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26. April 2025Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Wo sind die grossen Stadtentwürfe geblieben? Ein Plädoyer für umfassende und konkrete urbane Planungen

Vor weniger als 200 Jahren versuchte man mit klugen Erweiterungsplänen das unerhörte Wachstum der europäischen Metropolen in den Griff zu bekommen. Diese Kultur brach Mitte des 20. Jahrhunderts ab – paradoxerweise genau dann, als die Herausforderungen an die Städte noch grösser wurden.

Vor weniger als 200 Jahren versuchte man mit klugen Erweiterungsplänen das unerhörte Wachstum der europäischen Metropolen in den Griff zu bekommen. Diese Kultur brach Mitte des 20. Jahrhunderts ab – paradoxerweise genau dann, als die Herausforderungen an die Städte noch grösser wurden.

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30. März 2021Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Die Liebe zur Landschaft droht dieser zum Verhängnis zu werden

Die Stadt war nie natürlich: Einst wurde die Natur mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln daraus verbannt. Trotzdem soll sie wieder mittendrin florieren.

Die Stadt war nie natürlich: Einst wurde die Natur mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln daraus verbannt. Trotzdem soll sie wieder mittendrin florieren.

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12. Februar 2020Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Banaler Wohnungsbau: Da liegt die Zukunft der Stadt

Die Einfachheit ist im Städtebau neu zu entdecken und wertzuschätzen.

Die Einfachheit ist im Städtebau neu zu entdecken und wertzuschätzen.

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22. November 2019Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Ein Architekt und seine Stadt

Manche Baukünstler sind eng mit ihrem Wohnort verbunden. So prägt Roger Diener die Stadt Basel seit mehreren Jahrzehnten.

Manche Baukünstler sind eng mit ihrem Wohnort verbunden. So prägt Roger Diener die Stadt Basel seit mehreren Jahrzehnten.

Architekten sind und waren immer umtriebig und ubiquitär. Nicht nur, weil die Grand Tour, die Bildungsreise, stets ein wichtiger Baustein der Ausbildung zum Baumeister war – und immer noch ist. Die Baugelegenheiten kommen nicht ins Büro, man muss zu ihnen reisen. Deswegen sind aber Architekten, gute Architekten, nicht ortlos. Im Gegenteil: Sie sind im Ort, aus dem sie stammen oder wo sie überwiegend leben und arbeiten, tief verwurzelt, und ihr Werk zeugt davon. Einige von ihnen aber sind mehr als das: Sie sind Baumeister, die am Ort und an seiner Entwicklung arbeiten. Mit anderen Worten: Sie sind untrennbar mit ihrer Stadt verbunden.

Um ein wenig zurückzublicken: Andrea Palladio ist der Architekt von Venedig, dem er durch seine strategisch gesetzten Kirchen und Paläste eine strahlende Renaissance-Front zum Wasser hin verliehen hat. Karl Friedrich Schinkel ist der Architekt von Berlin, dem er mit Bauten, die er nach sorgfältigen Versuchen an den neuralgischen Stellen der Stadt errichtete, sein modernes Gesicht gegeben hat. Piero Portaluppi ist der Architekt von Mailand, und seine erstaunlich eklektischen Werke bilden eine eigentümliche, kraftvolle Triangulatur im Stadtgefüge. Auguste Perret ist der Architekt von Paris, wo seine sachlich diskreten Gebäude auf den zweiten Blick mächtig herausragen und der Stadt Ausstrahlung verleihen. Jože Plečnik ist der Architekt von Ljubljana, das er mit seiner Strategie der architektonischen Akupunktur durch Bauten und Freiräume neu und zusammenhängend gestaltet hat.

Mit einem Ort verbundene Architekten

Diese Baumeister haben den architektonischen Charakter ihrer Stadt unwiederbringlich geprägt. Dafür mussten sie nicht notwendigerweise ein Amt in der Bauadministration bekleiden, was lediglich bei Schinkel der Fall war. Sie mussten nicht exzessiv viel bauen, was allenfalls Portaluppi getan hat. Sie mussten nicht die exponiertesten Monumentalbauten errichten, was nur Schinkel mit dem Alten Museum, Perret mit dem Musée des Travaux publics und Plečnik mit der Stadtbibliothek beschieden war. Sie mussten nur – nur? – ihre Gebäude sensibel und selbstbewusst dort platzieren, wo sie besondere Punkte im Stadtgefüge markieren oder das Stadtgefüge selbst neu deuten. Sie mussten in ihren Architekturen die kulturelle Quintessenz der Stadt in ihrer Epoche einfangen.

Einige Architekten entwickeln bewusst eine ausgesprochen individuelle Architektursprache. Diese entsteht aus speziellen, subjektiven Vorlieben, Befindlichkeiten und Emotionen und gehört ihnen allein. Im Expressionismus der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat diese Auffassung einen kurzlebigen Höhepunkt erreicht. Heute erlebt sie ein erstaunliches Revival. Wir verdanken ihr viele selbstverliebte, eitle, aufdringliche Kuriosa, die unwiederbringliche Zerstörung ganzer urbaner Ensembles und einige wenige grossartige Wahrzeichen. Selbst die Wahrzeichen stehen jedoch eigentümlich fremd in der Stadt: Sie arbeiten an ihr nicht weiter.

Den Gesetzmässigkeiten folgen

Andere Architekten entwickeln ebenso absichtsvoll eine universale Architektursprache: Sie entsteht aus der Logik der Aufgabe in ihrer Zeit. Diese Logik und diese Zeit werden unterschiedlich, ja persönlich gedeutet, sind aber grundsätzlich in der Aufgabe enthalten und mithin allgemein. Deshalb ist die Architektursprache, die daraus abgeleitet wird, immer eine Deklination des Klassischen. Deswegen gehört diese Architektursprache nicht ihrem Urheber allein, sondern allen. Sie ist Vermögen der Allgemeinheit.

Die Architekten der Stadt gehören zur zweiten Gattung von Baumeistern. Sie wollen der Stadt nicht ihre Befindlichkeiten aufdrängen, sie wollen keine grundlegend andere Stadt beschwören, sie wollen ihr nicht Wahrzeichen aufnötigen. Sie wollen die bestehende Stadt bewahren und an ihr weiterbauen – schöpferisch, innovativ, überraschend, aber innerhalb ihrer besonderen Gesetzmässigkeit, Physiognomie und Kultur. Daher lassen sie es zu, ja sie möchten es, dass ihre Sprache auch von anderen verwendet wird. Damit schafft man es vielleicht nicht auf die Titelseite einer Illustrierten, aber man kann so eine ganze Stadt bauen.

Kompetenz kommt vor der Handschrift

Roger Dieners Architektur zelebriert die eigene Persönlichkeit ebenso wenig, wie es der Mensch Roger Diener tut. Jemand, der wirklich kompetent und stark ist, braucht seine Kompetenz und seine Stärke nicht zur Schau zu stellen. Wer Architektur beherrscht, vollkommen beherrscht, braucht daraus kein extravagantes individuelles Branding zu machen. Tatsächlich arbeitet Roger Diener an einer Vielzahl von Dimensionen seiner Architektur, nur nicht an ihrer bildhaften Wiedererkennbarkeit.

Das ist heute geradezu eine Anomalie: Nicht ohne eine gewisse peinliche Verbissenheit bemühen sich die meisten exponierten Architekten um eine besondere Handschrift, die möglichst unmissverständlich mit ihren Namen in Verbindung gebracht werden soll. Der architektonischen Rhetorik, dem baulichen Formalismus werden leichtfertig konstruktive, funktionale, soziale und ökonomische Anforderungen geopfert, auch jegliche Rücksicht auf die Bestimmung und den Ort.

Diese Resignation, diese Anbiederung sind Roger Dieners Sache nicht. Für ihn ist Architektur ein Beruf mit Verantwortung, Würde und Stolz. Es geht ihm immer um seine Regeln und Grundlagen – immer um die Funktion, immer um die Konstruktion, immer um die Bestimmung, immer um den Ort. Die Form leitet sich daraus ab, genauer: aus seiner besonderen, persönlichen, schöpferischen Deutung dieser Voraussetzungen. Dass daraus eine ebenso identitätsstiftende wie wiedererkennbare Architektur entsteht, die in ihrer Unaufgeregtheit inzwischen mehr Erfolg hat, sogar mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als die Internationale des Spektakels, gehört zu den erfreulicheren Ironien der Architekturgeschichte.

Der Stadt Basel verpflichtet

Roger Diener ist ein kosmopolitischer, weltweit agierender und anerkannter Architekt. Aber Roger Diener ist auch und vor allem der Architekt von Basel. Man könnte einwenden: Aber er hat hier gar keine Wahrzeichen gebaut. Hat er in der Tat nicht. Doch auch abgesehen davon, dass man über die modernen Wahrzeichen Basels und ihre Angemessenheit unterschiedlich denken kann: Er hat viel mehr getan als das. Er hat mit seinen scheinbar normalen, in Wahrheit hochkomplexen, unergründlichen, zuweilen durchaus auch befremdlichen Bauten nicht nur Orte wie den Barfüsserplatz oder den Picassoplatz subtil verändert und gestärkt; er hat die gesamte Stadt mit leichthändigen punktuellen Eingriffen verwandelt und bereichert.

Die Eingriffe von Roger Diener sind nicht immer geringfügig, auch nicht immer liebenswürdig. Doch auch dann, wenn sie Härte zeigen, bleiben sie unaufdringlich, kultiviert und angemessen. Sie verkörpern so etwas wie einen Extrakt der Basler Architekturtradition und etablieren zugleich eine neue, erfrischende, stellenweise durchaus irritierende Konvention. Und sie bilden Vorbilder für Schüler und Nachahmer. Dass diese dann mehr oder minder glücklich diese Konvention weiterführen, ist dann wiederum ein Beweis der Kraft und der Grosszügigkeit von Roger Dieners Architektur: der Beweis, dass diese Architektur derart in sich ruht, dass sie wie alle grossen Architekturen die Nachahmung provoziert und dass sie jeder verwenden kann, dass sie dann nicht mehr nur ihrem Autor, sondern der Stadt gehört.

Pietro Verri, Wirtschaftswissenschafter, Philosoph, Historiker, Schriftsteller und der vielleicht exponierteste und umstrittenste Vertreter der Mailänder Aufklärung, beschrieb im 18. Jahrhundert, wie das Glück des Menschen bei ihm selbst beginne und sich dann auf das ausweite, was er schaffe. Das Glück des Weisen, folgerte er daraus, erfülle sich im öffentlichen Glück. Genau in diesem Sinn hat Roger Diener seiner Stadt Basel, und nicht nur dieser, das öffentliche Glück seiner Architektur geschenkt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2019.11.22

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Bauwerke

Artikel 12

19. Mai 2012Wojciech Czaja
Der Standard

„Die Stadt ist kaputtgefahren“

Am Montag hält Vittorio Magnano Lampugnani, Architekturhistoriker an der ETH Zürich, einen Vortrag in Wien. Thema: Stadt und Peripherie.

Am Montag hält Vittorio Magnano Lampugnani, Architekturhistoriker an der ETH Zürich, einen Vortrag in Wien. Thema: Stadt und Peripherie.

STANDARD: Wie wohnen Sie?

Lampugnani: Ich wohne mit meiner Familie in einem älteren Haus mitten in Mailand. Und ich habe einen schönen Balkon mit Blick auf einen Garten.

STANDARD: Haben Sie auch schon mal abseits der Stadt gewohnt?

Lampugnani: Ja, eine Zeitlang, als die Kinder klein waren, habe ich versucht, auf dem Land zu wohnen. Ich dachte, es sei eine gute Idee, ins Grüne zu ziehen. Aber es war keine gute Idee. Ich habe die meiste Zeit im Auto verbracht und war schlecht gelaunt. So sind wir wieder in die Stadt gezogen.

STANDARD: Trotzdem ist das Haus im Grünen an der Peripherie immer noch der Traum vieler Mitteleuropäer. Warum?

Lampugnani: Das frage ich mich auch. Ich glaube, der Traum vom Haus beginnt mit der Vision einer Villa mit einem wunderschönen, großen Park rundherum. Am Ende landet man in einem Fertigteilhaus mit Vorgarten und einer Thujenhecke hinter der Terrasse. Immer noch besser als eine enge, überteuerte Wohnung mitten in der Stadt, nicht wahr? Das Wohnen an der Peripherie ist vor allem ein ökonomisches Argument. Das Leben ist viel billiger - zumindest auf den ersten Blick.

STANDARD: Und auf den zweiten Blick?

Lampugnani: Ziemlich teuer! Die langen Wege ins Büro, ins Shoppingcenter, ins Kino oder einfach nur ins Stadtzentrum schlagen im Familienbudget ordentlich zu Buche - zumal sie sich periodisch wiederholen. Das Auto wird zum unverzichtbaren Hilfsmittel. Das ist Zwangsmobilität. Hinzu kommt, dass ein europäischer Pendler im Vergleich zu einem Innenstadtbewohner pro Monat durchschnittlich 12 bis 14 Stunden verliert - weil er im Auto sitzt. Alles in allem ist das Leben an der Peripherie teuer und ineffizient.

STANDARD: Welche Möglichkeiten gibt es, diese finanziellen Nachteile besser anschaulich zu machen?

Lampugnani: Die Leute sind nicht blöd. Mehr und mehr Menschen sind sich der Nachteile bewusst und sind in der Lage, unterschiedliche Aspekte gegeneinander abzuwägen. Da mache ich mir keine Sorgen. Doch nicht nur der Einzelne wird durch die Agglomeration mit Mehrkosten konfrontiert, sondern auch die Gesellschaft.

STANDARD: Sie meinen die Kosten für Erschließung, Straßenbau, öffentlichen Verkehr und Infrastruktur?

Lampugnani: Ja. Das sind außerordentlich hohe finanzielle Belastungen, die die Gesellschaft tragen muss, also jeder einzelne Steuerzahler. Ich sehe nicht ein, warum ein Innenstadtbewohner für den grünen Traum des Landbewohners mitzahlen soll. Man muss einen Weg finden, die Urbanisierungs- und Infrastrukturkosten denjenigen in Rechnung zu stellen, die sie verursachen.

STANDARD: Damit stellen Sie den gesamten Wohlfahrtsstaat infrage.

Lampugnani: Ja, ich weiß.

STANDARD: Und?

Lampugnani: Der Wohlfahrtsstaat hat irgendwann ein Ende. Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Besiedelungs- und Regionalpolitik mehr oder weniger in Ordnung. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren jedoch sind die Städte und Peripherien - bedingt durch den Freiheitswunsch und durch eine wachsende Automobillobby - in einer Art und Weise gewachsen, dass uns die Kontrolle darüber verlorengegangen ist. Zwei Drittel der europäischen Bevölkerung leben heute an der Peripherie rund um die Stadt. Doch Tatsache ist: Wir können uns die Zersiedelung als Gesellschaftsform in dieser Form heute nicht mehr leisten.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Lampugnani: Der allererste Schritt wäre die Streichung der Wohnbauförderung für Einfamilienhäuser. Es kann nicht sein, dass man diese ohnehin schon volkswirtschaftlich extrem teure Lebensform auch noch finanziell unterstützt und forciert.

STANDARD: Damit machen Sie sich keine Freunde.

Lampugnani: Umdenken ist nie bequem ... Der zweite Schritt wäre ein Ende der Ausweisung von Bauland. Ich kenne die Situation in Österreich nicht gut genug, aber allein in der Schweiz wird ein Quadratkilometer Bauland pro Sekunde ausgewiesen. Das ist zu viel. Mit der Verdichtung von Bauland könnte man pro Jahr zwei Milliarden Schweizer Franken (rund 1,7 Mrd. Euro, Anm.) an Infrastrukturen einsparen. Das ist viel Geld. Und der dritte Schritt wäre, das Pendlerverhalten zu verändern, also das Verhältnis zwischen Individualverkehr und öffentlichem Verkehr zu optimieren.

STANDARD: Das klingt nach einer Abschaffung der Pendlerpauschale für Autofahrer.

Lampugnani: Gegenwärtig wäre das ein zu radikaler Schritt, der sozial zutiefst ungerecht wäre. Eine Abschaffung der Pendlerpauschale ist nur dann denkbar, wenn auch die Peripherie abgeschafft wird.

STANDARD: Haben Sie ein Auto?

Lampugnani: Ich bin ein ausgesprochener Gegner des Automobils und fahre meist mit dem Rad. Aber ja, ich habe ein Auto: eine Giulietta aus den Fünfzigern. Ein Liebhaberstück. Mehr Spielzeug als Auto.

STANDARD: Sie sind Nostalgiker?

Lampugnani: Ich kann dem Alten immer etwas abgewinnen, wenn es besser ist als das Neue.

STANDARD: 2008 waren Sie Jury-Chef des Wettbewerbs zur Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses.

Lampugnani: Ich war zunächst in der Kommission, die über den Wiederaufbau des Schlosses beraten und eine Empfehlung ausstellen sollte. Da habe ich mich klar gegen eine solche Rekonstruktion geäußert. Aber ich wurde überstimmt. Der Bundestag hat sich für den Wiederaufbau entschieden.

STANDARD: Trotzdem haben Sie zugestimmt, den Juryvorsitz zu übernehmen.

Lampugnani: Ich wollte dazu beitragen, innerhalb der engen und schwierigen Ausschreibungskriterien die beste Lösung zu finden. Das Projekt von Franco Stella hat gewonnen, weil es unter den gegebenen Bedingungen das beste war.

STANDARD: Das ist jetzt der erste Moment in unserem Gespräch, an dem Sie nicht besonders leidenschaftlich klingen.

Lampugnani: Die Debatte um das Stadtschloss ist eine zutiefst deutsche, die so in keinem anderen Land dieser Erde möglich gewesen wäre. Und sie beginnt, mich zu langweilen.

STANDARD: In Wien wird derzeit eine Satellitenstadt errichtet. Was sagen Sie dazu?

Lampugnani: Sie meinen die Seestadt Aspern? Ich kenne das Projekt zu wenig, um es seriös beurteilen zu können. Generell kann ich sagen: Es gibt zwar Satellitenstädte, die funktionieren, doch in der Regel ist diese Besiedelungsform eher problematisch. Wir sollten die Art und Weise, wie wir unsere Städte erweitern, überdenken. Ein neues Stadtviertel, das Teil des urbanen Gefüges ist, ist in meinen Augen die bessere Strategie, um die Stadt zu erweitern.

STANDARD: Es siegt nicht immer die bessere Lösung.

Lampugnani: Ja, die Politik trifft nicht immer die besten Entscheidungen. Viele Gemeinden versuchen verzweifelt zu wachsen, um Urbanisierungskosten einzukassieren. Das Ergebnis ist ein entsprechend zerfranster Stadtrand.

STANDARD: Was ist mit der Immobilienwirtschaft? Die kommt ungeschoren davon?

Lampugnani: Das ist ein wichtiger Punkt. Ein großer Teil des Neubaus unserer Städte beruht auf dubiosen ökonomischen Praktiken der Immobilienwirtschaft. Und diese ist, wie wir wissen, sehr einseitig ausgerichtet. Da geht es einzig und allein um wirtschaftlichen Profit. Wenn die öffentliche Hand nicht mit Entschiedenheit gegensteuert, entsteht das, was letztendlich niemand will - nicht einmal die Investoren.

STANDARD: Ein trauriges Ende.

Lampugnani: Wir haben unsere Städte in den letzten 50, 60 Jahren ziemlich rasch kaputtgefahren. Jetzt müssen wir sie langsam wieder in Ordnung bringen.

STANDARD: Wie sieht die Idealstadt aus?

Lampugnani: Die Zauberworte lauten Durchmischung, Dezentralisierung und Dichte. Das sind jene drei Regeln, die durch die zehn Jahrtausende, seitdem es Stadt gibt, konstant geblieben sind. Wir werden nicht umhinkommen, diesen Regeln in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu schenken als in der jüngeren Vergangenheit, wo eine Menge Fehlplanungen passiert sind. Denn es geht nicht nur um die Zukunft der Stadt, sondern auch um die Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Kultur.

Am Montag, hält er einen Vortrag in Wien: „Die Peripherie gibt es nicht“. 21. Mai, 18.30 Uhr. Wien-Museum am Karlsplatz.

Presseschau 12

26. April 2025Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Wo sind die grossen Stadtentwürfe geblieben? Ein Plädoyer für umfassende und konkrete urbane Planungen

Vor weniger als 200 Jahren versuchte man mit klugen Erweiterungsplänen das unerhörte Wachstum der europäischen Metropolen in den Griff zu bekommen. Diese Kultur brach Mitte des 20. Jahrhunderts ab – paradoxerweise genau dann, als die Herausforderungen an die Städte noch grösser wurden.

Vor weniger als 200 Jahren versuchte man mit klugen Erweiterungsplänen das unerhörte Wachstum der europäischen Metropolen in den Griff zu bekommen. Diese Kultur brach Mitte des 20. Jahrhunderts ab – paradoxerweise genau dann, als die Herausforderungen an die Städte noch grösser wurden.

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30. März 2021Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Die Liebe zur Landschaft droht dieser zum Verhängnis zu werden

Die Stadt war nie natürlich: Einst wurde die Natur mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln daraus verbannt. Trotzdem soll sie wieder mittendrin florieren.

Die Stadt war nie natürlich: Einst wurde die Natur mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln daraus verbannt. Trotzdem soll sie wieder mittendrin florieren.

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12. Februar 2020Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Banaler Wohnungsbau: Da liegt die Zukunft der Stadt

Die Einfachheit ist im Städtebau neu zu entdecken und wertzuschätzen.

Die Einfachheit ist im Städtebau neu zu entdecken und wertzuschätzen.

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22. November 2019Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Ein Architekt und seine Stadt

Manche Baukünstler sind eng mit ihrem Wohnort verbunden. So prägt Roger Diener die Stadt Basel seit mehreren Jahrzehnten.

Manche Baukünstler sind eng mit ihrem Wohnort verbunden. So prägt Roger Diener die Stadt Basel seit mehreren Jahrzehnten.

Architekten sind und waren immer umtriebig und ubiquitär. Nicht nur, weil die Grand Tour, die Bildungsreise, stets ein wichtiger Baustein der Ausbildung zum Baumeister war – und immer noch ist. Die Baugelegenheiten kommen nicht ins Büro, man muss zu ihnen reisen. Deswegen sind aber Architekten, gute Architekten, nicht ortlos. Im Gegenteil: Sie sind im Ort, aus dem sie stammen oder wo sie überwiegend leben und arbeiten, tief verwurzelt, und ihr Werk zeugt davon. Einige von ihnen aber sind mehr als das: Sie sind Baumeister, die am Ort und an seiner Entwicklung arbeiten. Mit anderen Worten: Sie sind untrennbar mit ihrer Stadt verbunden.

Um ein wenig zurückzublicken: Andrea Palladio ist der Architekt von Venedig, dem er durch seine strategisch gesetzten Kirchen und Paläste eine strahlende Renaissance-Front zum Wasser hin verliehen hat. Karl Friedrich Schinkel ist der Architekt von Berlin, dem er mit Bauten, die er nach sorgfältigen Versuchen an den neuralgischen Stellen der Stadt errichtete, sein modernes Gesicht gegeben hat. Piero Portaluppi ist der Architekt von Mailand, und seine erstaunlich eklektischen Werke bilden eine eigentümliche, kraftvolle Triangulatur im Stadtgefüge. Auguste Perret ist der Architekt von Paris, wo seine sachlich diskreten Gebäude auf den zweiten Blick mächtig herausragen und der Stadt Ausstrahlung verleihen. Jože Plečnik ist der Architekt von Ljubljana, das er mit seiner Strategie der architektonischen Akupunktur durch Bauten und Freiräume neu und zusammenhängend gestaltet hat.

Mit einem Ort verbundene Architekten

Diese Baumeister haben den architektonischen Charakter ihrer Stadt unwiederbringlich geprägt. Dafür mussten sie nicht notwendigerweise ein Amt in der Bauadministration bekleiden, was lediglich bei Schinkel der Fall war. Sie mussten nicht exzessiv viel bauen, was allenfalls Portaluppi getan hat. Sie mussten nicht die exponiertesten Monumentalbauten errichten, was nur Schinkel mit dem Alten Museum, Perret mit dem Musée des Travaux publics und Plečnik mit der Stadtbibliothek beschieden war. Sie mussten nur – nur? – ihre Gebäude sensibel und selbstbewusst dort platzieren, wo sie besondere Punkte im Stadtgefüge markieren oder das Stadtgefüge selbst neu deuten. Sie mussten in ihren Architekturen die kulturelle Quintessenz der Stadt in ihrer Epoche einfangen.

Einige Architekten entwickeln bewusst eine ausgesprochen individuelle Architektursprache. Diese entsteht aus speziellen, subjektiven Vorlieben, Befindlichkeiten und Emotionen und gehört ihnen allein. Im Expressionismus der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat diese Auffassung einen kurzlebigen Höhepunkt erreicht. Heute erlebt sie ein erstaunliches Revival. Wir verdanken ihr viele selbstverliebte, eitle, aufdringliche Kuriosa, die unwiederbringliche Zerstörung ganzer urbaner Ensembles und einige wenige grossartige Wahrzeichen. Selbst die Wahrzeichen stehen jedoch eigentümlich fremd in der Stadt: Sie arbeiten an ihr nicht weiter.

Den Gesetzmässigkeiten folgen

Andere Architekten entwickeln ebenso absichtsvoll eine universale Architektursprache: Sie entsteht aus der Logik der Aufgabe in ihrer Zeit. Diese Logik und diese Zeit werden unterschiedlich, ja persönlich gedeutet, sind aber grundsätzlich in der Aufgabe enthalten und mithin allgemein. Deshalb ist die Architektursprache, die daraus abgeleitet wird, immer eine Deklination des Klassischen. Deswegen gehört diese Architektursprache nicht ihrem Urheber allein, sondern allen. Sie ist Vermögen der Allgemeinheit.

Die Architekten der Stadt gehören zur zweiten Gattung von Baumeistern. Sie wollen der Stadt nicht ihre Befindlichkeiten aufdrängen, sie wollen keine grundlegend andere Stadt beschwören, sie wollen ihr nicht Wahrzeichen aufnötigen. Sie wollen die bestehende Stadt bewahren und an ihr weiterbauen – schöpferisch, innovativ, überraschend, aber innerhalb ihrer besonderen Gesetzmässigkeit, Physiognomie und Kultur. Daher lassen sie es zu, ja sie möchten es, dass ihre Sprache auch von anderen verwendet wird. Damit schafft man es vielleicht nicht auf die Titelseite einer Illustrierten, aber man kann so eine ganze Stadt bauen.

Kompetenz kommt vor der Handschrift

Roger Dieners Architektur zelebriert die eigene Persönlichkeit ebenso wenig, wie es der Mensch Roger Diener tut. Jemand, der wirklich kompetent und stark ist, braucht seine Kompetenz und seine Stärke nicht zur Schau zu stellen. Wer Architektur beherrscht, vollkommen beherrscht, braucht daraus kein extravagantes individuelles Branding zu machen. Tatsächlich arbeitet Roger Diener an einer Vielzahl von Dimensionen seiner Architektur, nur nicht an ihrer bildhaften Wiedererkennbarkeit.

Das ist heute geradezu eine Anomalie: Nicht ohne eine gewisse peinliche Verbissenheit bemühen sich die meisten exponierten Architekten um eine besondere Handschrift, die möglichst unmissverständlich mit ihren Namen in Verbindung gebracht werden soll. Der architektonischen Rhetorik, dem baulichen Formalismus werden leichtfertig konstruktive, funktionale, soziale und ökonomische Anforderungen geopfert, auch jegliche Rücksicht auf die Bestimmung und den Ort.

Diese Resignation, diese Anbiederung sind Roger Dieners Sache nicht. Für ihn ist Architektur ein Beruf mit Verantwortung, Würde und Stolz. Es geht ihm immer um seine Regeln und Grundlagen – immer um die Funktion, immer um die Konstruktion, immer um die Bestimmung, immer um den Ort. Die Form leitet sich daraus ab, genauer: aus seiner besonderen, persönlichen, schöpferischen Deutung dieser Voraussetzungen. Dass daraus eine ebenso identitätsstiftende wie wiedererkennbare Architektur entsteht, die in ihrer Unaufgeregtheit inzwischen mehr Erfolg hat, sogar mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als die Internationale des Spektakels, gehört zu den erfreulicheren Ironien der Architekturgeschichte.

Der Stadt Basel verpflichtet

Roger Diener ist ein kosmopolitischer, weltweit agierender und anerkannter Architekt. Aber Roger Diener ist auch und vor allem der Architekt von Basel. Man könnte einwenden: Aber er hat hier gar keine Wahrzeichen gebaut. Hat er in der Tat nicht. Doch auch abgesehen davon, dass man über die modernen Wahrzeichen Basels und ihre Angemessenheit unterschiedlich denken kann: Er hat viel mehr getan als das. Er hat mit seinen scheinbar normalen, in Wahrheit hochkomplexen, unergründlichen, zuweilen durchaus auch befremdlichen Bauten nicht nur Orte wie den Barfüsserplatz oder den Picassoplatz subtil verändert und gestärkt; er hat die gesamte Stadt mit leichthändigen punktuellen Eingriffen verwandelt und bereichert.

Die Eingriffe von Roger Diener sind nicht immer geringfügig, auch nicht immer liebenswürdig. Doch auch dann, wenn sie Härte zeigen, bleiben sie unaufdringlich, kultiviert und angemessen. Sie verkörpern so etwas wie einen Extrakt der Basler Architekturtradition und etablieren zugleich eine neue, erfrischende, stellenweise durchaus irritierende Konvention. Und sie bilden Vorbilder für Schüler und Nachahmer. Dass diese dann mehr oder minder glücklich diese Konvention weiterführen, ist dann wiederum ein Beweis der Kraft und der Grosszügigkeit von Roger Dieners Architektur: der Beweis, dass diese Architektur derart in sich ruht, dass sie wie alle grossen Architekturen die Nachahmung provoziert und dass sie jeder verwenden kann, dass sie dann nicht mehr nur ihrem Autor, sondern der Stadt gehört.

Pietro Verri, Wirtschaftswissenschafter, Philosoph, Historiker, Schriftsteller und der vielleicht exponierteste und umstrittenste Vertreter der Mailänder Aufklärung, beschrieb im 18. Jahrhundert, wie das Glück des Menschen bei ihm selbst beginne und sich dann auf das ausweite, was er schaffe. Das Glück des Weisen, folgerte er daraus, erfülle sich im öffentlichen Glück. Genau in diesem Sinn hat Roger Diener seiner Stadt Basel, und nicht nur dieser, das öffentliche Glück seiner Architektur geschenkt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2019.11.22

02. November 2019Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Nur dauerhafte, dichte und notwendige Architektur kann in der Klimakrise bestehen

Zu den abgedroschensten Klischees, die so gut wie jedes zeitgenössische Bauvorhaben bemüht, gehört die forsche Selbstauskunft, es sei nachhaltig. Doch...

Zu den abgedroschensten Klischees, die so gut wie jedes zeitgenössische Bauvorhaben bemüht, gehört die forsche Selbstauskunft, es sei nachhaltig. Doch...

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04. Februar 2019Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Die Städte werden langsamer. Die urbane Architektur muss es ihnen gleichtun

Die Baukunst liefert einen wichtigen Beitrag für den städtischen Lebensraum. Sie muss ästhetisch wie bautechnisch den Erfordernissen der modernen Stadt gerecht werden.

Die Baukunst liefert einen wichtigen Beitrag für den städtischen Lebensraum. Sie muss ästhetisch wie bautechnisch den Erfordernissen der modernen Stadt gerecht werden.

Neue Zeiten verlangen nach einer neuen Baukunst. Der moderne Bürger ist bestenfalls summarisch gebildet und kann ein anspruchsvolles ikonografisches Programm nicht mehr verstehen. Ausserdem nimmt er Architektur auf dem eiligen Gang durch die Stadt unaufmerksam und flüchtig wahr. Somit muss die neue Architektur stark vereinfacht sein und ihren Charakter aus wenigen einprägsamen Elementen erhalten. Sie muss das Detail dem Ganzen unterordnen, so wie Claude Monet oder Edgar Degas malten. Sie muss impressionistisch werden.

Es war der niederländische Architekt Hendrik Petrus Berlage, der vor über hundert Jahren diese Auffassung vertrat, und zwar in einem Vortrag mit dem Titel «Baukunst und Impressionismus». Bis dahin waren die städtischen Häuser Gebilde mit komplex artikulierten Hüllen gewesen. Sie waren in Hauptteil, Basis und Attika gegliedert, die jeweils anders gestaltet und oft auch aus anderen Materialien hergestellt waren: der Sockel widerstandsfähig, weil am exponiertesten, und schwer, um Solidität zu vermitteln, die Attika leicht und licht, allenfalls mit kräftigem Gesims, um den oberen Gebäudeabschluss zu markieren. Dazwischen waren die Fenster rhythmisch in die Fassade eingeschnitten, wobei Rahmen oder Faszien den Übergang zwischen Fläche und Öffnung thematisierten.

Die Fensterbänke standen stärker vor, um Wassernasen zu vermeiden, aber auch um dem Fenster mehr Halt in der Wand zu verleihen. Die Fensterläden waren in die Gesamtkomposition integriert. Flächige oder plastische Zierelemente unterstrichen sie und fügten dekorative und erzählende Dimensionen hinzu, die das Haus mit seiner Nutzung, seinem Bauherrn oder einfach nur seiner Zeit verknüpften. All das, so Berlage, war nunmehr anachronistische Verschwendung und würde vom neuen, rasanten Lebensrhythmus dahingerafft werden.

Im Rausch der Geschwindigkeit

Der Vortrag hatte bei den Zuhörern keinen Erfolg, aber die Vorstellung einer Stadtbaukunst, die sich der Geschwindigkeit des modernen Lebens fügen, ja sogar aus ihr ableiten sollte, prägte von nun an die urbanistische Diskussion. Der französische Kunst- und Literaturhistoriker Émile Magne sah aus dem immer schneller fahrenden Verkehr eine puristische «Esthetique des Villes» entstehen – so der Titel seines 1908 erschienenen Buchs.

Peter Behrens, der Doyen der deutschen Architektur der Moderne, schrieb zwei Jahre später: «Eine Eile hat sich unserer bemächtigt, die keine Musse gewährt, sich in Einzelheiten zu verlieren. Wenn wir im überschnellen Gefährt durch die Strassen unserer Grossstadt jagen, können wir nicht mehr die Details der Gebäude gewahren.»

Die grossen städtebaulichen Utopien des 20. Jahrhunderts, allen voran Le Corbusiers Ville contemporaine von 1923, wurden für jenen rasanten Autoverkehr konzipiert, der als Symbol und Ausdruck des Fortschritts galt. Und die auf schlichte Volumina reduzierte, karge, dekorationslose Architektur des neuen Bauens war die Antwort auf die hastige, oberflächliche Wahrnehmung, die aus der triumphal zunehmenden urbanen Geschwindigkeit resultierte.

Noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ging man generell davon aus, dass der Städtebau in erster Linie mit dem Automobilfahrer zu rechnen hätte; davon abweichende Auffassungen wie jene der Townscape-Bewegung, die in der britischen Zeitschrift «The Architectural Review» entwickelt wurde und ein pittoreskes Menschenmass forderte, blieben marginal. Ein Jahrzehnt später begann man, sich von der Vorstellung der autogerechten Stadt zu verabschieden.

Die Fussgängerzonen, die nach ihrem Debüt mit der vielbeachteten Einkaufsstrasse Lijnbaan in Rotterdam von 1953 schüchterne Auftritte erhalten hatten und nur in Kopenhagen bereits 1962 im grossen Massstab eingeführt worden waren, breiteten sich aus. Die sogenannten Begegnungszonen kamen hinzu, und insgesamt wurden in den europäischen Städten die Höchstgeschwindigkeitsgrenzen für den Automobilverkehr drastisch herabgesetzt. Was nur wenige Jahrzehnte zuvor enthusiastisch begrüsst worden war, hatte sich als Zerstörer des urbanen Lebensraums erwiesen.

Heute sind sich alle einig darüber, dass die Städte zugunsten des Langsamverkehrs umgerüstet werden müssen. Behrens’ «überschnelle Gefährte» rasen nicht mehr durch die Strassen unserer Grossstädte, sondern schlängeln sich durch lauschige Quartierstrassen und werden angehalten, dem Fussgänger Vortritt zu gewähren. Und als moderne Flaneure kämpfen wir gegen die Eile an.

Davon scheinen unsere Häuser nichts gemerkt zu haben. Weiterhin gebärden sie sich kubisch und karg, zeigen einheitliche glatte Oberflächen und unvermittelt eingeschnittene Fensteröffnungen, versuchen zuweilen durch spektakuläre skulpturale Verrenkungen oder plakative Elemente auf sich aufmerksam zu machen. Ob minimalistisch oder ikonisch, sie setzen sich für einen rasanten Städter in Szene, der im Aussterben begriffen ist. Der zeitgenössische Fussgänger, der zeitgenössische Fahrradfahrer findet an den abstrakt abrasierten Fassaden keine Wohltat und keinen Trost. Dafür muss er sich in die Altstädte oder in die Gründerzeitviertel begeben, wo er noch Details und Schmuckformen findet, die seinen Weg kurzweilig gestalten.

Schlampige Architektur

Die langsame Stadt, die in Anlehnung an die 1999 in Italien begründete Cittàslow-Bewegung die Entschleunigung auf ihre Fahnen schreibt, muss nicht nur anders funktionieren als die Stadt der Geschwindigkeit, sie muss auch anders aussehen. Ihre Gestaltung, für deren Wahrnehmung neue Musse vorhanden ist, kann dichter und anspruchsvoller sein. Die Hausfassaden können wieder, wie es die historischen getan haben und immer noch tun, Aufmerksamkeit erregen, Geschichten erzählen, Augen- und Tastsinn erfreuen. Sie können es nicht nur, sie müssen. Tun sie das nicht, geraten die Strecken, die wieder gemächlich zurückgelegt werden, eintönig, langweilig, ermüdend und freudlos.

Doch es geht bei der Bereicherung und Belebung der Stadtarchitektur zum Wohl des Fussgängers und des Fahrradfahrers nicht einfach um eine neue Architekturspielart. Berlages Befund, der die Ära der impressionistischen Baukunst einläutete, berücksichtigte neben der Eile des Betrachters auch jene des Bauherrn. Dieser sei nicht länger Willens, in umständlichen Zierrat zu investieren, weil er rasch bauen wolle, um die Laufzeit der Kredite für die Baufinanzierung kurz zu halten und überhaupt so schnell wie möglich Rendite aus den Gebäuden zu erwirtschaften. Auch und vor allem daraus leitete sich in den Augen des niederländischen Architekten die Notwendigkeit einer nüchtern detaillosen Architektur ab.

Die darauffolgende Entwicklung übertraf seine pessimistischsten Voraussagen. Die Optimierung des Bauprozesses führte zu zunehmend schlampigen Ausführungen. Die Investoren verbündeten sich mit der Bauindustrie und erfanden immer billigere, immer ärmere und simplere Baustoffe, Elemente und Oberflächen. Die Architekten fügten sich dem Trend zur ästhetischen und materiellen Verarmung, den sie mit der mehr oder minder aufrichtigen Bezugnahme auf die Bauhaus-Tradition und auf minimalistische Kunsttendenzen kulturell rechtfertigten und adelten.

Wenn sie nun, um den Anforderungen der neuen urbanen Langsamkeit Genüge zu tun, einen Paradigmenwechsel vollziehen sollen, kann dieser nicht nur ästhetisch, sondern muss auch ökonomisch sein. Die Baumeister müssen sich auf andere Referenzen besinnen als jene, welche die orthodoxe Moderne bietet, und diese Referenzen kreativ einsetzen. Sie müssen mehr konzipieren, mehr ins Detail gehen, mehr zeichnen, kurz: mehr arbeiten. Doch müssen die Auftraggeber sie in die Lage versetzen, diesen Mehraufwand leisten zu können: mit angemessenem Budget, mit angemessener Honorierung und vor allem mit angemessener Zeit.

Kluge Investitionen

Ist das im Hochkapitalismus, in dem es keinen Platz für Mäzene und Kunstliebhaber zu geben scheint und alles Bauen vom Gesetz der maximalen Rendite beherrscht wird, überhaupt realistisch? Ja, ist es. Die weitsichtigen, klugen Entwickler haben es bereits erkannt, den weniger weitsichtigen und weniger klugen dämmert es allmählich: Alle urbane Investition setzt auf die Aufwertung ihres Standortes. Jeder, der in der Stadt baut, ist an deren Erfolg beteiligt, ja auf deren Erfolg angewiesen. Eine Architektur, die sich auf den Wandel von der rasanten zur langsamen Stadt einlässt und diesen unterstützt, fördert die Stadtentwicklung. Das kommt der Stadt, aber ebenso der einzelnen Baumassnahme zugute – auch ökonomisch.

So sind Zeit und Geld, die für werthaltige, sorgfältig entworfene und ästhetisch dichte Architektur eingesetzt werden, nicht nur Wohltaten für die urbane Umwelt: Sie sind auch und vor allem kluge Investitionen. Sie tragen zur Angemessenheit und Lebensfähigkeit der Stadt bei und schaffen sich so ein kongeniales Umfeld. Sie bewähren sich in der Zeit nicht zuletzt dadurch, dass sie zu einem robusten, dauerhaften, dauerhaft attraktiven Kontext beitragen. Sie stellen eine langfristige Anlage dar, die von jener urbanen Nachhaltigkeit profitiert, die sie materiell und ästhetisch demonstrieren.

Würde Berlage heute eine Analyse des sozialen und ökonomischen Umfelds des Bauens unternehmen, würde er eine neue, aufgeklärte Gesellschaft beschreiben, die langfristig denkt und jede private Initiative gemeinschaftlich bewertet. Er würde eine Marktwirtschaft schildern, die den Wert ihrer Einzelinvestitionen an ihrer Verträglichkeit mit, ja an ihrem Beitrag zu einem nachhaltigen gemeinschaftlichen Aufbau misst. Und er würde daraus die Forderung einer Baukunst ableiten, die wieder zur durchgearbeiteten Fassade, zum bewusst ausgewählten Material, zum sorgfältig komponierten Detail, zum aussagekräftigen Dekor zurückfindet und sich selbstbewusst und gelassen die dafür erforderliche Zeit nimmt.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2019.02.04

23. September 2016Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Unterhaltung und Erkenntnis

Der Museumsbau steht in Europa, Amerika, Japan und nun auch in China im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Doch statt Meisterwerken entstehen immer öfter nur noch formalistische Bauten.

Der Museumsbau steht in Europa, Amerika, Japan und nun auch in China im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Doch statt Meisterwerken entstehen immer öfter nur noch formalistische Bauten.

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29. Juli 2016Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Was Bauen mit Ethik zu tun hat

In den Architekturdebatten werden immer wieder moralische Argumente vorgebracht, um bestimmte Richtungen zu forcieren; eine tragfähige Ethik muss die Baukunst aber im eigenen Metier wiederfinden.

In den Architekturdebatten werden immer wieder moralische Argumente vorgebracht, um bestimmte Richtungen zu forcieren; eine tragfähige Ethik muss die Baukunst aber im eigenen Metier wiederfinden.

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23. Mai 2015Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Die Stadt als Lounge?

Das stadtplanerische Zauberwort des Augenblicks heisst Urbanität: Auf den Strassen und Plätzen soll es brummen. Aber es kann nicht die ganze Stadt belebt sein, schon gar nicht im Zeichen des Konsums.

Das stadtplanerische Zauberwort des Augenblicks heisst Urbanität: Auf den Strassen und Plätzen soll es brummen. Aber es kann nicht die ganze Stadt belebt sein, schon gar nicht im Zeichen des Konsums.

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16. Mai 2014Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Leitlinie, Gedächtnis oder Selbstzweck?

Der Bau von Städten wurde nahezu immer von theoretischem Nachdenken begleitet. Wann ist dieses Nachdenken für den Urbanismus eine Stütze, ja sogar eine Orientierung und wann eine überflüssige Last? Wie soll es beschaffen sein? Und wie muss es auf den Städtebau und seine Geschichtsschreibung bezogen werden?

Der Bau von Städten wurde nahezu immer von theoretischem Nachdenken begleitet. Wann ist dieses Nachdenken für den Urbanismus eine Stütze, ja sogar eine Orientierung und wann eine überflüssige Last? Wie soll es beschaffen sein? Und wie muss es auf den Städtebau und seine Geschichtsschreibung bezogen werden?

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24. Februar 2012Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Kulturgut und Lehrstück

Die Modelle für den Städtebau von morgen sehen manche Planer im suburbanen Raum oder in der Formenwelt von Science-Fiction und Biotechnologie. Doch vielleicht liegen sie näher: in den historischen Zentren der Städte Europas, die lebendig erhalten und als Lehrstücke studiert und analysiert werden sollten.

Die Modelle für den Städtebau von morgen sehen manche Planer im suburbanen Raum oder in der Formenwelt von Science-Fiction und Biotechnologie. Doch vielleicht liegen sie näher: in den historischen Zentren der Städte Europas, die lebendig erhalten und als Lehrstücke studiert und analysiert werden sollten.

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10. November 2009Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Erhalten, entrümpeln, verdichten

Die Metropolen wachsen unaufhörlich, daher tut Stadt- bzw. Raumplanung not. Immer komplexer werden die Anforderungen von Infrastruktur und Verkehr, von Soziokultur und Umweltschutz. Die Utopie der Planstadt gibt es noch immer, die Historie der Stadt aber lässt sich nicht abstreifen. Wie soll es weitergehen?

Die Metropolen wachsen unaufhörlich, daher tut Stadt- bzw. Raumplanung not. Immer komplexer werden die Anforderungen von Infrastruktur und Verkehr, von Soziokultur und Umweltschutz. Die Utopie der Planstadt gibt es noch immer, die Historie der Stadt aber lässt sich nicht abstreifen. Wie soll es weitergehen?

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01. März 2008Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Bescheidene Häuser statt spektakuläre Bauskulpturen

Die zeitgenössische Architektur treibt derzeit bizarre Blüten. Daher ist Vittorio Magnago Lampugnanis Ruf nach einer «neuen Einfachheit», der vor fünfzehn Jahren mitten im Triumph der postmodernen Architektur eine Polemik auslöste, weiterhin aktuell. Anlässlich der in Karlsruhe abgehaltenen Tagung «100 Jahre Werkbund» hat Lampugnani seine Position präzisiert und gegen den Schweizer Minimalismus abgegrenzt.

Die zeitgenössische Architektur treibt derzeit bizarre Blüten. Daher ist Vittorio Magnago Lampugnanis Ruf nach einer «neuen Einfachheit», der vor fünfzehn Jahren mitten im Triumph der postmodernen Architektur eine Polemik auslöste, weiterhin aktuell. Anlässlich der in Karlsruhe abgehaltenen Tagung «100 Jahre Werkbund» hat Lampugnani seine Position präzisiert und gegen den Schweizer Minimalismus abgegrenzt.

Im Gegensatz zu dem, was die traditionelle Baugeschichtsschreibung suggeriert, hat es in jeder Epoche mehrere Architekturstile nebeneinander gegeben; aber so viel Vielfalt wie heute gab es noch nie. Das Interesse der Architekten und ihres Publikums gilt der Ausnahme, nicht der Regel oder der Konvention; und je spektakulärer sich diese Ausnahme gebärdet, umso beachtenswerter und damit umso besser erscheint sie. Für diese gezielte optische Differenzierung muss die Attraktivität der Aussenhaut herhalten, und ihr Zusammenhang mit dem Gebäudeinneren wird zunehmend aufgegeben.

Diejenigen Baumeister, die in den Zeitschriften, Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen als Stararchitekten tituliert und gefeiert werden, haben sich rasch darauf eingestellt. Sie liefern ihren Auftraggebern die medienwirksame ästhetische Überraschung, die sie erwarten, und veredeln diese mit ihrer Signatur. Ergebnis ist nicht zuletzt eine neue gesellschaftliche Rolle der Architektur, glamourös und affirmativ zugleich. Ergebnis ist allerdings auch eine erhebliche Verwirrung, weil die Architekturbilder, mit denen das Publikum tagtäglich mit immer neuen (oder scheinbar neuen) Sensationen überflutet wird, alles möglich und paradoxerweise auch alles gleich erscheinen lassen. Diese Entwicklung ist umso erstaunlicher, als sie mit einer Tradition der Moderne bricht, die in eine ganz andere Richtung weist: in Richtung der Zurückhaltung, der Reduktion, des Schweigens, der Einfachheit. Deren Prinzip ist so alt wie die Architektur selbst: Vitruv propagierte diese Art von Baukunst, Vignola befleissigte sich ihrer (im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Palladio, der bei aller klassischen Strenge ein grosser Bildschöpfer war), Domenico Fontana und Ferdinando Fuga führten sie zu einem frühen Höhepunkt und verliehen ihr eine städtebauliche Dimension.

Zeitgenössische Einfachheit

Der bewusste, dramatische und vielleicht auch irreversible Bruch mit der Möglichkeit, sinnhaft mit Bildern umzugehen, wurde jedoch Anfang des 20. Jahrhunderts vollzogen: nicht von einem Architekten, sondern von einem Literaten. 1902 veröffentlichte Hugo von Hofmannsthal in der Berliner Tagespresse den fiktiven Brief von Lord Philipp Chandos an Francis Bacon, in dem er die Leere hinter den Worten als Folge der Vertreibung aus dem Paradies des Sprachvertrauens schildert und das Schweigen als einzig möglichen Ausweg suggeriert. Seitdem war dieses Schweigen oder zumindest eine dem Schweigen nahekommende Reduktion das zentrale Leitbild der Moderne. Auch in der Architektur: von Adolf Loos (und im Hintergrund Karl Kraus) bis Le Corbusier, von Karl Scheffler bis Ludwig Mies van der Rohe.

Ein knappes Jahrhundert später ist die Moderne nicht mehr ganz so modern, wie sie einmal war. Von einigen ihrer Prinzipien mussten und müssen wir uns verabschieden. Zu denen, die auch vor dem neuen Hintergrund unserer Zeitgenossenschaft ihre Gültigkeit nicht verloren haben, gehört jenes der Einfachheit. Diese legt bereits die Technik nahe. Der Bauprozess ist auch dort, wo er sich modernster Verfahren bedient, weiterhin in vielen Bereichen handwerklich geprägt. Je mehr Arbeitssschritte und Details sich wiederholen, desto unkomplizierter läuft der Prozess ab. Mit anderen Worten: Je einfacher ein Gebäude ist, desto problemloser lässt es sich konstruieren. Die problemlose Konstruktion darf nicht die Gestalt eines so komplexen und vielschichtigen Organismus, wie es ein Haus ist, einseitig bestimmen; aber sie sollte nur dann verkompliziert werden, wenn die Bestimmung und das Konzept des Gebäudes es verlangen. Dies schon aus ökonomischen Gründen. Weit stärker als das Material fällt im Bauprozess die Arbeit finanziell ins Gewicht. Und je komplizierter ein Gebäude zu bauen ist, umso mehr Arbeit erfordert es und damit auch Geld. Der ökonomische Druck, der auf den Gebäuden lastet, legt nahe, ihre Herstellungskosten zu reduzieren. Und auch dort, wo der finanzielle Rahmen generös ist, tut man gut daran, zu sparen, wo Sparsamkeit möglich ist – aus ökologischen Erwägungen und um an anderer Stelle gezielt grosszügig sein zu können.

Wirtschaftlichkeit beim Bauen, also der umsichtige und zielgerichtete Umgang mit Ressourcen, ist für das singuläre Unternehmen vorteilhaft; für die Weltgemeinschaft ist sie ein Imperativ. Eine Architektur der Einfachheit kann in zweierlei Hinsicht nachhaltig sein. Sie kann zur Erhaltung der Energie- und Materialressourcen unserer Erde beitragen, indem sie davon nur das Allernötigste verbraucht. Und sie kann dadurch, dass sie materiell und ästhetisch lange hält, weil sie solide gebaut und zeitlos gestaltet ist, jener Verschwendung sich entgegenstellen, die für die Zerstörung unserer Welt mitverantwortlich ist.

Die Kontrolle und die Reduktion des Energieverbrauchs beim Bauen drängen sich schon deswegen auf, weil dieser knapp die Hälfte des gesamten Energieverbrauchs unserer westlichen Gesellschaft ausmacht. Erschwerend kommt hinzu, dass er fossile, also nicht erneuerbare Brennstoffe wie Erdöl und Gas betrifft. Mit einfachem Bauen allein kommt man diesem Problem nicht bei, aber ein elementares Bauvolumen mit zurückhaltend und heliothermisch richtig angeordneten Öffnungen ist allemal sparsamer als eine zerklüftete Glasskulptur. Und traditionelle Heiz- und Kühlsysteme, welche die natürlichen klimatischen Bedingungen optimal ausnutzen und mit wenig und einfacher Technik auskommen, können vor allem in den klimatisch moderaten Zonen, in denen wir leben, den Energiebedarf eines Gebäudes sensationell verringern.

Was die Dauerhaftigkeit anbelangt: Jedes Haus ist nicht nur eine Energieverbrauchsmaschine, sondern auch eine teure Ansammlung von Material, Arbeit und Ideen und eine potenzielle Abfalldeponie. Es sollte deswegen kein Wegwerfprodukt sein. Noch fördern Grundstücksmarkt und Abschreibungsmechanismen die rasche Folge von Abriss und Neubau. Doch das ist eine unsinnige Verschwendung: ökologisch unverantwortlich und volkswirtschaftlich inakzeptabel. Sie wird bald auch privatökonomisch nicht länger bestehen können.

Gesellschaft und Ästhetik

Indessen sprechen nicht nur technische, ökonomische und ökologische Gründe für Einfachheit im Bauen, sondern auch und vor allem gesellschaftliche. Architektur ist eine Kunst mit hoher öffentlicher Präsenz; als solche muss sie möglichst viele Menschen ansprechen. In den Worten von Loos: Das Haus hat jedem zu gefallen. Und, möchte man hinzufügen, über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg. Das ist, will man sich nicht geschmäcklerisch gebärden, nur durch Verzicht auf individualistische Gesten zugunsten einer kultivierten Neutralität möglich. Anders ausgedrückt: zugunsten einer reflektierten Einfachheit.

Der soziale Anspruch von Architektur führt zwangsläufig zu ihrer urbanistischen Dimension. Die Stadt ist eine der höchsten, wenn nicht die höchste Stufe gemeinschaftlicher Kultur, in der sich die Individuen freiwillig einem übergeordneten Regelwerk unterstellen, das ihr Zusammenleben koordiniert, ordnet, erleichtert und im besten Fall bereichert. In ihr gibt es für kritischen Dissens Platz, aber nicht für kapriziöse Allüren und systematische Häresien. Auch nicht für architektonische Allüren und Häresien. Marc-Antoine Laugier, Verfechter eines rationalistischen Klassizismus und eines Urbanismus der Vielfalt und der Überraschung, mahnte in seinem «Essai sur l'architecture» von 1753, die Fassaden der Häuser in der Stadt dürften nicht den Launen Einzelner überlassen werden. Die gesellschaftliche Vereinbarung muss sich auch in den gebauten Formen widerspiegeln, die sie repräsentieren; und nur in der Einfachheit findet sich eine entsprechend breit abgestützte moderne Konvention.

Vor diesem Hintergrund fordert auch die ideologische Dimension der Architektur ihre Einfachheit. Wenn es nicht einer rein kommerziellen und schäbigen Zweckrationalität huldigt, enthält das Bauen stets auch den Traum eines besseren Lebens, und zwar eines besseren Lebens für alle. Das ist in der autistischen Verschlüsselung, aber auch im Protz und im zur Schau getragenen Überfluss nicht möglich. Die Kultur und der Reichtum, die wir besitzen, müssen unter einer möglichst grossen Anzahl von Menschen möglichst gerecht verteilt werden. Das ist nur durch jene Selbstbeschränkung zu erreichen, welche Einfachheit erzeugt und durch sie veredelt wird.

Einfachheit ist kein Stil

Eine derlei definierte Einfachheit hat nichts mit Minimalismus zu tun, auch nichts mit einer neuen Armut oder einer neuen Archaik. Diese mehr oder minder modischen Stilrichtungen entsprechen der Gepflogenheit ihrer Protagonisten, mit affektierter pseudoexistenzialistischer Pose stets und überall schwarze Hemden, schwarze Krawatten und schwarze Anzüge zu tragen, was Loos, der ein wahrer Meister der Reduktion war, zutiefst entsetzt hätte. Sie haben die einfache Gestalt als Ziel. Im Gegensatz dazu geht es bei der neuen Einfachheit um den Inhalt: um einfache Programme, einfache Konstruktionen, einfache Technik, einfache Handhabe, einfache kulturelle Zusammenhänge.

Konkret: Ein Haus wird sich nicht als abstrakte Raumkonstruktion präsentieren, ganz gleich ob expressiv oder sachlich. Es wird auf seinen Typus und seine Aufgabe verweisen, auf die konstruktive und kulturelle Tradition, aus der es hervorgeht, auf seine ideelle Bestimmung und seine intellektuellen Aspirationen. Seine Materialien werden nicht unnötig ausgefallen sein: keine Fassade aus Stucco lustro oder serigrafiertem Glas, auch nicht aus millimeterfein geschnittenen und auf Glas geklebten Marmorplatten, sondern eher aus Putz, Mauerziegel, Stein oder Holz, zumal diese sowohl technisch-konstruktiv als auch wirtschaftlich vorbildlich sind und überdies reiche kulturelle Implikationen enthalten. Es wird Fenster haben, die nicht nur grafisch komponierte Einschnitte in den Wänden sind, sondern artikulierte architektonische Elemente, durch die man hinausschauen kann, die zu öffnen sind und sich verschatten und verdunkeln lassen. Es wird über eine Küche verfügen, die mit einem richtigen Herd ausgestattet ist und mit Geräten, die ihre Funktion und ihren Mechanismus verraten. Im Bad wird es Wasserhähne geben, die man auf einleuchtende Art und Weise aufdrehen und wieder zudrehen kann, und auch die Dusche wird so beschaffen sein, dass es weder einer Gebrauchsanweisung noch eines umfangreichen experimentellen Studiums bedarf, um sich zu waschen. Die Schranktüren werden nicht nur Schattenfugen aufweisen, sondern über Griffe verfügen, damit man sie leicht und verständlich auf- und zumachen kann. Und: Es wird Sockelleisten geben, damit die Wände nicht jedes halbe Jahr neu gestrichen oder die Reinemachefrauen in psychiatrische Behandlung geschickt werden müssen.

Dabei wird es nicht darum gehen, partout zu einer künstlichen Einfachheit zurückzukehren, deren Voraussetzungen in der modernen Welt nicht existieren und die mithin affektiert wirken würde. Vielmehr wird zu überprüfen sein, wie viel Komplexität wirklich notwendig ist und wie viel davon nur Verkomplizierung ist, auf die man ohne Verlust und sogar mit Gewinn verzichten kann. Mit einem Gewinn an Benutzbarkeit, Verständlichkeit, Nachvollziehbarkeit. Mit einem Gewinn an Lebensqualität.

Tatsächlich wird eine solche Einfachheit nicht einfach zu erreichen sein. Denn im besten Fall geht sie von der maximalen Komplexität aus, um sie daraufhin in einem langen und schwierigen Auswahlprozess zu reduzieren. Weit davon entfernt, simpel oder gar dürftig zu sein, ist sie ein Konzentrat von Reichtum. «Verwechseln Sie bitte nicht das Einfache mit dem Simplen», soll Mies van der Rohe gemahnt haben. Und: «Der Zwang zur Einfachheit bedeutet keine kulturelle Armut, wenn wir uns bemühen, so viel Schönheit als nur möglich einzufangen.»

Komplexe Einfachheit

Besonders trifft dies in der bildenden Kunst zu. Das vielleicht lapidarste Gemälde der italienischen Renaissance, Antonello da Messinas «Annunciata», die im Palazzo Abatellis in Palermo hängt, steht am Ende eines langen Wegs, der mit der konventionellen Ikonographie der Verkündigung begann. Daraufhin verbannte Antonello den Engel aus dem Bild, beschränkte sich bei Maria auf ein Porträt einer ernsten, zierlichen Schönheit vor dunklem Hintergrund und liess sogar den Heiligenschein weg. Wie sehr er an diesem Porträt arbeitete, zeigt nicht nur die Münchner Fassung des Motivs, die als ein Vorläufer der Palermitaner Version zu gelten vermag, sondern auch die Vielzahl der verworfenen Versuche, welche die Restaurierung zutage brachte. Nur die Proportionen des Daumens der linken Hand wurden dreimal geändert. Das Ergebnis ist ein überraschend kleinformatiges und grossartiges Gemälde, entwaffnend einfach und unergründlich zugleich. Seine enigmatische Essenzialität hat die unterschiedlichsten Deutungen und Emotionen hervorgerufen und ruft sie heute noch genauso hervor wie vor einem halben Jahrtausend.

Nicht anders in der Architektur. Hinter den klaren Anlagen und Formen von Leon Battista Alberti und Gianlorenzo Bernini, von John Soane und Karl Friedrich Schinkel, von Le Corbusier und Mies van der Rohe schimmern Verwerfungen und Widersprüche durch, die nur mit grosser Anstrengung (und Geduld und Talent) überwunden und sublimiert werden konnten. Heute, im Zeitalter der sich geradezu auftürmenden Komplexität, der immer schärfer werdenden Widersprüche und der ins Unendliche wachsenden Verfügbarkeit der Information, erfordert die Einfachheit mehr Fähigkeiten und Arbeit als zuvor. Heute, in der Epoche der Reizüberflutung, ist sie so wichtig wie noch nie.

Einfaches Leben

Architektur bestimmt nicht auf strenge und starre Weise das Leben der Menschen; doch wenn sie gut ist, deutet sie dieses Leben empathisch und kritisch, erleichtert und beeinflusst es positiv. Eine Architektur der Einfachheit versinnbildlicht und suggeriert ein einfaches Leben, ja noch mehr: Nur ein einfaches Leben vermag ihr Inhalt und Sinnhaftigkeit zu geben. Denn wenn auch diese Architektur besonders viele unterschiedliche Lebensweisen zulässt: Im Idealfall sollte sie so einfach benutzt werden, wie sie sich darstellt. Unprätentiöse Räume wirken am besten, wenn man sich darin unprätentiös verhält; schnörkellose Formen entsprechen schnörkellosen Haltungen. Auch einfache Technik verlangt wenn nicht unbedingt bescheidene, so doch moderate Ansprüche. Konkret, wenn auch ein wenig salopp: Man kann leichter mit weniger Haustechnik und einer einfachen Klimatisierung auskommen, wenn man bereit ist, zuweilen auch einen Pullover anzuziehen oder das Jackett abzustreifen.

Hinter solcherlei scheinbar harmlosen Postulaten verbirgt sich eine Utopie: jene eines vernünftigen Lebens und Zusammenlebens. Sie ist bescheidener als die Forderung nach einem neuen Menschen, wie sie die klassische Moderne der zwanziger Jahre formulierte, aber mit ihr durchaus verwandt. Die Verwandtschaft sollte nicht schrecken, eher Mut machen, und die Utopie gepflegt werden. Sie ist Voraussetzung einer glaubwürdigen zeitgenössischen neuen Einfachheit. Sie ist Voraussetzung einer engagierten und wahrhaft zeitgenössischen Architektur.

[ Der Architekturtheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani ist Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich und selbständiger Architekt in Mailand. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.03.01

02. Dezember 2006Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

«Wo jedes Gebäude sein bestimmtes Gesicht haben soll»

Der grossspurigen faschistischen Rhetorik stellten italienische Intellektuelle die wahrheitsgetreue Darstellung des Alltagslebens gegenüber. Dieser «Neorealismo» griff auch auf die Architektur über, die jegliche Monumentalität zugunsten einer neuen Eingängigkeit und Gemütlichkeit aufgab.

Der grossspurigen faschistischen Rhetorik stellten italienische Intellektuelle die wahrheitsgetreue Darstellung des Alltagslebens gegenüber. Dieser «Neorealismo» griff auch auf die Architektur über, die jegliche Monumentalität zugunsten einer neuen Eingängigkeit und Gemütlichkeit aufgab.

In der Zeitschrift «Domus», deren Leitung er gerade von Gio Ponti übernommen hatte, beschwor Ernesto Nathan Rogers im Januar 1946 in einem programmatischen Essay mit dem ebenso lapidaren wie suggestiven Titel «La casa dell'uomo» ein allenthalben rissiges, dem Wind und dem Regen ausgesetztes Haus, das einzig vom Wehgeschrei der Frauen und Kinder erfüllt sei. Die Metapher verwies auf die Architektur tout court, vor allem aber auf jene Italiens. Dabei ging es Rogers nicht einfach um den Wiederaufbau der Häuser und Städte, die durch den Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren. Er sah das Land vor allem moralisch beschädigt und forderte zusammen mit der Neugestaltung der italienischen Architekturlandschaft auch jene der Gesellschaft, die sie bewohnen würde: Damit machte sich Rogers zum Sprachrohr und Interpreten einer ganzen Generation jüngerer italienischer Architekten, die sich im Nachkriegs-Italien architektonisch ebenso wie politisch neu zu orientieren versuchten.

KULTURELLE BEFREIUNGSVERSUCHE

Bereits in den dreissiger Jahren hatten einige italienische Schriftsteller begonnen, nach Alternativen zur spätsymbolistischen und spätfuturistischen Literatur, vor allem aber zu der vom Faschismus propagierten hohlen Magniloquenz zu suchen. Dafür knüpften sie am Verismo an, der Ende des 19. Jahrhunderts die schonungslose Darstellung der Wirklichkeit und die unverfälschte Offenlegung ihrer harten Bedingungen auf seine Fahnen geschrieben hatte. Den heroischen Themen der regimefreundlichen Schreibkunst setzten Dichter wie Alberto Moravia oder Elio Vittorini lebensnahe Motive, das Schicksal von kleinen Leuten, die Kämpfe der Arbeiter, Bauern und Partisanen entgegen; der bewusst altertümelnden Sprache eine leicht verständliche Ausdrucksweise; der nationalistischen und zunehmend rassistischen Masseneuphorie die Heroisierung des einzelnen Uomo della strada.

Der italienische Film nahm etwa zur gleichen Zeit eine ähnliche entzauberte Haltung wie die Literatur ein. Noch während die propagandistischen Dokumentarfilme des Istituto Nazionale Luce unter geschickter Verwendung der vom Futurismus und Konstruktivismus entwickelten Bild- und Schnitttechniken die Taten von Mussolini verherrlichten, zeigte Luchino Visconti in «Ossessione» (1942) neben dem Liebesdrama der beiden Hauptdarsteller in betont ruhigen Folgen eine Sequenz von Landschaften, die Italien so zeigten, wie es war, und nicht so, wie es das Regime gern umgestaltet hätte. Nicht die Kraft des Individuums inmitten einer egalisierenden kollektiven Masse stand im Mittelpunkt, sondern das Einzelschicksal einfacher Menschen; nicht zu Stein gewordene monumentale Grösse rahmte die Handlung ein, sondern ebenso schlichte wie stimmungsvolle Landschaftsbilder.

Anfang 1949 wurde mit einem Gesetz, das unter dem Namen «Piano Fanfani» bekannt werden sollte, die INA-Casa gegründet. Die Initiative verfolgte eine doppelte Zielsetzung: Es ging darum, die Wohnungsnot der Nachkriegszeit durch staatlich subventionierte kostengünstige Arbeiterwohnhäuser zu bekämpfen; aber auch und vor allem darum, Arbeitsplätze für die zahlreichen ungelernten Arbeitslosen zu schaffen, die vorwiegend aus Süditalien stammten und von der Industrie nicht aufgenommen werden konnten. Damit stand von vornherein fest, dass das INA-Casa- Programm bevorzugt arbeitsintensive, also traditionelle Bauweisen fördern würde und nicht industrielle Konstruktionstechniken.

Organisatorisch wurde die INA-Casa als autonome Institution innerhalb des INA (Istituto Nazionale delle Assicurazioni) eingerichtet und dem Ministero del Lavoro unterstellt. Finanziert wurde sie über Staatsbeiträge, die zum Teil über den Marshallplan flossen, sowie über Pflichtabgaben der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Ihre Kompetenzen beschränkten sich auf die Förderung und die Bewirtschaftung eines grossangelegten Bauprogramms für preisgünstige Wohnungen, schlossen aber keinerlei städtebauliche Planungshoheit ein, die weiterhin bei den Gemeinden verblieb. Die Grundstücke wurden auf dem freien Markt erworben, die Wohnungen zur Hälfte vermietet und zur Hälfte verkauft. Die Berechtigung wurde nach komplizierten Schlüsseln ermittelt, wobei Familiengrösse und Bedürftigkeit die wichtigsten Kriterien für Priorität waren.

Zum Leiter des Verwaltungsrats wurde der konservative Baumeister Arnaldo Foschini ernannt und die Direktion des Projektierungsbüros dem rationalistischen Architekten Adalberto Libera anvertraut. Einer der wichtigsten Mitarbeiter war der moderate Modernist Mario De Renzi. Unter ihrer kulturell, aber auch politisch heterogen zusammengewürfelten Equipe verabschiedete die INA-Casa zwei Normenbändchen, die 1949 und 1950 erschienen. Sie artikulierten nicht nur die praktischen, sondern vor allem auch die ideologischen Richtlinien des Bauprogramms.

Im ersten Normenband wird für die Planung zusammenhängender Wohnquartiere eine maximale Dichte von 500 Einwohnern pro Hektare vorgeschrieben, gute Besonnung und Belüftung werden gefordert, und der geschlossene Block mit Innenhof wird abgelehnt. Für die Wohnungen werden die Trennung von Tag- und Nachtbereich, eine geräumige Loggia und ein Abstellraum verlangt. Der finanzielle Aufwand muss minimiert werden, aber nicht auf Kosten der Wohnlichkeit, denn «die Wohnung ist vor allem der Ort, an dem eine Familie wohnt und (. . .) der ihr ausser den primitiven ‹vier Wänden mit einem Dach› viele andere kleine Dinge bieten soll (. . .), die zusammen das gemütliche Haus ergeben».

PITTORESKE ARCHITEKTUR

Auf die Berücksichtigung des Genius Loci und der örtlichen Bautraditionen wird besonderer Wert gelegt; daraus ergibt sich vermeintlich zwangsläufig eine pittoreske städtebauliche und architektonische Anordnung: «Das Haus sollte zur Gestaltung der urbanen Umgebung beitragen und sich dabei die geistigen und materiellen Bedürfnisse des Menschen vergegenwärtigen (. . .), der die unendliche Wiederholung desselben Typs von Wohnung, innerhalb deren er seine eigene nur an der Nummer erkennt, weder liebt noch versteht (. . .). Die Gegebenheiten des Bodens, die Besonnung, die Landschaft, die Vegetation, der Farbcharakter werden die entwerferische Komposition beeinflussen, damit die Bewohner der neuen urbanen Kerne den Eindruck haben können, in diesen sei etwas Spontanes, etwas Echtes, etwas unlöslich mit dem Ort, auf dem sie stehen, Verbundenes.»

Der zweite Band von 1950 baut auf den Prinzipien des ersten auf, wendet sie jedoch auf die neue städtebauliche Zielsetzung der INA-Casa an: die in sich geschlossene autonome Arbeitersiedlung mit sämtlichen notwendigen Infrastrukturen. Auch dafür werden neben den gängigen hygienischen Postulaten Forderungen nach Vielfalt und Auflockerung aufgestellt. Um das Ziel der auch moralischen Gesundheit und des auch psychologischen Wohlbefindens zu erreichen, bedarf es eines Städtebaus und einer Architektur, die geeignet sind, die Identität der Bewohner zu fördern. Vorgeschlagen werden «verschiedene urbanistische Kompositionen, (. . .) bewegt, ausgeformt, um so gemütliche und erholsame Umgebungen zu schaffen (. . .), wo jedes Gebäude sein Gesicht haben soll und jeder mühelos sein Haus mit dem Gefühl wiederfinden soll, dass sich darin seine Persönlichkeit widerspiegelt».

Solche Empfehlungen bleiben nicht abstrakt, sondern werden mit konkreten Beispielen untermauert. Historische Stadtfassaden aus Amsterdam und Kopenhagen werden als Exempel «wahrer» spontaner Architektur angeführt, zeitgenössische Siedlungen aus Dänemark und Schweden zur Nachahmung empfohlen. Doch auch Entwürfe, die Teil des ersten INA-Casa-Programms sind, werden nicht ohne Stolz präsentiert: so die Häusergruppe in den Abruzzen von Piero Maria Lugli und die Siedlung Valco San Paolo in Rom von Saverio Muratori und De Renzi.

Es folgen zwanzig städtebauliche Vorschläge, die vor allem Rücksicht auf bestehende Bauten, auf landschaftliche Eigenheiten, auf topographische Besonderheiten und auf örtliche Traditionen nahelegen. Zu den Letzteren gehört auch die Farbe: «Die Rückkehr zum Gebrauch der Farbe, typisch für die italienische Architektur, ist in jedem Fall ratsam (. . .). Besonders bei den Siedlungen, wo die Notwendigkeiten der Ökonomie generell keine besonders vielfältige plastische Gestaltung erlauben, kann die Farbe dazu beitragen, die Wohnung zu individualisieren, die Einförmigkeit einer langen Reihe von Typenhäusern zu brechen und gleichzeitig ein wichtiges Element der Verbindung mit der Umgebung zu bilden.» Anschliessend wird auf Fragen der richtigen Aufteilung der Wohnung und ihrer kostengünstigen Realisierung eingegangen; erneut wird darauf hingewiesen, dass sie den Alltagsbedürfnissen der Arbeiter zu entsprechen haben und dass dafür diese genau eruiert werden müssen.

NEOREALISTISCHES BAUEN

Die beiden ersten Normenbände der INA-Casa legten mit bemerkenswerter Konkretheit und Präzision die ideologischen, sozialen, ökonomischen, technischen und nicht zuletzt kulturellen Strategien der Projekte fest, die im Rahmen des «Piano Fanfani» entstehen sollten. Umgekehrt aber beeinflussten auch die Projekte selbst die Normen, vor allem die des zweiten Bandes. Tatsächlich debütierte die INA-Casa mit kleinen innerstädtischen Wohnanlagen, musste aber bald aufgrund der zu hohen Bodenpreise auf vorstädtische Grundstücke ausweichen. Dort mussten grössere Siedlungen angelegt werden: eben die Überbauungen, die im zweiten Normenband propagiert wurden. Als er gedruckt wurde, befand sich das erste dieser Viertel, das Quartiere Tiburtino in Rom, gerade im Bau: Unter der Leitung von Ludovico Quaroni schuf eine Gruppe junger und jüngster Architekten eine dorfartige Hauskomposition, deren Anlage den romantischen Mythos der spontan gewachsenen Agglomeration und deren traditionelle handwerkliche Details die «heile Welt» der Bauern und Arbeiter nicht ohne Naivität beschwören. 1954 realisierte Mario Ridolfi, der sich selbst als Vorstadtarchitekt bezeichnete, die Wohntürme am Viale Etiopia, wiederum in Rom, die mit ihrer freien Anordnung, ihren ausgetüftelten Grundrissen, ihren schweren geneigten Dächern und ihrer ruppigen Ausführung traditionelle Werte wiederaufleben lassen. Damit hatte der architektonische Neorealismo zwei seiner konkreten Manifeste erhalten.

[ Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani ist Ordinarius für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich und Architekt in Mailand. Als jüngste Publikation ist kürzlich im Quart-Verlag in Luzern sein Buch «Stadtarchitekturen» erschienen. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.12.02

03. Dezember 1999Vittorio Magnago Lampugnani
Neue Zürcher Zeitung

Was bleibt vom Projekt der Moderne?

Das architektonische Projekt der Moderne ist alles andere als ein klar eingegrenztes Phänomen. Selbst seine plakativste Ausprägung, die Neue Sachlichkeit, ist nicht nur historisch einmalig und ästhetisch exzeptionell, sondern auch inhaltlich widersprüchlich. Will man prüfen, was davon auch im nächsten Jahrhundert trägt, muss man differenziert die Themen betrachten, die der Architektur der Moderne gemeinsam sind.

Das architektonische Projekt der Moderne ist alles andere als ein klar eingegrenztes Phänomen. Selbst seine plakativste Ausprägung, die Neue Sachlichkeit, ist nicht nur historisch einmalig und ästhetisch exzeptionell, sondern auch inhaltlich widersprüchlich. Will man prüfen, was davon auch im nächsten Jahrhundert trägt, muss man differenziert die Themen betrachten, die der Architektur der Moderne gemeinsam sind.

Die Architektur der Moderne hat mit der Chimäre des neuen Menschen zu tun, wie er sich in den Büchern von Friedrich Nietzsche präfiguriert findet und als Traum und Verheissung, als Aufgabe und Ziel in der Kultur des frühen 20. Jahrhunderts immer wieder beschworen wird. Sie hat mit der neuen Gesellschaft zu tun und mit der Herausforderung, eine bisher unvorstellbare Anzahl von Menschen in ebenso unvorstellbar rasch wachsenden Ballungsräumen unterzubringen und zu versorgen. Sie hat mit der sozialen Ideologie zu tun und mit dem Anspruch, die Städte, die Dörfer und die Landstriche unter ihren Bewohnern möglichst gerecht zu verteilen und allen menschenwürdige Bedingungen anzubieten. Sie hat mit der Industrialisierung zu tun und mit zunehmend rationalisierten, standardisierten und technisierten Produktionsverfahren, die eingesetzt werden, um Güter massenweise und mit geringeren Kosten und grösserer Qualität herzustellen. Sie hat mit der Technisierung und dem Fortschritt zu tun, die neuartige Konstruktionen ermöglichen, die ebenso neuartige Leistungen erfüllen, aber auch mit der telematischen Revolution, die völlig neue Bedingungen für Informationstransfer, Kommunikation und damit auch für das menschliche Zusammenleben schafft. Sie hat mit der politischen und technischen Problematik von Naturschutz und Ökologie zu tun, also der Notwendigkeit, mit den Ressourcen der Erde sparsam und sinnvoll umzugehen. Sie hat schliesslich mit dem kulturellen Phänomen der allenthalben eingreifenden Vereinfachung zu tun, die von den neuen gesellschaftlichen und technischen Bedürfnissen nahegelegt und zugleich von der fortschrittlichen Kultur zu einem künstlerischen und sogar ethischen Prinzip erhoben wird.


Themen des 20. Jahrhunderts

Die Architektur der Moderne hat sich also sämtlichen grossen Themen des 20. Jahrhunderts gestellt und versucht, sie zu verarbeiten. Welche dieser Themen sind für das neue Jahrhundert, ja für das neue Jahrtausend von Bedeutung? Auf welche muss sich die Architektur, will sie weiterhin modern, also zu ihrer Zeit gehörig sein, einlassen, und wie? Auf einen Nenner gebracht: Was bleibt übrig vom architektonischen Projekt der Moderne? Die Moderne, ein gescheiterter Versuch? Nicht wenig scheint zunächst Grund dafür zu bieten, das Experiment als gescheitert zu beurteilen und unverzüglich abzubrechen. Der Traum des neuen Menschen ist im systematischen Völkermord zum Albtraum mutiert. Die Massengesellschaft hat allenthalben zur Zerstörung des Territoriums und der Kultur beigetragen, indem sie beides trivialisiert hat. Die soziale Ideologie ist als Vorwand für vermeintlich sozialistische Regimes missbraucht worden. Die Industrialisierung hat nicht nur das Handwerk grösstenteils zerstört, sondern auch weite Teile der Landschaft und vielerorts das Bewusstsein für Qualität. Die Technik hat den Dienst am Menschen aufgegeben und ist zu jenem für den Profit übergegangen, wobei sie die grössten Katastrophen des Jahrtausends mittelbar oder unmittelbar verschuldet hat. Die Ökologie ist vielerorts zu einem hohlen Schlagwort verkommen, zu einem modischen Etikett, mit dem man ein verwöhntes und leicht ermüdetes Publikum zu neuem Konsum alter, lediglich anders aufgemachter und vermarkteter Produkte reizt. Das künstlerische Prinzip der Einfachheit lebt bestenfalls als Stil und schlimmstenfalls als affirmatives Zugeständnis an kommerzielle Anforderungen fort.

Demselben leidlich kritischen Blick, der solcherlei wahrnimmt, kann allerdings nicht verborgen bleiben, dass sämtlichen grossen Phänomenen der Moderne neben negativen Seiten auch produktive und positive eignen. Sie haben dazu beigetragen, dem Jahrhundert, das gerade zur Neige geht, seinen Glanz zu verleihen, und können auch dem Beginn des neuen Jahrtausends Hoffnung einflössen. Die Massengesellschaft etwa ist mitnichten nur ein milliardenköpfiges Ungeheuer, das nur darauf wartet, jegliche ausserordentliche künstlerische Leistung genüsslich und lautlos zu verschlingen; sie ist vor allem eine potentielle Öffentlichkeit, die sowohl sinnvolle Politik als auch gute Architektur zu tragen vermag. Sie kann die Basis für jenen differenzierten Konsens darstellen, den die eine wie die andere braucht, um zu einem Instrument der Selbstbestimmung und der Selbsterkenntnis zu werden. Im übrigen geht es in Europa schon seit Jahrzehnten nicht mehr darum, Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben, um jeden Preis eine Wohnung zu geben, und noch weniger ist es das Gebot der Zeit, die Städte zu erweitern oder gar neu aufzubauen; es sei denn, wir zerstören sie mutwillig, wie es gerade mit Sarajewo und Belgrad geschehen ist. Umverteilung, Ausgleich, Stabilisierung und Eingrenzung stehen in den abendländischen Städten an. Diese Aufgaben verlangen nicht nach der grossen Kelle, sondern nach feiner, einfühlsamer, konzeptionell abgestützter Arbeit.

Die soziale Ideologie, die heute in der euphorischen Neuentdeckung des sogenannt freien Marktes, der leichtsinnigen Privatisierungseuphorie und des bedrohlichen Deregulierungswahns gern als passé erklärt wird, ist nicht nur das Lieblingsschlagwort skrupelloser Regimes, sondern unverändert Grundprinzip für eine stabile und würdige Welt: eine Welt, in der die Menschen friedlich, gleichberechtigt und möglichst glücklich zusammenleben können. Daraus kann und muss Architektur ihre Inspiration, ja ihre Substanz schöpfen. Vor allem im städtischen Kontext muss das Prinzip der Gleichheit oder zumindest jenes der Analogie vorrangig herrschen: Wo keine substantiellen Unterschiede existieren, sollen sie auch nicht vorgegaukelt werden. Im Hausbau sprach sich Heinrich Tessenow bereits 1916 für die Uniform in der gewerblichen Arbeit und der Architektur aus. Etwa ein Jahrzehnt später ging Hans Schmidt noch einen Schritt weiter und forderte sich und seine Kollegen auf, sich unendlich zu wiederholen: Ein Gebäude solle wie das andere aussehen. Nicht der Wunsch nach Rationalisierung, sondern jener nach sozialer Gleichheit und (scheinbar paradoxerweise) individueller Freiheit stand vorrangig hinter diesem Postulat. Um der Radikalität willen geriet es schematisch; in seiner Quintessenz wies es jedoch den Weg aus einer Personifizierungs- und Verniedlichungshysterie, die bis heute anhält.

Die Industrialisierung ist ebensowenig ein kultur- und lebenfressendes Ungeheuer wie die Massengesellschaft. Seit geraumer Zeit schon sind die grossen Unternehmen Orte, wo nicht nur Waren und Profit, sondern auch Kultur produziert wird. Für die Architektur können also Konzerne nicht nur Auftraggeber, sondern auch Verbündete sein. Speziell im Bauprozess ist Industrialisierung mittlerweile eine selbstverständliche Bedingung, aber nicht immer und überall. Als Mittel, billiger und besser zu produzieren, kann und muss sie bei Bauelementen eingesetzt werden, die sich wiederholen: Stützen und Trägern, Fenstern und Türen, Heizkörpern und Lampen. Das geschieht übrigens ansatzweise seit der römischen Antike, im grossen Massstab seit dem 19. Jahrhundert. Was erst seit wenigen Jahrzehnten stattfindet, ist die massive Überflutung des Baumarkts mit schlechten Industrieprodukten: überdimensionierten Tragelementen mit daumendicken Toleranzen, die nach der grobschlächtig erfolgten Montage mit der bewährten Silikonspritze zugeschmiert werden; plump proportionierten Kunststoffenstern; aufdringlichen Heizkörpern, Lichtschaltern und Sockelleisten, von mehr oder weniger namhaften Designern eiligst im Flugzeug skizziert und von cleveren Herstellern billigst produziert. Solcherlei Barbarei ist allerdings nicht schicksalhaft mit industrieller Produktion verknüpft. Diese hat im Gegenteil einen Standard erreicht, der sie in die Lage versetzt, eine Vielzahl guter Produkte zu schaffen.

Eng damit zusammen hängt die Entwicklung der Technik. Ein Grossteil der Moderne des 20. Jahrhunderts verband mit ihr die kühnsten Hoffnungen auf Selbstbefreiung des Menschen und leicht verfügbares Glück. Diese Hoffnungen können wir heute angesichts der unzähligen Katastrophen, die eine nachlässig und falsch eingesetzte Technik zu verantworten hat, nicht mehr teilen. Und doch wäre es voreilig, sich deswegen dem technischen Fortschritt tout court zu verschliessen. Die Fenster von heute leisten mehr als die Fenster von gestern; wenn sie hässlicher sind, liegt es nicht an ihrem technischen Standard, sondern an der Unfähigkeit, diesem Standard eine ansprechende Form zu geben. Das Haus von heute ist nicht zuletzt dank zahlreichen Apparaten komfortabler als das von gestern; wenn wir über die Faszination ihrer vermeintlichen «Intelligenz» die ureigensten Qualitäten von Architektur wie Raum und Oberfläche, Öffnung und Wand vernachlässigen, wenn wir das Haus mit Gadgets auch dort überfrachten, wo sie unnötig und gar hinderlich sind, heisst es nur, dass wir noch nicht gelernt haben, mit eben diesen Apparaten sinnvoll umzugehen. Sinnvoll werden wir aber erst dann mit ihnen umgehen, wenn wir sie so einsetzen, dass sie nicht nur uns, sondern auch unsere Häuser entlasten und zu diskreten, grösstenteils unsichtbaren Helfern werden.


Das Prinzip Nachhaltigkeit

Weitaus gründlicher noch als die Hoffnung auf einen glückbringenden technischen Fortschritt ist jene zerschmettert, über unendliche materielle Ressourcen zu verfügen. Ein Teil der traditionalistisch orientierten Moderne ahnte bereits, dass Landschaft, Natur und Rohstoffe kostbar seien und geschont werden müssten. Ihre Skrupel wurden jedoch sofort von der Fortschrittsgläubigkeit beiseite gefegt. Mit dieser Leichtfertigkeit ist es endgültig vorbei. Wenn wir die Erde, auf der (und von der) wir leben, möglichst sinnvoll unter uns verteilen wollen, ohne ihren Reichtum zu verschleudern und ihre Unterschiede einzuebnen, muss die zur Verfügung stehende Technik so eingesetzt werden, dass sie das bedrohte ökologische Gleichgewicht nicht noch mehr erschüttert. Und wir müssen unsere Wünsche und Bedürfnisse darauf einstellen, möglichst wenig zu verbrauchen und nur das wirklich Notwendige zu produzieren - auch in der Architektur. Zu den wichtigsten Ressourcen, über die wir verfügen, gehört die Landschaft. Wir können nicht immer mehr neues Bauland an den Rändern unserer Städte ausweisen, um mit locker gestreuten Einfamilienhäusern einer Natur nachzuziehen, die wir damit unwiederbringlich zerstören, und Peripherien zu erzeugen, die weder urban noch ländlich sind. Wir müssen zusammenrücken. Wir müssen die Städte, die wir bereits haben, erhalten, arrondieren und verdichten; was sie, wenn wir intelligent verdichten, nur urbaner und kraftvoller macht.

Auch auf dem Land sollte gezielt, konzentriert und nur bei wirklichem Bedarf gebaut, renoviert, umgenutzt und revitalisiert werden. Wenn renoviert, wenn neu gebaut werden muss, sollte das Ergebnis dauerhaft sein. Von jeher ist Architektur mit ihrem Anspruch, feste, schützende und identifikationsstiftende Orte zu schaffen, das menschliche Instrument der Nachhaltigkeit schlechthin. Eine Baukunst, die ihre ökologische Verpflichtung ernst nimmt, muss eine langfristige Investition darstellen. Es ist eine untragbare Verschwendung, Gebäude zu bauen und gleich wieder abzureissen. Und eine Baukunst, die ihre gesellschaftliche Verpflichtung ernst nimmt, muss jenseits der modischen Geste, jenseits der spektakulären Allüre auch ästhetisch halten und damit zu einem Ort werden können, in dem Menschen sich heimisch fühlen. Hinzu kommt die Verpflichtung, den zukünftigen Generationen etwas zu hinterlassen. Wir leben in Städten und Landschaften, die in Jahrtausenden kultiviert und gebaut wurden, wir benutzen sie, erfreuen uns an ihnen, besichtigen sie und geniessen sie gar wie Kunstwerke: Wir profitieren von der Arbeit und dem Erfindungsgeist von Menschen, die vor uns gelebt haben. Wir müssen gleichermassen etwas weitergeben, das Bestand hat und weiterverwendet werden kann. Durchaus auch etwas, was den Nachkommen das Leben verschönern möge.

Das Instrument, das die kulturelle Nachhaltigkeit von Architektur sicherstellt, ist ihre eigene Geschichte. Als Gedächtnis der Disziplin gewährleistet sie auch jenseits der sinnlichen Erfahrung die Dauerhaftigkeit der Bilder im kollektiven Gedächtnis. Der Mythos der Moderne als ahistorisches Phänomen ist von der Postmoderne forciert worden, die auf diese Weise die eigene Daseinsberechtigung behauptet hat: als Kompensation eines Defizits. Zwar duldete Walter Gropius keine Baugeschichtslehre in seinem Curriculum an der Graduate School of Design in Harvard, weil er befürchtete, die schönen Beispiele aus der Vergangenheit würden die Studenten in ihrer Verpflichtung zur Gegenwart korrumpieren. Aber Le Corbusiers beredtes Manifest der baulichen Moderne, «Vers une architecture», schöpft aus den Lehren der Vergangenheit mindestens genauso wie aus jenen der Maschinenästhetik.

Die Forderung nach Nachhaltigkeit im Bauen steht in krassem Widerspruch zum leichtfertigen Refrain der Futuristen, jede Generation solle sich ihr Haus und ihre Stadt bauen. In der Tat müssen wir von der modernistischen Chimäre der tabula rasa genauso Abschied nehmen wie von dem Trugbild des Bruchs mit der Vergangenheit. Die historische Stadt und die historische Landschaft existieren in Europa: Es kann nicht darum gehen, sie mutwillig zu zerstören, sondern nur darum, sich an ihnen zu messen. Das gilt auch für die Stadt des 19. Jahrhunderts, die nicht länger als Feindbild und Hintergrundsfolie für die reinen Kristalle eines Bruno Taut oder eines Ludwig Mies van der Rohe herhalten muss, sondern ganz im Gegenteil zu einem Modell gerät, verbesserungsfähig zwar, aber auch höchst instruktiv.

Die Forderung nach Nachhaltigkeit im Bauen steht auch im Widerspruch zu den wirtschaftlichen Mechanismen, die gegenwärtig unsere Welt regieren. Heute wird in der Regel nicht gebaut, wenn man über das entsprechende Geld verfügt, sondern sobald man Zugriff zu einem Kredit hat. Daraus ergibt sich immer häufiger ein Termindruck, der keine sorgfältige Planung erlaubt, und ein Kostendruck, der keine solide Ausführung zulässt. Die Gebäude werden möglichst schnell, billig und spektakulär hochgezogen und müssen, wenn sie steuerlich abgeschrieben sind, sofort Platz machen, damit das Grundstück noch gewinnbringender verwertet werden kann. All dies hat jedoch nicht mit der Moderne etwas zu tun, sondern mit der Bauspekulation im Hochkapitalismus. Die Architektur kann sich der Bauspekulation zwar nicht versagen, kann aber sehr wohl Prozessen Widerstand leisten, die im Gegensatz stehen zu der Vorstellung einer Welt, die wir erhalten und pflegen müssen.

Für all dies bietet sich die Ästhetik der Einfachheit geradezu an. Sie entspricht der Massengesellschaft, weil sie gewissermassen als kleinster gemeinsamer Nenner die unterschiedlichen Geschmacksrichtungen miteinander verbindet. Sie entspricht der sozialistischen Ideologie, denn die Reduktion auf die Essenz spielt auf Gleichstellung und Gleichbehandlung an. Sie entspricht der Industrialisierung, weil Reduziertes leichter normierbar, standardisierbar und in grossen Serien herstellbar ist. Sie entspricht dem ökologischen Anspruch, weil in der Einfachheit jegliche Verschwendung aufgehoben und die Dauerhaftigkeit durch die Klassizität gewährleistet ist.

1909 schrieb Paul Klee in seinem Tagebuch: «Wenn bei meinen Sachen manchmal ein primitiver Eindruck entsteht, so erklärt sich diese ‹Primitivität› aus meiner Disziplin, auf wenige Stufen zu reduzieren. Sie ist nur Sparsamkeit, also letzte professionelle Erkenntnis. Also das Gegenteil von wirklicher Primitivität.» Auch in der Architektur ist die bewusst konstruierte Einfachheit nicht das Ergebnis von Nachlässigkeit oder Trägheit, sondern poetisches Verfahren. Und Mittel, die architektonische zu einer wirksamen, weil allgemein verständlichen Sprache zu machen.


Ein «Klassiker» und ein neuer Mensch

Bleibt noch von den eingangs aufgelisteten Grundthemen des 20. Jahrhunderts jenes des neuen Menschen. Es ist deutlich geworden: Nicht um eine enthusiastische Fortschreibung des Projekts der Moderne geht es und auch nicht um dessen krude Ablehnung. Das Projekt der Moderne ist ein Klassiker, wie auch das Attribut in der landläufigen Bezeichnung «klassische Moderne» verkündet. Als solcher kann und muss es immer wieder neu gedeutet werden, wobei das Überzeitliche vom Zeitbedingten abgelöst und für die Zukunft produktiv gemacht zu werden braucht.

Subjekt und zugleich Objekt dieser Neudeutung ist aber die schemenhafte, zuweilen bedrohliche, durchaus aber auch hoffnungsfrohe Gestalt des neuen Menschen. Er scheint aus einer anderen, weit zurückliegenden Zeit zu kommen und ist dabei vermutlich ein Pionier einer neuen Generation, die gegen die Belanglosigkeit, in welche die unendliche Wahlfreiheit des (späten) 20. Jahrhunderts geführt hat, in freiwilliger Selbstbeschränkung auftritt. Deren Vertreter schliessen sich nicht allen erreichbaren medialen Kanälen an und auch nicht jeder modischen Ideologie. Im Gegenteil: Sie verhalten sich eigensinnig und denken unabhängig und differenziert.

Zugleich reduzieren sie bewusst die Komplexität ihres Lebens, verringern ihre Wahlmöglichkeiten, versuchen die eigenen Ich-Aussagen und persönliche Freiheiten neu in Konventionen zu giessen. Wie schrecklich, wird jetzt mancher ausrufen: Es sind Konservative. Vielleicht sind es Konservative. Vielleicht aber sind sie in einer Welt, in der der Individualismus zur gesellschaftlichen Konvention geraten ist, die eigentlichen Individualisten und Nonkonformisten. Und damit auch die eigentlichen Neuerer, auf die das neue Jahrtausend seine Hoffnungen bauen muss - nicht nur für die Architektur.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.12.03

Profil

Architekturstudium an den Universitäten Rom und Stuttgart; 1973 Diplom. Vittorio Magnago Lampugnani ist seit 1994 ordentlicher Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich und hat zusammen mit zwei Partnern ein eigenes Architekturbüro in Mailand.

Er war u. a. wissenschaftlicher Berater der Internationalen Bauausstellung (IBA) und Direktor des Deutschen Architekturmuseums (DAM) in Frankfurt. 2010 erschien sein 900-seitiges Opus magnum „Die Stadt im 20. Jahrhundert“ (Wagenbach).

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