Inhalt

WOCHENSCHAU
02 Zerstörung der Gemütlichkeit? Ausstellung in Weil am Rhein | Ursula Baus
03 Pinchuk Art Center in Kiew | Aurélien Gillier
04 Hansgrohe Aquademie in Schiltach | Ulf Meyer
04 Public Istanbul. Tagung in Weimar | Andreas Quart

BETRIFFT
06 Portfolio City Leipzig | Stefan Rettich

WETTBEWERBE
08 Kultur- und Kongresszentrum in Künzelsau | Friederike Meyer
10 Entscheidungen
11 Auslobungen

THEMA
12 Budynek Seksmisji | Ilka und Andreas Ruby
18 Ordnung aus den 50er Jahren | Kaye Geipel
22 Büros auf der Produktion | Ursula Baus
28 Verwertung der Landschaft | Hubertus Adam

REZENSIONEN
35 Jahrbuch Bau und Raum 2006 | Jürgen Tietz
35 Atlas Positionen Architektur 2004/2005 | Karl J. Habermann
35 Clima Design | Christian Brensing

RUBRIKEN
5 wer wo was wann
5 Leserbriefe
34 Kalender
36 Anzeigen
40 Die letzte Seite

Zerstörung der Gemütlichkeit?

Die Frage nach der Gemütlichkeit ist zweifellos von kulturpolitisch höchstem Rang. Wie umgeben sich zum Beispiel unsere Politpromis? Wohnt Angela M. in einem Ambiente von Plaste und Elaste oder inzwischen im Gelsenkirchener Barock? Setzt Frank Walter S. morgens seine Zehen vor dem Bett auf einen hochflorigen Flokati und dann im Badezimmer auf ei­nen bunten Flickerlteppich? Oder lieben beide cooles Design mit höchsten Hygieneansprüchen? Richtig, das Thema grenzt an Indiskretion, denn dem äußeren Erscheinungsbild eines Hauses mögen Jacken, Mäntel und Hosen entsprechen, seinem Inneren aber die hautnahe Unterwäsche. Einem Architekten kann ein Kritiker kein schlimmeres Urteil zumuten als: „Sie haben aber ein gemütliches Haus gebaut!“ Gemütlichkeit ist andererseits ein Labsal für die gestressten Mitglieder der Gesellschaft. Das Vitra Design Museum lockt mit dem Ausstellungstitel „Zerstörung der Gemütlichkeit?“ nach Weil am Rhein und trifft damit sicher den Nerv der Zeit, denn ob die Gemütlichkeit zerstört worden ist, und wenn ja, wie, das wüssten wir doch gern.

1927 stellte Willi Baumeisters Plakat zur Werkbund-Ausstellung am Stuttgarter Weißenhof provokant dar, wie schwer der Verdruss über das konventionelle Wohnen auf den Gestaltern lastete: Ritzerot ist ein Interieur mit Teppichen und Deckchen und Polstersesseln und pompös gerahmten Bildchen durchgekreuzt – und suggestiv die Frage ins Bild gefügt: „Wie wohnen?“ Das Thema wird jetzt in Weil anhand der sechzehn wichtigsten programmatischen Ausstellungen des 20. Jahrhunderts aufgerollt: Von der Mathildenhöhen-Ausstellung 1901 in Darmstadt geht es zur Kunstschau von 1908 in Wien, zum Wohnmöbelwettbewerb am MoMA im Jahr 1941, nach Detroit zur Ausstellung „For Modern Living“ 1949 und zu Max Bills fulminanter Schau „Die gute Form“. In den 50er Jahren präsentierte die Mailänder Triennale das nüchterne „Good Design“ skandinavischen Ursprungs, das seine Popularität einer Wanderausstellung durch die USA verdankt. Ende der 60er Jahre lancierte das Chemieunternehmen Bayer auf der Kölner Möbelmesse die Leistungsfähigkeit der Kunststoffe im Möbelbau, Verner Panton und Joe Colombo präsentierten ihre Wohnfantasien ausgerechnet auf einem rheinischen Ausflugsschiff – wo es allenthalben gemütlich zugehen soll. Einen Sturm im Wasserglas verursachten 1981 die italienischen Memphis-Designer mit mehr oder weniger tauglichem Kram aus bunten, schrill ornamentierten Kunststoffen, während die trashigen Gegenstände der späten Achtziger in Deutschland irritierten.

Begann kurz darauf der ganze Starzirkus mit Philipp Starck, Mattheo Thun und vielen anderen, brach sich ein ideologisch nicht mehr beherrschbarer Pluralismus Bahn: Jeder wohne nach seiner Façon, womit wir wieder in der Gegenwart von Angela M. und Frank Walter S. angekommen sind, die, wie alle andern auch, geschmacksmoralisch nicht belangt werden dürfen.

Die Kuratoren des Vitra Design Museums sind leider selten vom Möbel zum Interieur gesprungen, denn die Wohnatmosphären, die zu den sechzehn Etappen gehören, sind bis auf zwei kaum inszeniert: Spürbar wird in der Ecke des Hauptraums, wie kuschelig es in den 60er Jahren in farbenfrohen Plüschszenarien mit geschwungenen, sinnlichen Formen zuging. At­mosphäre gibt auch im Obergeschoss ein komplett aufgebautes Holzzimmer von Jasper Morrison aus dem Jahr 1988 wieder. Dazwischen bleibt es bei einer – natürlich allemal sehenswerten – Darstellung der Geschichte des Wohnmöbels im 20. Jahrhundert, zusammengestellt aus den Beständen der eigenen (Vitra-)Sammlung. Wachsende Zweifel daran, ob die letzten hundert Jahre die Gemütlichkeit wirklich zerstört haben, fängt der Ausstellungstitel immerhin in einem dezenten Fragezeichen auf.

Bauwelt, Fr., 2007.02.23

23. Februar 2007 Ursula Baus

Portfolio City Leipzig

Die Zukunft des umkämpften Areals am Leipziger Brühl aus den späten sechziger Jahren ist entschieden. Im Laufe der mehrjährigen Debatte war das Ensemble zu einem Bollwerk gegen die innerstädtische Kulissenarchitektur und zum Synonym der Auseinandersetzung mit einer neuen Architektengeneration geworden. Die drei Wohnscheiben – zuletzt mit einer kindlichen Totalbemalung verhängt – werden für eine Kaufhaus-Mall mit draufgesattelter Zusatznutzung gesprengt. Am 7. Februar stimmte der Leipziger Stadtrat für den Verkauf an die Essener mfi AG.

Der Liebe wegen sei sie nach Leipzig gekommen. Das gab die Stadtplanerin Karin Hiort, Frau des damaligen Baudezernen­ten Engelbert Lütke Daldrup, als Motiv an, als sie 2005 anlässlich des Kunstprojektes „Heimat Moderne“ zusammen mit 40 anderen prominenten Wahlleipzigern danach befragt wurde. Vortragsort für diese Statements waren die zuvor entmieteten, zehngeschossigen Wohnscheiben am Leipziger Brühl (Heft 32.2003), die sich im Eigentum der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, der LWB mbH, befinden. Die Beteiligung des prominenten Paares an dem Kunstprojekt beruhigte viele junge Architekten, Künstler und Intellektuelle, die sich seit Jahren um die Akzeptanz und den Erhalt der sozialistischen Moderne im Stadtbild mühten. Ein Jahr später jedoch, zur Fußball-WM, wurden die Wohnscheiben – unter deutlichem Protest – mit grellbunten Tüchern verhängt, ein Zeichen ihrer endgültigen Funktionslosigkeit. Wie sich jetzt herausstellt, handelte es sich um eine Art Leichentücher. Der Leipziger Stadtrat hat am 7. Februar den Abriss der Häuser und an ihrer Stelle den Bau eines riesigen Einkaufszentrums beschlossen.

Der Fall ist exemplarisch. Am Brühl, der Wiege der Messe- und Handelsstadt, scheiden sich die Geister. Für viele stellt das moderne Ensemble aus den späten sechziger Jahren mit dem „Blechbüchse“ genannten Kaufhaus und den drei seriellen Wohnscheiben mit Einzelhandelsunterlagerung ein stadtbildprägendes Zeitzeugnis dar. Hinsichtlich Städtebau, Archi­tek­tur­sprache und Nutzung bricht es demonstrativ mit seinen Vorgängern, den im Zweiten Weltkrieg zerstörten historischen Handelshäusern jüdischer Pelz- und Tabakhändler. Den Stadtplanern, die nach der Wende die Geschicke der Stadt lenkten, war es immer ein Dorn im Auge. Leitbild für den Umbau der Innenstadt ist bis heute der historische Stadtgrundriss.

Über die Jahre hat sich am Brühl deshalb so etwas wie eine Demarkationslinie der Generationen gebildet. Ebenso wie die älteren Planer in ihrer Jugend für den Erhalt von gründerzeitli­cher Altbausubstanz gestritten haben, wollen sich die Jüngeren das Stadtbild moderner Architektur, mit dem sie aufgewachsen sind, nicht nehmen lassen. Für sie ist die Brühlbebauung zu einem Bollwerk gegen die neue Gemütlichkeit geworden, die sich seit der Wende in der City breitmacht und am deutlichsten an der Kulissenarchitektur der Marktgalerie von Christoph Mäckler sichtbar wird.

Nicht weniger schwer als der Streit um das Stadtbild wiegt der Streit um die geplante funktionale Neuordnung. In diesem Fall hält die Stadt alle Fäden in der Hand: Sie verfügt sowohl über die Planungshoheit als auch über die Grundstücke, die sich im Besitz der kommunalen Tochter LWB befinden. Mitte der neunziger Jahre wurde für die gesamte Innenstadt ein Bebauungsplan beschlossen. Er hatte unter anderem einen umfassenden Bestandsschutz des Wohnens zum Ziel. Hintergrund dafür waren der rasante Strukturwandel in der City und die Erfahrungen westdeutscher Städte mit einer bauspekulativen Verdrängung der Wohnnutzung aus ihren Zentren. Auf dieser Grundlage führte die LWB 1999 eine Städtebauwerkstatt für das Brühlareal durch, aus der Otto Steidle als Sieger hervor­ging. Sein Konzept sah die Sanierung der Wohnscheiben so­wie eine neue größere Sockelzone vor.

Zu Gunsten des jetzt geplanten Verkaufs wurde das Konzept später aufgegeben und – hier liegt der eigentliche Skandal – das Planungsrecht so modifiziert, dass die Steigerung der Gewinnmargen für das Filetgrundstück die mit Abstand höchste Priorität genießt. Im April 2003 beschloss der Stadtrat die Aufstellung eines neuen B-Planes. Neben dem Abriss der Wohnscheiben ist nun der Bau eines Einkaufszentrums mit bis zu 25.000 Quadratmeter Verkaufsfläche vorgesehen. Als Wohnraumersatz genügen 20% der Flächen, die zudem an anderer Stelle oder als Sonderwohnformen wie Hotels nachgewiesen werden können. Auf Basis der neuen Rechtsgrundlage war es der LWB möglich, ein lukratives Portfolio-Paket zu schnüren. Sechs Konsortien wurden Ende 2006 aufgefordert, sich an ei­nem Investorenbieterverfahren zu beteiligen, nur vier haben schließlich angeboten, weil die mitbietende mfi AG aus Essen vorsorglich die leer stehende „Blechbüchse“ von der KarstadtQuelle AG zu einem überhöhten Preis gekauft hatte, um den anderen das Spiel zu verderben.

Schließlich bot die mfi AG mit 35 Millionen Euro für das Grund­stück mit Abstand am meisten – 10 Millionen Euro mehr als von der LWB erhofft – und soll mit diesem Angebot jetzt den Zuschlag erhalten. Für die LWB, die mehr als eine Milliarde Euro Schulden hat und verständlicherweise um einen Konsolidierungskurs bemüht ist, bedeutet der Deal eine mehrfache Entlastung. Das Unternehmen erhält 1,2 Millionen Fördermittel für den Abriss, reduziert seine Altschulden beim Bund und erhält den Kaufpreis für das Grundstück obendrauf.

Welche Interessen aber vertritt die Stadt? Mit der Genehmigung des größten innerstädtischen Einkaufszentrums, das im Verbund mit der „Blechbüchse“ bis zu 37.000 Quadratmeter und damit doppelt so viel Verkaufsfläche wie der zum Konsumtempel umgebaute Hauptbahnhof umfasst, spekuliert sie vor allem gegen sich selbst. Sie reduziert sozialverträglichen Wohnraum an der falschen Stelle und leistet einer Verdrängung unter den Händlern Vorschub, die je nach Gutachten zwischen 7% und 19% liegt. Vor allem bleibt die Stadt eine schlüssige städtebauliche Konzeption schuldig, wie ein Einkaufszentrum dieser Größenordnung stadtverträglich integriert werden kann. Der mfi AG schwebt eine nach innen gerichtete Mall vor, mit Parkhausspindel in der „Blechbüchse“ und Wohnungsbau als Beiwerk. Ein zweiphasiger Wettbewerb soll es richten, in der zweiten Phase kooperativ, also nicht anonym – damit der Investor am Ende nicht noch eine Überraschung erlebt. Das Leipziger Beispiel zeigt im Kleinen, was sich in Dresden im großen Maßstab durch den Verkauf der Woba im zurückliegenden Jahr abgezeichnet hat. Die finanzschwachen Ostkommunen geraten zunehmend unter den Einfluss des globalen Kapitalmarktes, der Projektentwicklung ausschließlich unter dem Aspekt von Investment und Rendite betrachtet.

Bauwelt, Fr., 2007.02.23

23. Februar 2007 Stefan Rettich

Budynek Seksmisji

Fertigungshalle in Słubice: BeL Architekten

Das Produktionsgebäude für die Firma Fraba im polnischen Słubice ist der erste große Neubau des Kölner Architekturbüros BeL von Anne-Julchen Bernhardt und Jörg Leeser. Der Bau basiert auf einem ambitionierten Entwurfskonzept, das auch als eine Art Kampfansage an die unumstößlichen Gesetze des Gewerbebaus zu verstehen ist. Es zeigt, dass ein Industriebau sehr wohl auf die spezifischen Bedürfnisse seines Programms und auf die Bedingungen seines Kontextes zugeschnitten werden kann, ohne dabei den eng gesteckten ökonomischen Rahmen dieser Bauaufgabe zu überschreiten. Die Fertigungshalle bietet komplette Wärmedämmung, Klimaanlage und Tageslichtdecke und ist dennoch mit 580 Euro pro Quadratmeter reiner Baukosten sehr kostengünstig errichtet worden.
Beauftragt wurde das Projekt von der Kölner Firma Fraba, einem Hersteller von Sensoren für die Automatisierungsindustrie. Zum Bauherrn wurde die Firma, weil sie ihre bisherige Produktionsweise umstellen wollte. Nachdem Produktion und Produktentwicklung jahrelang am Standort in Köln angesiedelt waren, sollen sie von nun an räumlich getrennt werden und unabhängig voneinander operieren. Während die Produkt­entwicklung in Köln verbleibt, wird die Produktion in Zukunft an verschiedene internationale Standorte ausgelagert. Das Gebäude in Słubice stellt einen Prototyp dar, der bei Erfolg auch andernorts gebaut werden soll. Es ist für maximal 100 Mitarbeiter ausgelegt. Wird diese Grenze überschritten, wird kein Anbau vorgenommen, sondern ein neues Gebäude desselben Typs errichtet.
Für die Architekten ging es darum, nicht nur ein einzelnes Gebäude zu entwerfen, sondern gleichzeitig auch die Grundlagen des architektonischen Erscheinungsbildes der Firma zu definieren. Diese Aufgabe wurde mit einer Strategie bewältigt, die für die Entwurfsauffassung des Büros charakteristisch ist: einem unmittelbaren „Wörtlich-Nehmen“ der konkreten Rahmenbedingungen und ihrer Anforderungen. In Słubice waren das zunächst einmal die Grundprinzipien von Frabas Firmenphilosophie – Hierarchielosigkeit, Transparenz und Flexibilität, die sich direkt auf den Arbeitsalltag auswirken. So sind Produktion und Verwaltung nicht voneinander getrennt, Arbeitsplätze nicht personell zugeordnet, sondern frei wählbar. Entscheidungen werden nicht aufgrund abgestuf­ter Positionen, sondern auf Basis der jeweiligen Kompetenz der Mitarbeiter und deren Erfahrung getroffen. Jeder von ih­nen soll in der Lage sein, andere in Aufgaben einzuweisen und selbst wiederum neue Aufgaben zu übernehmen. Die interne Kommunikation ist dementsprechend transparent. Die Firma bietet zudem den Mitarbeitern Zugang zu allen Geschäftsinformationen und macht jede Entscheidung sofort öffentlich.

Keine Hierarchien

Das Entwurfskonzept setzt diese Unternehmensprinzipien so konsequent um, dass aus der (Über-)Erfüllung der Vorgaben eine eigene Qualität entsteht. Das fängt bei der Wahl des kreisförmigen Grundrisses an. Ohne Ecken scheint der Raum unbegrenzt zu sein, ein Eindruck, der durch das richtungslose Dachtragwerk aus 6 Zentimeter schmalen und 60 Zentimeter hohen Brettschichtholzträgern verstärkt wird. Sein dreieckiges Stützenraster erlaubt ein Maximum an unterschiedlichen Grundrisskonfigurationen – mehr und dichter als ein orthogonales Raster. Eine Versorgungsstruktur mit Lüftung, Elektro- und Internetanschlüssen und Leuchten ist von der Decke abgehangen, so dass Arbeitsplätze überall im Raum aufgestellt werden können. Um den Raum möglichst gleichmäßig mit Tageslicht zu versorgen, haben die Architekten mit einer Ausnahme im Sozialbereich auf Fenster in der Fassade verzichtet. Die Halle wird so über vorgefertigte Lichtkuppeln aus Polycarbonat belichtet, die mit einem Flächenanteil von 14 Prozent gleichmäßig über das Dach verteilt sind. Der Grundriss ist an jeder Stelle flexibel und immer wieder neu konfigurierbar. Dennoch ist es weniger die klassische Vorstellung des „generic plan“ der Moderne, die für diesen Raum Pate gestanden hat, eher wird man an die endlos gerasterten Landschaften der „architettura radicale“ erinnert, die den „generic plan“ über den Maßstab der Architektur hinaus extrapolieren wollten. Eine andere Referenz könnte Archizooms Vorstellung von Architektur als von einem richtungslosen Behältnis sein: mit einem Minimum an permanenter Infrastruktur auskommen, um ei­nem Maximum an sporadischen Nutzungen Raum zu bieten.
Im Interesse der Hierarchielosigkeit, Transparenz und Flexibilität sind alle Bestandteile des Programms in ein und demselben Großraum verteilt, der so überschaubar wie möglich ist. Die einzigen Räume, die abgetrennt sein müssen – Duschen, WCs, Stillraum –, sind als kleine Zylinder in den großen Zylinder der Halle eingestellt. Die Küche des Sozialbereichs sowie die Umkleidespinde und Schließfächer sind in die Außenwände dieser runden Räume integriert, was angesichts der polnischen Arbeitsstättenverordnung schwierig umzusetzen war. Diese erlaubt Umkleidebereiche prinzipiell nur in geschlossenen Räumen, was sich offensichtlich noch auf die Zeit zurückführen lässt, in der gewerbliche Arbeit per se schmutzig war und deshalb geschlossene Hygieneschleusen erforderte, ganz nach dem Vorbild der Waschkaue: Die Arbeiter kommen schmutzig aus der Fabrik, hängen ihre Kluft an den Haken, ziehen sie hoch, duschen sich, während der Raum ausgespritzt wird, und verlassen die Kaue in sauberem Zustand.
Bei der Fertigung der Sensoren der Firma Fraba ist es nahezu umgekehrt: Umkleiden heißt, seine Jacke in ein Spind hängen, ein blaues Sweatshirt überziehen und das normale Schuhwerk durch leitende Spezialschuhe austauschen, die den Körperstrom in den graphithaltigen Epoxydboden ableiten, damit die hochempfindlichen Produkte nicht beschädigt werden. Die Fraba-Produktion verlangt nach einer unbedingten Sauberkeit, so dass der ursprüngliche Wunsch der Architekten nach einer natürlichen Belüftung nicht realisierbar war, weil über die normale Außenluft zu viel Schmutzpartikel in den Produktionsbereich gekommen wären. Eine Klimaanlage war unvermeidlich; die Halle ist zwar kein Reinraum, aber sie ist staubfrei. Allein aus diesem Grund musste auch der Bereich Verpackung von der Produktion getrennt werden, da Papier und Karton Staub mit sich führen. Die notwendige Trennung wurde so minimal wie möglich gestaltet, indem man einen transparenten PVC-Vorhang frei unter die Decke hängte.

Farbe Weiß

Die funktionelle Notwendigkeit der Sauberkeit wurde von den Architekten durch die einheitliche Farbgebung noch überhöht. Es ist wirklich alles weiß, selbst der Fußboden, was einerseits die Sauberkeit repräsentiert, sie andererseits aber auch einfordert. Den vorhersehbaren Einwand, der Boden sei doch zu schmutzanfällig, begegnen die Architekten mit dem konträren Argument: der Boden ist weiß, damit man den Dreck sieht, weil man ihn dann auch entfernen kann.
Die Verfremdung im Vergleich zu herkömmlichen Produktionshallen ist unübersehbar, der Raum hat eine federleichte, fast festlich zu bezeichnende Aura. Auch von außen wurde alles getan, die ästhetischen Insignien des Gewerbebaus zu unterlaufen. Statt mit dem üblichen Trapezblech ist die Fassade mit aluminiumkaschierten Bitumenbahnen verkleidet. Vor allem bei Nacht, wenn das Gebäude von den rundum platzierten Bodenscheinwerfern gleißend hell angestrahlt wird, verwandelt sich Fraba in ein rätselhaftes Gebilde, dem man seine Funktion nicht ansieht. Das Licht ist so stark, dass die Reflexion an der metallenen Haut ausreicht, um den Parkplatz zu beleuchten.
Die Mitarbeiter identifizieren sich mit der besonderen Architektur. In Anspielung auf die durchgehend weißen Interieurs des 1983 gedrehten polnischen Science-Fiction-Kultfilms „Seksmisja“ (Sex Mission) von Juliusz Machulski kursiert längst ein Spitzname: Sex Mission building. Der Bauherr beschreibt den Innenraum – und das dürfte für einen Indus­triebau erstaunlich sein – als den entscheidenden Mehrwert der Architektur für das Unternehmen. Die Corporate Colour ist inzwischen ein reines Weiß.

Bauwelt, Fr., 2007.02.23

23. Februar 2007 Ilka Ruby, Andreas Ruby

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