeit ist dabei wohl die wichtigste Eigenschaft des Mahnmals als «gewolltes Denkmal». Im Unterschied zum Alterswert ist der Zweck des Mahnmals, «einen Moment gewissermassen niemals zur Vergangenheit werden zu lassen, im Bewusstsein der Nachlebenden stets gegenwärtig und lebendig zu erhalten».[2] Die materielle oder kulturelle Dauerhaftigkeit des gewollten Denkmals verlangt ständige Pflege, um der Nach­welt unversehrt weitergegeben werden zu können.

Riegl diagnostizierte allerdings ein neues, seiner Auffassung nach «modernes» Interesse an Stimmung, die er mit den Spuren der Zeit am Denkmal verbindet und die gegen die Forderung nach Dauerhaftigkeit wirkt. Die Massen können «niemals mit Verstandesargumenten, sondern nur mit dem Appell an das Gefühl und dessen Bedürfnisse überzeugt und gewonnen werden», schrieb er.[3] Das Gefühl war für ihn nichts Primitives, er verstand es als starkes, identitätsstiftendes Element der Kultur.

Das Ziel der modernen Kunst sei, Stimmung zu erwecken, was sich etwa im Kult des Natur-Erhabenen zeige, so in der seit Albrecht von Haller praktizierten Verklärung der Alpen. Man kann ähnlich vom Erhabenen des Denkmals sprechen: Es geht nicht um Harmonie, die man mit dem Klassisch-Schönen assoziiert, sondern um das Vergängliche (und deshalb Naturnahe), Fragmentierte und Ruinenhafte.[4] Die andachtsvolle Stimmung, die Riegl dem alternden Denkmal zuschreibt, ist eine Art Reli­gionsersatz: «Dem Walten der Natur, auch nach seiner zerstörenden und auflösenden Seite, die als unablässige Erneuerung des Lebens aufgefasst wird, erscheint das gleiche Recht eingeräumt wie dem schaffenden Walten des Menschen.»[5] Es ist kein Zufall, dass Riegls Text als Beitrag zur Ende des 19. Jahrhunderts heftig geführten Debatte über die Restaurierung oder Konservierung der Ruine des Heidelberger Schlosses geschrieben wurde.[6]

Seltsam unsichtbar

Im Gegensatz zum Interesse für das historische Denkmal als Objekt eines modernen Kults der Stimmung steht das Desinteresse am gewollten Denkmal, am Mahnmal als politischem Monument. Robert Musil (1880–1942) behauptet in seinem kurzen Essay «Denkmale», das Auffallendste an Monumenten sei, dass man sie nicht bemerke: «Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler. Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, ja geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig sind sie durch irgend etwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert, und diese rinnt Wassertropfen-auf-Ölbezug-artig an ihnen ab, ohne auch nur einen Augenblick stehenzubleiben.»[7]

Musil hatte das Denkmal seiner Zeit vor Augen, das symbolhaft und emotional wirken wollte. Die ­gros­sen Helden auf ihren Sockeln sollen in der Stadt als Zeichen der kollektiven Erinnerung wirken, aber gerade das Pathos der Inszenierung erschien schon damals hohl. «Da man ihnen im Leben nicht mehr schaden kann, stürzt man sie, gleichsam mit einem Gedenkstein um den Hals, ins Meer des Vergessens», schrieb er.[8]

Während also Riegl dem historischen Denkmal, das die Spuren der Zeit trägt und sich im Zustand der Auflösung befindet, aufgrund der Befindlichkeit und des Einfühlungsvermögens des Publikums eine besondere Aktualität zuschreibt, spricht Musil dem gewollten Denkmal jegliche Relevanz ab. Das Mahnmal könne in der modernen Stadt des Flaneurs und der Zerstreuung seine «mahnende», erinnernde Funktion nicht mehr erfüllen.

Trotzdem: Mahnmale brauchen Aufmerksamkeit, auch weil sie zentrale Stellen im städtischen Raum besetzen, die dann für andere Funktionen nicht zur Verfügung stehen. Die Monumentalität des Mahnmals hat mit dieser Position zu tun, mit der Fähigkeit, seine Umgebung zu strukturieren. Die Rhythmen des Alltags und die Vergangenheit werden durch das Denkmal miteinander verflochten. Zeit wird durch Bewegung oder Wechsel im Verhältnis zu einem Fixpunkt wahrgenommen. Mahnmale werden oft als solche Fixpunkte verstanden, auch wegen ihrer Dauerhaftigkeit und Materialität – wie Steine im Flussbett, die die Strömung des Wassers sichtbar machen.

Mobile Monumente

Es gibt allerdings Mahnmale, deren Verbindung zur Macht so absolut ist, dass sie den Alltag ganz ausschliessen. Andere wiederum – wie der Petersplatz in Rom oder die Mall in Washington – dienen nicht nur den offiziellen Ritualen der kollektiven Erinnerung wie Kranzniederlegungen, sondern bieten dem Theater des Alltags eine Bühne. Dort können sich Touristen, Liebespaare und Spaziergänger in einer ganz beson­deren Weise von der monumentalen Umgebung inszeniert fühlen. Die Millionen von Selfies, die vor den Denkmälern in Venedig gemacht werden, zeugen vor der immer noch existierenden Anziehungskraft der Monumente, als Möglichkeit, historische Zeit und Eigenzeit
zu verbinden.

Die von Musil beschriebene gesellschaftliche Unsichtbarkeit des stereotypischen Standbilds des 19. Jahrhunderts, aber auch des nicht figuralen modernen Denkmals führte zur Suche nach Gegenstrategien. Eine solche Strategie war die im Sommer 1999 in Zürich ­inszenierte Aktion «Transit 1999». Die Standbilder von Escher, Zwingli, Pestalozzi und Waldmann wurden von ihren Sockeln gehoben und ins Industriequartier verschoben. Die zum Teil heftigen öffentlichen Re­aktionen, die sich in Leserbriefen an die Tagespresse äus­serten, lieferten den Beweis dafür, dass Denkmäler doch ­wieder sichtbar gemacht werden können – auch wenn der Preis dafür paradoxerweise ihr temporäres Verschwinden ist.[9]

Besonders deutlich wurde dies nach der politischen Wende in Osteuropa. Während der öffentlichen Debatten um 1990 sind in Budapest die Monumente als Objekte spontaner oder inszenierter Aktionen der Zerstörung, Verschiebung oder kritischer Neuinszenierung wieder sichtbar geworden. In dem Augenblick, als den Bewohnern der Stadt bewusst wurde, dass sie die Geschichte aktiv gestalten, waren die Monumente plötzlich wieder da.[10]

Der postmoderne Denkmalkult

Die gefühlvolle Vereinigung der Massen mit dem ­Alterswert, dem, was Riegl als «Denkmalkultus» be­zeichnete, hat nicht stattgefunden. Das historische Denkmal bleibt im Gegensatz zu Riegls Vermutung vor allem jenen zugänglich, die etwas über die Vergangenheit in Erfahrung bringen wollen. Es sind heute die Mahn­male, die «gewollten» Denkmäler, die nicht mit «Verstandesargumenten», sondern mit atmosphärischen Wirkungen operieren.

Riegls Feststellung über die Stimmung als Inhalt des modernen Denkmals scheint bis heute ihre Gültigkeit zu behalten. Allerdings sucht die Öffent­lichkeit diese Stimmung nicht im zum Gefühl der ­Vergänglichkeit gebundenen Alterswert, sondern im Gegenwartswert des neuen Kunstwerks. Diese Wende hat womöglich mit der inzwischen vollzogenen Pri­vatisierung der Erinnerung zu tun. Wir haben heute zahlreiche neue technische Möglichkeiten, um unser Verhältnis zur Zeit und zur Vergangenheit zu artikulieren – denken wir nur an die Millionen von Fotos und Videos, die jeden Tag gefertigt und zum Teil im Internet «veröffentlicht» werden. Das Problem ist heute nicht die Speicherung unserer Vergangenheit, sondern vielmehr die Schwierigkeit, unsere digitalen Spuren zu löschen.

Die Gesellschaft braucht das Mahnmal nicht mehr als Erinnerungsspeicher; die Rolle des Standortmarketings, das nach einprägsamen «Landmarks» sucht, ist viel grösser – wie auch (teilweise) im Fall der in diesem Heft vorgestellten Monumente. Die als Mahnmale errichteten und als Gesamtkunstwerke konzipierten Bauten ziehen zwar viele Besucher an. Wie die aura­tischen, immersiven Mahnmale zeigen, suchen diese aber nicht die kollektive Erinnerung, sondern das Atmosphärische als Gegenwartswert.


Anmerkungen:
[01] Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus: Sein Wesen und seine Entstehung. Wien und Leipzig 1903, neu abgedruckt in: ders., Gesammelte Aufsätze. Augsburg, Wien 1929, S. 144–193
[02] Ebd., S. 172
[03] Riegl 1929 (wie Anm. 1), S. 165
[04] Vgl. Alois Riegl, «Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst» (1899), in Riegl 1929 (Anm. 1), S. 28–39
[05] Riegl, op. cit. (Anm. 1), S. 162
[06] Die Diskussion über die Aufgaben der Denkmal­pflege – Wiederherstellung oder Erhaltung – im Fall der Schlossruine ging als «Heidelberger Schlossstreit» in die Geschichte ein.
[07] Musil, Denkmale, in ders., Nachlass zu Lebzeiten.Reinbek bei Hamburg 1962, S. 61f.
[08] Ebd., S. 63
[09] Vgl. auch: Jan Morgenthaler, Eva Schumacher (Hrsg.), Ein flüchtiger Sommer in Zürich. Transit 1999. Zürich 1999
[10] Ákos Moravánszky, «The Visibility of Monuments», in: Harvard Design Review 13, 2001, S. 44–51

TEC21, So., 2014.12.14



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TEC21 2014|50 In memoriam

27. Mai 2011Ákos Moravánszky
TEC21

Zeichen und Atmosphären

Bedarf Architektur der interpretatorischen Deutung, oder soll sie rein intuitiv erfasst werden? Die zitierfreudige Postmoderne von Michael Graves oder Charles Moore bewirkte mit der Zeit Überdruss und wurde abgelöst vom Streben nach einer «atmosphärischen Architektur», die unmittelbar sinnlich erlebbar sein sollte. Diese wiederum lief Gefahr, in Kunstschamanentum zu kippen. Der Autor des folgenden Essays plädiert für eine Versöhnung zwischen semiotischer Deutung der Zeichen und synästhetischer Wahrnehmung der Atmosphären.

Bedarf Architektur der interpretatorischen Deutung, oder soll sie rein intuitiv erfasst werden? Die zitierfreudige Postmoderne von Michael Graves oder Charles Moore bewirkte mit der Zeit Überdruss und wurde abgelöst vom Streben nach einer «atmosphärischen Architektur», die unmittelbar sinnlich erlebbar sein sollte. Diese wiederum lief Gefahr, in Kunstschamanentum zu kippen. Der Autor des folgenden Essays plädiert für eine Versöhnung zwischen semiotischer Deutung der Zeichen und synästhetischer Wahrnehmung der Atmosphären.

Es ist der erste Augenblick der Betrachtung, der die ganze Bedeutung eines Werkes offenbart, und nicht, was darauf folgt, wenn man auf das Werk mit einem leeren Blick zurückschaut. Der amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg vertrat jedenfalls diese Meinung: Die Essenz des Ganzen wird im ersten Moment der Begegnung sofort erfasst, die weitere Analyse bringt keine wesentlichen Erkenntnisse mehr, die ersten Eindrücke werden nur durch eine Sequenz von weiteren Betrachtungen ergänzt. Der glückliche Augenblick bleibt bis heute eine Art Utopie des unmittelbaren Sehens von Angesicht zu Angesicht, die leibliche Wahrnehmung des Raums «an sich», mit allen Sinnen, unverstellt durch Reflexion, Ideologien oder Bilder anderer uns bekannter Räume aus der Geschichte oder privater Erinnerung.

«Jenseits der Zeichen» war der Zwischentitel des ersten Kapitels, «Eine Anschauung der Dinge», in der 1998 erstmals publizierten Textsammlung «Architektur Denken» von Peter Zumthor; der Text war ursprünglich Teil eines im November 1988 in Santa Monica gehaltenen Vortrags. Mit dem gleichen Titel hat Bruno Reichlin 2001 einen Aufsatz im Themenheft «Differenz und Identität» der Zeitschrift «Der Architekt» veröffentlicht. Er berichtet in diesem Essay von dem «wachsenden Widerwillen» der jüngeren Architektengeneration «gegenüber jeglichem theoretischen Konstrukt, jeder Schlussfolgerung oder Erklärung, die sowohl die schöpferische Sinngebung in der Projektierungsphase als auch die kritische Rezeption des Werkes in einem rationalen Diskurs zu erfassen versucht…».[1]

Maschinerie der Interpretation

Worauf Rechlin hier anspielt, ist die semiotische Analyse, die in den 1970er- und 1980er-Jahren auch in der Schweizer Architektur einflussreich wurde. Semiotik war geeignet, die sprachlichen Defizite der Moderne zu kritisieren: ihre Unfähigkeit, eine Bedeutung zu kommunizieren, welche die Stadtbewohner entschlüsseln und verstehen können. Zeichen lesen – literarische Texte, Werbung, Körpersprache, medizinische Symptome und nicht zuletzt Architektur, das war das Gebiet der Semiotik. Sie hat sich in kurzer Zeit zu einer Wissenschaft zur Deutung der verschiedensten Phänomene von der Alltagskultur bis zum Städtebau entwickelt. Egal, ob eine Säule, ein Portal, ein Wohnhaus oder ein Stadtbezirk, die Semiotik hat eine Methodologie und eine Begrifflichkeit entwickelt, die ihre Grundlagen in Ferdinand de Saussures «Cours de linguistique général» (1906–11) fand. In den 1990er-Jahren wirkte diese Lehre bereits wie eine gut geölte Maschinerie, die fähig ist, die verschiedensten Werke interpretativ zu bearbeiten, ohne ihre Qualitäten beurteilen zu können. Besonders die zitierfreudige Postmoderne von Michael Graves oder Charles Moore hat gezeigt, dass die Anwendung literarischer Kriterien auf die Architektur, wie Charles Jencks es vorexerzierte, zu keinen zufriedenstellenden Resultaten führt. Das spätere Werk von Aldo Rossi, wie das Bonnefantenmuseum in Maastricht (1990) oder der Technologiepark Fondo Toce (1993), vermochte nicht einmal seine früheren Anhänger zu überzeugen.

Kunst Schamanentum und der warme Bauch der Architektur

Bruno Reichlin wollte der mit der Semiotik unzufriedenen jüngeren Generation ihre Stimme geben, kontrastierte im zitierten Aufsatz die Rationalität der Methode mit der ihnen gesuchten«Wärme». Er stellte die Gründe für deren Unzufriedenheit mit viel Empathie dar, wollte andererseits seine Kritik nicht unterdrücken. Vor allem nicht, wenn er hinter den markigen Worten von einer neuen Ästhetik der Unmittelbarkeit und Präsenz einen alten Antiintellektualismus und Kunstschamanentum vermutete. Er bemerkte in seinem Aufsatz, dass die alten Spekulationen über Synästhesie, welche subjektivistischen Ansätzen in der Ästhetik den Weg ebnen sollen, einen durchaus ideologischen Charakter haben.

Ein modellhaftes Beispiel der «atmosphärischen Architektur» war der Schweizer Pavillon für die Weltausstellung Expo 2000 in Hannover von Peter Zumthor. Das Aufeinanderprojizieren der Sinneseindrücke im Zumthors Ausstellungspavillon «Klangkörper Schweiz», der Holzgeruch, Tast- und Geschmackerlebnisse vermittelte,[2] schuf eine Atmosphäre, die Teilnahme versprach. Durch Hören der Free-Alpen-Jazzklänge von Hans Koch, durch Riechen, Schmecken der Bündner Gerstensuppe und Tasten der rohen Holzflächen sollte man von einer deutlichen Präsenz ergriffen werden. Ein Bewusstseinszustand wurde hervorgerufen, der sich vom Objekt nicht distanzierte, sondern unreflektiert und ganz körperlich blieb. Das ist es wohl, was Reichlin als die Vereinigung mit dem«warmen Bauch der Architektur» bezeichnete und was jenem Phänomen entspricht, das der Philosoph Gernot Böhme als Atmosphäre beschrieb. Böhme wollte damit etwas zur Sprache bringen, was weder als rein subjektiv noch als rein objektiv ausgewiesen werden kann. Atmosphären werden erspürt, gefühlt und sind doch als das, was uns umgibt, was uns von aussen an- und berührt, überaus real. Böhme spricht deshalb auch von «quasi-objektiven Gefühlen». In seinem Text «Über Synästhesien » definierte Böhme Atmosphäre als den «primären und in gewisser Weise grundlegenden Gegenstand der Wahrnehmung», das Ganze,«in das alles Einzelne, das man dann je nach Aufmerksamkeit und Analyse daraus hervorheben kann, eingebettet ist». Er verband Atmosphären mit der«Ekstase der Dinge»: Ein Ding, wie etwa ein blauer Krug, zeigt seine Präsenz, indem es «aus sich heraustritt».[3] Er gab einige Beispiele: «Man kommt aus belebter Strasse und betritt einen Kirchenraum. Oder man betritt eine noch unbekannte Wohnung. Oder man hält zur Rast bei einer Autofahrt an, geht ein paar Schritte, und plötzlich öffnet sich der Blick auf das Meer. In solchen anfänglichen Situationen wird deutlich, dass, was zuerst […] wahrgenommen wird, in gewisser Weise der Raum selbst ist. Dabei ist aber mit Raum nicht etwa im kantischen Sinne die reine Anschauung des Ausser- und Nebeneinanders gemeint, sondern die affektiv getönte Enge oder Weite, in die man hineintritt, das Fluidum, das einem entgegenschlägt. Wir nennen es in Anlehnung an die Terminologie von Hermann Schmitz die Atmosphäre. […] Man wird Dinge erkennen, man wird Farben benennen, Gerüche identifizieren. Wichtig ist, dass dann jedes einzelne […] von der Atmosphäre getönt ist. Die Möbel drängen sich in kleinbürgerlicher Enge, das Blau des Himmels scheint zu fliehen, die leeren Bänke der Kirche laden zur Andacht ein. So jedenfalls erfährt es der Wahrnehmende. Der ästhetische Arbeiter weiss es auch anders. Er weiss nämlich, wie er durch Raumgestaltung, durch Farben, durch Requisiten Atmosphären erzeugen kann.»[4] In Böhmes Argumentation werden durch die Ästhetik der Atmosphären sowohl Subjekt/Objekt- als auch Hochkultur/Trivialkultur-Divisionen überwunden. Künstler, Designer, Schaufensterdekorateure und ihre Zimmer dekorierende Teenager sind gleichsam «ästhetische Arbeiter»[5]. Das Problem ist, dass er in seinen Schriften historisch und kulturell unspezifische Situationen verwendet: «Man betritt eine Wohnung, und es schlägt einem eine kleinbürgerliche Atmosphäre entgegen. Man betritt eine Kirche, und man fühlt sich von einer heiligen Dämmerung umfangen. Man erblickt das Meer und ist wie fortgerissen in die Ferne. Erst auf diesem Hintergrund bzw. in dieser Atmosphäre wird man dann Einzelheiten unterscheiden. »6 Er bemerkt zwar die «ästhetische Haltung» des erfahrenden Subjekts, diese Haltung wird jedoch in seiner Analyse nicht weiter untersucht, nicht einmal wirklich berücksichtigt. Es wird angenommen, es gäbe eine affektive Einstimmung auf ein atmosphärisches Ding, bar jeder kulturellen Prägung – als wären Atmosphären für jeden in gleicher Weise erfahrbar.

Vom ersten Augenblick zum Blick zurück

Es ist aber offensichtlich, dass der Unterschied zwischen der von Böhme so bezeichneten «kleinbürgerlichen Atmosphäre» und dem «gestimmten Raum» des Schweizer Pavillons oder eines Wohnhauses eben nicht als Beweis dienen kann, dass diese Architekturen bar jeglicher kulturell vermittelten Bedeutung wirken. Eine genaue Analyse der Umstände, wie etwas«atmosphärisch» wahrgenommen wird, ist notwendig. Wir könnten ja im Prinzip auch Werke, die eine semantische Strategie verfolgen, «atmosphärisch» erleben, die Zeichen haben ja auch ihre Materialität. Welche Art von Wissen muss der Besucher mitbringen, um in der Atmosphäre des Pavillons die Schweiz zu erkennen? Die Kommentare der Besucher, ihre Versuche, das Gebäude als Ausdruck einer «Schweizer Identität» zu verstehen, haben gezeigt, dass Semiotik die Intentionen der Besucher beeinflusst, wie sie solche atmosphärische, immersive Umgebungen «lesen» wollen.

Solche Überlegungen legen es nahe, die synästhetische Wahrnehmung der Atmosphären und die semiotische Deutung der Zeichen nicht als zwei sich widersprechende, diametral entgegengesetzte Vorschläge zu betrachten. Semiotik in der Architektur muss sich nicht nach dem Modell der Sprache orientieren, sondern die Frage der Wahrnehmnung der Umwelt allgemeiner fassen, etwa so, wie Jacob von Uexküll die Lebenswelten der Tiere, ihre Merk- und Wirkräume untersuchte. Andererseits darf die ästhetische Theorie der Atmosphären nicht bei Greenbergs «erstem Augenblick» bleiben, sondern muss den weiteren Prozess der Reflexion untersuchen, der kulturell vermittelt und nicht «jenseits der Zeichen» stattfindet.


Anmerkungen:
[01] Bruno Reichlin: «Jenseits der Zeichen», in: Der Architekt. März 2001, S. 62
[02] Roderick Hönig (Hg.): Klangkörperbuch. Lexikon zum Pavillon der Schweizerischen Eidgenossenschaft an der Expo 2000 in Hannover. Birkhäuser, Basel 2000, S. 45
[03] Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, S. 32f.
[04] Böhme, «Über Synästhesien», in: Daidalos 41. 1991, S. 26–36, hier S. 35
[05] Böhme, Atmosphäre (wie Anm. 3), 21f.
[06] Böhme, «Über Synästhesien» (wie Anm. 4), Abb. 11

TEC21, Fr., 2011.05.27



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TEC21 2011|22 Zeichen und Wunder

15. Oktober 2010Ákos Moravánszky
TEC21

Meteorologische Architektur

Unter dem Eindruck der Klimaerwärmung schaffen Architekten künstliche Natur-Inszenierungen. Sie signalisieren eine Abkehr vom Erschaffen von Bildern und Erfüllen von Funktionen und plädieren stattdessen für das Bauen von meteorologischen Atmosphären. Umwelt wird nicht mehr nur als betrachtet, sondern auch als eingeatmet gedacht. Das visuell Wahrnehmbare wird unterlaufen vom Fühlen unsichtbarer Ingredienzien.

Unter dem Eindruck der Klimaerwärmung schaffen Architekten künstliche Natur-Inszenierungen. Sie signalisieren eine Abkehr vom Erschaffen von Bildern und Erfüllen von Funktionen und plädieren stattdessen für das Bauen von meteorologischen Atmosphären. Umwelt wird nicht mehr nur als betrachtet, sondern auch als eingeatmet gedacht. Das visuell Wahrnehmbare wird unterlaufen vom Fühlen unsichtbarer Ingredienzien.

Der Publikumserfolg von immersiven künstlichen Umwelten – wie Peter Zumthors Thermenbad in Vals, Diller Scofidios blur building (bekannt als «die Wolke») an der Expo.02 in Yverdon-les-Bains, Olafur Eliassons Weather Project in der Londoner Tate Modern (2003) oder Philippe Rahms Beitrag Digestible Gulf Stream zur Architekturbiennale in Venedig (2008) – zeigt die wachsende Empfindlichkeit für künstliche Natur-Inszenierungen, für Atmosphären als Ergebnis von diffusen, den Körper umgebenden Arrangements.

In der psychologischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff Einfühlung die Projektion der Gefühle des betrachtenden Subjektes ins Kunstwerk, eine Art Beseelung der Objekte der Wirklichkeit, Sympathie zwischen Betrachter und Kunstobjekt. Wir können jenen kollektiven Projektionsakt, mit dem die Gesellschaft auf Artefakte wie die genannten atmosphärischen Räume reagiert, als soziale Einfühlung bezeichen. Diese soziale Einfühlung hat ihre Wurzel in der politischen und kulturellen Sphäre der Zeit: Ein Grund für die Popularität der Atmosphären liegt bestimmt im Suchtpotenzial, das immer perfektere 3-D-Projektionen und virtuelle Räume freisetzen.

Blasen, Globen, Schäume

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk vermutet allerdings einen tieferen Zusammenhang zwischen dem neuen Bewusstsein für die Atmosphäre und der Kondition des «In-der- Welt-Seins» im technischen Zeitalter.[1] Die Philosophen, behauptet Sloterdijk, waren bisher mit Objekten und Subjekten beschäftigt und haben kaum bemerkt, dass wir uns im Inneren von atmosphärischen Blasen, Globen und Schäumen befinden. Erst seit der ökologischen und Bankenkrise ist uns diese Kondition bewusst geworden: Wir sind Teilnehmer in einem kollektiven Experiment von globalen Dimensionen, dessen Ursachen, Zusammenhänge und die vorgeschlagenen Lösungsansätze uns nicht klar sind. In der Architekturgeschichte erscheinen Visionen von atmosphärisch-meteorologischen «Blasen» als Antworten auf Situation, die als bedrohlich wahrgenommen werden; so etwa Richard Buckminster Fullers Vorschlag für eine gigantische Kuppel über Manhattan (um 1960), gedacht als Schutz gegen radioaktive Bestrahlung im Falle eines Atomkrieges (Abb. 2).

Die Verbindung der Ästhetik der Atmosphären mit einem neuen Umweltbewusstsein – wo Umwelt nicht nur als betrachtet, sondern auch als eingeatmet gedacht ist – erscheint so einleuchtend, dass wir uns kaum Gedanken über ihre Anfänge machen. Indem vor allem die sinnliche Erfahrung der Atmosphären hervorgehoben wird, erscheinen diese als eine Alternative zum Verständnis der Architektur als Sprache, was noch ein allgemein akzeptierter Grundsatz in den Architekturdiskussionen der sogenannten Postmoderne war.

Meteorologische Aspekte als neue Paradigmen der Architektur

In Statements von jungen Architekturschaffenden finden wir heute denn auch radikalere Forderungen nach einer nicht semantisch aufgeladenen Architektur. Philippe Rahm stellt in seinem Manifest «Meteorological Architecture» fest: «The tools of architecture must become invisible and light, producing places like free, open landscapes, a new geography, different kinds of meteorology; renewing the idea of form and use between sensation and phenomenon, between the neurological and the meteorological, between the physiological and the atmospheric. These become spaces with no meaning, no narrative; interpretable spaces in which margins disappear, structures dissolve, and limits vanish. It is no longer a case of building images and functions, but of opening climates and interpretations; working on space, on the air and its movements, on the phenomena of conduction, perspiration, convection as transitory, and fluctuating meteorological conditions that become the new paradigms of contemporary architecture.»[2]

Philippe Rahm provoziert, indem er Architektur zur Meteorologie erklärt. Er will, dass wir die Defizite unserer obsessiven Suche nach Bedeutung zeigen, wenn diese Suche nur in der Sphäre des visuell Wahrnehmbaren geführt wird. Zugleich macht er auf Manipulierbarkeit des Körpers und der Wahrnehmung durch unsichtbare Ingredienzien (Temperatur, chemische Substanzen, Hormone) aufmerksam.

Zwischen Hedonismus und Asepsis

Viele Philosophen der Aufklärung haben versucht, moralische Qualitäten des Menschen durch die Einflüsse des lokalen Klimas zu erklären. Das tropische Klima, zentral für Rahms Projekte, bedeutete damals nicht nur paradiesische Fruchtbarkeit, sondern war als Ursache eines dekadenten Hedonismus gesehen. Rahm verwendet die laboratoriumartige Atmosphäre seiner künstlichen Tropen als das Technologisch-Erhabene, als eine zweite Natur. Seine Werke legen es nahe, dass er diese Tropen als Räume konstruiert, wo die Grenzen des hedonistischen Einsatzes von Atmosphären erkenntlich werden, wo die künstliche bläuliche Dämmerung gleichzeitig Erinnerungen an den künstlichen Sonnenschein eines Solariums und die fluoreszente Beleuchtung eines Autopsiesaals hervorruft, wie in der ersten Szene von Matteo Garrones Film «Gomorrha».

Atmosphäre und Klima sind primär naturbezogene Kategorien, tragen jedoch andere, soziale und kulturelle Bedeutungen. Deshalb scheint die Ästhetik der Atmosphären dazu geeignet zu sein, den Boden für einen verantwortungsvolleren Einsatz von Ressourcen vorzubereiten. Dies ist keinesfalls mit der Inszenierung eines angenehmen Wellness-Ambiente gleichzusetzen, sondern verlangt nach einem Verständnis der Atmosphären als eine Kondition der Unvorhersagbarkeit und des Experimentierens, als Aufforderung, mit den Konditionen unseres Lebens zu experimentieren, anstatt alles von den Architekten und Ingenieuren zu erwarten, ohne etwas an unserer Lebensweise zu ändern. Die diffuse Leere («blur») im Kern dieser Werke sollte die Gesellschaft auffordern, den modernen ökonomischen Steigerungsimperativ durch neue Modelle zu ersetzen und nicht auf rein technische Lösungen zu warten, die uns immer dickere Dämmschichten, effizientere Motoren und nebenbei kunstvolle atmosphärische Inszenierungen schenkt.

[ Prof. Dr. Ákos Moravánszky, Titularprofessor für Architekturtheorie an der ETHZ ]

TEC21, Fr., 2010.10.15



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TEC21 2010|42-43 Meteorologisch bauen

01. Oktober 1995Ákos Moravánszky
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Die Sprache der Fassaden

Das Problem des Ausdrucks in der Architektur der Donaumonarchie 1900-1914

Das Problem des Ausdrucks in der Architektur der Donaumonarchie 1900-1914

„Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“ Siegfried Kracauer1

Der Abbau des Semperianismus

Die Wiener Ringstraßenzone wurde als das monumentale Stadtdenkmal des Habsburgerreiches entworfen, Modell für ein urbanes Gesamtkunstwerk am Rande Europas. Der kaiserliche Befehl zum Schleifen der Stadtmauern war der Auftakt zu „Wiens erster Renaissance“, die laut Ferdinand Feldegg, des Redakteurs der Architekturzeitschrift „Der Architekt“ „einen wesentlich aristokratischen Zug hatte.“2 Feldegg betonte in seinem programmatischen Aufsatz zum ersten Jahrgang seiner Zeitschrift (1895), daß die „großen Bauindividuen“ der Ringstraßenzeit Produkte des Bedürfnisses nach Monumentalität waren. Nachdem jetzt die Monumentalwerke alle vollendet seien - schrieb er -, beginne eine neue Periode. Die zweite Wiener Renaissance werde jedoch „mit ihren vorwiegenden Nutzbauten einen demokratischen Zug aufweisen.“3

Die Erkennung der objektiven historischen Bedingtheit als Grundlage architektonischen Schaffens, zugleich jedoch ihre freie künstlerische Aneignung und Transzendierung ins Monumentale4 durch die Symbolik der Kunst war Gottfried Sempers zentraler Gedanke. Schönheit ist kein Zweck in sich, sondern eine Eigenschaft, die aus diesem intuitiv-schöpferischen Akt resultiert.5 Das „große Bauindividuum“ der Ringstraßenzeit war der Baukünstler, der den von Semper beschriebenen divinatorischen Akt vollbringt.

Als Feldeggs Aufsatz erschien, gab es bereits Zeichen für einen Paradigmenwechsel. Das Wiener Kaiserforum, die von Semper zwischen 1869 und 1876 geplante räumliche Apotheose der monumentalen Stadt blieb ein Fragment, wie um 1895 Sempers monumentale Theorie selbst ein aufgelassenes und nur zum Teil verstandenes Konstrukt war.6 Otto Wagner und die Architekten der Wiener Moderne waren bemüht, statt Sempers Metaphysik eine Alltagssprache der Architektur zu entwickeln. In der Philosophie, in der Literatur und Musik gab es parallele Bestrebungen. Intellektuelle hüteten sich überall, die Sprache überzubelasten, an die Grenze der Sprache anzurennen, wie es Wittgenstein formulierte. Josef Hoffmanns frühe Aufsätze und Skizzen „Architektonisches aus der österreichischen Riviera“ (1895) und „Architektonisches von der Insel Capri“ (1897), veröffentlicht in „Der Architekt“, haben zuerst die Aufmerksamkeit auf diese Vorbilder gelenkt, hoffend, daß sie „befruchtend und anregend“ wirken werden. Der maßgebende Raum der Architektur war nicht mehr durch historische Typologien, fixierte räumliche Achsen bestimmt, sondern durch die Zeitlichkeit der alltäglichen Benutzung. Die anonyme Architektur war laut Hoffmann „in ihrer ursprünglichen Natürlichkeit […] frei von übercivilisiertem Kunstverständnisse“, ihre Sprache fragmentiert, ihre Werte nur aus dem Kontext herauszulesen. Die wachsende Aufmerksamkeit für die Formen des einfachen Lebens als Grundlage einer neuen Ästhetik führte die Architektur der Donaumonarchie auf neue Gebiete.

Sprache und Verständigung

Bereits Janik und Toulmin haben die Probleme der Donaumonarchie als Sprachprobleme interpretiert. „Sprache“ bedeutet in ihrem Buch die abstrakte symbolische Struktur7 - ungeachtet der Anzahl der wirklichen Sprachen und Dialekte, die im Gebiet des Doppelstaates gebraucht wurden. Die üblichen Karten der Sprachgebiete der Donaumonarchie, die man in Geschichtsbüchern findet, entsprechen kaum der Wirklichkeit. Nicht nur in den Randgebieten oder in den Großstädten, sondern auch in vielen Kleinstädten und Dörfern lebte eine sprachlich gemischte Bevölkerung, wobei auch die einzelne Person oft mehrere Sprachen kannte und benutzte; Latein, Deutsch, Tschechisch, Ungarisch, Slowenisch, Jiddisch, um nur einige zu nennen. Die Sprachregionen könnten also bestenfalls nur mit einer Reihe von Karten dargestellt werden, die sich zum Teil überlappen. Alle diese Sprachen erfüllten spezifische Funktionen in dem multi-ethnischen Gewebe der Donaumonarchie.

Die Frage der Sprache wurde besonders wichtig, als im Laufe des 19. Jahrhunderts das lang überlebende feudale System langsam von einem neuen, kapitalistischen überlagert wurde. Im alten System sprach die herrschende Aristokratie die ruralen Sprachen der Bauern nicht. Im 19. Jahrhundert, als Nation im Sinne einer Sprach- und Kulturgemeinschaft verstanden wurde, hat man ein romantisch-idealisiertes Bauerntum als Hüter der Identität betrachtet.

Die Verbindung von Baukunst und Sprache hat eine lange Geschichte, mit Höhepunkten wie dem Konzept der „architecture parlante“ in der französischen Revolutionszeit. Architektur war für Semper ein System von Symbolen wie die Sprache, und keine darstellende Kunst:
„So wie die Sprachwurzeln ihre Geltung immer behaupten und bei allen späteren Umgestaltungen und Erweiterungen der Begriffe, die sich an sie knüpfen, der Grundform nach wieder hervortreten, wie es unmöglich ist, für einen neuen Begriff zugleich ein ganz neues Wort zu erfinden, ohne den ersten Zweck zu verfehlen, nämlich verstanden zu werden, eben so wenig darf man diese ältesten Typen und Wurzeln der Kunstsymbolik für andere verwerfen und unberücksichtigt lassen“.8

In seiner Studie „Wissenschaft, Industrie und Kunst“ schrieb Semper, daß selbst wenn die neuen technischen Erfindungen die alten Formen der Kunst zerstören würden, etwas Neues und Gutes entstehen kann, weil Kunst, als Sprache, soziale Verhältnisse nicht nur reflektiert, sondern ihre eigene Existenz hat.9 Hier wird Sprache als Monument verstanden, dessen aktuelle Erscheinung untrennbar von den Urformen ist, die sie in der kollektiven Erinnerung verankern.

Um die Jahrhundertwende war das Denken über Ausdruck in Sprache und Kunst von neuen Entwicklungen in der psychologischen Forschung beeinflußt. Sempers Interesse für die Symbolik des Ausdrucks wich der Aufmerksamkeit für die Freude am Ausdruck. Der „Trieb nach Ausdruck“ und die „zureichende Freude an Formen, welche der Befriedigung dieses Triebes dienen“ als Grundlagen der Kunst wurden in einem Aufsatz von Hans Schmidkunz diskutiert, den er 1904 in der Zeitschrift „Der Architekt“10 veröffentlichte:
„Vorangestellt haben wir den Trieb nach Ausdruck, das Streben nach einer Aussprache; damit ist vor allem jegliche Kunst abgelehnt, welche lediglich ein Interesse an dem äußeren Um und Auf des Schönen sein würde. Dasjenige, was die sogenannte Formalästhetik als das Wesen der Kunst bezeichnet: die wohlgefälligen Verhältnisse im Gegensatze zu rein inhaltlichen Wirkungen, ist in unserer Bestimmung durch den zweiten von jenen Faktoren anerkannt. Wir suchen dabei den sogenannten Expressionalismus [sic] und den sogenannten Formalismus in einer Weise zu vereinigen, die auf dem Nebeneinanderbestehen und Zusammenwirken der beiden hier zugrunde liegenden Triebe im Menschen beruht.“11

Schmidkunz kritisierte die Unterscheidung zwischen darstellenden und freibildenden Künsten, Malerei und Architektur: „ […] wenn ich […] meine Bilder von statischen Verhältnissen in architektonischen Leistungen ausspreche, so ist es schließlich im Wesen auch nichts anderes, als wenn ich einen Menschen oder ein anderes Objekt „abbilde“. Schmidkunz tadelte Semper, da in seiner Theorie das „spezifisch Artistische“ hinter dem „spezifisch Technischen“ zurücksteht, die „biologische Kraft“ der Freude an den Formen des Ausdrucks nicht erkennend.12 Seine Interpretation der Sprache beruht nicht auf dem Verhältnis von Bedeutung und symbolischer Form, sondern auf der psychologischen Wichtigkeit des gestenhaften Ausdrucks. Sprache wird nicht als Informationsträger verstanden, sie drückt Machtansprüche oder Widerstand bildhaft aus, zwingt den Sprecher in gewisse Sehweisen hinein.

Die architektonischen Sprachen, die zwischen 1900 und 1914 im Gebiet der Donaumonarchie verwendet wurden, können wie die gesprochenen Sprachen ihren Funktionen entsprechend kategorisiert werden. Trotz der Probleme einer klaren Abgrenzung der einzelnen Gruppen wird im folgenden versucht, die „Oberflächenäußerungen“ als Ausdruck gesellschaftlicher Funktionen zu lesen.

Sprachen der Kontinuität

In den Städten Mitteleuropas war Historismus die infrastrukturelle Sprache der Urbanisierung, eine Art „Amtssprache“, die Kommunikation ermöglichte und homogenisierend wirkte. Der Historismus war die Sprache der Kontinuität; Sempers zitierte Bemerkung hatte hier unbegrenzte Gültigkeit. Der homogenisierende Effekt des Historismus schloß eine Vielfalt von Ausdrucksmöglichkeiten nicht aus. Es sind grundsätzlich zwei architektonische Positionen in der Beziehung zur Vergangenheit zu unterscheiden. Die eine betrachtet die historischen Stile wie Gotik, Renaissance oder Barock als voneinander unabhängige Systeme mit ihren eigenen Stilgesetzen, denen der Architekt folgen muß; die andere mißt den Erfolg des künstlerischen Schaffens am Grad der schöpferischen Transformierung traditioneller Formen. Im ersten Fall waren bei der Stilwahl Faktoren wie die politischen Konnotationen der einzelnen Stile oder Assoziationen mit der Funktion die bestimmenden Faktoren. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurde die Normativität des homogenen Stils aufgegeben zugunsten einer freien, heterogenen Formensprache, die geeignet war, die individuelle Phantasie des Baukünstlers zu demonstrieren. Es war vor allem die Budapester Architektur um 1900, wo überraschende, malerische Wirkungen, die Betonung von Farben- und Oberflächenwerten, die Häufung von epischen Details aus allen historischen Perioden und geographischen Regionen beliebt waren.

Die zahlreichen Veröffentlichungen architektonischer „Träume“, „Phantasien“, „Skizzen“ in dieser Periode zeigt das große Interesse für die scheinbar flotte, unverbindliche Architekturzeichnung. Auch in Otto Wagners Ideal des Architekten als „Krone des modernen Menschen in seiner glücklichen Vereinigung von Idealismus und Realismus“13 spielte die „göttliche Flamme“ der Phantasie eine dominante Rolle - was auch seinen Architekturunterricht fördern sollte. Die Entwürfe der Studenten waren in der Zeitschrift „Der Architekt“ sowie in den Heften „Aus der Wagnerschule“ veröffentlicht. Ungarische Architekten wie Gyula Kosztolányi Kann haben historisierende Motive mit Elementen des „Nationalstils“ von Ödön Lechner gemischt.14 Die Architekturskizze wurde zum impressionistischen Medium architektonischer Stimmungen.

In der gebauten Architektur war es der Stil des Neobarocks, der am besten geeignet war, absolutistische Pathosformeln mit dem neuen, kommerziellen Geist der Städte zu vereinen. Das Wiener Architekturbüro Fellner und Helmer hat 48 Theaterbauten in vielen europäischen Städten in diesem Stil entworfen, gut funktionierende Grundrißtypen den lokalen Gegebenheiten anpassend - trotz Protest lokaler Architekturbüros, die darin den Ausdruck Wiener Dominanz sahen. Friedrich Ohmann war der virtuoseste Architekt, der die lokalen Varianten des Barocks in Prag und Wien „jugendstilisieren“ und für neue Aufgaben verwenden konnte, etwa als Palmenhaus der Wiener Burg oder als die architektonische Einfassung des Wienflußes im Wiener Stadtpark (mit Josef Hackhofer, 1903-06). Otto Wagners für den kaiserlichen Hof bestimmte Arbeiten (z.B. Hofpavillon in Wien-Hietzing, 1899) sind dieser Formensprache sehr verwandt, wo applizierte symbolische Elemente die Rolle des Semperschen „Festapparatus“ erfüllen. Die Fluidität der Grenze zwischen Neobarock und Jugendstil erlaubte, daß die Festdekoration der Masken, Kränze und Hermesstäbe die Rolle einer biomorphen Gestaltung übernimmt. Dieser imperiale Jugendstil war durch ornamentale Vorlagemappen wie „Das Detail in der modernen Architektur“ in ganz Mitteleuropa verbreitet.15 Architekten wie Aladár Kármán und Gyula Ullmann in Budapest, Jan Kotera in Prag, Josip Vancas in Sarajevo und Ljubljana haben alle zu dessen Popularität beigetragen. Diese Architektur war sowohl von der floralen Art Nouveau in Frankreich und Belgien als auch von dem Secessionsstil von Olbrich oder Hoffmann verschieden. Der wesentliche Unterschied ist das Verhältnis zur Geschichte: Art Nouveau und Secession verstanden sich nicht mehr als „Amtssprachen“ des Habsburgerreiches, sondern als von dem Zentrum historischer Macht unabhängige Ausdrucksmöglichkeiten einer symbolischen Befreiung. Dabei wurde ein Aspekt der Funktion als eine verbindende, urbane, nicht-regionale Sprache erhalten.

Sprachen der Örtlichkeit

Als im Kriegsjahr 1915 Otto Wagner auf Einladung des Verbandes Ungarischer Architekten Budapest besuchte, hat er die zunehmende Uniformität der Erscheinungsformen des städtischen Lebens als Grundlage einer modernen Architektur betont.16 Dies war keine neue Idee des vierundsiebzigjährigen Meisters: seit seiner Inauguraladresse an der Akademie der bildenden Künste im Jahre 1894 hat er ständig an dieser Argumentation gearbeitet, und in den vier Ausgaben seiner „Modernen Architektur“ revidiert, erweitert und verfeinert. In Budapest wendete er sich gegen Bemühungen um einen Nationalstil: „ […] wir müssen jegliche Bestrebung zur Schaffung eines Nationalstils als falsch, sogar unmöglich beurteilen.“17 Die Metaphorik seiner Argumentation war vom Krieg inspiriert: „In der Zeit der Millionenarmeen, Dreadnoughts, Mörser von 16 km Schußweite, sind sich die Welt und damit selbstverständlich die Künste darin einig, daß die richtige Zweckerfüllung die Hauptbedingung der Kunst ist, daß eine glatte aber zielsichere Kanone schöner ist als eine verzierte ohne diese Eigenschaft.“18 Die glatte Kanone war ein beliebtes Beispiel Wagners; er wollte damit bereits den Kronprinzen Franz Ferdinand zur Aufgabe seiner konservativen Ansichten in Sachen Kunst bewegen19, und verwendete dann dieselbe Metapher in der Einleitung zur vierten Ausgabe seines Buches „Die Baukunst unserer Zeit“ 1914.20 Wagner selbst war von seinen Zeitgenossen als „Heeresführer“, „Kondottiere“ der modernen Architektur gewürdigt worden.21

In Budapest haben Wagners Argumente ihr Ziel nicht verfehlt. Wie kann man von einem österreichischen Architekten Verständnis für nationale Bestrebungen erwarten, fragte der Architekt Robert K. Kertész, wenn Österreich als politisches Gebilde keine nationale Identität hat?22 Wagners Beobachtung der Intensivierung internationaler Kontakte, der homogenisierenden Tendenzen im modernen Leben ist nur die eine Seite der Wirklichkeit, schrieb der Architekt Jenö Lechner in der Zeitschrift des Verbandes.23 Diese Einflüsse werden immer lokal rezipiert, interpretiert, „gefiltert“. Wagner könnte laut Lechner nur recht haben, wenn eine stärkere Nation ihr „Genie“ auf eine schwächere oktroyiere.

Die Dialekte der Regionen waren von modernen Architekten als atavistische, ornamentale, sogar wilde Sprachen betrachtet, und entweder als der Ausdruck des Anderen abgelehnt oder als Symbol der wiedererkannten Identität angenommen worden. Im zweiten Fall waren städtische Entfremdung und Nostalgie nach dem verlorenen Paradies eines idealisierten Dorflebens wesentliche Erfahrungen. Die Identifizierung mit dem Bauern, dem früheren Inbegriff sozialer Rückständigkeit, fehlender Zivilisation, bedeutete jetzt Widerstand gegen den Machtausdruck der „glatten Kanonen“. Beabsichtigt war nicht eine Art Renaissance des Dorfes, das selbst von seinen Bewunderern als eine zum Sterben verurteilte Lebensform betrachtet wurde, sondern ein Neuschaffen auf der Grundlage ethnographischer Studien.

In Ungarn gehen die Versuche zur Schaffung eines nationalen Stils bis 1790 zurück, als Johann Nepomuk Schnauff eine „ungarische Nationalsäulenordnung“ vorschlug.24 Die Zeit der Veröffentlichung markiert den Anfang des sogenannten Reformzeitalters, der Periode der Suche nach der nationalen Identität. Herders Wort, die ungarische Sprache werde aussterben und die Nation selbst von ihren stärkeren Nachbarn absorbiert, hat jene Intelligenz zutiefst beunruhigt, die dann eine führende Rolle in der nationalen Erneuerung spielte.

„Auch Ornament ist eine Sprache; es ist die Sprache einer bestimmten Äußerung des nationalen Charakters und des Geschmacks, die ihre eigenen Worte hat“, - schrieb 1898 József Huszka,25 der bereits um 1880 begonnen hatte, die Muster des ungarischen „Heimgewerbes“ zu sammeln und zu veröffentlichen, sie mit der Ornamentik orientalischer Völker vergleichend. Es war seine Zielsetzung, eine neue Architektur ins Leben zu rufen, die in ihrer internen Organisation, „ihrem Wesen nach modern europäisch bleibt“, aber daß das neue Fassadenkleid auf den Boulevards von Budapest die langweilige Fassadenvariationen des Historismus ablösen möge.26 Die ungarische Ornamentik wurde als eine verdrängte Sprache betrachtet. Der Künstler der Gödöllöer Künstlerkolonie, Aladár Körösföi Kriesch, betonte es in seinem Aufsatz, daß der „cifraszür“, der reich gestickte Hirtenmantel, den Huszka als „die zehn Gebote des ungarischen Geschmacks“ pries, früher von den Behörden verboten wurde, da sich viele das begehrte und teure Kleidungsstück durch Raub beschafft haben. Der Weg zum Ornament führte also durch Verbrechen; aber im Unterschied zu Loos, hat dies für Körösföi Kriesch zur Ästhetik des Widerstands einer authentischen Volkskultur beigetragen.

Ödön Lechners Kunstgewerbemuseum in Budapest (1891-96) folgt im wesentlichen dem Programm Huszkas. Es war eine der ersten Institutionen auf dem Kontinent, die mit der Koppelung von Ausstellung und praktischem Unterricht die alltägliche Objektkultur fördern wollte. Im Unterschied zu den vergleichbaren Kunstgewerbemuseen der Zeit, die sich in ihrer Architektur von anderen Museumsgebäuden kaum unterschieden, hat Lechner hier eine grenzenlose ornamentale Phantasie mobilisiert, mit in der „hohen“ europäischen Architektur bisher nie verwendeten Formen, Materialien und Farben.

Die jüngere Generation der ungarischen Architekten hat um 1910 Lechners Vorschläge als zu oberflächlich kritisiert. Architekten wie Károly Kós haben es abgelehnt, durch das Studium von Formen den architektonischen Ausdruck erneuern zu wollen. Kós, die führende Figur der ungarischen Nationalromantik, hat betont, daß man als Architekt das Leben des Volkes leben muß: Deshalb will er „seine Träume träumen, so denken, so empfinden können und sich so erinnern, wie dieses Volk. Denn das Gefühl, der Gedanke und die Erinnerung sind in seiner Tätigkeit enthalten […], wenn es Kirchen, Häuser oder Scheunen baut.“27

Im Budapest-Wien-Dialog war das Bauernhaus keine „Erfindung“ der ungarischen Nationalromantik. Joseph August Lux, der etwas später eine Ingenieurästhetik (1910) und die erste Otto Wagner-Monographie (1914) veröffentlichte, hat in seinem Aufsatz von 1902, „Altwiener Häuser und Höfe“ den „heimlichen Zauber“ der einfachen Formen der „ländlichen Vororte“ Wiens heraufbeschworen, „wo das drangvolle Leben zur Ruhe und ruralen Einfachheit abflaut“, und „leise, seltsame Glücksgefühle“ auslösen kann.28 Das Bauernhaus als „organisches Gebilde“ ist das „Volkslied der Architektur“, seine Form ist „älter als der Kunstbegriff“. Die Stillosigkeit des Bauernhauses ist „der einzige und wahre Stil, den die Natur selber diktierte. Darum sehen die Häuser so lebendig aus, wie aus der Erde gewachsen, mit der Scholle und dem Charakter der Landschaft organisch verbunden […]“29 Obwohl Lux in diesem Aufsatz die Physiognomie des Hauses als Beweis der Zugehörigkeit zu einem Volk erwähnt, haben Wiener Architekten aus dem Kreis Wagners schon früher diese Qualitäten in der anonymen Architektur des mediterranen Raumes beobachtet und betont. Hoffmann, Olbrich, Loos, Frank, Prutscher haben das Bauernhaus verschieden interpretiert: Für Hoffmann war es seine freie, phantasievolle Erscheinung; für Olbrich seine malerische, plastische Form; für Loos seine natürliche, unkünstlerische Qualität (wohl auch die von Lux beschriebene Physiognomik); für Frank wohl die Überbleibsel „hoher“ Stil-Rudimente, die am Bauernhaus vor allem wichtig waren. Keiner dieser Architekten betrachtete das Bauernhaus als „reine Quelle“ einer nationalen Formensprache, vielmehr als eine bereits hybride Form, die zur Bereicherung des eigenen Schaffens geeignet war. Hoffmanns spielerische Verwendung mährischer Motive in seinem Landhaus Primavesi in Winkelsdorf (1914) sollte für Architekten wie Károly Kós oder den Slowaken Dusan Jurkovic als unzulässig und frivol erscheinen.
Kós hat die Ergebnisse seiner transsylvanischen Studienreisen unter dem Einfluß des englischen Arts and Crafts-Movement und der skandinavischen, vor allem finnischen Nationalromantik interpretiert.

Transkulturelle Sprachen

Die mit glänzenden keramischen Platten verkleideten Fassaden Lechners und seiner Nachfolger wirkten ungewöhnlich in Budapest. Sie erschienen als individueller Ausdruck und waren nicht als eigene Sprache erkannt, schrieb Lechners früherer Mitarbeiter Marcell Komor 1898: „Es erfordert grossen Muth und eine zähe Thatkraft, um der Richtung, der […] die Architekten bisher folgten, entgegen zu arbeiten.“30 Die Absicht, „die Theilnahme weiter Kreise des Volkes in einem ungewöhnlichen Maasse zu erregen“, war natürlich kein ungarisches Phänomen. Der Historismus, über den Lechner als eine bedrückende städtische Umgebung sprach, war von Wiener und Prager Künstlern ähnlich kritisiert worden. Mit dem Jugendstilornament wurde überall die utopische Hoffnung verbunden, daß die Panzerungen der Zivilisation unter dem organischen Druck der Natur weichen. Die Abspaltung der Krusten historistisch profilierter Fassadenteile von dem ornamentierten Baukörper war eines der Themen von Olbrichs Secessionsgebäude in Wien. Wie Otto Kapfinger und Adolf Krischanitz in ihrer Monographie gezeigt haben, wollte Olbrich mit dem Bau keinen statischen Würfel, sondern ein dynamisches Gebilde unter inneren Spannungen vorstellen.31 Sowohl Louis Sullivans früherer Transzendentalismus, der Ornament als Ausdruck der kreativen Kraft des Keims betrachtete,32 als auch Frank Lloyd Wrights „destruction of the box“ zeigen, daß es hier um ein gemeinsames Projekt der Befreiung geht. Ornament als verdrängte Natur wurde als Projektion allgemein menschlichen Verlangens verstanden.

Die Sprache der Secession war deshalb eine Ablehnung sowohl der überregionalen, aber „of?ziellen“, zivilisatorischen Sprache des Historismus als auch der lokalisierenden Tendenzen des Nationalstils. Sie war ein Versuch, die Formensprache von Bindungen beider Art zu befreien. Fabianis barockhaft üppige Fassadentextur des Hauses „Zum roten Igel“ in Wien oder Plecniks reich ornamentierte frühe Entwürfe zum „Haus Zacherl“ zeigen, wie wichtig diese Vorstufe der Ablösung der Ornamentik von der Tektonik für die „tabula rasa“ der glatten Fassaden war.

Die Fassadenteppiche der Secession verschwanden um 1902. Ihre Stelle wurde von glatten, glänzenden, industriell wirkenden Oberflächen eingenommen. Dieser schnelle Wechsel ist nicht überraschend, wenn man die angedeutete Leichtigkeit und „Entfernbarkeit“ bedenkt. Wenn man jedoch die großen Hoffnungen bezüglich des Ornaments in Erwägung zieht, wirkt die kurze Lebensspanne doch überraschend. Eine mögliche Erklärung ist, daß Ornamentik nach wie vor als verdrängte Natur verstanden wurde, man jedoch den Preis erkannt hatte, der für die volle ästhetische Sättigung des Lebens bezahlt werden sollte, wo künstlerischer Selbstausdruck der Subjektivität des Bewohners keinen Platz ließ.

Die Quelle der neuen, objektiven Ästhetik war nicht die organische Natur, sondern das moderne Leben selbst, seine wachsende Uniformität, seine klaren Hierarchien, seine leicht überblickbaren primären Ordnungen. Wagners moderne Großstadt mit ihrem endlosen Straßenraster schien geeignet, die wohltuende Uniformität zu fördern, und Änderungen in den untergeordneten Einheiten, Fassaden, Details zu ermöglichen. „Time is money“ als Losung der modernen Zeit wurde von Otto Wagner zitiert, und Adolf Loos war noch stärker beeinflußt vom amerikanischen Pragmatismus. „Mir scheint es, als ob die Aufgabe, welche O.W. der modernen Baukunst stellt, in praktischem Sinne in Amerika bereits gelöst sei“ - schrieb bereits 1897 Karl Henrici.33

Die Rolle des Ornaments, des am klarsten historischen, stilgebundenen Elements der Architektur, wurde einerseits von einem physiognomischen Ausdruck übernommen, der autonom, geschichtlich „unbelastet“ erschien, aber desto einprägsamer und einmaliger ist, andererseits durch die erhöhte ikonologische Präsenz von Materialien. An Fassaden wie der der „American Bar“ in Wien (1908) kommt das Superzeichen der amerikanischen Fahne und der Reichtum von Farben, Fakturen, schimmernden und glitzernden Materialien so stark zur Geltung, daß es fast ironisch klingt von Ornamentlosigkeit zu sprechen. Verdrängte Ornamentik kehrt als Musterung, Stürme und Nebel der Marmor- und Onyxoberflächen zurück. Im Innenraum, unter dem gespiegelten, endlosen Raster der Decke ist die Bar als einzelne Zelle des Konglomerats der Großstadt deutlich markiert. Sie ist nicht, wie das Wiener Café, der Raum der Zerstreuung, der leicht fließenden Zeit, sondern die Zelle konzentrierter Unterhaltung, wo die ganze Umgebung bis zu den Nähten der Lederpolster die Wahrheit von „time is money“ demonstriert.

Die bekannten, in ihrer Emotionalität überraschenden Aufsätze von Loos über „Ornament und Verbrechen“ waren Äußerungen einer narzißtischen Persönlichkeit, die ihre Komplexe und Vorurteile mobilisiert, um den tätowierten Anderen in sich selbst zu verdrängen. Die kriminalisierte ornamentale Phantasie kehrt in Loos’ Architektur als Marmorverkleidung und Raumplan wieder; die größten Energien gewann seine Sprache aus der Sublimierung verdrängter ornamentaler Triebe. Die physiognomische Fassadenmaske, das natürliche Ornament der Fassade, und vor allem das Mobilisieren der räumlichen Phantasie im Interieur retten Loos’ Architektur vor dem Schicksal, Vorbild der produktivistischen Architektur der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu werden. „Wir wiederholen uns ununterbrochen“, schrieb er, seine Bauten sind jedoch unreproduzierbar, mit der Aura des Individuellen, Ort- und Zeitgebundenen.

Obwohl die Kategorien der „Sprache der Örtlichkeit“ und der „transkulturellen Sprache“ als diametral entgegengesetzt erscheinen, gab es auch Versuche zu Synthesen, wie in der Architektur des ungarischen Wagnerschülers István Medgyaszay. Die Wagnerschule (wo 1902 sein erstaunlicher Warenhausentwurf entstand), später das Studium transsylvanischer Volksarchitektur und letztlich sein Aufenthalt im Atelier von François Hennebique, des französischen Pioniers der Stahlbetonarchitektur, waren wesentliche Quellen seiner Formensprache vor dem Ersten Weltkrieg. Medgyaszays Ziel war die „künstlerische Lösung des Eisenbetonbaues“, wie er es 1908, in seinem Vortrag auf dem 8. Internationalen Architekten-Kongreß in Wien erklärte. Für Medgyaszay war „der nationale Charakter selbst […] kein Zweck, er ergibt sich aber von selbst aus der Aufrichtigkeit des Schaffens“. Aufrichtigkeit wird hier als eine Art Einfühlung in die „speziellen Festigkeitszustände“ des Stahlbetons verstanden, um sie „künstlerisch zu charakterisieren“. Folklore mit ihrem unvermittelten Verhältnis zum Material konnte ihm mit wichtigen Hinweisen dienen.

Mythische Sprachen

Der Antihistorismus des 19. Jahrhunderts hat auch Tendenzen inspiriert, die weniger an kommunikativen Aspekten der Sprache interessiert waren als an ihrer strengen Struktur, ihrer Tektonik. Als Vergleich bietet sich hier Latein, eine Sprache, die in Mitteleuropa noch im 18. Jahrhundert die Funktion einer transkulturalen Sprache der Kommunikation, Regierung, Legislation hatte. Später ging es auf Gebiete der katholischen Religion und bestimmter Wissenschaften zurück, und erhielt zunehmend eine nur für Eingeweihte bestimmte kommunikative Bedeutung. Trotzdem gab es Proteste, als etwa Latein als Sprache der Liturgie von Nationalsprachen abgelöst wurde, da die mythische Funktion der Sprache als wesentlich erkannt wurde.

Die Vertreter von esoterischen ästhetischen Strömungen wie die Anhänger der „Beuroner Kunstschule“ haben die mimetische Kunst- und Architekturauffassung des 19. Jahrhunderts abgelehnt. Ihr Vorschlag war das hieratische Kunstwerk, eine nicht-anthropomorphische Kunst der abstrakten Proportionen, der zeitlosen Architektonik. Joze Plecniks „architectura perennis“ entsprach dieser Idee. Der slowenische Schüler Otto Wagners, der in Kontakt mit Künstlern der Beuroner Malermönche stand, hat in seinem Werk die Sempersche Stiltheorie revidiert. Für Semper war es die Symbolik der Architektursprache, durch die die typologischen Gebilde fähig sind, immer aktuelle Inhalte, Funktionen auszudrücken. Wagner oder Loos haben dabei die Aktualität, den Bedürfnis-Aspekt betont, und die Geschichtlichkeit der Typologie als weniger wichtig betrachtet. Für Plecnik war es umgekehrt: Seine hieratische Architektur betrachtete die Archäologie der Formen als eine hermetische Wissenschaft, die eine direkte Verbindung mit der Alltagswelt der „necessitas“ nicht braucht. Deshalb war Plecniks Architektur kein Neoklassizismus im Sinne einer Sprache der Kontinuität. Klassizismus war als eine Variante des Historismus zu intellektuell, abgetrennt von der Kultur der Hände. Joze Plecniks „architectura perennis“ war ein universales Projekt, das in der Suche nach einer konservativen geistigen Umorientierung sowohl Historismus als auch Secession oder Moderne abgelehnt hat.

Die manchmal bizarre Verzerrung historischer Formen unterscheidet Plecniks Experimentieren von Loos’ Bewertung der Formensprache der Antike als eine Konstante, die zivilisatorische und didaktische Werte verkörpert. Klassische Reminiszenzen waren stark auch in ungarischen Projekten von Béla Lajta, Móric Pogány oder Béla Málnai vertreten. Bezeichnenderweise gingen auch die Bestrebungen dieser Architekten parallel mit der Bereinigung der Fassade von historisierender oder Art Nouveau-Ornamentik und mit der Wahrnehmung der sozialen Rolle des Architekten. Lajta, Pogány, Málnai nahmen an dem großen sozialen Wohn- und Schulbauprogramm von Budapest zwischen 1909 und 1913 teil.

Gestensprachen

Obwohl Plecniks Umbauten in der Prager Burg und die Werke des Prager Architekturkubismus klare Unterschiede zeigen und oft als gegensätzlich interpretiert werden, ist das Motiv der Verzerrung, der Prüfung von Formen nach ihrer Belastbarkeit vergleichbar. Die Fassaden erscheinen nicht geformt, sondern durch eine natürliche Kraft wie Erdbeben oder Blitz verformt. Das Problem, wie räumliche Gestenhaftigkeit mit den Gestaltungsmöglichkeiten eines begrenzten architektonischen Objekts zu vereinen ist, scheint alle Architekten des Architekturkubismus beschäftigt zu haben. Ihre Architekturskizzen konzentrieren sich oft auf ein Fassadendetail als Faltwerk, das leichter fortzusetzen als zu begrenzen ist. Die traditionelle Tektonik verschwindet, tragende und lastende Funktionen sind nicht mehr zu unterscheiden, die Decke greift tief ein in den Bereich der Wände wie in der spätgotischen und barocken Architektur. Möbelstücke oder Bauten erscheinen als Origami-Objekte. Auch in den Innenraumentwürfen von Janák wird der Unterschied zwischen Wandfläche und Decke, horizontalen und vertikalen Ebenen aufgelöst. Architekten wie Pavel Janák wollten die Welt der Objekte nicht zerteilen, wie die Maler des Kubismus, sondern als ein endloses Faltwerk begreifen: „Während das waagerechte und senkrechte Zweiflächensystem eine Form der Ruhe und des Gleichgewichts darstellen, mußten den schräg gebildeten Formen dramatische Ereignisse und ein kompliziertes Zusammenwirken mehrerer Kräfte vorausgehen.“34 Die menschlichen Aktivitäten, die Verwendung von Werkzeugen, die der physischen Bewältigung der Masse dienen, die geschichtlichen Prozesse resultieren nach Janák in schrägen Flächen. Die tafelförmige, glatte „Einfältigkeit“ der Fassaden der Wiener Architekten als das physische Emblem der „tabula rasa“, der reinen, unbeschriebenen Tafel des Neubeginns, war für die Kubisten kein haltbarer Zustand. Die kubistische Fassade sollte ein Ebenbild der ständigen Oszillation des Universums sein.

Die Fassadenhaut des Mietshauses in der Neklanova-Straße von Josef Chochol ist ein kontinuierliches Faltwerk von Energien - die Elemente der Architektur wie Pfeiler, Brüstung, Gesimse, Sockel sind nicht als solche identifizierbar. Ornament, laut Loos verschwendete Energie, erhielt nach der kubistischen Erneuerung der Fassade wieder Bedeutung - nicht als Bild der organischen Natur, sondern strömend durch Zeit und Raum.

Der Versuch, die Topographie der Architekturentwicklung aus den Äußerungen der Fassaden zu umreißen, soll nicht mehr als eine Möglichkeit der versuchsweisen Neuordnung komplexer Entwicklungen sein. Die Betrachtung der Ausdrucksweisen österreichischer Architektur als Teil der Pluralität der Formensprachen der Donaumonarchie ist dabei wesentlich, da die Funktion jeder einzelnen der Sprachen nur aus ihrem Verhältnis zu den anderen verständlich war. Die Situation hat sich nach 1918 allerdings deutlich geändert. Die neuen Staatsgrenzen in Mitteleuropa resultierten in einer stürmischen Reorganisierung von Ländern, Gebieten, Infrastrukturen und Bevölkerungen. Die Folge war, daß Ansprüche zum symbolischen Ausdruck dieser territorialen Neuverteilung in den meisten Nachfolgestaaten der Donaumonarchie zu einer Zeit erhoben wurden, als im Westen der moderne Mythos einer logisch vollkommenen, ortlosen Sprache die Legitimität solcher Interpretationsmöglichkeiten der Umwelt geradezu verneinte.

newroom, So., 1995.10.01

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Presseschau 12

12. Juli 2019Ákos Moravánszky
TEC21

Das Bauhaus weiterweben

Die Lehre am Bauhaus bezog ihre Energie aus dem erklärten Willen zum Experiment, zum individuellen Handeln. Eine Methode, die heute zwischen digitalen und theoretischen Aspekten der Ausbildung wieder einen prominenten Platz einnehmen muss.

Die Lehre am Bauhaus bezog ihre Energie aus dem erklärten Willen zum Experiment, zum individuellen Handeln. Eine Methode, die heute zwischen digitalen und theoretischen Aspekten der Ausbildung wieder einen prominenten Platz einnehmen muss.

Vor 100 Jahren begründete Walter Gropius mit dem Bauhaus die wichtigste Schule für moderne Gestaltung. In mancher Hinsicht dient sie bis heute als Vorbild. Es sind allerdings weder die neuen Formen noch das Dogma des Funktionalismus, von denen immer noch Impulse ausgehen, sondern die Lehrmethoden: die Pädagogik des Bauhauses.

Man tut sich schwer mit diesem so kostbaren wie streitbaren kulturellen Erbe – das ist wohl die einzige Konstante in der wechselvollen Geschichte der Adaptionen. Im Gründungsjahr 1919 ging es noch vor allem um die Fortsetzung des «alten» Werkbundstreits zwischen den Befürwortern einer sozial wirksamen Serienproduktion und jenen, die nach einem neuen Stil suchten. Der Schweizer Architekturkritiker Peter Meyer warf 1927 dem Bauhaus, das sich für Flachdach und Metallglanz entschied, «klotzige Barbarei» vor.[1] Heute streitet man darüber, ob die «unpolitische Gesinnung des Bauhauses» ein berechtigter Grund für die Absage des Konzerts einer linken Punkrockband im ikonischen Dessauer Gebäude war. Die Sprecherin der Stiftung Bauhaus Dessau wurde jedenfalls entlassen.

Die Kritik am Bauhaus zur NS-Zeit, die 1933 zur Schliessung der Schule am dritten Standort in Berlin führte, ist weniger erstaunlich als die Attacken der Nachkriegszeit. Daran waren sowohl die aus Amerika nach Deutschland zurückgekehrten Ästheten der Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno beteiligt, die vom «barbarischen Zugriff» des Funktionalismus sprachen,[2] wie auch Architekten einer gemässigten Moderne. Rudolf Schwarz warf dem Bauhaus vor allem seine «unerträgliche Phraseologie» vor, jene dogmatische Haltung, die die Schule «immer tiefer in den Sumpf» steuerte.[3] Seine Polemik löste in der Bauhaus-Debatte von 1953 wütende Reaktionen aus. Die Ablehnung oder Annahme des Bauhaus-Gedankens war während des Kalten Kriegs in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland eine Frage der politischen Zuordnung.

Das Leben mit dem Bauhaus ist nicht leicht

Fast 30 Jahre später hatte der amerikanische Essayist Tom Wolfe leichtes Spiel, als er seinen Bestseller «From Bauhaus to Our House» schrieb: Die meisten kritischen Argumente wurden in den deutschen Diskussionen bereits verschossen. Wolfe hat sich aber vor allem darüber aufgeregt, dass eine Architektur, die in Deutschland als Antwort auf die Probleme der Zwischenkriegszeit entwickelt wurde, in den Vereinigten Staaten «nun hoch und breit aufgetürmt, in Form von Kunstgalerie-Anbauten für altehrwürdige Ivy-League-Universitäten, Museen für Kunstmäzene, Eigentumswohnungen für die Reichen, Firmensitzen, Rathäusern, Landhäusern» verwendet wird: «Arbeiterwohnungsbau für jeden Zweck, ausser für Arbeiter zum Wohnen».[4] Im Unterschied zum Originaltitel stellt die deutsche Version («Mit dem Bauhaus leben») resigniert fest, dass wir nun mit dem Bauhaus leben müssen, ob es uns gefällt oder nicht. Es ist eben nicht leicht, das Leben mit dem Bauhaus.

Wäre das Bauhaus zu seiner Blütezeit mit heutigen Kriterien evaluiert worden, hätte die sächsische Regierung die Institution schliessen müssen. In unserer Zeit der verwalteten Hochschulreputation findet die neuhumanistische Idee des Bauhauses – die technische und künstlerische Allgemeinbildung, die am Webstuhl oder in der Metallwerkstatt beginnt – keinen Platz in höheren Bildungsanstalten. Bildung, ursprünglich mit dem Programm der körperlichen und intellektuellen Selbsterziehung des Menschen, war im frühen Bauhaus noch mit Atemübungen und Mazdaznan-Ritualen verbunden und diente der Entfaltung der Begabungen.

Die Idee der Begabung ist jedoch suspekt geworden, weil sie der Gleichheit der Menschen widerspricht. Wir sprechen lieber über Skills, die alle erwerben können. Die moralisch begründete Ablehnung eines Studienkonzepts, das die Förderung und Entfaltung der Begabungen als seine wichtigste Aufgabe betrachtet, und die Kontrolle der Einhaltung von ethischen Grundsätzen im geregelten Studienbetrieb machten die Universität zu einer moralischen Instanz. Das war das Bauhaus nie. Die Schule hat ihren privilegierten Meistern fast unbeschränkte Freiheit und Autonomie gegeben, damit sie die Materialien und Techniken der neuen Realität durch ihr künstlerisches Sensorium und ihre Fantasie interpretieren und die Schüler so zum konstruktiven Denken und zum Erfinden erziehen.

Heute, angesichts der explosionshaften Erweiterung der zur Verfügung stehenden Werkstoffpalette und der technischen Möglichkeiten, erscheint es wichtig, das Potenzial dieser Pädagogik mit der Lehre in unseren Universitäten zu vergleichen.

Mass statt Lust und Neugier

Die europäischen Bildungsminister haben 1999 in Bologna die Übernahme eines nach dem dreistufigen angloamerikanischen System gestalteten Studienmodells beschlossen, um einen einheitlichen Bildungsraum einzurichten, in dem Leistungen verglichen werden und Studierende sich frei bewegen können. Die Umstellung des Architekturunterrichts auf das Bologna-System war keine bildungspolitische Notwendigkeit, aber ohne diese Umstellung wären Rankings kaum möglich gewesen. Messbarkeit hat aber Priorität: Die Studienleistungen werden mit dem European Credit Transfer System (ECTS) bewertet. Die Grundlage ist der Arbeitsaufwand, also die geschätzte Zeit, die ein Student braucht, um ein Lernziel zu erreichen.

Das Sammeln der Kreditpunkte macht es den Studierenden kaum mehr möglich, sich auf Gebiete und Themen zu konzentrieren, die sie interessieren. Die rigide Trennung von Forschung und Lehre im Bologna-Modell und die Verbreitung des Doktoratsstudiums als eigentliche Forschung, die zu einer Unterrichtstätigkeit unbedingt erforderlich ist, führen immer weiter weg von jener Einheit von Forschung, Lehre und Praxis, die die Grundlage der Bauhaus-Idee war. So geht auch jene Lust an der Forschung verloren, die von Neugier getrieben ist und keine notwendige Bedingung für den Beruf darstellt. Die Lust, sich mit Fragen zu beschäftigen, ohne sich Gedanken um ihre Verwendung in einem Curriculum machen zu müssen, gehörte zur Freiheit im Bauhaus – die dann vom Staat als Gefahr erkannt wurde, sonst hätte man die Schule nicht geschlossen. Bis 1927, als Hannes Meyer von Gropius zum Leiter der Architekturabteilung ernannt wurde, gab es im Bauhaus keinen Architekturunterricht – unter «Bauen» verstand man eine umfassende gestalterische und organisatorische Tätigkeit. Die Bauhaus-Diplome haben ihre Besitzer nicht zu gewissen konkreten Berufen befähigt, sondern die von ihnen besuchten Kurse und ihre Fähigkeiten aufgelistet.

Lernen in der Bauhaus-Werkstatt bedeutete etwas anderes als Lernen in einem Vortragsraum, wo auf der Powerpoint-Folie die zentralen Aussagen der Vorlesung hervorgehoben sind. Josef Albers, der 1923 mit László Moholy-Nagy die Leitung des Vorkurses übernahm, wollte keine mechanische Anwendung von erlerntem Wissen. Er bezeichnete seine Lehre als ein «induktives Lernverfahren», das mit dem Erlernen von grundsätzlichen Fertigkeiten beginnt, die dann zur Herstellung von Gegenständen führen. Ihre Kombinierbarkeit, ihr konstruktives Potenzial und ihre Rolle im Ganzen müssen erst dann verstandesmässig reflektiert werden. Seine Frau Anni Albers, die 1931 die Leitung der Bauhaus-Weberei übernahm, wurde nach der Auswanderung des Ehepaars nach Amerika als die wichtigste moderne Textilkünstlerin anerkannt und veröffentlichte auch Texte zur Frage des Webens als eines Konstruierens. Auf diesen Grundlagen, die auf die Schriften von Gottfried Semper zurückgehen, wurde nicht nur in Weimar und Dessau weitergebaut. Sie galten auch in North Carolina – Standort des Black Mountain College (wo neben dem Ehepaar Albers auch John Cage, Richard Buckminster Fuller, Merce Cunningham, Lyonel Feininger und Cy Twombly unterrichteten) –, in Chicago, in Ulm und in vielen anderen experimentellen Schulen.

Eine Gewebe von Studios

An Architekturhochschulen ist diese Arbeit heute vor allem in den Entwurfsstudios möglich. Dies bedeutet keinesfalls einen nostalgischen Handwerkskult. Das Experimentieren schliesst sowohl digitale als auch analoge Methoden ein. Wie im Bauhaus die Industrialisierung und die neuen technischen Prozesse, Standardisierung und Massenfertigung zu neuen Formen der Objektgestaltung und Architektur führten, beeinflussen digitale Entwurfs- und Fabrikationsmethoden die heutige Architektur. Die grössere Flexibilität und Komplexität der Welt der Objekte zeigt sich auch in den Entwurfsstudios, wo die Digitalisierung nicht im Vordergrund steht. Der Architekturgrundkurs der ETH, der auf Andrea Deplazes’ Handbuch «Architektur konstruieren» basiert, und die konstruktiven Experimente in den Studios von Fabio Gramazio und Matthias Kohler, Philippe Block oder Annette Spiro öffnen ein breites Spektrum von Möglichkeiten, das von ihren jüngeren Teamkollegen weitergeführt wird.

So haben Guillaume Othenin-Girard und Amy Perkins, wissenschaftliche Mitarbeitende im Studio Tom Emerson an der ETH Zürich, im März 2019 eine Seminarwoche mit dem Titel «Weaving Scripting Writing» organisiert. Die Teilnehmenden haben etwas über 3D digital knitting gelernt, Textilsammlungen besucht und schon am ersten Tag am Webrahmen gearbeitet. Die Übertragbarkeit der Experimente auf die Architektur zeigt der Schutzbau über einer archäologischen Grabungsstätte in Pachacámac bei Lima in Peru, ein Projekt initiiert am Lehrstuhl von Studio Tom Emerson in Zusammenarbeit mit der Architekturschule PUCP Lima unter der Leitung von Guillaume Othenin-Girard und Vincent Juillerat (PUCP). Dieser «Raum für Archäologen und Kinder» wurde aus Polyesterbahnen buchstäblich zwischen den Holzbalken der Tragkonstruktion gewebt.

Man findet unschwer weitere Beispiele für ein heutiges Bauhaus. Es befindet sich überall dort, wo innerhalb des regulierten Bereichs der Evaluationen und Leistungskontrollen Freiräume für Experimente entstehen können: Räume für Bildung, die man mit den Kriterien der vermarktbaren Kompetenz nicht evaluieren kann.


Anmerkungen:
[01] Peter Meyer, «Moderne Architektur und Tradition», Zürich: H. Girsberger 1927, S.42.
[02] Theodor W. Adorno, «Funktionalismus heute», in ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S.104–127, hier S.110.
[03] Rudolf Schwarz, «Bilde Künstler, rede nicht. Eine (weitere) Betrachtung zum Thema Bauen und Schreiben», in Baukunst und Werkform, Jg. VI (1953), Heft 1, S.9 ff.
[04] Tom Wolfe, «Mit dem Bauhaus leben. Die Diktatur des Rechtecks», Übers. Harry Rowohlt. Königstein/Ts.: Athenäum 1982, S.60 f.

TEC21, Fr., 2019.07.12



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2019|27-28 100 Jahre Bauhaus I: Grenzüberschreitung

22. September 2017Ákos Moravánszky
TEC21

Utopie mit System

In den 1920er-Jahren machte der Architekt Béla Sámsondi Kiss eine Entdeckung: Verlorene Gipsschalungen und eine dünne Betonschicht bilden einen neuartigen, harten Verbundbaustoff. Aus diesem «Gewebebeton» entwickelte er ein Bausystem, das die Synthese von konstruktiven, ­wirtschaftlichen, sozialen und ästhetischen Aspekten zum Ziel hatte.

In den 1920er-Jahren machte der Architekt Béla Sámsondi Kiss eine Entdeckung: Verlorene Gipsschalungen und eine dünne Betonschicht bilden einen neuartigen, harten Verbundbaustoff. Aus diesem «Gewebebeton» entwickelte er ein Bausystem, das die Synthese von konstruktiven, ­wirtschaftlichen, sozialen und ästhetischen Aspekten zum Ziel hatte.

Seit der Erfindung des modernen Stahlbetons herrscht keine Einigung darüber, wie man diesen Baustoff «materialgerecht» verwenden sollte und worin seine «wahre Identität» bestehe. Inspiriert von Gottfried Sempers Theorie des Stoffwechsels behalfen sich Architekten und Ingenieure vorerst meist mit Analogien: Sie konzipierten Betonkonstruktionen nach dem Vorbild von keramischen Lehmbauten, tektonischen Holzrahmen oder stereotomischen Steinbauten.[1]

In der ungarischen Architektur hat diese analoge Denkweise früh zu bemerkenswerten Resultaten geführt. Der Architekt István Medgyaszay (1877–1959), der in der Schule Otto Wagners in Wien studiert hatte, verwendete bereits vor 1910 extrem dünne Betonschalen für die Überdachung seiner Kirchen und Theaterbauten; als Vorbild diente die Holzarchitektur der Siebenbürger Dörfer.[2] Béla Sámsondi Kiss (1899–1972) wählte einige Jahrzehnte später eine andere Analogie: Er wollte eine Konstruktionsmethode entwickeln, die – im Gegensatz zum hohen Materialverbrauch und Gewicht üblicher Betonbauten – eine ähnlich präzise Konstruktion wie der Stahlbau erlaube, allerdings bei einer drastischen Reduktion des Gewichts.

Dünne Schalen als Zufallsprodukt

Béla Sámsondi Kiss, geboren in der siebenbürgischen Stadt Nagykároly (heute Carei, Rumänien), studierte an der TU in Budapest Architektur. In den 1920er-Jahren war er in Siebenbürgen, das nach dem Ersten Weltkrieg zum neuen Grossrumänien gehörte, als Architekt und Bauunternehmer tätig. Als er eine abgehängte Gipsdecke mit einer flüssigen Zement-Sand-Mischung übergoss, machte er eine Entdeckung: Der Gips entzog dem Zementmörtel das zur Bindung nicht notwendige Wasser, und die dünne Betonschicht erhärtete sich blitzschnell. Die so entstandene zweischalige Gips-Beton-Platte erwies sich als hart und widerstandsfähig.

Aus dieser Beobachtung leitete er die Idee von neuartigen Betonkonstruktionen ab: Mit Gipsplatten als verlorener Schalung hergestellte, dünne Betonschalen könnten dazu verwendet werden, leichte, zellenartig gerippte oder gefaltete Tragkonstruktionen mit enormer Spannweite zu bauen. Die flüssige Sand-Zement-Mischung der 1 bis 4 cm dünnen Betonscheiben übt keinen grossen hydrostatischen Druck auf die Gipsschalung aus, der diese verformen könnte, und bedarf auch keiner mechanischen Verdichtung. Die Gipsschicht verbessert die wärmetechnischen Eigenschaften der Konstruktion. Die glatte Oberfläche braucht keine nachträgliche Beschichtung. Die andere Schalung kann z. B. eine Glasplatte oder Wärmedämmung sein, die ebenfalls keine zusätzliche Verstärkung benötigt.

Tragen und Trennen unauflösbar vereint

Diese Betonarchitektur bedingt eine neue Denkweise: Es ging nicht mehr um die Herstellung eines tragenden Gerüsts, auf das in einem zweiten Schritt die raumtrennenden und flächenbildenden Elemente montiert werden. Ziel war nun vielmehr die mechanisierbare Produktion von komplexen Stukturen, bei denen die tragenden und flächenbildenden Funktionen des Materials voneinander untrennbar sind. Sámsondi Kiss bezeichnete seine Erfindung als «Gewebebeton» (szövetbeton). Damit meinte er die Möglichkeit, ein kontinuierliches Betongewebe industriell herzustellen, das aus einem Gewirk von von horizontalen und vertikalen Rippen und Zellen besteht.

Mit dem Begriff wollte er auch die seinem Vorschlag zugrunde liegende Idee der Synthese, des Zusammenwebens von konstruktiven, wirtschaftlichen, sozialen oder ästhetischen Aspekten zum Ausdruck bringen. Sein Hauptaugenmerk galt dem Bau von Wohnhäusern: Er war überzeugt, dass bei dieser Aufgabe die Kombination von neuen Ideen mit tradierten, bereits veralteten Lösungen – deren Rückständigkeit kaum als solche wahrgenommen werden – besonders auffallend sei.

Reichtum an Ideen, Knappheit an Material

1937 übersiedelte Sámsondi Kiss nach Budapest. Es war die Zeit, als Architekten der ungarischen Avantgarde wie Farkas Molnár oder die Zwillingsbrüder Aladár und Viktor Olgyay – die nach ihrer Emigration in die Vereinigten Staaten zu Pionieren des klimagerechten Bauens wurden[3] – ihre Hauptwerke realisierten. Die Olgyays und Sámsondi Kiss arbeiteten in den 1940er-Jahren bei verschiedenen Projekten zusammen. Mit einem Entwurf für Wohntürme am südlichen Donauufer in Budapest gewannen sie 1946 den ersten Preis eines Architekturwettbewerbs. Das Rückgrat der als «Schalenhaus» (Héj–Ház) bezeichneten Konstruktion bildete eine zwischen zwei runden Treppentürmen gespannte zentrale Achse, die Deckenplatten wurden durch vorgefertigte Platten aus Gewebebeton unterstützt (Abbildungen hier, hier und hier).[4]

Die ökonomische Krise in den Vorkriegsjahren hatte der Suche nach wirtschaftlichen und materialsparenden Konstruktionsmethoden Auftrieb gegeben – auch wenn sie in der Ausführung aufwendiger waren, weil sie eine genauere Montage verlangten als traditionelle, schwere Betonkonstruktionen. Sámsondi Kiss errichtete mit seiner Methode in den Kriegsjahren in Budapest seine ersten experimentellen Wohnbauten. Der wichtigste war das Wohnhaus für seine Familie, errichtet in den Jahren 1942–1943.[5]

Gesamtkunstwerk für den Eigengebrauch

Das langgestreckte Einfamilienhaus ist ein zweigeschossiger Zweispänner mit offenem Grundriss. Die Tragkonstruktion ist durch einheitliche Schrankpfeiler gelöst, die in den Kreuzungen der Zellenrippen untergebracht sind. Die Vorspannung mit dünnen Stahlsaiten erfolgte entlang den Rippen der horizontalen Zellenstruktur. Die waagrechten Lamellen der Schrankpfeiler sind als Regale verwendbar, ihre Oberflächen und Kanten sind mit Glas verkleidet. Die symmetrisch belasteten Schrankpfeiler sind im Innenraum so gedreht, dass sie als Stauraum genutzt werden können, jene an der Fassade wurden in wärmedämmende Schalung gegossen. Die Zellenstruktur der Stützen setzt sich als das horizontale Zellensystem der Decke fort. Diese Lösung ermöglicht einen grossen, ungeteilten, zusammenhängenden Innenraum. In den verglasten Deckenkassetten ist die Beleuchtung installiert, verdeckt durch verschiebbare transluzente Glasscheiben (Abbildungen hier, hier und hier).

Die Zentralheizung wurde entlang der mittleren Pfeilerreihe geführt. Anstatt sie zu verstecken, behandelte der Architekt sie als gekachelten, Wärme strahlenden Körper, als zentrales Element des Innenraums. Der horizontal durch die Wohnung geführte Rauchkanal funktioniert wie ein Kachelofen. Zum Innenraum hin wurde eine lange, mit Glasplatten verkleidete Fläche gebildet. Unter dieser horizontalen Abdeckplatte sind die Leitungen der Konvektoren versteckt, die auch die Heizung einzelner Abschnitte erlauben. Bad und Küche sind Teile des offenen Raumgefüges; hier sind die Oberflächen des Gewebebetons mit farbigen Glasplatten verkleidet (Abbildungen hier und hier).

Ein Masssystem über alles

Sámsondi Kiss betonte, dass die Ausführung eines Einfamilienhauses eine «der geistigen Arbeit nahe stehende» Tätigkeit sein müsse. Technisch einigermassen versierte Bauherren sollten ihre Häuser selbst ausführen können. Diese Art körperliche Arbeit sei weder langweilig noch anstrengend, schrieb der Architekt, der in seinen Schriften immer für die Erhöhung des Anteils der geistigen Arbeit und des Erfindungsgeists im Bauen argumentierte. Der Arbeitsprozess – unter Verwendung speziell entwickelter kleiner Maschinen – solle interessant und anregend sein und Ergebnisse produzieren, die mit jenen der industrialisierten Baumethoden gleichwertig sind. Der Bauprozess solle keinesfalls «mechanisch» sein; Sámsondi Kiss kritisierte rigide Arbeitsabläufe, die charakteristisch für automatisierbare Produktionsprozesse seien.

Die Wohnung war für Sámsondi Kiss Teil eines integrierten urbanen Systems, einer Zellenstruktur, die eine Masskoordination aller Elemente – einschliesslich Möbel und Transportfahrzeuge – erforderte. Dabei verwarf er, wie Ernst Neufert oder Le Corbusier vor ihm, das dezimal-metrische System zugunsten eines modularen Systems, das auf der Teilung von 225 cm beruht, was auch der Geschosshöhe seines eigenen Wohnhauses in Budapest entspricht.

Sámsondi Kiss bemängelte, dass die Konstrukteure Fragen, die mit dem Leben in der modernen Wohnung zusammenhängen, als zweitrangig betrachten – etwa die Möglichkeit der Anpassung an neue Anforderungen oder die mechanische Reinigung: Verwinkelte Grundrisse und komplizierte Details erschweren die Verwendung von Reinigungsgeräten oder den Austausch von Komponenten. Er dagegen sah in seinen Wohnhäusern Reinigungsmaschinen vor, deren Dimensionen den vorgefertigten Fussbodenpaneelen und damit dem Modulsystem der Konstruktion entsprachen.

Einfach, aber nicht simpel

Das Frage nach der Einfachheit war zentral im Denken von Sámsondi Kiss; sie theoretisch und praktisch zu beantworten war vor allem für die Gestaltung der Knoten entscheidend. Die «Einfachheit» des Plattenbaus mit geschosshohen Betonpaneelen, der herrschenden Wohnbauweise im Staatssozialismus, lehnte er ab. In seinem Bausystem sollte die Gestaltung der einzelnen Komponenten einem genauen Punkt in der Herstellungskette entsprechen und einem genauen Ort, wo sie eingebaut würden, um eine optimale Montierbarkeit und Brauchbarkeit zu erlauben. Das System beruhte auf der Komplementarität von Vorfertigung und In-situ-Montage: In der Werkstatt sollten Komponenten in verschiedenen Fertigkeitsstufen hergestellt werden, die auf der Baustelle komplettiert, kombiniert bzw. zusammengefügt werden (Abbildung).

1954 überliess Sámsondi Kiss sein Gewebebetonpatent dem ungarischen Staat. Einige begeisterte Mitarbeiter führten seine Experimente weiter; die Ergebnisse wurden zwar publiziert, haben die Baupraxis im Realsozialismus aber kaum beeinflusst. Für die staatliche Bauindustrie, die an der Einhaltung von Planvorgaben und der Massenproduktion von Wohnungen mit ungeschulten Arbeitern interessiert war, erwies sich sein System als viel zu anspruchsvoll und aufwendig.

Inspiration durch Fertigung statt Zwang zum Funktionalismus

Sámsondi Kiss kritisierte, dass die Diskussion über die moderne Wohnung ausschliesslich auf Fragen der Grundrissdisposition und Funktion beschränkt sei. Schlagworte wie «das befreite Wohnen», «die Wohnmaschine» oder die Forschungen von Ernst Neufert oder Le Corbusier seien wohl wichtig, würden aber die Probleme der Technik und der Herstellung als zweitrangig erscheinen lassen.

Im Gegensatz dazu war Sámsondi Kiss überzeugt, dass echte Neuerungen im Entwurf auch neue Konstruktionstechniken voraussetzten. Er schrieb: «Den Architekten war es jahrzehntelang genug, dass sie sich, aus dem Gefängnis der Ziegelmauer befreit, auf dem freien Gebiet der monolithischen Betonarchitektur bewegen konnten […] Für uns erwies sich diese Betonarchitektur als eine genauso bedrückende Last wie die Ziegelmauer für unsere Vorgänger. Wir wollen keine neuen Schlagworte fabrizieren. Wir müssen allerdings die Konseqenzen bedenken. Wir dürfen nicht vergessen, dass auf dem Gebiet der Wohnfunktion jede Erneuerung mit der Konstruktion verbunden ist; nur mit der Entwicklung der Konstruktion können wir neue Grundrisslösungen finden.»[6]

Dabei verwies er die Konstruktion keineswegs in den Dienst des Entwurfs, sondern forderte einen Entwurf aus der Konstruktion, der Fertigung heraus: «Ob eine Wohnung in ihrer Funktionalität gut oder schlecht ist, können wir nur im Betracht auf das konkrete Konstruktionssystem entscheiden. Das heisst, wenn wir auf dem Gebiet der Konstruktion Fortschritte machen und zwischen Entwerfen und Ausführung auch das Kettenglied der industriellen Fertigung einfügen wollen, sollen wir den veralteten Teil unserer funktionalistischen Ansichten vor die Tür setzen.»[7]

Bislang ist keine umfassende Studie über das Werk von Béla Sámsondi Kiss erschienen. Viele seiner Handskizzen, mit denen er sein Gewebebetonsystem weiterzuentwickeln suchte, wurden jedoch als Teil des ungarischen Beitrags zur IX. Architekturbiennale in Venedig (2004) ausgestellt (Abbildung).[8]


Anmerkungen:
[01] Gottfried Semper definiert Stoffwechsel als einen Prozess, der den ursprünglich durch Material und Herstellungstechnik bedingten Konstruktionen kulturelle Bedeutung gibt: Formen, die früher in der Bearbeitungstechnik eines Materials begründet waren, werden später auf andere Stoffe übertragen. So können z.B. Steinkonstruktionen die charakterischen Formen des Holzbaus zeigen. Vgl. Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. Frankfurt am Main/München 1860–1863. Semper klassifiziert das Bauen in textile Kunst, Keramik, Tektonik (Zimmerei), Stereotomie (Steinkonstruktion) und Metallotechnik (Metallarbeiten).
[02] Béla Sámsondi Kiss, Szövetszerkezetes épületek [Bauten mit Gewebekonstruktion]. Budapest: Müszaki Könyvkiadó, 1965, S. 15. Übersetzung des Autors.
[03] Seine Ansichten zur modernen Stahlbetonarchitektur hat Medgyaszay in seinem Vortrag erörtert: István Medgyaszay, «Über die künstlerische Lösung des Eisenbetonbaues». In: Bericht über den VIII. Internationalen Architekten-Kongress Wien 1908. Wien: Verlag von Anton Schroll & Co., S. 538–554.
[04] Victor Olgyay, Design with Climate. Bioclimatic Approach to Architectural Regionalism. Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1963.
[05] Vgl. «Tower apartment houses», in: The work of architects Olgyay Olgyay, New York: Reinhold Publishing Co., o. J. [1952?], S. 17; «Tér és Forma» 10/1946, S. 118; Paul Weidlinger, «Partitions function as columns», in: Architectural Record Vol. 109 No. 1 (Jan. 1951), S. 134–140.
[06] Das Haus wird vom Sohn des Architekten, Prof. em. György Sámsondi Kiss, bewohnt, dem ich wervolle Informationen und Bilder zu diesem Beitrag verdanke.
[07] Sámsondi Kiss, wie Anm. 2, S. 26.
[08] Péter Janesch (Hrsg.), From Beauty to Beauty and Back Again. Exhibition in the Hungarian Pavilion of the Venice Biennial at the 9th International Architectural Exhibition. Budapest: Mücsarnok, 2004, S. 273–649.

TEC21, Fr., 2017.09.22



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11. September 2015Ákos Moravánszky
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Analogien und Attitüden

In den 1980er-Jahren hat die Analoge Architektur an der ETH Zürich die Entwurfsmethoden revolutioniert. Die Projekte und deren Darstellung waren neu und eigenwillig. Ein Versuch, die «Analogen» in Theorie und Geschichte einzuordnen, illustriert mit Bildern ehemaliger Studenten.

In den 1980er-Jahren hat die Analoge Architektur an der ETH Zürich die Entwurfsmethoden revolutioniert. Die Projekte und deren Darstellung waren neu und eigenwillig. Ein Versuch, die «Analogen» in Theorie und Geschichte einzuordnen, illustriert mit Bildern ehemaliger Studenten.

Das Konzept der Analogie begleitet das menschliche Denken seit der Antike. Es beruht auf der Erkenntnis, dass der Verstand die Fülle und Komplexität der Welt nie direkt, sondern nur mit reduzierten, aber mit den Erscheinungen im Proportionsverhältnis stehenden Bildern begreifen und darstellen kann.[1] Vitruv interpretiert Analogie als Übereinstimmung der Proportionen: «Die Formgebung der Tempel beruht auf Symmetrie, an deren Gesetze sich die Architekten peinlich genau halten müssen. Diese aber wird von den Proportionen erzeugt, die die Griechen nennen.»[2] Für die Theologie wurde das Konzept der Analogie besonders wichtig: Sie wurde als Versuch gedeutet, den radikalen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf für das Denken zu bewältigen. Eine Betrachtung «von Angesicht zu Angesicht» bleibt uns versagt; es geht um eine Annäherung, die Repräsentationen müssen immer unvollständig, unangemessen bleiben. Im Spätmittelalter und in der Renaissance entstanden zahlreiche Darstellungen, die die philosophische bzw. theologische Argumentation der ikonografischen und allegorischen Tradition entsprechend vor Augen führten.

Der Massstab als Werkzeug der Projektion aus dem Bereich der Ideen in den Raum der realen Welt der Gegenstände gehört ins Instrumentarium des analogen Denkens, das die Einfügung des gedachten oder entworfenen Objekts in die Wirklichkeit ermöglichen soll.[3] Analogie als Proportionalität entspricht der Harmonie der Welt, die der Renaissancegelehrte Leon Battista Alberti als concinnitas, Ebenmass, die richtige Kombination von Zahl, Dimension und Form bezeichnet wurde.[4] Es ist die Aufgabe der concinnitas, die Verbindung zwischen Naturgesetz und architektonischer Form herzustellen. Analogie ist jedoch der übergeordnete Begriff und erschöpft sich nicht in Harmonielehren. Es gibt organische Analogien neueren Datums, die das harmonische Proportionskonzept verwerfen, um dynamischere Modelle (z.?B. Formen des Wachstums, «Tropismen») vorzuschlagen.[5]

Das poetische Potenzial der Unschärfe

Peter Collins (1920–1981), ein in England geborener und hauptsächlich in Kanada tätiger Architekturtheoretiker, hat in seinem 1965 veröffentlichten Buch «Changing Ideals in Modern Architecture 1750–1950» die Fähigkeit der Architektur betont, Begriffe und Konzepte aus der Biologie, Physik oder Philosophie schwammartig durch Analogien aufzusaugen. Die Unschärfe ist dabei immer Teil des Spiels: «Es scheint, dass die Analogie immer unbestimmt und poetisch sein muss», schreibt Collins.[6]

Gerade wegen ihres unscharfen, approximativen und intuitiven Charakters ermöglicht die Analogie, Lösungen für komplexe Aufgaben zu finden, ohne alle Aspekte des Systems in Erwägung ziehen zu müssen. Der englische Architekturhistoriker Geoffrey Scott (1884–1929) brachte es in seinem Buch «The Architecture of Humanism» auf den Punkt: «Die wissenschaftliche Methode ist nützlich, verstandesmässig und praktisch, aber der naive, der anthropomorphe Weg, der die Welt humanisiert und diese in Analogie mit unseren Körpern und unserem Wollen interpretiert, ist immer noch der Weg der Ästhetik, sie bildet die Basis der Poetik und die Grundlage der Architektur.»[7]

Trotzdem gab es immer wieder Versuche, anstelle der Analogie eine wissenschaftliche Methode zu verwenden. Der 1936 geborene US-amerikanische Architekt, Architekturtheoretiker und Philosoph Christopher Alexander hat in seinen «Notes on the Synthesis of Form» vorgeschlagen, die komplexen Zusammenhänge in Wirtschaft, Kultur, Verkehr, Wohn- und Gesundheitswesen eines indischen Dorfs in einem Katalog von 142 Anforderungen zu erfassen.[8] Die Verbindungen zwischen den einzelnen Anforderungen als Grundlage von Planungsentscheidungen sollten mit einem Computer modelliert und ausgewertet werden. Alexander musste erkennen, dass solche Aufstellungen der Anforderungen, wie ausführlich sie auch immer sein mögen, letzten Endes willkürlich bleiben. Als Konsequenz des Scheiterns ist Alexander zum analogen Denken als Methode zurückgekehrt: In seinen späteren Büchern betrachtet er die feinen Ornamente von alten türkischen Teppichen als Modelle für eine architektonische «Mustersprache».[9]

Aus einer ähnlichen Motivation heraus sieht heute Jean-Pierre Chupin, Forscher an der Universität von Montreal, die Rolle der Analogie in der Architektur: Durch die Zusammenführung der sprachlichen, visuellen und stofflichen Bezüge in einer analogen Matrix kann das architektonische Denken der Komplexität der Aufgabe gerecht werden.[10]

Das Eigenleben des Bilds

Die Entwicklung des Analogiekonzepts in der Architektur zeigt die wesentlichen Züge des erwähnten theologischen Analogiegedankens. Wir können sogar vermuten, dass die philosophische Diskussion von Spekulationen über Projekt und Projektion befruchtet wurde – es geht ja um eine morphologische Erfassung der Dinge der Welt: der Gebrauchsobjekte, Häuser und Städte als erschaffene Dinge, die wir als Projektionen, als «Ent-Würfe» einer grossen, alles bestimmenden Ordnung beziehungsweise eines Plans betrachten können.

Die Fragen der sichtbaren Welt und deren Repräsentationen sind diesbezüglich besonders wichtig, weil Bilder, Entwurfspläne oder Modelle nicht blosse Notationen oder Anweisungen zur Ausführung sind, sondern über eigene analoge Fähigkeiten verfügen. Die Entwürfe der Revolutionsarchitekten Claude-Nicolas Ledoux und Étienne-Louis Boullée, obwohl sie in ihrem gigantischen Massstab uns «verrückt» erscheinen mögen, werden meistens mit Ideen der Aufklärung, der Vernunft, mit dem Rationalismus in der Architektur in Verbindung gebracht, weil strenge Geometrie und Symmetrie seit Platon als bildhaftes Modell der Vernunft und Ordnung gelten.

Rossis ahistorische Permanenz

Aldo Rossis Vorschlag, die Morphologie der Stadt mit der panoptischen Bildstrategie eines Kunstkabinetts zu verbinden, ist diesbezüglich besonders lehrreich und steht ebenfalls mit dem neoplatonisch-christlichen Analogiekonzept in enger Beziehung. Die Entwicklung dieses Konzepts in seinem Werk war für die Schweizer Architektur besonders folgenreich. Rossis analoge Stadt, die città analoga (1976), ist noch ganz in der Tradition der spätmittelalterlichen Emblematik verwurzelt und blendet die Historizität der Stadt zugunsten der Permanenz der Typen aus. Schon die Form der Komposition als Segment eines grosses Rads suggeriert die ewige Wiederkehr der gleichen Grundkonfigurationen. Es ist gerade das enthistorisierende Zusammenfügen des Diokletianspalasts in Split mit Giovanni Battista Piranesis visionärer Archäologie der Stadt Rom und mit Rossis eigenem Entwurf für den Friedhof in Modena, das das Wesen des Städtischen per analogiam sichtbar macht.[11] Die sichtbaren Übereinstimmungen von Formen, die aus verschiedenen Epochen stammen und unterschiedliche Funktionen behausen, sollen einerseits die Autonomie, die Unabhängigkeit der Architektur von solchen geschichtlichen oder nutzungsbedingten Faktoren belegen, andererseits die architektonische Imagination befördern. Die formale Analogie zwischen scheinbar verschiedenen Bauaufgaben wie Wohnhaus, Strandkabine und Grabstätte führen in Rossis Werk diesen Gedanken – und auch die Umwandlung, die Zirkularität der Zeit – suggestiv vor Augen.

Die späteren Texte, Projekte und Grafiken Rossis (vor allem sein Buch «Wissenschaftliche Selbstbiografie»[12]) überschreiben diese Stadtgeschichte ohne Zeitdimension mit einer neuen, vom Psyche-Konzept Sigmund Freuds und vor allem von C.G. Jung beeinflussten Deutung der Analogie. Rossi beschreibt die Stadt nicht mehr als Sammlung der in der kollektiven Erinnerung gespeicherten Formen, sondern als Spur persönlicher Eindrücke. Er deutet Begriffe um, Wissenschaftlichkeit wird zu Kontingenz, Rationalität in Exaltiertheit umgewandelt. Es geht nicht mehr um das Potenzial der Analogie, von der Welt ein Bild zu schaffen, sondern um ihre Unangemessenheit, ihre Unschärfe; um die Erkenntnis, sich von der Wahrheit sogar zunehmend zu entfernen. «Dieses ist lange her», notiert Rossi ein Zitat des österreichischen Dichters Georg Trakl auf eine seiner Radierungen.[13]

Robert Venturis Ironie

In dieser Entwicklung spielt wahrscheinlich die amerikanische Postmoderne eine Rolle, genauer: eine ähnliche Verschiebung in der Theorie von Robert Venturi. Wir können Venturis erstes Buch «Complexity and Contradiction» (1966) als eine Antwort auf die bereits skizzierte Herausforderung verstehen, dem Problem des Entwerfens in seiner ganzen Komplexität gerecht zu werden. Contradiction, die Zulassung und Ästhetisierung von unaufgelösten Widersprüchen im Werk, war hier die Antwort.[14] Dann, in «Learning from Las Vegas» (1972), revidieren Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour diese Position, wahrscheinlich unter dem Einfluss der populistischen Tendenzen jener Zeit. Die durchwegs kommerzialisierte Welt der Vorstädte und sogar die Lehren aus der Glücksspieloase Las Vegas können in der «high architecture» verwendet werden, behaupten Venturi und seine Koautoren.[15]

Was hier als analoges Denken erscheinen mag, erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als Simulacrum. War ein Architekt der Moderne wie Adolf Loos noch überzeugt, dass er mit seinem sicheren Geschmack und seinem schillernden Auftritt (Skandal um das Haus am Michaelerplatz in Wien) die Gesellschaft erziehen könne, lässt sich der postmoderne Architekt in ein «Als-ob-Schauspiel» mit seinem Auftraggeber ein: Er scheint dessen Geschmack zu applaudieren und ist bereit, Formen der «low culture» in seine Architektur einfliessen zu lassen. Andererseits zwinkert er seinen Berufskollegen zu: Es gehe ihm nicht wirklich um die Wertschätzung des Alltäglichen, vielmehr um ironische Kommentare aus der höheren Perspektive des Intellektuellen. Damit wird die Grundlage einer analogen Beziehung unterminiert.

Vom Bild zur Referenz

Hier nehmen die Schweizer «Analogen» den Faden auf. Obwohl Venturis Einfluss in der Schweiz noch zu wenig erforscht ist, können wir annehmen, dass seine Ideen nicht zuletzt dank Stanislaus von Moos und der Zeitschrift archithese präsent waren. Das Themenheft «Las Vegas etc. oder: Realismus in der Architektur» erschien 1975, also genau zwischen den zwei Perioden von Aldo Rossis Lehrtätigkeit an der ETH in Zürich (1972–1974 bzw. 1976–1978).[16] Rossi war in der zweiten Phase bereits ein «Starchitect» – er unterrichtete im Frühjahr 1976 und im Herbst 1979 auch in den Vereinigten Staaten. Seine Ausstellung in Peter Eisenmans «Institute for Architecture and Urban Studies» in New York fand 1979 statt. Seine Zürcher Studenten und Studentinnen, und später jene des Gastprofessors und früheren Rossi- Assistenten Fabio Reinhart beziehungsweise seines Assistenten Miroslav Šik, haben Rossis Analogiekonzept weiter umgewandelt und aus seiner epistemologischen Verankerung in der ersten Phase gelöst. Die Signifikanz des Bilds für den frühen Rossi wird in eine Suche nach Referenzen umgewandelt (Popkultur, Star Wars, Marvel-Comics etc.).

Der Regression entkommen

Referenz hat jedoch mit Analogie nur scheinbar etwas zu tun. Der entscheidende Unterschied ist, dass bei der Referenz das Bewusstsein für die Unangemessenheit der Analogie aufgegeben, ja nicht einmal wahrgenommen wird. Die Dinge der Welt – die Kaffeekannen, Häuser und Städte, die für Rossi den objektiven Tatbestand der erschaffenen Welt darstellten – existierten jetzt für die Schweizer «Analogen» als verinnerlichte, persönliche Fakten, subjektive Erinnerungen, collagiert aufgrund individueller Präferenzen, die nicht weiter begründet werden müssen und deshalb irgendwie immer adäquat sind. Auch die vielbeschworene graue Vorstadt war vor allem Stimmung und damit eher etwas subjektiv Gespürtes als soziale Wirklichkeit. Bereits Rossis Entwicklung nach seiner amerikanischen «Entdeckung» zeigte in diese Richtung. Der Titel seines Beitrags in «Perspecta» von 1997, der Zeitschrift der Architekturschule der Yale-Universität, ist diesbezüglich vielsagend: «Architecture, furniture and some of my dogs».[17] In dem Interview mit dem französischen Architekten und Urbanisten Bernard Huet (1932–2001) zu dieser Sammlung von Zeichnungen und Lithografien verwirft Rossi in seinem Schlusssatz jegliche Verbindung zwischen seiner Arbeit mit Referenzen und dem früheren Analogiegedanken: «For me, architecture is a whole, and I take the good wherever I find it.»[18]

Rossis Kabinett der Espressomaschinen, Pferdeskelette und Strandkabinen wird zunehmend zum Museum der Obsessionen und seine Typenlehre zum Kult der Attitüden, die jederzeit zu Form werden können.[19] Das grosse Versprechen der Postmoderne, aus der Komplexität der Aufgabe und aus den inneren Widersprüchen der Wirklichkeit eine kohärente Ästhetik herauszudestillieren, wurde weder im Werk Venturis noch in den Projekten Rossis eingelöst. Auch die Technik bedeutete für Rossi und die «Analogen» vor allem die «alte» Technik: die Maschine, das Gerüsthafte – und für die «Analogen» die Bilderwelt der Science-Fiction-Filme.

Die Regression in Richtung gepflegter Melancholie, Innerlichkeit und Subjektivität war und bleibt für das analoge Denken eine Gefahr, der aber viele (ehemalige) «Analoge» dadurch entkamen, dass sie die Vorstadt oder die Technik nicht als blosse Bilder betrachteten, sondern das erste als Aufgabengebiet, das andere als Instrument. Die Stadtforschung, die Zusammenarbeit mit Soziologen und Ingenieuren haben es ermöglicht, zur ursprünglichen Bedeutung der Analogie zurückzufinden, die ohne Referenzen auskommt. Die menschliche Kognition kann nämlich durch das Netzwerk der Analogie eine Ranke in Richtung des noch Unbekannten strecken, ohne auf Formen der Vergangenheit zurückgreifen zu müssen.


Anmerkungen:
[01] Vgl. Platons Erklärung des analogen Wesens des Guten und der Verhältnisse im Bereich des Sichtbaren und des Denkbaren in seiner Politeia Buch VI, in: Platon, Sämtliche Werke Band 2, Reinbek 1994, S. 414–417.
[02] Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, übers. von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964, S. 137.
[03] Vgl. Philippe Boudon, Échelle(s). L’architecturologie comme travail d’épistémologue. Paris 2002.
[04] Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, übers. von Max Theuer, Wien 1912, S. 492.
[05] D’Arcy Wentworth Thompson, Über Wachstum und Form, Frankfurt am Main 1982; Ton Verstegen, Tropisms: Metaphoric Animation and Architecture. Rotterdam 2001.
[06] Peter Collins, Changing Ideals in Modern Architecture 1750–1950, London and Montreal, S. 153.
[07] Geoffrey Scott, The Architecture of Humanism: A Study in the History of Taste. 2. Aufl. London 1924, S. 218.
[08] Christopher Alexander, Notes on the Synthesis of Form. Cambridge, Mass. 1964.
[09] Christopher Alexander, A Foreshadowing of 21th Century Art: The Color and Geometry of Very Early Turkish Carpets.
New York, Oxford 1993.
[10] Jean-Pierre Chupin, Analogie et théorie en architecture: De la vie, de la ville, et de la conception, même. Gollion 2010.
[11] Vgl. Carsten Ruhl, «Im Kopf des Architekten: Aldo Rossis La città analoga», in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 69 (2006), Nr. 1, S. 67–98.
[12] Aldo Rossi, Wissenschaftliche Selbstbiografie, übers. von Heinrich Helfenstein, Bern/Berlin 1988.
[13] Vgl. Martin Steinmann, «Dieses ist lange her. Notizen zu Aldo Rossi», in Ákos Moravánszky, Judith Hopfengärtner, Aldo Rossi und die Schweiz. Architektonische Wechselwirkungen. Zürich 2011, S. 183–196.
[14] Robert Venturi, Complexity and Contradiction in Architecture, New York 1966.
[15] Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour, Learning from Las Vegas: The Forgotten Symbolism of Architectural Form. 2nd revised ed.: Cambridge, Mass. 1977.
[16] Vgl. archithese 13 (1975): Las Vegas etc. oder: Realismus in der Architektur.
[17] Aldo Rossi, «Architecture, furniture and some of my dogs», in: Perspecta: The Yale Architectural Journal Nr. 28 (1997), S. 94–113.
[18] Ebenda, S. 111.
[19] «Live in Your Head: When attitudes become form» war der Titel einer wichtigen Ausstellung von Harald Szeemann in der Kunsthalle Bern im Jahre 1969.

TEC21, Fr., 2015.09.11



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04. September 2015Ákos Moravánszky
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Politik, Prozess oder Produkt?

In den 1930er-Jahren grenzte der Begriff «Baukultur» die eigene Tradition gegen die internationale Moderne ab. Später bezeichnete er eine heile Welt als Kontrast zu den Bausünden der Hochkonjunktur.
Heute entfernt er sich vom Gebauten und steht zunehmend für politische Prozesse – eine Entfremdung, die aus der kritischen Sicht der Architekturtheorie nichts Gutes verheisst.

In den 1930er-Jahren grenzte der Begriff «Baukultur» die eigene Tradition gegen die internationale Moderne ab. Später bezeichnete er eine heile Welt als Kontrast zu den Bausünden der Hochkonjunktur.
Heute entfernt er sich vom Gebauten und steht zunehmend für politische Prozesse – eine Entfremdung, die aus der kritischen Sicht der Architekturtheorie nichts Gutes verheisst.

Baukultur ist einer jener deutschen Begriffe, die mit ihrer kommandohaften Dezidiertheit und mit ihrem unübersetzbaren Inhalt bei Fremdsprachigen Achtung, Spott oder Angst auslösen können. «Cultura edilizia» ist ein deutsches Exportwort im italienischen Fachjargon, das fast ausschliesslich von Tessiner und Südtiroler Berufsverbänden verwendet wird. Auch die englische Sprache kennt keinen gleichwertigen Begriff, selbst wenn wir auf den Websites einiger deutscher und Schweizer Hochschulen Äusserungen zur «building culture» finden. «Architecture culture», wie Joan Ockmans Textanthologie der Architekturtheorie betitelt ist, bedeutet und bezweckt eben etwas völlig anderes – nämlich eine Öffnung der Architektur, ihre Einbettung in die grösseren Zusammenhänge der Kultur.[1]

Der Begriff Baukultur verspricht meist keine Öffnung. Im Gegenteil, er ist seit jeher ein Begriff der Verteidigung, obwohl oft nicht klar ist, was verteidigt werden soll. Das einheitliche Stadtbild? Der sichere Geschmack? Die Identität einer Region? Jedenfalls wird Denkmalpflege oder Heimatschutz – ein anderer schwer transferierbarer Begriff, selbst zwischen Deutschland und der Schweiz – oft als die wichtigste Aufgabe der Baukultur genannt. Die von der Stadt Zürich herausgegebene Buchreihe «Baukultur in Zürich» stellt Bauten aus dem «Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte» vor.[2] Dieser Verteidigungsreflex entstand aus der Wahrnehmung eines Verlusts heraus, vergleichbar mit den Klagen am Anfang des 20. Jahrhunderts, die Prozesse der Modernisierung würden das Dorf zum Verschwinden bringen – ein idealisiertes Dorf, das bereits damals nur als Folklore existierte. Der Traum von einer Bau- und Objektkultur, die Leben und gestaltete Umwelt harmonisch vereinigt, war schon damals mit Fluchtversuchen aus der Wirklichkeit verbunden.

Baukultur und Alltag Was den Zauber des Worts Bauk ultur ausmacht, ist seine Aura, die zugleich elitär und demokratisch ist. Elitär, weil Kultur mit Kultus zu tun hat, mit einer ritualisierten und ästhetisierten Form des Umgangs mit der Umwelt, die den kultivierten Menschen von den anderen unterscheidet. Für viele Architektinnen und Architekten ist diese elitäre Auslegung der Baukultur, die unangenehme Resonanzen mit dem unglückseligen Leitkultur-Begriff der späten 1990er-Jahre auslöst, kaum mehr akzeptierbar. Denn die nobilitierende Aura der Kultur wird heute für alles beansprucht, vom Fernsehkochen bis hin zu Ganzkörpertattoos – die der streitbare Wiener Architekt Adolf Loos (1870–1933) bekanntlich noch als Zeichen der Unkultur deutete.[3] Es ist ein Gebot der Toleranz, die demokratische Auslegung des Begriffs zu verwenden und alle Formen der Gesellschaft als Kultur anzuerkennen, sodass man lieber über Baukulturen als über Baukultur sprechen möchte.

Doch wie können wir dann sagen, was jenseits der Baukultur liegt? Die Bau-Unkultur? Die Barbarei? Was ist das Verhältnis der Baukultur zum sogenannten Alltag, den Robert Venturi als «the ordinary» apostrophiert – zum Banalen, Vorgefundenen, Populären? Ist Baukultur «high culture», das Ergebnis von Expertenwissen und somit das Gegenpol zum Alltäglichen? Oder ist es umgekehrt? Ist gerade der Alltag mit seiner «low culture» jene Realität, die über Existenz oder Nichtexistenz der – einer – Baukultur entscheidet? Schon Venturis Stellungnahme zum Alltag («ugly and ordinary») war mit Vorsicht zu geniessen: Sein Alltag war eher für den kultivierten Leser und Berufskollegen als für den Bewohner der amerikanischen Vorstadt konstruiert.[4]

Die Baukultur und ihre Feinde

Das Problem mit der Baukultur wurde dem Begriff sozusagen in die Wiege gelegt. Die deutsche Architektenvereinigung Der Block gab ab 1930 eine Zeitschrift mit dem Titel «Die Baukultur» heraus.[5] Der Block bestand aus Gegnern des Neuen Bauens (dessen Vertreter sich wiederum in der Gruppe Der Ring versammelten). Zu den Block-Mitgliedern gehörten Architekten der Stuttgarter Schule wie Paul Schmitthenner und des Bundes Heimatschutz wie Paul Schultze-Naumburg, die zum Teil auch im Kampfbund für Deutsche Kultur aktiv waren. Schultze-Naumburg hatte sich schon am Anfang des Jahrhunderts in seiner mehrbändigen, weit verbreiteten Buchreihe «Kulturarbeiten» die Verteidigung der «Kultur des Sichtbaren» zur Aufgabe gemacht, um die «entsetzliche Entstellung der Physiognomie unseres Landes» sichtbar zu machen und zu bekämpfen.[6] In eindrucksvollen Bildpaaren zeigte er gute und schlechte Beispiele von Dörfern und Städten, Wohnhäusern, Gärten und Industriebauten.

Baukultur wurde bald zum Schlagwort, um die internationale Moderne zu schlagen. Sie bezeichnete die eigene gute Tradition, im Gegensatz zu den bedrohlichen Ambitionen des Internationalen Stils. Der konkrete Stein des Anstosses war vor allem die Weissenhofsiedlung in Stuttgart (1927): Die Architekten der Stuttgarter Schule errichteten unter der Leitung von Schmitthenner ein Gegenmodell dazu, die Kochenhofsiedlung (1933).

Schon früh hat man also Baukultur mit Baukunst gleichgesetzt oder mit ästhetischen Fragen verbunden. Diese Konfusion lebt weiter und erschwert die Diskussion über Baukultur bis heute. Denn Baukultur ist nicht gleich Architektur: Es ist zum Beispiel möglich, jene Baukultur anzuerkennen, die die Weissenhofsiedlung ermöglicht hat – eine Stadtregierung, die bereit war, eine repräsentative Mustersiedlung zu bauen, die Massstäbe setzt und die Prinzipien des Neuen Bauens festlegt –, ohne deswegen auch Anhänger des Neuen Bauens sein zu müssen. Heute zieht sich der Staat aus dieser aktiven Bauherrenrolle zurück; anstatt repräsentative Bauvorhaben zu fördern, stellt er Stiftungen und Kommissionen zur Baukultur auf. Daher verwundert es nicht, dass Baukultur heute vor allem verfahrenstechnisch verstanden wird – und in Sitzungen, Tagungen, Publikationen oder Sensibilisierungsmassnahmen, aber nicht in Bauten gipfelt.

Seldwyla, eine baukulturelle Utopie

In der Schweiz fand die deutsche Diskussion über Baukultur früh Gehör, nicht zuletzt dank den engagierten Publikationen des «Werk»-Redaktors Peter Meyer, der wie viele Architekten der Stuttgarter Schule ein Student und Verehrer von Theodor Fischer war. Seine scharfsinnige, humorvolle Kritik der Formalismen der Avantgarde fand viel Resonanz. Er konnte bereits mit einer breiten gesellschaftlichen Opposition gegen die (damals gar nicht existierende) Grossstadtarchitektur rechnen. Die Wurzeln dieser Ablehnung reichen historisch zurück bis zu Gottfried Kellers (1853–1875) literarischer Konstruktion «Seldwyla» und anderen Kleinstadtutopien; als Folge davon wurden später tatsächlich Heterotopien wie die Wohnsiedlung Seldwyla in Zumikon gebaut (1967–1976). Die Schweizer Literatur ist voll «verwunschener Orte», die so dargestellt sind, dass sie die brutale Zerstörung einer früheren, humaneren Wirtschaft und Kultur durch die Kräfte der Modernisierung demonstrieren.[7] Der Architekt von Seldwyla, Rolf Keller, veröffentlichte 1973 das Buch «Bauen als Umweltzerstörung: Alarmbilder einer Un-Architektur der Gegenwart». Darin griff er Argumente von Kritikern des Nachkriegszeit- Städtebaus wie Jane Jacobs[8] und Alexander Mitscherlich[9] auf. Die gegensätzlichen Kräfte des Individualismus und der Ordnung, die sich früher die Waage gehalten hätten, seien heute aus den Fugen geraten und führten sowohl zum Chaos als auch zur Monotonie der Umwelt – so lautete die von dramatischen Schwarz- Weiss-Aufnahmen untermauerte Diagnose des Verfassers. Kellers Buch wurde vom Westschweizerischen Werkbund ausgezeichnet und mehrmals nachgedruckt. Den Abschluss des Buchs bildete ein Brief des Obmanns des BSA und des Delegierten für Umweltschutz, die ihr Bedauern darüber ausdrückten, dass «die formschönen Bauten der BSA-Architekten» nur als «‹Alibi-Rosinen› in einer Betonkruste» erschienen, «die unsere Erde überzieht […] Alle müssen kämpfen, denn eine Gesellschaft bekommt die Architektur, die sie verdient.» Als Ergebnis solcher Diagnosen kristallisierte sich die Überzeugung heraus, dass der Baustoff Beton oder die Grosssiedlung die Verkörperung dessen sind, was den Gegensatz zur Baukultur ausmacht.

Kellers Seldwyla steht auf der Liste der schönsten Bauten der Schweizer Heimatschutz[10], hat aber mehr Verwandtschaft mit Touristensiedlungen in Griechenland als mit der örtlichen Architektur. Die Siedlung ist auch von jenem «Hauch von Ungemütlichkeit» bereinigt, den der Schriftsteller Hugo Loetscher in Gottfried Kellers Schilderung des literarischen «Seldwyla» wahrnimmt.[11]

Von der Siedlung Seldwyla in Zumikon aus betrachtet erscheint der Rest der Welt als Junkspace von Shoppingmalls, Zersiedlung und alpinen Brachen. Doch können wir diese gebaute Utopie wirklich als Ort der Baukultur betrachten? Können wir die Berufsorganisationen und die Schulen auffordern, sie in der gesellschaftlichen «Bewusstseinsbildung» und im «Baukulturschaffen» als Vorbild zu verwenden?

Die verwaltete Baukultur

Die Gefahren, die einer schönen Stadt unter einer falschen Regierung drohen, zeigt bereits das berühmte Fresko «Allegorie der Guten und der Schlechten Regierung» (1337–1339) von Ambrogio Lorenzetti im Rathaus von Siena. In der Stadt der guten Regierung herrscht Frieden, ihre Bewohner tummeln sich fröhlich auf den Strassen und Plätzen, die von schönen Häusern gesäumt sind. In der Stadt der schlechten Regierung dagegen herrscht Hungersnot; Moral und Bauten sind dem Zerfall preisgegeben. Die Stadt, an deren Bild die Baukultur immer festgemacht wird, ist das sichtbare Resultat der Politik. Denn die Politik steuert die Prozesse, die unsere sichtbare Umwelt gestalten. Von Regierung spricht man in diesem Zusammenhang allerdings immer weniger. Es ist die Verwaltung, die heute zunehmend Regierungsaufgaben – also solche der Rechtsprechung – übernimmt. Die Öffentlichkeit verbindet «Baukultur» zwar immer noch mit der tatsächlich gebauten Stadt, aber die Politik braucht dieses Bild nicht mehr; aus Sicht der Verwaltung entscheiden letztlich nicht gute Bauten, sondern glatt laufende Verfahren über die Qualität der Baukultur.

Die Grenzen zwischen Verfahren und Ergebnis werden zunehmend unklar: Die Baukultur wird heute als neues Kultur- und Politikfeld bezeichnet, dessen Aufgabe es ist, die Baukultur zu fördern. Die Zirkularität dieser Definition hat den Vorteil, dass der Apparat des Baukulturschaffens in sich geschlossen ist: Er stellt die Aufgaben, entwickelt Verfahren zu ihrer Lösung und löst sie dann, ohne sichtbare Spuren in der gebauten Umgebung zu hinterlassen.

Diese Vorstellung von Baukultur als Verwaltung korrespondiert mit einer ebenfalls eindimensionalen Vorstellung vom städtischen Raum als blosses Nebenprodukt. Weil der Raum unsichtbar ist, spricht man zwar viel von ihm, gebaut werden aber nur Objekte: Mauern, Häuser und Fassaden.

Baukultur sollte mit der Untersuchung der spezifischen Dynamik der Prozesse beginnen, wie die Menschen Raum beanspruchen und besetzen. Entscheidungen werden heute in den wichtigsten Phasen nicht in der Öffentlichkeit geführt. Es gilt, Mechanismen zu schaffen, die solche Prozesse ausbalancieren, beispielsweise durch die Verpflichtung, Expertisen öffentlich zu machen; und es gilt zu vermeiden, dass Fachwissen nur als Legitimation missbraucht wird.

Der Ort der Baukultur

Als Gegenmodell zu einer Praxis, in der der Staat als Moderator zwischen Akteuren vermittelt und seine frühere Aufgabe als Bauherr nicht mehr oder nur noch in Public-Private Partnership wahrnimmt, muss Baukultur im konkreten, gelebten Raum der Stadt verankert werden. Ebenso wichtig ist es, dass unsere mentale Karte der Wirklichkeit vielschichtiger wird; dass wir auch die wirtschaftliche, politische, rechtliche und soziale Umgebung wahrnehmen, in der die Architektur eingebettet ist. Heute ist es üblich, perfekte Renderings als wirklichkeitstreu zu bezeichnen. Doch diese angebliche Wirklichkeitstreue bezieht sich nur auf den optischen Eindruck und nicht auf die vielschichtige städtische Realität. Wichtige Entscheidungen fallen oft auf der Grundlage solcher Darstellungen; besser wäre es, Lösungen zu suchen, die deren reduzierte Wirklichkeit infrage stellen.

Die neuen Räume der virtuellen Realität, die wir mithilfe des Computers betreten können und die als Räume einer neuen Öffentlichkeit dargestellt werden, obwohl sie zunehmend überwacht sind, können uns nicht über den Verlust von betretbaren Räumen in der physischen Stadt hinwegtäuschen. Die Durchlässigkeit der Stadt nimmt immer mehr ab. Wohl die wichtigste Aufgabe der Architektinnen und Architekten wäre es deshalb, das Potenzial urbaner Räume zu erschliessen, kognitive Karten und Grundrisse zu vergleichen und neue Raumnutzungen vorzuschlagen. Wer, wenn nicht die Architekturschaffenden, könnte die aktive Vermessung und Kartografierung von Räumen vorantreiben, die für eine gesellschaftliche Nutzung geöffnet werden können – und sollten?

Aber die Architektinnen und Architekten sind, wie der französische Philosoph Henri Lefebvre (1901–1991) betonte, nicht allein für die Gestaltung des Raums zuständig.[12] Denn der soziale Raum ist ein soziales Produkt. Das bedeutet, dass wir alle an der Produktion, Wahrnehmung, Interpretation und Imagination des gesellschaftlichen Raums teilnehmen. Wir – die Menschen, die in der Stadt leben – können und müssen die Räume der Stadt als Energiereserven betrachten und diese Energien zur Verwirklichung unserer sozialen Ziele verwenden.

Baukultur ist ein Begriff der reduzierten Hoffnungen in einer Zeit, in der der Staat kaum mehr als Bauherr in Erscheinung tritt. Dass es in der Schweizer Baukultur durchaus erfolgreiche, empfehlenswerte und exportfähige Modelle gibt – von der Ausbildung von Architekturschaffenden und anderen Baufachleuten bis hin zum Wettbewerbswesen –, steht ausser Frage. Dass junge Architekten oft kurz nach ihrem Studienabschluss zu Aufträgen kommen und dass ihre Bauten besucht und diskutiert werden, sind Gradmesser für eine Baukultur, die in direktem Zusammenhang mit dem gebauten städtischen Raum steht.

Nur wenn die Baukultur tatsächlich dem Gebauten zugute kommt und sich nicht in einem Diskurs über Vernetzung und Sensibilisierung erschöpft, bekommt der schillernde Begriff einen echten Sinn – anstatt als blosser Platzhalter zu dienen, bis neue Wünsche und Hoffnungen formuliert werden können.


Anmerkungen:
[01] Joan Ockman mit Edward Eigen (Hrsg.), Architecture Culture 1943–1968. A Documentary Anthology. New York 1993.
[02] www.stadtzuerich.ch/hbd/de/index/archaeologie_denkmalpflege_u_baugeschichte/publikationen/baukultur.html
[03] Adolf Loos, «Ornament und Verbrechen», in ders., Trotzdem 1900–1930. Innsbruck 1931, Nachdruck Wien 1982, S. 78–88.
[04] Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour, Learning from Las Vegas: The Forgotten Symbolism of Architectural Form. Revised ed.: Cambridge, Mass. 1977.
[05] Die Baukultur. Nachrichtendienst für zeitgemässes Bauen. Heidelberg 1930–1931.
[06] Paul Schultze-Naumburg, «Vorwort», in: Kulturarbeiten Band I: Hausbau. Einführende Gedanken zu den Kulturarbeiten. 4. Aufl. München 1912, o.?S.
[07] Andreas Mauz und Ulrich Weber, Verwunschene Orte. Raumfiktionen zwischen Paradies und Hölle. Göttingen, Zürich 2014.
[08] Jane Jacobs, The Death and Life of Great American Cities. New York 1961.
[09] Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt am Main 1965.
[10] http://schoenstebauten.heimatschutz.ch/de/seldwyla
[11] Hugo Loetscher, «Mit Gottfried Keller im ungemütlichen Seldwyla», in ders., Lesen statt klettern: Aufsätze zur literarischen Schweiz, Zürich 2003, S. 113–136.
[12] Henri Lefebvre, The Production of Space. Übers. Donald Nicholson-Smith. Malden, Mass.; Oxford 1991.

TEC21, Fr., 2015.09.04



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TEC21 2015|36 Versuche über die Baukultur

14. Dezember 2014Ákos Moravánszky
TEC21

Wie Steine im Fluss der Zeit

Wer das Wort Denkmal hört, sieht meist erst einmal eine Reiterstatue vor dem inneren Auge. Tatsächlich gibt es aber ganz unterschiedliche Denkmäler und Mahnmale – auch heute noch. Was sind ihre Aufgaben, und sind sie überhaupt noch zeitgemäss?

Wer das Wort Denkmal hört, sieht meist erst einmal eine Reiterstatue vor dem inneren Auge. Tatsächlich gibt es aber ganz unterschiedliche Denkmäler und Mahnmale – auch heute noch. Was sind ihre Aufgaben, und sind sie überhaupt noch zeitgemäss?

Mahnmale und Denkmäler gehören zur selben Familie der Monumente; die zwei Begriffe werden oft als Synonyme verwendet, obwohl nicht jedes Denkmal ein Mahnmal ist. Wir bezeichnen auch Bauten der Vergangenheit als Denkmäler, die ursprünglich nicht mit der Absicht der Erinnerung entstanden sind. Das Wort Monument hat seinen Ursprung im lateinischen Verb monere: Es bedeutet mahnen, erinnern und hat mit der schieren ­Grösse, wie wir sie mit Monumentalität assoziieren, zunächst nichts zu tun.

Die wohl scharfsinnigste Analyse der verschiedenen Denkmalkategorien stammt von Alois Riegl (1858–1905). In seiner Studie «Der moderne Denkmalkultus» (1903) unterschied der Wiener Kunsthistoriker zwischen «gewollten Denkmalen», also solchen, die in erinnernder Absicht aufgestellt wurden (den Mahnmalen), und den «historischen Denkmalen», die für einen anderen Zweck errichtet worden sind und erst mit der Zeit einen kommemorativen Wert erlangten – wie z. B. berühmte Bauten oder Kunstwerke.[1] In dieser Studie beschrieb Riegl ein hierarchisches System von verschiedenen Denkmalwerten, die er in zwei grosse, zueinander in dialektischem Verhältnis stehenden Gruppen einordnete. Die Erinnerungswerte schlagen eine Brücke zur Vergangenheit, während die Gegenwartswerte im Heute wurzeln. Ein altes Bauernhaus wird z. B. vor ­allem wegen seines Erinnerungswerts als historisches Dokument geschützt. Wir schätzen allerdings nicht weniger die unmittelbare, unreflektierte, sinnliche Wirkung eines neuen Mahnmals wie die von Peter Zumthors Hexenmonument im norwegischen Vardø (vgl. «Eiskalte Linie und Feuerpunkt», S. 21).

Riegl ging aber noch weiter und definierte verschiedene, einander oft gegenseitig ausschliessende Kategorien innerhalb dieser Gruppen. Die Kategorie der Erinnerungswerte besteht aus dem Alterswert ­(ver­bunden mit der Wertschätzung der direkt wahrnehmbaren Zeichen der Zeit), dem historischen Wert (das Denkmal als Dokument der Geschichte) und dem gewollten Erinnerungswert, verbunden mit seiner ­kommemorativen Funktion. Im Fall der Mahnmale in Vardø und Glarus ist dies die Erinnerung an die Hexenprozesse im 17. und im 18. Jahrhundert. Das National September 11 Memorial in New York will an die Opfer der Anschläge von 9/11 erinnern (vgl. «Sichtbarer Verlust», S. 28).

Gefühl als Schlüssel zur Vergangenheit

Dauerhaftigkeit ist dabei wohl die wichtigste Eigenschaft des Mahnmals als «gewolltes Denkmal». Im Unterschied zum Alterswert ist der Zweck des Mahnmals, «einen Moment gewissermassen niemals zur Vergangenheit werden zu lassen, im Bewusstsein der Nachlebenden stets gegenwärtig und lebendig zu erhalten».[2] Die materielle oder kulturelle Dauerhaftigkeit des gewollten Denkmals verlangt ständige Pflege, um der Nach­welt unversehrt weitergegeben werden zu können.

Riegl diagnostizierte allerdings ein neues, seiner Auffassung nach «modernes» Interesse an Stimmung, die er mit den Spuren der Zeit am Denkmal verbindet und die gegen die Forderung nach Dauerhaftigkeit wirkt. Die Massen können «niemals mit Verstandesargumenten, sondern nur mit dem Appell an das Gefühl und dessen Bedürfnisse überzeugt und gewonnen werden», schrieb er.[3] Das Gefühl war für ihn nichts Primitives, er verstand es als starkes, identitätsstiftendes Element der Kultur.

Das Ziel der modernen Kunst sei, Stimmung zu erwecken, was sich etwa im Kult des Natur-Erhabenen zeige, so in der seit Albrecht von Haller praktizierten Verklärung der Alpen. Man kann ähnlich vom Erhabenen des Denkmals sprechen: Es geht nicht um Harmonie, die man mit dem Klassisch-Schönen assoziiert, sondern um das Vergängliche (und deshalb Naturnahe), Fragmentierte und Ruinenhafte.[4] Die andachtsvolle Stimmung, die Riegl dem alternden Denkmal zuschreibt, ist eine Art Reli­gionsersatz: «Dem Walten der Natur, auch nach seiner zerstörenden und auflösenden Seite, die als unablässige Erneuerung des Lebens aufgefasst wird, erscheint das gleiche Recht eingeräumt wie dem schaffenden Walten des Menschen.»[5] Es ist kein Zufall, dass Riegls Text als Beitrag zur Ende des 19. Jahrhunderts heftig geführten Debatte über die Restaurierung oder Konservierung der Ruine des Heidelberger Schlosses geschrieben wurde.[6]

Seltsam unsichtbar

Im Gegensatz zum Interesse für das historische Denkmal als Objekt eines modernen Kults der Stimmung steht das Desinteresse am gewollten Denkmal, am Mahnmal als politischem Monument. Robert Musil (1880–1942) behauptet in seinem kurzen Essay «Denkmale», das Auffallendste an Monumenten sei, dass man sie nicht bemerke: «Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler. Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, ja geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig sind sie durch irgend etwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert, und diese rinnt Wassertropfen-auf-Ölbezug-artig an ihnen ab, ohne auch nur einen Augenblick stehenzubleiben.»[7]

Musil hatte das Denkmal seiner Zeit vor Augen, das symbolhaft und emotional wirken wollte. Die ­gros­sen Helden auf ihren Sockeln sollen in der Stadt als Zeichen der kollektiven Erinnerung wirken, aber gerade das Pathos der Inszenierung erschien schon damals hohl. «Da man ihnen im Leben nicht mehr schaden kann, stürzt man sie, gleichsam mit einem Gedenkstein um den Hals, ins Meer des Vergessens», schrieb er.[8]

Während also Riegl dem historischen Denkmal, das die Spuren der Zeit trägt und sich im Zustand der Auflösung befindet, aufgrund der Befindlichkeit und des Einfühlungsvermögens des Publikums eine besondere Aktualität zuschreibt, spricht Musil dem gewollten Denkmal jegliche Relevanz ab. Das Mahnmal könne in der modernen Stadt des Flaneurs und der Zerstreuung seine «mahnende», erinnernde Funktion nicht mehr erfüllen.

Trotzdem: Mahnmale brauchen Aufmerksamkeit, auch weil sie zentrale Stellen im städtischen Raum besetzen, die dann für andere Funktionen nicht zur Verfügung stehen. Die Monumentalität des Mahnmals hat mit dieser Position zu tun, mit der Fähigkeit, seine Umgebung zu strukturieren. Die Rhythmen des Alltags und die Vergangenheit werden durch das Denkmal miteinander verflochten. Zeit wird durch Bewegung oder Wechsel im Verhältnis zu einem Fixpunkt wahrgenommen. Mahnmale werden oft als solche Fixpunkte verstanden, auch wegen ihrer Dauerhaftigkeit und Materialität – wie Steine im Flussbett, die die Strömung des Wassers sichtbar machen.

Mobile Monumente

Es gibt allerdings Mahnmale, deren Verbindung zur Macht so absolut ist, dass sie den Alltag ganz ausschliessen. Andere wiederum – wie der Petersplatz in Rom oder die Mall in Washington – dienen nicht nur den offiziellen Ritualen der kollektiven Erinnerung wie Kranzniederlegungen, sondern bieten dem Theater des Alltags eine Bühne. Dort können sich Touristen, Liebespaare und Spaziergänger in einer ganz beson­deren Weise von der monumentalen Umgebung inszeniert fühlen. Die Millionen von Selfies, die vor den Denkmälern in Venedig gemacht werden, zeugen vor der immer noch existierenden Anziehungskraft der Monumente, als Möglichkeit, historische Zeit und Eigenzeit
zu verbinden.

Die von Musil beschriebene gesellschaftliche Unsichtbarkeit des stereotypischen Standbilds des 19. Jahrhunderts, aber auch des nicht figuralen modernen Denkmals führte zur Suche nach Gegenstrategien. Eine solche Strategie war die im Sommer 1999 in Zürich ­inszenierte Aktion «Transit 1999». Die Standbilder von Escher, Zwingli, Pestalozzi und Waldmann wurden von ihren Sockeln gehoben und ins Industriequartier verschoben. Die zum Teil heftigen öffentlichen Re­aktionen, die sich in Leserbriefen an die Tagespresse äus­serten, lieferten den Beweis dafür, dass Denkmäler doch ­wieder sichtbar gemacht werden können – auch wenn der Preis dafür paradoxerweise ihr temporäres Verschwinden ist.[9]

Besonders deutlich wurde dies nach der politischen Wende in Osteuropa. Während der öffentlichen Debatten um 1990 sind in Budapest die Monumente als Objekte spontaner oder inszenierter Aktionen der Zerstörung, Verschiebung oder kritischer Neuinszenierung wieder sichtbar geworden. In dem Augenblick, als den Bewohnern der Stadt bewusst wurde, dass sie die Geschichte aktiv gestalten, waren die Monumente plötzlich wieder da.[10]

Der postmoderne Denkmalkult

Die gefühlvolle Vereinigung der Massen mit dem ­Alterswert, dem, was Riegl als «Denkmalkultus» be­zeichnete, hat nicht stattgefunden. Das historische Denkmal bleibt im Gegensatz zu Riegls Vermutung vor allem jenen zugänglich, die etwas über die Vergangenheit in Erfahrung bringen wollen. Es sind heute die Mahn­male, die «gewollten» Denkmäler, die nicht mit «Verstandesargumenten», sondern mit atmosphärischen Wirkungen operieren.

Riegls Feststellung über die Stimmung als Inhalt des modernen Denkmals scheint bis heute ihre Gültigkeit zu behalten. Allerdings sucht die Öffent­lichkeit diese Stimmung nicht im zum Gefühl der ­Vergänglichkeit gebundenen Alterswert, sondern im Gegenwartswert des neuen Kunstwerks. Diese Wende hat womöglich mit der inzwischen vollzogenen Pri­vatisierung der Erinnerung zu tun. Wir haben heute zahlreiche neue technische Möglichkeiten, um unser Verhältnis zur Zeit und zur Vergangenheit zu artikulieren – denken wir nur an die Millionen von Fotos und Videos, die jeden Tag gefertigt und zum Teil im Internet «veröffentlicht» werden. Das Problem ist heute nicht die Speicherung unserer Vergangenheit, sondern vielmehr die Schwierigkeit, unsere digitalen Spuren zu löschen.

Die Gesellschaft braucht das Mahnmal nicht mehr als Erinnerungsspeicher; die Rolle des Standortmarketings, das nach einprägsamen «Landmarks» sucht, ist viel grösser – wie auch (teilweise) im Fall der in diesem Heft vorgestellten Monumente. Die als Mahnmale errichteten und als Gesamtkunstwerke konzipierten Bauten ziehen zwar viele Besucher an. Wie die aura­tischen, immersiven Mahnmale zeigen, suchen diese aber nicht die kollektive Erinnerung, sondern das Atmosphärische als Gegenwartswert.


Anmerkungen:
[01] Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus: Sein Wesen und seine Entstehung. Wien und Leipzig 1903, neu abgedruckt in: ders., Gesammelte Aufsätze. Augsburg, Wien 1929, S. 144–193
[02] Ebd., S. 172
[03] Riegl 1929 (wie Anm. 1), S. 165
[04] Vgl. Alois Riegl, «Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst» (1899), in Riegl 1929 (Anm. 1), S. 28–39
[05] Riegl, op. cit. (Anm. 1), S. 162
[06] Die Diskussion über die Aufgaben der Denkmal­pflege – Wiederherstellung oder Erhaltung – im Fall der Schlossruine ging als «Heidelberger Schlossstreit» in die Geschichte ein.
[07] Musil, Denkmale, in ders., Nachlass zu Lebzeiten.Reinbek bei Hamburg 1962, S. 61f.
[08] Ebd., S. 63
[09] Vgl. auch: Jan Morgenthaler, Eva Schumacher (Hrsg.), Ein flüchtiger Sommer in Zürich. Transit 1999. Zürich 1999
[10] Ákos Moravánszky, «The Visibility of Monuments», in: Harvard Design Review 13, 2001, S. 44–51

TEC21, So., 2014.12.14



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27. Mai 2011Ákos Moravánszky
TEC21

Zeichen und Atmosphären

Bedarf Architektur der interpretatorischen Deutung, oder soll sie rein intuitiv erfasst werden? Die zitierfreudige Postmoderne von Michael Graves oder Charles Moore bewirkte mit der Zeit Überdruss und wurde abgelöst vom Streben nach einer «atmosphärischen Architektur», die unmittelbar sinnlich erlebbar sein sollte. Diese wiederum lief Gefahr, in Kunstschamanentum zu kippen. Der Autor des folgenden Essays plädiert für eine Versöhnung zwischen semiotischer Deutung der Zeichen und synästhetischer Wahrnehmung der Atmosphären.

Bedarf Architektur der interpretatorischen Deutung, oder soll sie rein intuitiv erfasst werden? Die zitierfreudige Postmoderne von Michael Graves oder Charles Moore bewirkte mit der Zeit Überdruss und wurde abgelöst vom Streben nach einer «atmosphärischen Architektur», die unmittelbar sinnlich erlebbar sein sollte. Diese wiederum lief Gefahr, in Kunstschamanentum zu kippen. Der Autor des folgenden Essays plädiert für eine Versöhnung zwischen semiotischer Deutung der Zeichen und synästhetischer Wahrnehmung der Atmosphären.

Es ist der erste Augenblick der Betrachtung, der die ganze Bedeutung eines Werkes offenbart, und nicht, was darauf folgt, wenn man auf das Werk mit einem leeren Blick zurückschaut. Der amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg vertrat jedenfalls diese Meinung: Die Essenz des Ganzen wird im ersten Moment der Begegnung sofort erfasst, die weitere Analyse bringt keine wesentlichen Erkenntnisse mehr, die ersten Eindrücke werden nur durch eine Sequenz von weiteren Betrachtungen ergänzt. Der glückliche Augenblick bleibt bis heute eine Art Utopie des unmittelbaren Sehens von Angesicht zu Angesicht, die leibliche Wahrnehmung des Raums «an sich», mit allen Sinnen, unverstellt durch Reflexion, Ideologien oder Bilder anderer uns bekannter Räume aus der Geschichte oder privater Erinnerung.

«Jenseits der Zeichen» war der Zwischentitel des ersten Kapitels, «Eine Anschauung der Dinge», in der 1998 erstmals publizierten Textsammlung «Architektur Denken» von Peter Zumthor; der Text war ursprünglich Teil eines im November 1988 in Santa Monica gehaltenen Vortrags. Mit dem gleichen Titel hat Bruno Reichlin 2001 einen Aufsatz im Themenheft «Differenz und Identität» der Zeitschrift «Der Architekt» veröffentlicht. Er berichtet in diesem Essay von dem «wachsenden Widerwillen» der jüngeren Architektengeneration «gegenüber jeglichem theoretischen Konstrukt, jeder Schlussfolgerung oder Erklärung, die sowohl die schöpferische Sinngebung in der Projektierungsphase als auch die kritische Rezeption des Werkes in einem rationalen Diskurs zu erfassen versucht…».[1]

Maschinerie der Interpretation

Worauf Rechlin hier anspielt, ist die semiotische Analyse, die in den 1970er- und 1980er-Jahren auch in der Schweizer Architektur einflussreich wurde. Semiotik war geeignet, die sprachlichen Defizite der Moderne zu kritisieren: ihre Unfähigkeit, eine Bedeutung zu kommunizieren, welche die Stadtbewohner entschlüsseln und verstehen können. Zeichen lesen – literarische Texte, Werbung, Körpersprache, medizinische Symptome und nicht zuletzt Architektur, das war das Gebiet der Semiotik. Sie hat sich in kurzer Zeit zu einer Wissenschaft zur Deutung der verschiedensten Phänomene von der Alltagskultur bis zum Städtebau entwickelt. Egal, ob eine Säule, ein Portal, ein Wohnhaus oder ein Stadtbezirk, die Semiotik hat eine Methodologie und eine Begrifflichkeit entwickelt, die ihre Grundlagen in Ferdinand de Saussures «Cours de linguistique général» (1906–11) fand. In den 1990er-Jahren wirkte diese Lehre bereits wie eine gut geölte Maschinerie, die fähig ist, die verschiedensten Werke interpretativ zu bearbeiten, ohne ihre Qualitäten beurteilen zu können. Besonders die zitierfreudige Postmoderne von Michael Graves oder Charles Moore hat gezeigt, dass die Anwendung literarischer Kriterien auf die Architektur, wie Charles Jencks es vorexerzierte, zu keinen zufriedenstellenden Resultaten führt. Das spätere Werk von Aldo Rossi, wie das Bonnefantenmuseum in Maastricht (1990) oder der Technologiepark Fondo Toce (1993), vermochte nicht einmal seine früheren Anhänger zu überzeugen.

Kunst Schamanentum und der warme Bauch der Architektur

Bruno Reichlin wollte der mit der Semiotik unzufriedenen jüngeren Generation ihre Stimme geben, kontrastierte im zitierten Aufsatz die Rationalität der Methode mit der ihnen gesuchten«Wärme». Er stellte die Gründe für deren Unzufriedenheit mit viel Empathie dar, wollte andererseits seine Kritik nicht unterdrücken. Vor allem nicht, wenn er hinter den markigen Worten von einer neuen Ästhetik der Unmittelbarkeit und Präsenz einen alten Antiintellektualismus und Kunstschamanentum vermutete. Er bemerkte in seinem Aufsatz, dass die alten Spekulationen über Synästhesie, welche subjektivistischen Ansätzen in der Ästhetik den Weg ebnen sollen, einen durchaus ideologischen Charakter haben.

Ein modellhaftes Beispiel der «atmosphärischen Architektur» war der Schweizer Pavillon für die Weltausstellung Expo 2000 in Hannover von Peter Zumthor. Das Aufeinanderprojizieren der Sinneseindrücke im Zumthors Ausstellungspavillon «Klangkörper Schweiz», der Holzgeruch, Tast- und Geschmackerlebnisse vermittelte,[2] schuf eine Atmosphäre, die Teilnahme versprach. Durch Hören der Free-Alpen-Jazzklänge von Hans Koch, durch Riechen, Schmecken der Bündner Gerstensuppe und Tasten der rohen Holzflächen sollte man von einer deutlichen Präsenz ergriffen werden. Ein Bewusstseinszustand wurde hervorgerufen, der sich vom Objekt nicht distanzierte, sondern unreflektiert und ganz körperlich blieb. Das ist es wohl, was Reichlin als die Vereinigung mit dem«warmen Bauch der Architektur» bezeichnete und was jenem Phänomen entspricht, das der Philosoph Gernot Böhme als Atmosphäre beschrieb. Böhme wollte damit etwas zur Sprache bringen, was weder als rein subjektiv noch als rein objektiv ausgewiesen werden kann. Atmosphären werden erspürt, gefühlt und sind doch als das, was uns umgibt, was uns von aussen an- und berührt, überaus real. Böhme spricht deshalb auch von «quasi-objektiven Gefühlen». In seinem Text «Über Synästhesien » definierte Böhme Atmosphäre als den «primären und in gewisser Weise grundlegenden Gegenstand der Wahrnehmung», das Ganze,«in das alles Einzelne, das man dann je nach Aufmerksamkeit und Analyse daraus hervorheben kann, eingebettet ist». Er verband Atmosphären mit der«Ekstase der Dinge»: Ein Ding, wie etwa ein blauer Krug, zeigt seine Präsenz, indem es «aus sich heraustritt».[3] Er gab einige Beispiele: «Man kommt aus belebter Strasse und betritt einen Kirchenraum. Oder man betritt eine noch unbekannte Wohnung. Oder man hält zur Rast bei einer Autofahrt an, geht ein paar Schritte, und plötzlich öffnet sich der Blick auf das Meer. In solchen anfänglichen Situationen wird deutlich, dass, was zuerst […] wahrgenommen wird, in gewisser Weise der Raum selbst ist. Dabei ist aber mit Raum nicht etwa im kantischen Sinne die reine Anschauung des Ausser- und Nebeneinanders gemeint, sondern die affektiv getönte Enge oder Weite, in die man hineintritt, das Fluidum, das einem entgegenschlägt. Wir nennen es in Anlehnung an die Terminologie von Hermann Schmitz die Atmosphäre. […] Man wird Dinge erkennen, man wird Farben benennen, Gerüche identifizieren. Wichtig ist, dass dann jedes einzelne […] von der Atmosphäre getönt ist. Die Möbel drängen sich in kleinbürgerlicher Enge, das Blau des Himmels scheint zu fliehen, die leeren Bänke der Kirche laden zur Andacht ein. So jedenfalls erfährt es der Wahrnehmende. Der ästhetische Arbeiter weiss es auch anders. Er weiss nämlich, wie er durch Raumgestaltung, durch Farben, durch Requisiten Atmosphären erzeugen kann.»[4] In Böhmes Argumentation werden durch die Ästhetik der Atmosphären sowohl Subjekt/Objekt- als auch Hochkultur/Trivialkultur-Divisionen überwunden. Künstler, Designer, Schaufensterdekorateure und ihre Zimmer dekorierende Teenager sind gleichsam «ästhetische Arbeiter»[5]. Das Problem ist, dass er in seinen Schriften historisch und kulturell unspezifische Situationen verwendet: «Man betritt eine Wohnung, und es schlägt einem eine kleinbürgerliche Atmosphäre entgegen. Man betritt eine Kirche, und man fühlt sich von einer heiligen Dämmerung umfangen. Man erblickt das Meer und ist wie fortgerissen in die Ferne. Erst auf diesem Hintergrund bzw. in dieser Atmosphäre wird man dann Einzelheiten unterscheiden. »6 Er bemerkt zwar die «ästhetische Haltung» des erfahrenden Subjekts, diese Haltung wird jedoch in seiner Analyse nicht weiter untersucht, nicht einmal wirklich berücksichtigt. Es wird angenommen, es gäbe eine affektive Einstimmung auf ein atmosphärisches Ding, bar jeder kulturellen Prägung – als wären Atmosphären für jeden in gleicher Weise erfahrbar.

Vom ersten Augenblick zum Blick zurück

Es ist aber offensichtlich, dass der Unterschied zwischen der von Böhme so bezeichneten «kleinbürgerlichen Atmosphäre» und dem «gestimmten Raum» des Schweizer Pavillons oder eines Wohnhauses eben nicht als Beweis dienen kann, dass diese Architekturen bar jeglicher kulturell vermittelten Bedeutung wirken. Eine genaue Analyse der Umstände, wie etwas«atmosphärisch» wahrgenommen wird, ist notwendig. Wir könnten ja im Prinzip auch Werke, die eine semantische Strategie verfolgen, «atmosphärisch» erleben, die Zeichen haben ja auch ihre Materialität. Welche Art von Wissen muss der Besucher mitbringen, um in der Atmosphäre des Pavillons die Schweiz zu erkennen? Die Kommentare der Besucher, ihre Versuche, das Gebäude als Ausdruck einer «Schweizer Identität» zu verstehen, haben gezeigt, dass Semiotik die Intentionen der Besucher beeinflusst, wie sie solche atmosphärische, immersive Umgebungen «lesen» wollen.

Solche Überlegungen legen es nahe, die synästhetische Wahrnehmung der Atmosphären und die semiotische Deutung der Zeichen nicht als zwei sich widersprechende, diametral entgegengesetzte Vorschläge zu betrachten. Semiotik in der Architektur muss sich nicht nach dem Modell der Sprache orientieren, sondern die Frage der Wahrnehmnung der Umwelt allgemeiner fassen, etwa so, wie Jacob von Uexküll die Lebenswelten der Tiere, ihre Merk- und Wirkräume untersuchte. Andererseits darf die ästhetische Theorie der Atmosphären nicht bei Greenbergs «erstem Augenblick» bleiben, sondern muss den weiteren Prozess der Reflexion untersuchen, der kulturell vermittelt und nicht «jenseits der Zeichen» stattfindet.


Anmerkungen:
[01] Bruno Reichlin: «Jenseits der Zeichen», in: Der Architekt. März 2001, S. 62
[02] Roderick Hönig (Hg.): Klangkörperbuch. Lexikon zum Pavillon der Schweizerischen Eidgenossenschaft an der Expo 2000 in Hannover. Birkhäuser, Basel 2000, S. 45
[03] Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, S. 32f.
[04] Böhme, «Über Synästhesien», in: Daidalos 41. 1991, S. 26–36, hier S. 35
[05] Böhme, Atmosphäre (wie Anm. 3), 21f.
[06] Böhme, «Über Synästhesien» (wie Anm. 4), Abb. 11

TEC21, Fr., 2011.05.27



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TEC21 2011|22 Zeichen und Wunder

15. Oktober 2010Ákos Moravánszky
TEC21

Meteorologische Architektur

Unter dem Eindruck der Klimaerwärmung schaffen Architekten künstliche Natur-Inszenierungen. Sie signalisieren eine Abkehr vom Erschaffen von Bildern und Erfüllen von Funktionen und plädieren stattdessen für das Bauen von meteorologischen Atmosphären. Umwelt wird nicht mehr nur als betrachtet, sondern auch als eingeatmet gedacht. Das visuell Wahrnehmbare wird unterlaufen vom Fühlen unsichtbarer Ingredienzien.

Unter dem Eindruck der Klimaerwärmung schaffen Architekten künstliche Natur-Inszenierungen. Sie signalisieren eine Abkehr vom Erschaffen von Bildern und Erfüllen von Funktionen und plädieren stattdessen für das Bauen von meteorologischen Atmosphären. Umwelt wird nicht mehr nur als betrachtet, sondern auch als eingeatmet gedacht. Das visuell Wahrnehmbare wird unterlaufen vom Fühlen unsichtbarer Ingredienzien.

Der Publikumserfolg von immersiven künstlichen Umwelten – wie Peter Zumthors Thermenbad in Vals, Diller Scofidios blur building (bekannt als «die Wolke») an der Expo.02 in Yverdon-les-Bains, Olafur Eliassons Weather Project in der Londoner Tate Modern (2003) oder Philippe Rahms Beitrag Digestible Gulf Stream zur Architekturbiennale in Venedig (2008) – zeigt die wachsende Empfindlichkeit für künstliche Natur-Inszenierungen, für Atmosphären als Ergebnis von diffusen, den Körper umgebenden Arrangements.

In der psychologischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff Einfühlung die Projektion der Gefühle des betrachtenden Subjektes ins Kunstwerk, eine Art Beseelung der Objekte der Wirklichkeit, Sympathie zwischen Betrachter und Kunstobjekt. Wir können jenen kollektiven Projektionsakt, mit dem die Gesellschaft auf Artefakte wie die genannten atmosphärischen Räume reagiert, als soziale Einfühlung bezeichen. Diese soziale Einfühlung hat ihre Wurzel in der politischen und kulturellen Sphäre der Zeit: Ein Grund für die Popularität der Atmosphären liegt bestimmt im Suchtpotenzial, das immer perfektere 3-D-Projektionen und virtuelle Räume freisetzen.

Blasen, Globen, Schäume

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk vermutet allerdings einen tieferen Zusammenhang zwischen dem neuen Bewusstsein für die Atmosphäre und der Kondition des «In-der- Welt-Seins» im technischen Zeitalter.[1] Die Philosophen, behauptet Sloterdijk, waren bisher mit Objekten und Subjekten beschäftigt und haben kaum bemerkt, dass wir uns im Inneren von atmosphärischen Blasen, Globen und Schäumen befinden. Erst seit der ökologischen und Bankenkrise ist uns diese Kondition bewusst geworden: Wir sind Teilnehmer in einem kollektiven Experiment von globalen Dimensionen, dessen Ursachen, Zusammenhänge und die vorgeschlagenen Lösungsansätze uns nicht klar sind. In der Architekturgeschichte erscheinen Visionen von atmosphärisch-meteorologischen «Blasen» als Antworten auf Situation, die als bedrohlich wahrgenommen werden; so etwa Richard Buckminster Fullers Vorschlag für eine gigantische Kuppel über Manhattan (um 1960), gedacht als Schutz gegen radioaktive Bestrahlung im Falle eines Atomkrieges (Abb. 2).

Die Verbindung der Ästhetik der Atmosphären mit einem neuen Umweltbewusstsein – wo Umwelt nicht nur als betrachtet, sondern auch als eingeatmet gedacht ist – erscheint so einleuchtend, dass wir uns kaum Gedanken über ihre Anfänge machen. Indem vor allem die sinnliche Erfahrung der Atmosphären hervorgehoben wird, erscheinen diese als eine Alternative zum Verständnis der Architektur als Sprache, was noch ein allgemein akzeptierter Grundsatz in den Architekturdiskussionen der sogenannten Postmoderne war.

Meteorologische Aspekte als neue Paradigmen der Architektur

In Statements von jungen Architekturschaffenden finden wir heute denn auch radikalere Forderungen nach einer nicht semantisch aufgeladenen Architektur. Philippe Rahm stellt in seinem Manifest «Meteorological Architecture» fest: «The tools of architecture must become invisible and light, producing places like free, open landscapes, a new geography, different kinds of meteorology; renewing the idea of form and use between sensation and phenomenon, between the neurological and the meteorological, between the physiological and the atmospheric. These become spaces with no meaning, no narrative; interpretable spaces in which margins disappear, structures dissolve, and limits vanish. It is no longer a case of building images and functions, but of opening climates and interpretations; working on space, on the air and its movements, on the phenomena of conduction, perspiration, convection as transitory, and fluctuating meteorological conditions that become the new paradigms of contemporary architecture.»[2]

Philippe Rahm provoziert, indem er Architektur zur Meteorologie erklärt. Er will, dass wir die Defizite unserer obsessiven Suche nach Bedeutung zeigen, wenn diese Suche nur in der Sphäre des visuell Wahrnehmbaren geführt wird. Zugleich macht er auf Manipulierbarkeit des Körpers und der Wahrnehmung durch unsichtbare Ingredienzien (Temperatur, chemische Substanzen, Hormone) aufmerksam.

Zwischen Hedonismus und Asepsis

Viele Philosophen der Aufklärung haben versucht, moralische Qualitäten des Menschen durch die Einflüsse des lokalen Klimas zu erklären. Das tropische Klima, zentral für Rahms Projekte, bedeutete damals nicht nur paradiesische Fruchtbarkeit, sondern war als Ursache eines dekadenten Hedonismus gesehen. Rahm verwendet die laboratoriumartige Atmosphäre seiner künstlichen Tropen als das Technologisch-Erhabene, als eine zweite Natur. Seine Werke legen es nahe, dass er diese Tropen als Räume konstruiert, wo die Grenzen des hedonistischen Einsatzes von Atmosphären erkenntlich werden, wo die künstliche bläuliche Dämmerung gleichzeitig Erinnerungen an den künstlichen Sonnenschein eines Solariums und die fluoreszente Beleuchtung eines Autopsiesaals hervorruft, wie in der ersten Szene von Matteo Garrones Film «Gomorrha».

Atmosphäre und Klima sind primär naturbezogene Kategorien, tragen jedoch andere, soziale und kulturelle Bedeutungen. Deshalb scheint die Ästhetik der Atmosphären dazu geeignet zu sein, den Boden für einen verantwortungsvolleren Einsatz von Ressourcen vorzubereiten. Dies ist keinesfalls mit der Inszenierung eines angenehmen Wellness-Ambiente gleichzusetzen, sondern verlangt nach einem Verständnis der Atmosphären als eine Kondition der Unvorhersagbarkeit und des Experimentierens, als Aufforderung, mit den Konditionen unseres Lebens zu experimentieren, anstatt alles von den Architekten und Ingenieuren zu erwarten, ohne etwas an unserer Lebensweise zu ändern. Die diffuse Leere («blur») im Kern dieser Werke sollte die Gesellschaft auffordern, den modernen ökonomischen Steigerungsimperativ durch neue Modelle zu ersetzen und nicht auf rein technische Lösungen zu warten, die uns immer dickere Dämmschichten, effizientere Motoren und nebenbei kunstvolle atmosphärische Inszenierungen schenkt.

[ Prof. Dr. Ákos Moravánszky, Titularprofessor für Architekturtheorie an der ETHZ ]

TEC21, Fr., 2010.10.15



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01. Oktober 1995Ákos Moravánszky
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Die Sprache der Fassaden

Das Problem des Ausdrucks in der Architektur der Donaumonarchie 1900-1914

Das Problem des Ausdrucks in der Architektur der Donaumonarchie 1900-1914

„Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“ Siegfried Kracauer1

Der Abbau des Semperianismus

Die Wiener Ringstraßenzone wurde als das monumentale Stadtdenkmal des Habsburgerreiches entworfen, Modell für ein urbanes Gesamtkunstwerk am Rande Europas. Der kaiserliche Befehl zum Schleifen der Stadtmauern war der Auftakt zu „Wiens erster Renaissance“, die laut Ferdinand Feldegg, des Redakteurs der Architekturzeitschrift „Der Architekt“ „einen wesentlich aristokratischen Zug hatte.“2 Feldegg betonte in seinem programmatischen Aufsatz zum ersten Jahrgang seiner Zeitschrift (1895), daß die „großen Bauindividuen“ der Ringstraßenzeit Produkte des Bedürfnisses nach Monumentalität waren. Nachdem jetzt die Monumentalwerke alle vollendet seien - schrieb er -, beginne eine neue Periode. Die zweite Wiener Renaissance werde jedoch „mit ihren vorwiegenden Nutzbauten einen demokratischen Zug aufweisen.“3

Die Erkennung der objektiven historischen Bedingtheit als Grundlage architektonischen Schaffens, zugleich jedoch ihre freie künstlerische Aneignung und Transzendierung ins Monumentale4 durch die Symbolik der Kunst war Gottfried Sempers zentraler Gedanke. Schönheit ist kein Zweck in sich, sondern eine Eigenschaft, die aus diesem intuitiv-schöpferischen Akt resultiert.5 Das „große Bauindividuum“ der Ringstraßenzeit war der Baukünstler, der den von Semper beschriebenen divinatorischen Akt vollbringt.

Als Feldeggs Aufsatz erschien, gab es bereits Zeichen für einen Paradigmenwechsel. Das Wiener Kaiserforum, die von Semper zwischen 1869 und 1876 geplante räumliche Apotheose der monumentalen Stadt blieb ein Fragment, wie um 1895 Sempers monumentale Theorie selbst ein aufgelassenes und nur zum Teil verstandenes Konstrukt war.6 Otto Wagner und die Architekten der Wiener Moderne waren bemüht, statt Sempers Metaphysik eine Alltagssprache der Architektur zu entwickeln. In der Philosophie, in der Literatur und Musik gab es parallele Bestrebungen. Intellektuelle hüteten sich überall, die Sprache überzubelasten, an die Grenze der Sprache anzurennen, wie es Wittgenstein formulierte. Josef Hoffmanns frühe Aufsätze und Skizzen „Architektonisches aus der österreichischen Riviera“ (1895) und „Architektonisches von der Insel Capri“ (1897), veröffentlicht in „Der Architekt“, haben zuerst die Aufmerksamkeit auf diese Vorbilder gelenkt, hoffend, daß sie „befruchtend und anregend“ wirken werden. Der maßgebende Raum der Architektur war nicht mehr durch historische Typologien, fixierte räumliche Achsen bestimmt, sondern durch die Zeitlichkeit der alltäglichen Benutzung. Die anonyme Architektur war laut Hoffmann „in ihrer ursprünglichen Natürlichkeit […] frei von übercivilisiertem Kunstverständnisse“, ihre Sprache fragmentiert, ihre Werte nur aus dem Kontext herauszulesen. Die wachsende Aufmerksamkeit für die Formen des einfachen Lebens als Grundlage einer neuen Ästhetik führte die Architektur der Donaumonarchie auf neue Gebiete.

Sprache und Verständigung

Bereits Janik und Toulmin haben die Probleme der Donaumonarchie als Sprachprobleme interpretiert. „Sprache“ bedeutet in ihrem Buch die abstrakte symbolische Struktur7 - ungeachtet der Anzahl der wirklichen Sprachen und Dialekte, die im Gebiet des Doppelstaates gebraucht wurden. Die üblichen Karten der Sprachgebiete der Donaumonarchie, die man in Geschichtsbüchern findet, entsprechen kaum der Wirklichkeit. Nicht nur in den Randgebieten oder in den Großstädten, sondern auch in vielen Kleinstädten und Dörfern lebte eine sprachlich gemischte Bevölkerung, wobei auch die einzelne Person oft mehrere Sprachen kannte und benutzte; Latein, Deutsch, Tschechisch, Ungarisch, Slowenisch, Jiddisch, um nur einige zu nennen. Die Sprachregionen könnten also bestenfalls nur mit einer Reihe von Karten dargestellt werden, die sich zum Teil überlappen. Alle diese Sprachen erfüllten spezifische Funktionen in dem multi-ethnischen Gewebe der Donaumonarchie.

Die Frage der Sprache wurde besonders wichtig, als im Laufe des 19. Jahrhunderts das lang überlebende feudale System langsam von einem neuen, kapitalistischen überlagert wurde. Im alten System sprach die herrschende Aristokratie die ruralen Sprachen der Bauern nicht. Im 19. Jahrhundert, als Nation im Sinne einer Sprach- und Kulturgemeinschaft verstanden wurde, hat man ein romantisch-idealisiertes Bauerntum als Hüter der Identität betrachtet.

Die Verbindung von Baukunst und Sprache hat eine lange Geschichte, mit Höhepunkten wie dem Konzept der „architecture parlante“ in der französischen Revolutionszeit. Architektur war für Semper ein System von Symbolen wie die Sprache, und keine darstellende Kunst:
„So wie die Sprachwurzeln ihre Geltung immer behaupten und bei allen späteren Umgestaltungen und Erweiterungen der Begriffe, die sich an sie knüpfen, der Grundform nach wieder hervortreten, wie es unmöglich ist, für einen neuen Begriff zugleich ein ganz neues Wort zu erfinden, ohne den ersten Zweck zu verfehlen, nämlich verstanden zu werden, eben so wenig darf man diese ältesten Typen und Wurzeln der Kunstsymbolik für andere verwerfen und unberücksichtigt lassen“.8

In seiner Studie „Wissenschaft, Industrie und Kunst“ schrieb Semper, daß selbst wenn die neuen technischen Erfindungen die alten Formen der Kunst zerstören würden, etwas Neues und Gutes entstehen kann, weil Kunst, als Sprache, soziale Verhältnisse nicht nur reflektiert, sondern ihre eigene Existenz hat.9 Hier wird Sprache als Monument verstanden, dessen aktuelle Erscheinung untrennbar von den Urformen ist, die sie in der kollektiven Erinnerung verankern.

Um die Jahrhundertwende war das Denken über Ausdruck in Sprache und Kunst von neuen Entwicklungen in der psychologischen Forschung beeinflußt. Sempers Interesse für die Symbolik des Ausdrucks wich der Aufmerksamkeit für die Freude am Ausdruck. Der „Trieb nach Ausdruck“ und die „zureichende Freude an Formen, welche der Befriedigung dieses Triebes dienen“ als Grundlagen der Kunst wurden in einem Aufsatz von Hans Schmidkunz diskutiert, den er 1904 in der Zeitschrift „Der Architekt“10 veröffentlichte:
„Vorangestellt haben wir den Trieb nach Ausdruck, das Streben nach einer Aussprache; damit ist vor allem jegliche Kunst abgelehnt, welche lediglich ein Interesse an dem äußeren Um und Auf des Schönen sein würde. Dasjenige, was die sogenannte Formalästhetik als das Wesen der Kunst bezeichnet: die wohlgefälligen Verhältnisse im Gegensatze zu rein inhaltlichen Wirkungen, ist in unserer Bestimmung durch den zweiten von jenen Faktoren anerkannt. Wir suchen dabei den sogenannten Expressionalismus [sic] und den sogenannten Formalismus in einer Weise zu vereinigen, die auf dem Nebeneinanderbestehen und Zusammenwirken der beiden hier zugrunde liegenden Triebe im Menschen beruht.“11

Schmidkunz kritisierte die Unterscheidung zwischen darstellenden und freibildenden Künsten, Malerei und Architektur: „ […] wenn ich […] meine Bilder von statischen Verhältnissen in architektonischen Leistungen ausspreche, so ist es schließlich im Wesen auch nichts anderes, als wenn ich einen Menschen oder ein anderes Objekt „abbilde“. Schmidkunz tadelte Semper, da in seiner Theorie das „spezifisch Artistische“ hinter dem „spezifisch Technischen“ zurücksteht, die „biologische Kraft“ der Freude an den Formen des Ausdrucks nicht erkennend.12 Seine Interpretation der Sprache beruht nicht auf dem Verhältnis von Bedeutung und symbolischer Form, sondern auf der psychologischen Wichtigkeit des gestenhaften Ausdrucks. Sprache wird nicht als Informationsträger verstanden, sie drückt Machtansprüche oder Widerstand bildhaft aus, zwingt den Sprecher in gewisse Sehweisen hinein.

Die architektonischen Sprachen, die zwischen 1900 und 1914 im Gebiet der Donaumonarchie verwendet wurden, können wie die gesprochenen Sprachen ihren Funktionen entsprechend kategorisiert werden. Trotz der Probleme einer klaren Abgrenzung der einzelnen Gruppen wird im folgenden versucht, die „Oberflächenäußerungen“ als Ausdruck gesellschaftlicher Funktionen zu lesen.

Sprachen der Kontinuität

In den Städten Mitteleuropas war Historismus die infrastrukturelle Sprache der Urbanisierung, eine Art „Amtssprache“, die Kommunikation ermöglichte und homogenisierend wirkte. Der Historismus war die Sprache der Kontinuität; Sempers zitierte Bemerkung hatte hier unbegrenzte Gültigkeit. Der homogenisierende Effekt des Historismus schloß eine Vielfalt von Ausdrucksmöglichkeiten nicht aus. Es sind grundsätzlich zwei architektonische Positionen in der Beziehung zur Vergangenheit zu unterscheiden. Die eine betrachtet die historischen Stile wie Gotik, Renaissance oder Barock als voneinander unabhängige Systeme mit ihren eigenen Stilgesetzen, denen der Architekt folgen muß; die andere mißt den Erfolg des künstlerischen Schaffens am Grad der schöpferischen Transformierung traditioneller Formen. Im ersten Fall waren bei der Stilwahl Faktoren wie die politischen Konnotationen der einzelnen Stile oder Assoziationen mit der Funktion die bestimmenden Faktoren. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurde die Normativität des homogenen Stils aufgegeben zugunsten einer freien, heterogenen Formensprache, die geeignet war, die individuelle Phantasie des Baukünstlers zu demonstrieren. Es war vor allem die Budapester Architektur um 1900, wo überraschende, malerische Wirkungen, die Betonung von Farben- und Oberflächenwerten, die Häufung von epischen Details aus allen historischen Perioden und geographischen Regionen beliebt waren.

Die zahlreichen Veröffentlichungen architektonischer „Träume“, „Phantasien“, „Skizzen“ in dieser Periode zeigt das große Interesse für die scheinbar flotte, unverbindliche Architekturzeichnung. Auch in Otto Wagners Ideal des Architekten als „Krone des modernen Menschen in seiner glücklichen Vereinigung von Idealismus und Realismus“13 spielte die „göttliche Flamme“ der Phantasie eine dominante Rolle - was auch seinen Architekturunterricht fördern sollte. Die Entwürfe der Studenten waren in der Zeitschrift „Der Architekt“ sowie in den Heften „Aus der Wagnerschule“ veröffentlicht. Ungarische Architekten wie Gyula Kosztolányi Kann haben historisierende Motive mit Elementen des „Nationalstils“ von Ödön Lechner gemischt.14 Die Architekturskizze wurde zum impressionistischen Medium architektonischer Stimmungen.

In der gebauten Architektur war es der Stil des Neobarocks, der am besten geeignet war, absolutistische Pathosformeln mit dem neuen, kommerziellen Geist der Städte zu vereinen. Das Wiener Architekturbüro Fellner und Helmer hat 48 Theaterbauten in vielen europäischen Städten in diesem Stil entworfen, gut funktionierende Grundrißtypen den lokalen Gegebenheiten anpassend - trotz Protest lokaler Architekturbüros, die darin den Ausdruck Wiener Dominanz sahen. Friedrich Ohmann war der virtuoseste Architekt, der die lokalen Varianten des Barocks in Prag und Wien „jugendstilisieren“ und für neue Aufgaben verwenden konnte, etwa als Palmenhaus der Wiener Burg oder als die architektonische Einfassung des Wienflußes im Wiener Stadtpark (mit Josef Hackhofer, 1903-06). Otto Wagners für den kaiserlichen Hof bestimmte Arbeiten (z.B. Hofpavillon in Wien-Hietzing, 1899) sind dieser Formensprache sehr verwandt, wo applizierte symbolische Elemente die Rolle des Semperschen „Festapparatus“ erfüllen. Die Fluidität der Grenze zwischen Neobarock und Jugendstil erlaubte, daß die Festdekoration der Masken, Kränze und Hermesstäbe die Rolle einer biomorphen Gestaltung übernimmt. Dieser imperiale Jugendstil war durch ornamentale Vorlagemappen wie „Das Detail in der modernen Architektur“ in ganz Mitteleuropa verbreitet.15 Architekten wie Aladár Kármán und Gyula Ullmann in Budapest, Jan Kotera in Prag, Josip Vancas in Sarajevo und Ljubljana haben alle zu dessen Popularität beigetragen. Diese Architektur war sowohl von der floralen Art Nouveau in Frankreich und Belgien als auch von dem Secessionsstil von Olbrich oder Hoffmann verschieden. Der wesentliche Unterschied ist das Verhältnis zur Geschichte: Art Nouveau und Secession verstanden sich nicht mehr als „Amtssprachen“ des Habsburgerreiches, sondern als von dem Zentrum historischer Macht unabhängige Ausdrucksmöglichkeiten einer symbolischen Befreiung. Dabei wurde ein Aspekt der Funktion als eine verbindende, urbane, nicht-regionale Sprache erhalten.

Sprachen der Örtlichkeit

Als im Kriegsjahr 1915 Otto Wagner auf Einladung des Verbandes Ungarischer Architekten Budapest besuchte, hat er die zunehmende Uniformität der Erscheinungsformen des städtischen Lebens als Grundlage einer modernen Architektur betont.16 Dies war keine neue Idee des vierundsiebzigjährigen Meisters: seit seiner Inauguraladresse an der Akademie der bildenden Künste im Jahre 1894 hat er ständig an dieser Argumentation gearbeitet, und in den vier Ausgaben seiner „Modernen Architektur“ revidiert, erweitert und verfeinert. In Budapest wendete er sich gegen Bemühungen um einen Nationalstil: „ […] wir müssen jegliche Bestrebung zur Schaffung eines Nationalstils als falsch, sogar unmöglich beurteilen.“17 Die Metaphorik seiner Argumentation war vom Krieg inspiriert: „In der Zeit der Millionenarmeen, Dreadnoughts, Mörser von 16 km Schußweite, sind sich die Welt und damit selbstverständlich die Künste darin einig, daß die richtige Zweckerfüllung die Hauptbedingung der Kunst ist, daß eine glatte aber zielsichere Kanone schöner ist als eine verzierte ohne diese Eigenschaft.“18 Die glatte Kanone war ein beliebtes Beispiel Wagners; er wollte damit bereits den Kronprinzen Franz Ferdinand zur Aufgabe seiner konservativen Ansichten in Sachen Kunst bewegen19, und verwendete dann dieselbe Metapher in der Einleitung zur vierten Ausgabe seines Buches „Die Baukunst unserer Zeit“ 1914.20 Wagner selbst war von seinen Zeitgenossen als „Heeresführer“, „Kondottiere“ der modernen Architektur gewürdigt worden.21

In Budapest haben Wagners Argumente ihr Ziel nicht verfehlt. Wie kann man von einem österreichischen Architekten Verständnis für nationale Bestrebungen erwarten, fragte der Architekt Robert K. Kertész, wenn Österreich als politisches Gebilde keine nationale Identität hat?22 Wagners Beobachtung der Intensivierung internationaler Kontakte, der homogenisierenden Tendenzen im modernen Leben ist nur die eine Seite der Wirklichkeit, schrieb der Architekt Jenö Lechner in der Zeitschrift des Verbandes.23 Diese Einflüsse werden immer lokal rezipiert, interpretiert, „gefiltert“. Wagner könnte laut Lechner nur recht haben, wenn eine stärkere Nation ihr „Genie“ auf eine schwächere oktroyiere.

Die Dialekte der Regionen waren von modernen Architekten als atavistische, ornamentale, sogar wilde Sprachen betrachtet, und entweder als der Ausdruck des Anderen abgelehnt oder als Symbol der wiedererkannten Identität angenommen worden. Im zweiten Fall waren städtische Entfremdung und Nostalgie nach dem verlorenen Paradies eines idealisierten Dorflebens wesentliche Erfahrungen. Die Identifizierung mit dem Bauern, dem früheren Inbegriff sozialer Rückständigkeit, fehlender Zivilisation, bedeutete jetzt Widerstand gegen den Machtausdruck der „glatten Kanonen“. Beabsichtigt war nicht eine Art Renaissance des Dorfes, das selbst von seinen Bewunderern als eine zum Sterben verurteilte Lebensform betrachtet wurde, sondern ein Neuschaffen auf der Grundlage ethnographischer Studien.

In Ungarn gehen die Versuche zur Schaffung eines nationalen Stils bis 1790 zurück, als Johann Nepomuk Schnauff eine „ungarische Nationalsäulenordnung“ vorschlug.24 Die Zeit der Veröffentlichung markiert den Anfang des sogenannten Reformzeitalters, der Periode der Suche nach der nationalen Identität. Herders Wort, die ungarische Sprache werde aussterben und die Nation selbst von ihren stärkeren Nachbarn absorbiert, hat jene Intelligenz zutiefst beunruhigt, die dann eine führende Rolle in der nationalen Erneuerung spielte.

„Auch Ornament ist eine Sprache; es ist die Sprache einer bestimmten Äußerung des nationalen Charakters und des Geschmacks, die ihre eigenen Worte hat“, - schrieb 1898 József Huszka,25 der bereits um 1880 begonnen hatte, die Muster des ungarischen „Heimgewerbes“ zu sammeln und zu veröffentlichen, sie mit der Ornamentik orientalischer Völker vergleichend. Es war seine Zielsetzung, eine neue Architektur ins Leben zu rufen, die in ihrer internen Organisation, „ihrem Wesen nach modern europäisch bleibt“, aber daß das neue Fassadenkleid auf den Boulevards von Budapest die langweilige Fassadenvariationen des Historismus ablösen möge.26 Die ungarische Ornamentik wurde als eine verdrängte Sprache betrachtet. Der Künstler der Gödöllöer Künstlerkolonie, Aladár Körösföi Kriesch, betonte es in seinem Aufsatz, daß der „cifraszür“, der reich gestickte Hirtenmantel, den Huszka als „die zehn Gebote des ungarischen Geschmacks“ pries, früher von den Behörden verboten wurde, da sich viele das begehrte und teure Kleidungsstück durch Raub beschafft haben. Der Weg zum Ornament führte also durch Verbrechen; aber im Unterschied zu Loos, hat dies für Körösföi Kriesch zur Ästhetik des Widerstands einer authentischen Volkskultur beigetragen.

Ödön Lechners Kunstgewerbemuseum in Budapest (1891-96) folgt im wesentlichen dem Programm Huszkas. Es war eine der ersten Institutionen auf dem Kontinent, die mit der Koppelung von Ausstellung und praktischem Unterricht die alltägliche Objektkultur fördern wollte. Im Unterschied zu den vergleichbaren Kunstgewerbemuseen der Zeit, die sich in ihrer Architektur von anderen Museumsgebäuden kaum unterschieden, hat Lechner hier eine grenzenlose ornamentale Phantasie mobilisiert, mit in der „hohen“ europäischen Architektur bisher nie verwendeten Formen, Materialien und Farben.

Die jüngere Generation der ungarischen Architekten hat um 1910 Lechners Vorschläge als zu oberflächlich kritisiert. Architekten wie Károly Kós haben es abgelehnt, durch das Studium von Formen den architektonischen Ausdruck erneuern zu wollen. Kós, die führende Figur der ungarischen Nationalromantik, hat betont, daß man als Architekt das Leben des Volkes leben muß: Deshalb will er „seine Träume träumen, so denken, so empfinden können und sich so erinnern, wie dieses Volk. Denn das Gefühl, der Gedanke und die Erinnerung sind in seiner Tätigkeit enthalten […], wenn es Kirchen, Häuser oder Scheunen baut.“27

Im Budapest-Wien-Dialog war das Bauernhaus keine „Erfindung“ der ungarischen Nationalromantik. Joseph August Lux, der etwas später eine Ingenieurästhetik (1910) und die erste Otto Wagner-Monographie (1914) veröffentlichte, hat in seinem Aufsatz von 1902, „Altwiener Häuser und Höfe“ den „heimlichen Zauber“ der einfachen Formen der „ländlichen Vororte“ Wiens heraufbeschworen, „wo das drangvolle Leben zur Ruhe und ruralen Einfachheit abflaut“, und „leise, seltsame Glücksgefühle“ auslösen kann.28 Das Bauernhaus als „organisches Gebilde“ ist das „Volkslied der Architektur“, seine Form ist „älter als der Kunstbegriff“. Die Stillosigkeit des Bauernhauses ist „der einzige und wahre Stil, den die Natur selber diktierte. Darum sehen die Häuser so lebendig aus, wie aus der Erde gewachsen, mit der Scholle und dem Charakter der Landschaft organisch verbunden […]“29 Obwohl Lux in diesem Aufsatz die Physiognomie des Hauses als Beweis der Zugehörigkeit zu einem Volk erwähnt, haben Wiener Architekten aus dem Kreis Wagners schon früher diese Qualitäten in der anonymen Architektur des mediterranen Raumes beobachtet und betont. Hoffmann, Olbrich, Loos, Frank, Prutscher haben das Bauernhaus verschieden interpretiert: Für Hoffmann war es seine freie, phantasievolle Erscheinung; für Olbrich seine malerische, plastische Form; für Loos seine natürliche, unkünstlerische Qualität (wohl auch die von Lux beschriebene Physiognomik); für Frank wohl die Überbleibsel „hoher“ Stil-Rudimente, die am Bauernhaus vor allem wichtig waren. Keiner dieser Architekten betrachtete das Bauernhaus als „reine Quelle“ einer nationalen Formensprache, vielmehr als eine bereits hybride Form, die zur Bereicherung des eigenen Schaffens geeignet war. Hoffmanns spielerische Verwendung mährischer Motive in seinem Landhaus Primavesi in Winkelsdorf (1914) sollte für Architekten wie Károly Kós oder den Slowaken Dusan Jurkovic als unzulässig und frivol erscheinen.
Kós hat die Ergebnisse seiner transsylvanischen Studienreisen unter dem Einfluß des englischen Arts and Crafts-Movement und der skandinavischen, vor allem finnischen Nationalromantik interpretiert.

Transkulturelle Sprachen

Die mit glänzenden keramischen Platten verkleideten Fassaden Lechners und seiner Nachfolger wirkten ungewöhnlich in Budapest. Sie erschienen als individueller Ausdruck und waren nicht als eigene Sprache erkannt, schrieb Lechners früherer Mitarbeiter Marcell Komor 1898: „Es erfordert grossen Muth und eine zähe Thatkraft, um der Richtung, der […] die Architekten bisher folgten, entgegen zu arbeiten.“30 Die Absicht, „die Theilnahme weiter Kreise des Volkes in einem ungewöhnlichen Maasse zu erregen“, war natürlich kein ungarisches Phänomen. Der Historismus, über den Lechner als eine bedrückende städtische Umgebung sprach, war von Wiener und Prager Künstlern ähnlich kritisiert worden. Mit dem Jugendstilornament wurde überall die utopische Hoffnung verbunden, daß die Panzerungen der Zivilisation unter dem organischen Druck der Natur weichen. Die Abspaltung der Krusten historistisch profilierter Fassadenteile von dem ornamentierten Baukörper war eines der Themen von Olbrichs Secessionsgebäude in Wien. Wie Otto Kapfinger und Adolf Krischanitz in ihrer Monographie gezeigt haben, wollte Olbrich mit dem Bau keinen statischen Würfel, sondern ein dynamisches Gebilde unter inneren Spannungen vorstellen.31 Sowohl Louis Sullivans früherer Transzendentalismus, der Ornament als Ausdruck der kreativen Kraft des Keims betrachtete,32 als auch Frank Lloyd Wrights „destruction of the box“ zeigen, daß es hier um ein gemeinsames Projekt der Befreiung geht. Ornament als verdrängte Natur wurde als Projektion allgemein menschlichen Verlangens verstanden.

Die Sprache der Secession war deshalb eine Ablehnung sowohl der überregionalen, aber „of?ziellen“, zivilisatorischen Sprache des Historismus als auch der lokalisierenden Tendenzen des Nationalstils. Sie war ein Versuch, die Formensprache von Bindungen beider Art zu befreien. Fabianis barockhaft üppige Fassadentextur des Hauses „Zum roten Igel“ in Wien oder Plecniks reich ornamentierte frühe Entwürfe zum „Haus Zacherl“ zeigen, wie wichtig diese Vorstufe der Ablösung der Ornamentik von der Tektonik für die „tabula rasa“ der glatten Fassaden war.

Die Fassadenteppiche der Secession verschwanden um 1902. Ihre Stelle wurde von glatten, glänzenden, industriell wirkenden Oberflächen eingenommen. Dieser schnelle Wechsel ist nicht überraschend, wenn man die angedeutete Leichtigkeit und „Entfernbarkeit“ bedenkt. Wenn man jedoch die großen Hoffnungen bezüglich des Ornaments in Erwägung zieht, wirkt die kurze Lebensspanne doch überraschend. Eine mögliche Erklärung ist, daß Ornamentik nach wie vor als verdrängte Natur verstanden wurde, man jedoch den Preis erkannt hatte, der für die volle ästhetische Sättigung des Lebens bezahlt werden sollte, wo künstlerischer Selbstausdruck der Subjektivität des Bewohners keinen Platz ließ.

Die Quelle der neuen, objektiven Ästhetik war nicht die organische Natur, sondern das moderne Leben selbst, seine wachsende Uniformität, seine klaren Hierarchien, seine leicht überblickbaren primären Ordnungen. Wagners moderne Großstadt mit ihrem endlosen Straßenraster schien geeignet, die wohltuende Uniformität zu fördern, und Änderungen in den untergeordneten Einheiten, Fassaden, Details zu ermöglichen. „Time is money“ als Losung der modernen Zeit wurde von Otto Wagner zitiert, und Adolf Loos war noch stärker beeinflußt vom amerikanischen Pragmatismus. „Mir scheint es, als ob die Aufgabe, welche O.W. der modernen Baukunst stellt, in praktischem Sinne in Amerika bereits gelöst sei“ - schrieb bereits 1897 Karl Henrici.33

Die Rolle des Ornaments, des am klarsten historischen, stilgebundenen Elements der Architektur, wurde einerseits von einem physiognomischen Ausdruck übernommen, der autonom, geschichtlich „unbelastet“ erschien, aber desto einprägsamer und einmaliger ist, andererseits durch die erhöhte ikonologische Präsenz von Materialien. An Fassaden wie der der „American Bar“ in Wien (1908) kommt das Superzeichen der amerikanischen Fahne und der Reichtum von Farben, Fakturen, schimmernden und glitzernden Materialien so stark zur Geltung, daß es fast ironisch klingt von Ornamentlosigkeit zu sprechen. Verdrängte Ornamentik kehrt als Musterung, Stürme und Nebel der Marmor- und Onyxoberflächen zurück. Im Innenraum, unter dem gespiegelten, endlosen Raster der Decke ist die Bar als einzelne Zelle des Konglomerats der Großstadt deutlich markiert. Sie ist nicht, wie das Wiener Café, der Raum der Zerstreuung, der leicht fließenden Zeit, sondern die Zelle konzentrierter Unterhaltung, wo die ganze Umgebung bis zu den Nähten der Lederpolster die Wahrheit von „time is money“ demonstriert.

Die bekannten, in ihrer Emotionalität überraschenden Aufsätze von Loos über „Ornament und Verbrechen“ waren Äußerungen einer narzißtischen Persönlichkeit, die ihre Komplexe und Vorurteile mobilisiert, um den tätowierten Anderen in sich selbst zu verdrängen. Die kriminalisierte ornamentale Phantasie kehrt in Loos’ Architektur als Marmorverkleidung und Raumplan wieder; die größten Energien gewann seine Sprache aus der Sublimierung verdrängter ornamentaler Triebe. Die physiognomische Fassadenmaske, das natürliche Ornament der Fassade, und vor allem das Mobilisieren der räumlichen Phantasie im Interieur retten Loos’ Architektur vor dem Schicksal, Vorbild der produktivistischen Architektur der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu werden. „Wir wiederholen uns ununterbrochen“, schrieb er, seine Bauten sind jedoch unreproduzierbar, mit der Aura des Individuellen, Ort- und Zeitgebundenen.

Obwohl die Kategorien der „Sprache der Örtlichkeit“ und der „transkulturellen Sprache“ als diametral entgegengesetzt erscheinen, gab es auch Versuche zu Synthesen, wie in der Architektur des ungarischen Wagnerschülers István Medgyaszay. Die Wagnerschule (wo 1902 sein erstaunlicher Warenhausentwurf entstand), später das Studium transsylvanischer Volksarchitektur und letztlich sein Aufenthalt im Atelier von François Hennebique, des französischen Pioniers der Stahlbetonarchitektur, waren wesentliche Quellen seiner Formensprache vor dem Ersten Weltkrieg. Medgyaszays Ziel war die „künstlerische Lösung des Eisenbetonbaues“, wie er es 1908, in seinem Vortrag auf dem 8. Internationalen Architekten-Kongreß in Wien erklärte. Für Medgyaszay war „der nationale Charakter selbst […] kein Zweck, er ergibt sich aber von selbst aus der Aufrichtigkeit des Schaffens“. Aufrichtigkeit wird hier als eine Art Einfühlung in die „speziellen Festigkeitszustände“ des Stahlbetons verstanden, um sie „künstlerisch zu charakterisieren“. Folklore mit ihrem unvermittelten Verhältnis zum Material konnte ihm mit wichtigen Hinweisen dienen.

Mythische Sprachen

Der Antihistorismus des 19. Jahrhunderts hat auch Tendenzen inspiriert, die weniger an kommunikativen Aspekten der Sprache interessiert waren als an ihrer strengen Struktur, ihrer Tektonik. Als Vergleich bietet sich hier Latein, eine Sprache, die in Mitteleuropa noch im 18. Jahrhundert die Funktion einer transkulturalen Sprache der Kommunikation, Regierung, Legislation hatte. Später ging es auf Gebiete der katholischen Religion und bestimmter Wissenschaften zurück, und erhielt zunehmend eine nur für Eingeweihte bestimmte kommunikative Bedeutung. Trotzdem gab es Proteste, als etwa Latein als Sprache der Liturgie von Nationalsprachen abgelöst wurde, da die mythische Funktion der Sprache als wesentlich erkannt wurde.

Die Vertreter von esoterischen ästhetischen Strömungen wie die Anhänger der „Beuroner Kunstschule“ haben die mimetische Kunst- und Architekturauffassung des 19. Jahrhunderts abgelehnt. Ihr Vorschlag war das hieratische Kunstwerk, eine nicht-anthropomorphische Kunst der abstrakten Proportionen, der zeitlosen Architektonik. Joze Plecniks „architectura perennis“ entsprach dieser Idee. Der slowenische Schüler Otto Wagners, der in Kontakt mit Künstlern der Beuroner Malermönche stand, hat in seinem Werk die Sempersche Stiltheorie revidiert. Für Semper war es die Symbolik der Architektursprache, durch die die typologischen Gebilde fähig sind, immer aktuelle Inhalte, Funktionen auszudrücken. Wagner oder Loos haben dabei die Aktualität, den Bedürfnis-Aspekt betont, und die Geschichtlichkeit der Typologie als weniger wichtig betrachtet. Für Plecnik war es umgekehrt: Seine hieratische Architektur betrachtete die Archäologie der Formen als eine hermetische Wissenschaft, die eine direkte Verbindung mit der Alltagswelt der „necessitas“ nicht braucht. Deshalb war Plecniks Architektur kein Neoklassizismus im Sinne einer Sprache der Kontinuität. Klassizismus war als eine Variante des Historismus zu intellektuell, abgetrennt von der Kultur der Hände. Joze Plecniks „architectura perennis“ war ein universales Projekt, das in der Suche nach einer konservativen geistigen Umorientierung sowohl Historismus als auch Secession oder Moderne abgelehnt hat.

Die manchmal bizarre Verzerrung historischer Formen unterscheidet Plecniks Experimentieren von Loos’ Bewertung der Formensprache der Antike als eine Konstante, die zivilisatorische und didaktische Werte verkörpert. Klassische Reminiszenzen waren stark auch in ungarischen Projekten von Béla Lajta, Móric Pogány oder Béla Málnai vertreten. Bezeichnenderweise gingen auch die Bestrebungen dieser Architekten parallel mit der Bereinigung der Fassade von historisierender oder Art Nouveau-Ornamentik und mit der Wahrnehmung der sozialen Rolle des Architekten. Lajta, Pogány, Málnai nahmen an dem großen sozialen Wohn- und Schulbauprogramm von Budapest zwischen 1909 und 1913 teil.

Gestensprachen

Obwohl Plecniks Umbauten in der Prager Burg und die Werke des Prager Architekturkubismus klare Unterschiede zeigen und oft als gegensätzlich interpretiert werden, ist das Motiv der Verzerrung, der Prüfung von Formen nach ihrer Belastbarkeit vergleichbar. Die Fassaden erscheinen nicht geformt, sondern durch eine natürliche Kraft wie Erdbeben oder Blitz verformt. Das Problem, wie räumliche Gestenhaftigkeit mit den Gestaltungsmöglichkeiten eines begrenzten architektonischen Objekts zu vereinen ist, scheint alle Architekten des Architekturkubismus beschäftigt zu haben. Ihre Architekturskizzen konzentrieren sich oft auf ein Fassadendetail als Faltwerk, das leichter fortzusetzen als zu begrenzen ist. Die traditionelle Tektonik verschwindet, tragende und lastende Funktionen sind nicht mehr zu unterscheiden, die Decke greift tief ein in den Bereich der Wände wie in der spätgotischen und barocken Architektur. Möbelstücke oder Bauten erscheinen als Origami-Objekte. Auch in den Innenraumentwürfen von Janák wird der Unterschied zwischen Wandfläche und Decke, horizontalen und vertikalen Ebenen aufgelöst. Architekten wie Pavel Janák wollten die Welt der Objekte nicht zerteilen, wie die Maler des Kubismus, sondern als ein endloses Faltwerk begreifen: „Während das waagerechte und senkrechte Zweiflächensystem eine Form der Ruhe und des Gleichgewichts darstellen, mußten den schräg gebildeten Formen dramatische Ereignisse und ein kompliziertes Zusammenwirken mehrerer Kräfte vorausgehen.“34 Die menschlichen Aktivitäten, die Verwendung von Werkzeugen, die der physischen Bewältigung der Masse dienen, die geschichtlichen Prozesse resultieren nach Janák in schrägen Flächen. Die tafelförmige, glatte „Einfältigkeit“ der Fassaden der Wiener Architekten als das physische Emblem der „tabula rasa“, der reinen, unbeschriebenen Tafel des Neubeginns, war für die Kubisten kein haltbarer Zustand. Die kubistische Fassade sollte ein Ebenbild der ständigen Oszillation des Universums sein.

Die Fassadenhaut des Mietshauses in der Neklanova-Straße von Josef Chochol ist ein kontinuierliches Faltwerk von Energien - die Elemente der Architektur wie Pfeiler, Brüstung, Gesimse, Sockel sind nicht als solche identifizierbar. Ornament, laut Loos verschwendete Energie, erhielt nach der kubistischen Erneuerung der Fassade wieder Bedeutung - nicht als Bild der organischen Natur, sondern strömend durch Zeit und Raum.

Der Versuch, die Topographie der Architekturentwicklung aus den Äußerungen der Fassaden zu umreißen, soll nicht mehr als eine Möglichkeit der versuchsweisen Neuordnung komplexer Entwicklungen sein. Die Betrachtung der Ausdrucksweisen österreichischer Architektur als Teil der Pluralität der Formensprachen der Donaumonarchie ist dabei wesentlich, da die Funktion jeder einzelnen der Sprachen nur aus ihrem Verhältnis zu den anderen verständlich war. Die Situation hat sich nach 1918 allerdings deutlich geändert. Die neuen Staatsgrenzen in Mitteleuropa resultierten in einer stürmischen Reorganisierung von Ländern, Gebieten, Infrastrukturen und Bevölkerungen. Die Folge war, daß Ansprüche zum symbolischen Ausdruck dieser territorialen Neuverteilung in den meisten Nachfolgestaaten der Donaumonarchie zu einer Zeit erhoben wurden, als im Westen der moderne Mythos einer logisch vollkommenen, ortlosen Sprache die Legitimität solcher Interpretationsmöglichkeiten der Umwelt geradezu verneinte.

newroom, So., 1995.10.01

Profil

Ákos Moravánszky erwarb 1974 sein Architekturdiplom an der TU Budapest. Nach dem Studium praktische Tätigkeit als Architekt im Planungsbüro KÖZTI in Budapest; gleichzeitig Forschung über die Architektur der Jahrhundertwende. Ab 1977 Doktoratsstudium am Institut für Kunstgeschichte und Denkmalpflege der TU Wien als Herder-Stipendiat (Promotion 1980). Ab 1983 Chefredakteur der Architekturzeitschrift des Verbandes Ungarischer Architekten, Magyar Építőművészet. Zwischen 1986 und 1989 Gastforscher am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. 1989-1991 Research Associate am Getty Center for the History of Art and the Humanities in Santa Monica, Kalifornien. 1991-1996 Visiting Professor am Massachusetts Institute of Technology. 1996-2016 Titularprofessor für Architekturtheorie an der ETH Zürich (Institut gta). Visiting Professor an der Moholy-Nagy Universität für Kunst in Budapest (2003-2004) als Szent-Györgyi-Fellow. Seit September 2017 Gastprofessor der Universidad de Navarra, Pamplona. Ehrendoktor der TU Budapest und Ehrenmitglied der Széchenyi Akademie für Literatur und Kunst der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Auszeichnung des Verbands Ungarischer Architekten „Für die ungarische Architektur“ im Jahre 2018. Visiting Researcher am Politecnico di Milano, Forschungs- und Publikationsprojekt Architecturbeziehungen zwischen Italien und den sozialistischen Ländern 1945-1989.

Lehrtätigkeit

1991 – 1996 Massachusetts Institute of Technology (MIT), Cambridge, Mass.
1996 – 2016 Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich,
2003 – 2004 Moholy-Nagy Universität der Künste, Budapest,
2017 – 2022 Universidad de Navarra, Pamplona
2021 – 2023 University of Ljubljana, Faculty of Architecture

Mitgliedschaften

Mitgliedschaften
Society of Architectural Historians, USA
Verein der Ungarischen Architekten und Ingenieure in der Schweiz
Bund Schweizer Architekten
Ehrenmitglied der Széchenyi Akademie für Literatur und Kunst der Ungarischen Akademie der Wissenschaften

Publikationen

Antoni Gaudi (Budapest 1978, Warschau 1983, Berlin 1985); Die Architektur der Jahrhundertwende in Ungarn und ihre Beziehungen zu der Wiener Architektur der Zeit ((Wien 1983); Die Architektur der Donaumonarchie (Budapest 1988, Berlin 1988); Die Erneuerung der Baukunst: Wege zur Moderne in Mitteleuropa (Salzburg 1988), Competing Visions (Cambridge, Mass. 1997): Lehrgerüste. Theorie und Stofflichkeit der Architektur (Zürich 2015), East West Central. Re-Building Europe, Bd. 1-3 (Basel 2017), Stoffwechsel. Materialverwandlung in der Architektur (Basel 2018), englische Ausgabe: Metamorphism. Material Change in Architecture (Basel 2018).

Veranstaltungen

Zahlreiche Vorträge in Europa und in den Vereinigten Staaten, Tätigkeit als Kurator und Ko-Kurator von Ausstellungen in Österreich und in der Schweiz. Konzept und Organisation von Symposia in Österreich, Deutschland, Ungarn und der Schweiz.

Auszeichnungen

Ehrendoktor (Dr.h.c.) der Technischen Universität Budapest
Auszeichnung „Für die ungarische Architektur 2018“ des Verbands Ungarischer Architekten

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