Inhalt

WOCHENSCHAU
02 Business as usual auf der Kölner Möbelmesse | Michael Kasiske
03 Schweizerisches Architekturmuseum unter neuer Leitung | Hubertus Adam
04 Graftworld | Johanna Schlaack
04 Regula Lüscher Gmür Neue Senatsbaudirektorin in Berlin | Kaye Geipel

BETRIFFT
08 Metafisica, Futurismo, Razionalismo, Mediterraneità | Harald Bodenschatz

WETTBEWERBE
12 Überseequartier in der HafenCity Hamburg | Friederike Meyer
15 Auslobungen

THEMA
16 New Brick in Britain | Sabine Kühnast
20 Wand oder Hülle? | Sabine Kühnast
28 Ziegel, geschient | Ulrich Brinkmann
30 Massive Vorsatzschale | Ulrich Brinkmann

RUBRIKEN
05 wer wo was wann
05 Leserbriefe
36 Kalender
40 Anzeigen

Business as usual auf der Kölner Möbelmesse

Müde scheinende Hersteller, das bestimmt hundertfünfzigste Werk von Zaha Hadid und ein paar Umzüge großer Aussteller innerhalb der zahlreichen Veranstaltungsorte – aufregend war die Kölner Möbelmesse in diesem Jahr nicht.

Die „imm-cologne – Die Internationale Möbelmesse“ präsentierte dieses Jahr die Ideal Houses mit Grandeur: frei gestellt in der großen Passage und so wieder als Körper erfahrbar. Mit dem Architekturstar Zaha Hadid und dem Muji-Kreativdirektor Naoto Fukasawa waren zwei Größen beauftragt worden, die auch etwas zu zeigen hatten: Hadid entwarf ein amor­phes Gebilde, das zwischen Höhle und Schaukasten oszillierte; Fukasawa präsentierte eine sehr geschlos­sen wirkende Figuration, die gradlinig in die Höhe schoss und den Raum beinahe sakral überhöhte. Einziges Manko war die Position am äußersten Rand der Messe, weit entfernt vom zeitgenössischen Design.

In den Hallen überwog business as usual. Der straffe Rhythmus der Ausstellungen, die jährlichen Auftritte in Köln und Mailand sowie zuweilen weitere Spezialmessen zwischendurch, scheinen manche Hersteller an den Rand des Leistbaren zu bringen – und so zeigte man bereits Bekanntes oder Stücke, die noch nicht ganz ausgereift waren.

Tecta hingegen bereicherte die Geschichte der Stahlrohrmöbel um ein weiteres Kapitel, einen schwingenden Sessel, dessen Entwurf aus der Feder des Berliner Architekten Sergius Ruegenberg (1903–1996) stammt. In den 20er und 30er Jahren im Büro von Ludwig Mies van der Rohe tätig, hat Ruegenberg an Möbeln mitgearbeitet, die heute weltbekannt sind, etwa der Barcelona-Sessel oder der Stuhl Brno. Sein nun erstmals hergestellter „tugendhafter Stuhl“ ist – in Anspielung auf den außer Produktion befindlichen „Tugendhat-Sessel“ von Mies – eine angemessene Hommage an den Meister.

Ebenfalls ein Rückgriff, aber lediglich in die 60er Jahre, ist der Typus Stapelbett, dem der Stuttgarter Produzent Richard Lampert mit einem Entwurf von Alexander Seifried eine gelungene Variante beisteuerte. Das leichte Möbel verströmt ein frisches laissez faire, das eigentlich der als „Trendshow“ bezeichneten „Informed by Cologne“ besser zu Gesicht gestanden hätte.

Den italienischen Möbelherstellern, die die Messehallen schon seit längerem meiden und stattdessen in der Designpost oder den Spichernhöfen unabhängig von der Messe auch über die Ausstellungswoche hinaus dauerhaft ansässig geworden sind, folgte nun auch der spanische Möbelverband Sidi. Im Rahmen der „Passagen – Interior Design in Köln“ eröffnete Sidi im Haus der ehemaligen Bachem-Druckerei eine ganzjährig betriebene Repräsentanz.

Auch die Internetplattform stylepark hat den Ort gewechselt. Das ehemalige Gebäude der Bundesbahndirektion, das mit seiner zentralen Eingangshalle stets einen einladenden Rahmen bot, wurde die­ses Jahr gegen den Kölner Kunstverein getauscht. Nach der Gründung des neuen Formats „The Design Annual“ für die Frankfurter Messe scheint „Stylepark in Residence“ seine Kölner Auftritte bescheidener gestalten zu wollen. Im Vorgarten des Kunstvereins zog „Walden“, eine Art Gartenschrank von Nils Holger Moormann, viel Aufmerksamkeit auf sich.

In der Christuskirche im Belgischen Viertel stellte Werner Aisslinger ein neues Bücherregal vor, das für Menschen interessant sein könnte, die dickleibige Coffee-Table-Books nutzbringend entsorgen wollen. Mittels eines kreuzförmigen Blechteils werden Bücher zum Steh- und Trageelement verwandelt. Ob das Regal allerdings auch vollgeladen werden kann, darf bezweifelt werden, da der Buchrücken ei­ner Durchbiegung nur einseitig standhält.

Die Möbelszene ließ keinen eindeutigen Trend erkennen. Vielmehr schien der Raum von Hadid im Ideal House die diesjährige Veranstaltung zu paraphrasieren: Eine großzügige Treppe, deren Ende nicht sichtbar ist, reizte zum Aufstieg und führte auf eine Ebene, auf der lediglich eine weiß bezogene Matratze lag. So viel gestalterische Diät irritierte.

Bauwelt, Fr., 2007.02.02

02. Februar 2007 Michael Kasiske

Schweizerisches Architekturmuseum unter neuer Leitung

„Deutschlandschaft“, der deutsche Beitrag zur Architektur-Biennale in Venedig 2004, katapultierte die Journalistin Francesca Ferguson ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Nach vielen missglückten Versuchen in den Jahren zuvor, den deutschen Pavillon zu bespielen, war der Kuratorin eine Ausstellung gelungen, die aufgrund der Auswahl der Objekte ebenso überzeugte wie durch deren Präsentation. Selbst eiligen Besuchern – und das sind angesichts der Überfülle des Angebotenen in Venedig die meisten – lieferte sie einen attraktiven Überblick über die deutsche Gegenwartsarchitektur. Umso mehr enttäuschte die im vergangenen Herbst von Ferguson und ihrem in Berlin ansässigen Produktionsbetrieb „urban drift“ realisierte Schau „Talking Cities“ im Rahmen des auf Zollverein veranstalteten Großprojekts „Entry 2006“. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit, welche die Kuratorin in Venedig so überzeugend benutzt hatte, missachtete sie in der Essener Ausstellung gänzlich. Bedenkenswerte Konzepte verloren sich dort in einem modisch-chaotischen Arrangement, das wie ein mit philosophischen Zitaten garnierter Abenteuerspielplatz wirkte. Natürlich: Eine zeitgenössische Architekturausstellung muss nicht zwangsläufig als klassisch-kunsthistorische Dokumentation daherkommen. Aber inzwischen ist man der vorgeblich hippen Präsentationen überdrüssig, die eigentlich Kunst sein wollen, den Organisatoren viel Spaß gemacht haben, beim Besucher aber Ratlosigkeit hinterlassen.
Nun wirkt Francesca Ferguson in Basel, als neue Leiterin des dortigen Architekturmuseums. Die rührige Institution, die bereits 2005 neue Räume in der Kunsthalle Basel bezog, hat sich unter ihrer langjährigen Leiterin Ursula Jehle-Schulte-Strathaus vornehmlich der Schweizer Architektur gewidmet. Immer wieder fanden hier wichtige Präsentationen statt: frühe Ausstellungen von Herzog & de Meuron, eine Schau mit Modellen von Christian Kerez; vor zwei Jahren startete eine von Monographien begleitete Reihe über die Bauten des Novartis-Campus. Naturgemäß war ein Schwerpunkt das Baugeschehen in Basel selbst.

Doch Ferguson will mehr. Eine Namensänderung hat sie schon erreicht. Das Architekturmuseum Basel heißt nun S AM – Schweizerisches Architekturmuseum. Welch ein Etikettenschwindel! Erstens besitzt die Institution – abgesehen vom Nachlass der Basler Architekten Rasser und Vadi und der Berliner Fehling und Gogel – keine Sammlung. Und zweitens stellt das Adjektiv „schweizerisch“ gelinde gesagt eine Übertreibung dar. Das S AM erhält weder finanzielle Unterstützung durch die Kantone noch durch den Bund. Die bescheidenen Mittel werden durch eine Stiftung bereitgestellt, die weitgehend durch große Basler Architekturbüros gespeist wird.
Dass das S AM aus der regionalen Nische heraus will, ist verständlich. Laut Programm möchte Ferguson nun ihr Augenmerk auf „zeitgenössische Architektur und urbane Gestaltung aus einem transdisziplinären Blickwinkel“ richten und sich nicht mehr wie ihre Vorgängerin auf einzelne Objekte und Preziosen fixieren. Für März ist die Ausstellung „Unaufgeräumt/As found“ angekündigt, eine Schau über „Urbane Reanimationen und die Architektur minimaler Interventionen“ – das klingt wie eine Neuauflage von „Talking Cities“. Und im Sommer soll dann die Schau Instant Urbanism „den Einfluss der situationistischen Avant-Garde auf Architektur und urbane Gestaltungspraxis“ thematisieren, bevor im Herbst ei-ne gemeinsam mit dem Museo Serralves in Porto konzipierte Werkschau des portugiesischen Architekten Pancho Guedes folgt.

Bis dahin findet – zeitlich zwischen Swissbau und Basler Fasnacht – in den Räumen des S AM die Reihe „Freezone“ statt, 25 Veranstaltungen, an denen Schweizer Hochschulen, Architekturforen und Büros beteiligt sind. Laut Programm soll es „eine eklektische Reihe von Diskussionen, Workshops, Screenings und Dialogen“ sein, konzipiert von „zahlreichen Partnern und Institutionen in der Schweiz“. Dabei herrscht ein neuer Stil: Jeder, der in der Schweiz in Architektur und Architekturvermittlung tätig ist, kann mitmachen – vorausgesetzt, er finanziert seine Veranstaltung selbst. Und wer nicht selbst zahlen will, kann eben auch nichts anbieten.

Bauwelt, Fr., 2007.02.02

02. Februar 2007 Hubertus Adam

New Brick in Britain

(SUBTITLE) Jüngere Londoner Architekten zeigen Interesse an dem alltäglichen Material ihrer Stadt

Der Umbau der britischen Kapitale zum Zentrum der globalen Finanzwirtschaft schert sich wenig um den Charakter der Stadt. Doch schon am Rand des boomenden Zentrums trifft der Besucher auf das traditionelle Londoner Haus – und auf neue Projekte, die sich seiner Spezifik stellen.

Architektur in London – das setzen die meisten gleich mit der Stahl-Glas-Architektur der großen Büros, die in der Stadtmitte mit immer neuen Bauten nur manchmal für Aufregung sorgt. Aber schon wenige Schritte vom Bankenviertel entfernt wird die eigentliche Architektur Londons sichtbar: „The London House“, ein städtisches Wohnhaus, das seit mehr als dreihundert Jahren aus Ziegeln gebaut wird und, den Erfordernissen und Möglichkeiten der Zeit jeweils angepasst, vom Innern der Stadt bis zum äußersten Vorort zu finden ist.

Schon vor dem Großen Feuer im Jahr 1666 war London aus den mittelalterlichen Stadtmauern herausgewachsen: Zwischen 1550 und 1660 hatte sich die Anzahl der Einwohner annähernd verzehnfacht, von 60.000 auf rund 500.000. Dabei hatten sich mehrere neue Kerne herausgebildet, insbesondere Höflinge und Adelige hatten sich westlich außerhalb der Mauern niedergelassen, ansonsten koexistierten die verschiedenen Schichten innerhalb der Stadtmauern in einer für das Mittelalter typischen Mischung von Bürgern, Handwerkern und Arbeitern. Die Stadt war, abgesehen von den Symbolen kirchli­cher, bürgerlicher und finanzieller Macht, geprägt von Häusern aus Holzfachwerk, die bis an die Themse reichten. Als das Feuer im September 1666 in einer Bäckerei ausbrach, bot sich ihm die dichte Bebauung nicht nur als Brennstoff dar, sie behinderte zugleich die Löscharbeiten, denn auch das Themseufer war vollständig bebaut und somit der Zugriff auf Löschwas­ser verhindert. Achtzig Prozent der Bebauung, darunter 13.000 Wohnhäuser, fielen innerhalb der Stadtmauern dem Feuer zum Opfer.

Pläne zum Wiederaufbau der Stadt befassten sich nicht nur mit der städtebaulichen Neuordnung, sondern auch mit dem Baurecht, dem Building Act, dessen neue Fassung schon ein halbes Jahr nach dem Feuer vorgelegt wurde. Parlament und König Charles II. hatten je drei surveyors bestimmt; zu ih­nen gehörte auch Christopher Wren, der zu jener Zeit allerdings am wenigsten Erfahrung als Architekt hatte. Sie sollten die neue planerische Grundlage für die Neuordnung der Stadt schaffen und den Wiederaufbau überwachen. Zwar wurden verschiedene Pläne entwickelt, die Stadt großmaßstäblich neu zu ordnen und nach kontinentalem Vorbild große Achsen und Plätze anzulegen. Jedoch gelangte keiner von ihnen zur Ausfüh­rung. In der Literatur finden sich verschiedene Gründe, warum diese einmalige Chance in der Geschichte der Stadt nicht genutzt wurde: Zunächst erlaubte es die ökonomische Situation des Landes, das zuvor lange Krieg geführt hatte, nicht, die für einen Stadtumbau benötigten Grundstücke aufzukaufen. Der Auftrag, die Stadt neu zu vermessen, misslang, da die Grundstückseigentümer sich nicht an den Kosten beteiligen wollten. Und schließlich drängte die Zeit, Kaufleute und Handwerker möglichst schnell wieder anzusiedeln, um ihre Abwanderung in andere Städte oder vor die Tore Londons zu verhindern.

So erfolgte der Wiederaufbau relativ rasch, staatlich forciert, aber finanziert aus privater Hand: Innerhalb von drei Jahren nach dem Brand waren die Häuser durch die Grundstücksbesitzer wieder aufzubauen. Die Neubauten behielten die mittelalterliche Nutzungsmischung bei und beinhalteten meistens einen Laden oder eine Werkstatt und die darüber liegende Wohnung. Die Verbreiterung der Straßen, um im Brandfall ein Übergreifen des Feuers zu verhindern, kann nur als Modulation des Stadtgrundrisses gesehen werden, der auch schon vor der Katastrophe existiert hatte. Allerdings wurden nur wenige Straßen signifikant verbreitert in den überlieferten Stadtgrundriss eingetragen. Eindeutiger waren die Auswirkungen, die die Umsetzung des Building Act, der neuen Bau­ordnung von 1667, auf das architektonische Erscheinungsbild von London hatten.

Die holzfreie Stadt

Schon seit 1302 gab es in London schriftlich niedergelegte Regeln für den Bau von Gebäuden. Der direkte Vorgänger des „Act for the Rebuilding of London“ von 1667 wurde 1619 verfasst und 1624 proklamiert. Schon in diesem Gesetzeswerk werden Baumaterialien (Ziegel oder Stein) für alle neuen Häuser festgelegt, ebenso Wandstärken, Haus- und Fensterproportionen. Insofern war der Rebuilding Act kein Bruch mit der Vergangenheit; eher ermöglichte die abgebrannte Stadt seine weitgehende Umsetzung innerhalb kürzester Zeit.

Der Building Act operierte auf mehreren Ebenen, baupoli­zeilich, arbeitsrechtlich sowie berufsständisch, und legte Mate­rialien und ihre konstruktive Verwendung fest. Die im Rebuild­ing Act definierte Haustypologie prägt das Erscheinungsbild Londons bis heute. Vier Haustypen wurden festgelegt, wobei der vierte sich mit frei stehenden Häusern, Kirchen und anderen Sonderbauten befasste. Die Haustypen wurden in Schnitt und Aufriss angelegt, und es wurde eine Mindestmauerstärke vorgegeben. Den Straßen wurde entsprechend ihrer Breite der jeweilige Haustyp zugeordnet und damit auch die Höhe der Häu­ser bestimmt. Somit war die Uniformität des Erscheinungs­bildes der neuen Stadt nicht aus einem Masterplan oder städtebaulichen Entwurf hervorgegangen, sondern ein Resultat der Bauordnung.

Für den Bau der Häuser waren, wie schon seit 1624, nur Ziegel oder Stein vorzusehen, Holz war lediglich für Decken, Dachstühle und Fensterrahmen zu verwenden. Die Qualitätssicherung der Ziegel erfolgte mit der „Standard Specification for Bricks“ von 1625, die nicht nur die Standardmaße für Ziegel vorgab, sondern auch den Herstellungsprozess beschrieb und den Preis festlegte. Diese erste Gütedefinierung ist der Vorläufer der heutigen „British Standard Specification“, mit der alle Baumaterialien zur Ausschreibung kommen. Die Ziegel wurden aus der tonreichen Erde Londons direkt am Bauplatz gebrannt. Die Preise für Baumaterial waren für die Jahre des Wiederaufbaus fixiert, und durch die Scharen von Bauarbeitern, die nach London kamen, konnten die Baupreise ebenfalls niedrig gehalten werden.

Auch bei den Stadterweiterungen, die seit Mitte des 17. Jahrhunderts auf den Gebieten der Great Estates außerhalb der Stadtmauern stattfanden, erfolgte die Ziegelproduktion direkt auf dem Areal, das gerade bebaut wurde. So entstand der typische Schnitt durch ein Londoner Haus: Der Garten liegt niedriger als die Straße, da dort die tonhaltige Erde entnommen wurde. Das untere Geschoss wird auf der Straßenseite über einen Lichtschacht belichtet, der über die gesamte Breite des Hauses verläuft. Da die Haushöhe festgeschrieben war, konnte so ein weiteres Geschoss voll genutzt werden. Bei späte­ren Unterteilungen der Häuser in mehrere Wohnungen wurde aus dem Basement und dem ersten Stock der Garden Flat, zu betreten über eine kleine Treppe.

Der Bau von Greater London

Mit der großflächigen Bebauung Londons über die Stadtmauern hinaus änderte sich auch die Art der Finanzierung. Nicht mehr der private Bauherr, sondern Spekulanten betrieben die Ausdehnung der Stadt, und so zeigt sich London heute als ein Patchwork aus dem städtebaulichen und architektonischen Ideenreichtum der Spekulanten: Bauland wurde von den Besitzern der Great Estates an Unternehmer verpachtet, die ihrerseits den Verlauf der Straßen und den Haustyp bestimmten. Im Building Act von 1774 hatte man die Festlegung der Haus­typen wieder aufgehoben. Die gleichwohl fortgesetzte Gleichförmigkeit der Bebauung findet somit ihre Begründung nicht mehr in der Bauordnung, sondern in der durch Spekulation forcierten Rationalisierung des Bauwesens durch Typenbildung und Verwendung standardisierter Baumaterialien. So kann man London heute noch erleben: Ein Haustyp über mehrere Straßenzüge gebaut, und dann, mit dem Überqueren der Straße, ein anderer Haustyp, eine andere Ziegelfarbe, eine andere Bewohnerschicht.

Die Vorfertigung von Baumaterialien betrieb als Erster Thomas Cubitt, der als Bauunternehmer 1812 das finanzielle Risiko wagte, nicht Subunternehmer zu beauftragen, sondern alle Fachkräfte selbst anzustellen. Auf seinem Firmengelände in der Gray’s Inn Road, wo sich das Unternehmen heute noch befindet, ließ er Baumaterialien vorproduzieren. Qualitätsansprüche, materialinnovatives Handeln und Kostenkontrolle durch Umgehung der Zwischenhändler motivierten Cubitt dazu, diese Felder in das Bauunternehmen einzugliedern.

Mit der fortschreitenden Industrialisierung und der da­mit verbundenen Verringerung der Transportkosten durch die Eisenbahn sowie durch den Einsatz effektiverer Öfen wurde es möglich, Ziegel aus anderen Landesteilen in London zu verbauen. Die Farbe des Ziegels variiert je nach Herkunft der verwendeten Tonsorten. „London Stock“, der lokale, noch mit der Hand hergestellte Ziegel, changiert zwischen Gelb, Braun und Grau. Spätere Stadterweiterungen, gebaut mit industriell hergestellten Ziegeln aus anderen Landesteilen, zeigen ein Farbspiel von Weißgrau über verschiedene Rottöne bis hin zu Blaugrau. Blaugrau ist auch die Farbe des engineering brick, eines besonders auf Druck zu belastenden Ziegels, der bevorzugt im Brückenbau und in anderen Ingenieurbauwerken verwendet wird.

Aber nicht nur der Produktionsort erwirkte das Farbspiel, es unterlag durchaus auch dem jeweils zeitlich bedingten Stilempfinden. Mit John Nash, der ganze Häuser mit Stucco versah, wurde der Ziegel abgewertet. Graduelle Unterschiede finden sich besonders im Westen Londons im Ausmaß der Ver­blendung des Ziegels mit plastischen Gipszement-Imitaten. Heute wird über wenige Vertriebe eine große Auswahl an Ziegeln in allen Farben angeboten; die Preise betragen nur einen Bruchteil der deutschen Ziegelpreise.

Ziegelfliesen (brick tiles) datieren wahrscheinlich aus dem Jahr 1724 und wurden zuerst in Surrey, im Südosten Englands, verwendet. Mit der Einführung der „Brick Tax“ im Jahr 1784 wurden die brick tiles verstärkt eingesetzt, da die Steuer nicht auf sie angewendet wurde. Da die Ziegelfliesen natürlich nicht tragend sind, mussten sie auch nicht im Verband verlegt werden. So ist der Royal Crescent in Brighton mit schwarzen Ziegelfliesen im Format des Kopfes verblendet.

Die Zeichnungen des „Act for the Rebuilding of London“ zeigen die Wände massiv gemauert. 1805 wurde die cavity wall, der Wandaufbau mit Zwischenraum, vorgeschlagen. Die Materialersparnis, aber auch die Vorteile der Isolierung durch die Luftschicht wurden von William Atkinson erkannt. Die beiden Wände werden mit wall ties konstruktiv miteinander verbunden und gleichzeitig hochgemauert. Zwar wurden in der Fachpresse immer wieder Artikel zur cavity wall veröffentlicht, durchgesetzt hat sie sich aber erst rund ein Jahrhundert später. Kerndämmung und Betonsteine als innere tragende Wand sind bis heute die wenigen Änderungen im Wandaufbau eines mehrgeschossigen Wohnungsbaus. Ortbeton oder Betonfertigteile werden im Wohnungsbau als Wandmaterial kaum verwendet.

To match existing

Der Hang des Engländers zum Eigenheim, ob als Reihenhaus (terrace, detached) oder Doppelhaus (semi-detached), ist ungebrochen und durch den anhaltenden Immobilienboom ein wichtiger Bestandteil der privaten Rentenvorsorge. Preisrelevant ist neben der Lage auch der „Stil“ des Hauses. Wohnun­gen im Geschosswohnungsbau sind im Vergleich dazu unverhältnismäßig preiswert, da das gestapelte Wohnen immer noch mit dem Sozialen Wohnungsbau des 19. und 20. Jahrhunderts assoziiert wird.
„To match existing“, eine Bezeichnung des Planer-Englisch, kann man durchaus auch auf Architektur und Städtebau anwenden. Wenn in Greater London gebaut wird, dann gern victorian oder georgian. Dabei muss der gekaufte Stil nicht unbedingt dem eigenen Geschmack entsprechen, man denkt aber an den Wiederverkaufswert und die Vorlieben der „breiten Masse“. Die Farbe des Ziegels: Gelbbraun. Wer es sich leisten kann, der kauft Original London Stock – gebraucht – auf der Essex Road.

Die im Folgenden vorgestellten Büros und ihre Projekte eint nicht nur das Interesse am Umgang mit dem Material des Londoner Alltags. Der große Bauboom von Wohn- und Geschäftshäusern, bei dem ganze Stadtteile, wie zur Zeit Bermondsey östlich der London Bridge, innerhalb weniger Jahre umgekrempelt und gentrifiziert werden, findet ohne sie statt. Ihre Architektur ist, wie Adam Caruso sagt, dem Investor oder Mieter in Hongkong verbal nicht zu vermitteln – und damit für die großen Immobilienfirmen uninteressant. Sie bewegen sich außerhalb eines internationalen Standards von Grundriss, Aufriss und Ausstattung. Sie riskieren einen sechs Jahre währenden Entwurfs- und Bauprozess, schaffen mit denkbar niedriger Bausumme Platz für 25 Kinder oder bauen einem Kunden, der keine Repräsentanz will, eine unprätentiöse neue Identität. In der Welthauptstadt des Kapitals stehen sie jenseits des Mainstreams, ohne eine Vorreiterrolle zu beanspruchen. Und so ist London weiterhin eine Stadt, in der man Ziegel zählt und nicht – wie auf dem Kontinent – Schafe.

Bauwelt, Fr., 2007.02.02

02. Februar 2007 Sabine Kühnast

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