Inhalt

WOCHENSCHAU
02 Besuch bei einem realisierten Europan-Projekt in La Louvière | Anne Kockelkorn
03 Ausstellung „Keine Wunder!“ in Bremen | Jan Friedrich
04 Eero-Saarinen-Retrospektive in Oslo | Ulf Meyer
04 Kurt Junghanns (1908–2006) | Simone Hain

BETRIFFT
06 Porto Franco Vecchio | Maria von Hartmann

WETTBEWERBE
10 Hotelneubau auf dem Bremer Bredenplatz | Eberhard Syring
12 Entscheidungen
13 Auslobungen

THEMA
14 Hochschule für Technik und Wirtschaft in Aalen | Max Stemshorn
22 Lehrgebäude in Weihenstephan | Sebastian Redecke
28 Staatliche Realschule in Eching | Jochen Paul

REZENSIONEN
35 Zappel, Philipp! Kindermöbel. Eine Designgeschichte | Anne Boissel

RUBRIKEN
05 wer wo was wann
05 Leserbriefe
34 Kalender
36 Anzeigen

Informelles Spiel mit Modulen wird vandalismusresistentes Reihenhaus

An einem trüben Samstag im Dezember auf dem men­schenleeren Parkplatz vor den neuen Reihenhäusern in La Louvière. Links eine überwucherte Böschung und Bahngleise, hundert Meter nach rechts die Rückseiten der Häuser an der rue mitant des champs, davor ein Durcheinander von selbstgebastelten Schup­pen, Hühnerverschlägen und Gemüse­gär­ten. Nach einigem Zögern öffnet Madame Dupont die Tür. Die neue Mieterin hat fünf Jahre auf ihr sauberes neues Haus gewartet, und sie ist stolz darauf. Nur die Architekten versteht sie nicht. Dieser unbenutzbare Innenhof und der offene Durchblick zum Parkplatz sind ihr ein Rätsel, sagt sie, und sie ist wütend, weil sie glaubt, dass deshalb Wohnzimmer und Küche so klein geraten sind. Alle Fenster hat sie mit Stores zugehängt, keiner soll ihr in die Wohnung schauen können. Im Obergeschoss zeigt sie die „Terrasse“, eine mit Dachpappe zugeklebte Außenfläche, unzugänglich hinter einem Fenster gelegen. Madame ist nicht allein zuhause; in jedem Zimmer der oberen Etage liegt ein Kind oder ein Mann auf einem Bett vor einem laufenden Fernseher – bei zugezogenen Vor­hängen.
Selten genug folgen einem Sieg beim Europan-Wettbewerb Bauantrag und Realisierung. Denninger Scholz Architekten aus Köln hatten Glück mit dem belgischen Standort La Louvière (Tim Denninger hatte 1999 mit seinen damaligen Partnern Tomoyuki Haramura und Patrick Longchamp die dortige Europan-5-Konkurrenz gewonnen, Heft 26–27/99). Das Wettbewerbskommitee kooperierte eng mit der Wallonischen Wohnungsbaugesellschaft, zudem hat die Region einen dringenden Bedarf an Sozialwohnungen – eine direkte Folge der hohen Arbeitslosigkeit nach dem Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie in der südbelgischen Borinage. La Louvière entwickelte sich im 19. Jahrhundert als industrielles Straßendorf, mit engen, dunklen Straßen, gesäumt von zweigeschossigen Reihenhäusern aus dunkelrotem Backstein.

Als Wettbewerbsgrundstück hatte die Stadt eine überwucherte Kohleabraumhalde zwischen Bahnhof, Glas­fabrik und Stadtrand zur Verfügung gestellt. „Mobi­li­tät und Nähe“, das Leitmotiv von Europan 5, präsen­tierte sich hier als postindustrielles Landschaftsidyll der Trostlosigkeit; der japanische Partner im Entwurfsteam traute sich beim ersten Besuch des Standortes kaum aus dem Auto.
Die Architekten schlugen ein entsprechend robustes Städtebaukonzept vor, eine Mischung aus Riegel, der örtlichen Typologie des sozialen Wohnungsbaus, und Reihenhaus mit Giebeldach. Im Masterplan des Wettbewerbs platzierten sie zehn deutlich abgegrenzte „Wohninseln“ auf das verwilderte Grundstück – jede Insel mit zwei zweigeschossigen Blöcken und zwei offenen Plätzen; an die Stadt angebunden über eine kurze Stichstraße. Die 26 Meter breiten und 15 Meter tiefen Blöcke wurden in vier schmale Grundstücksscheiben geteilt und die Grundrisse um einen kleinen Innenhof zwischen Stellplatz und Wohnzimmer organisiert. Außerdem planten die Architekten, dass die Bewohner innerhalb eines vorgegebenen Modulsystems die Größe ihrer Wohnungen selbst festlegen und bei Bedarf auch erweitern können: in Anlehnung an die informelle Gestaltungsfreiheit in den Hintergärten der traditionellen Reihenhäuser am Ort.

Es ist bemerkenswert, dass sich der Masterplan und die Grundrisstypen vom Wettbewerb bis zur Ausführung kaum verändert haben. Doch in den Diskussionen um die Details, die zwischen den Entwerfern aus Köln, dem bauleitenden belgischen Kontaktarchitekten und der Wohnungsbaugesellschaft Foyer Louvièrois geführt wurden, gewann in den meisten Fällen die Norm des sozialen Wohnungsbaus. So wurden etwa die vorgesehenen Holzteile der Fassade durch vermeintlich vandalismusrestistentere Eternitplatten ersetzt und die Dachterrassen im Obergeschoss unzugänglich gemacht – nicht aus Geldmangel, sondern als vorbeugende Maßnahme gegen die vom Bauherrn prognostizierte Vermüllungsneigung der Bewohner. Die Frage, ob das vorgeschlagene modulare Anbausystem realisiert wurde, erübrigt sich da. Doch die entscheidende städtebauliche Geste blieb erhalten: Die beiden Plätze bieten eine Sphäre gestalteten öffentlichen Raumes an, und zugleich kann die wilde Wiese unberührt weiterwuchern. Zunächst ist eine der geplanten zehn Wohninseln realisiert worden. Für eine weitere sind die Planungen abgeschlossen, mit dem Bau soll in Kürze begonnen werden.

Bauwelt, Fr., 2007.01.19

19. Januar 2007 Anne Kockelkorn

Keine Wunder!

Dem Geheimnis erfolgreicher Produkte auf der Spur

Wer eine klassische Designschau erwartet, wird von „Keine Wunder!“ im Bremer Wilhelm Wagenfeld Haus vielleicht enttäuscht sein. Denn hier werden keine eleganten Kaffeekannen, praktischen Dosenöffner, oder witzigen Gummilampen präsentiert. Es geht bei der von der Bremer Design GmbH und der Wilhelm Wagenfeld Stiftung lancierten Ausstellung darum, die Strategien zu zeigen, die zu einem erfolgreichen Produkt, zu einer erfolgreichen Marke geführt haben. Also um die Frage, wie jene Berufsgruppen, die der Geschäftsführer der Bremer Design GmbH Heinz-Jürgen Gerdes unter dem Begriff „kreative Industrien“ zusammenfasst, gemeinsam Innovationen entwickeln können, die am Markt Bestand haben. Zu den kreativen Industrien zählt Gerdes Design, Werbung, PR, Medien, Fotografie, Film und Architektur. Dahinter steht das Bild eines Gestalters, der seine Aufgabe keinesfalls darin sieht, ein von Technikern entwick­eltes Produkt im Nachgang „schön“ zu machen, sondern der von Anfang an mit seiner besonderen Art Problemstellungen zu lösen in den Entwick­lungs­pro­zess eingebunden ist. Dies ist ein ähnlicher Ansatz, wie ihn die neue Zollverein School in Essen mit ihrem gemeinsamen Studiengang für Manager und Designer verfolgt.

Auf angenehm knapp gehaltenen Schautafeln (wer detaillierte Informationen will, kann sich an der Kasse mit einem PDA, einem „Personal Digital Assistent“ in Form eines MP3-Players ausstatten lassen) hat Ausstellungsgestalter Reinhard Binder die wesentlichen Eckpunkte für die Erfolge von Produkten wie der „Bionade“, dem „ipod“, den Flachbildschirmen von „Loewe“, der „Mediathek“ der Süddeutschen Zeitung oder der Werbekampagne des Landes Baden-Württemberg („Wir können alles außer Hochdeutsch“) dargestellt. Ausreichend Zeit sollte man sich nehmen für die Vielzahl sehr interessanter Interviews mit den beteiligten Firmenchefs, PR-Leuten, Werbern und Designern, die überraschend offen über die Suche nach der richtigen Strategien, auch über Zweifel und Rückschläge berichten; dabei angenehm wenig auf die üblichen Worthülsen zurückgreifen, mit denen man bei „Kreativen“ in diesem Zusammenhang sonst rechnen muss. Wie groß der Anteil des Designs an den erfolgreichen Produkten allerdings wirklich ist, ob nicht doch der Einfluss von Marketing, PR und Werbung ungleich höher ist, wird leider nicht ganz deutlich. Vielleicht ist diese Frage im Sinne einer Gemeinschaftsleistung der kreativen Industrien aber ohnehin obsolet.

Weshalb er sich überhaupt eine viel stärkere Einmischung der Kreativen in die Produktentwicklung wünscht, bringt Gerdes überzeugend auf den Punkt: Er wolle auch in Zukunft lieber in einer Umwelt leben, die von Menschen mit einem künstlerisch-kulturellen Hintergrund geprägt wird – und nicht ausschließlich von Technikern und Ingenieuren.

Bauwelt, Fr., 2007.01.19

19. Januar 2007 Jan Friedrich

Hochschule für Technik und Wirtschaft in Aalen

Drei Erweiterungsbauten vor der Stadt: Mahler – Günster – Fuchs

Drei große, am Waldrand aufgestellte Holzkisten ziehen schon von fern die Aufmerksamkeit auf sich, wenn man auf der Bundestraße 29 an der ostwürttembergischen Stadt Aalen vorbeifährt. Ein Relikt des groß angelegten Römerspektakels, das in Aalen, am ehemals größten Reiterkastell nördlich der Alpen, regelmäßig veranstaltet wird? Ein Museum? Oder gar eine Fabrik zur Herstellung von Holzwerkstoffen und Pellets? Nichts von alledem. Die hölzernen Kuben bergen Räume für die Studiengänge der Bereiche Elektronik, Optik und Informatik der Hochschule für Technik und Wirtschaft.

Ursprünglich war geplant, die Erweiterung der in den letzten Jahren kräftig gewachsenen Hochschule in einer aufgelassenen Fabrik oder in einer Aufstockung des 1969 eingeweihten Altbaus unterzubringen. Doch die Akteure um den rührigen Rektor der Hochschule konnten die Gremien davon überzeugen, dass es im Hinblick auf langfristige Perspektiven sinnvoller ist, das Gelände am Waldrand unweit des Altbaus für die Neubauten zu nutzen. Das exponiert gelegene Areal „Auf dem Burren“, das die Stadt hierfür dem Land abtrat, bietet nun auch langfristig genügend Potentiale für die Entwicklung des Hochschulstandorts.

In einem Realisierungswettbewerb setzten sich die Architekten Mahler-Günster-Fuchs mit einem überzeugenden und im besten Sinne einfachen Konzept durch. Drei schlanke Baukörper, zwei größere und ein kleinerer, wurden parallel zueinander in den leicht abfallenden Hang gesetzt. Vom Waldrand gleitet der Blick über die tiefer liegenden Neubauten bis zum Horizont der schwäbischen Landschaft. Die den Altbau und die Neubauten verbindende Straße mündet in einem zum Tal hin geschlossenen Platzraum, der seitlich von den Stirnseiten zweier Gebäude flankiert und hangabwärts von der Längsseite des dritten Traktes begrenzt wird. Über den Platz, der den Höhenunterschied des Geländes durch niedrige Betonmauern und Rampen geschickt überspielt, gelangt man in die querliegende, baumbestandene Erschließungsachse: ein betont urbaner Mittelpunkt der Gebäudegruppe, der als Kern einer kleinen „Stadt der Wissenschaft“ verstanden werden kann, die im Laufe der Jahre wachsen wird.

Die schon von weitem wahrnehmbare, die Gebäudeoberfläche belebende Komposition aus helleren und dunkleren Flächen entpuppt sich jetzt als ein dichtes Kleid aus durchbrochenen Holzläden, das den völlig verglasten Bau in sechzig Zentimeter Abstand umhüllt. Je nach Sonnenstand ändert sich das Fassadenbild. In geschlossenem Zustand bilden die aus unbehandeltem Lärchenholz gefertigten, lamellenartigen Fassadenelemente eine helle, rötlich schimmernde Fläche. Werden die Läden mit einem Drehmechanismus senkrecht gestellt, wird die dahinter liegende dunklere Fläche der Verglasung sichtbar, und die vorstehenden Kanten der Läden erzeugen vor der transparenten Hintergrundfolie ein kräftiges Relief. Da die Verschattungsanlage von den Nutzern raumbezogen gesteuert werden kann, ist je nach Stellung an den offenen oder geschlossenen Flächen die hinter der Hülle liegende Raumstruktur unterschiedlich ablesbar. Das Dunkel der Nacht birgt weitere Reize. Nach Einbruch der Dämmerung dringt Licht von innen durch die Ladenelemente und lässt die Kuben zu fast zerbrechlich wirkenden, irrlichternden Gebilden werden, die entfernt an großformatige Papierlaternen erinnern.

Völlig geschlossen sind dagegen die holzverkleideten Schmalseiten, bei denen jedoch ein das dreigeschossige Gebäude in voller Höhe durchmessender Schlitz die innere Struktur der Bauten andeutet. Die Gebäudezugänge liegen sinnfällig an der sympathisch zurückhaltend gestalteten Erschließungsachse. Nichts soll die Ruhe der großen Formen stören. Deshalb heben sich die vollverglasten Türen auch wenig von der Holzhülle der Quader ab. Ein ungefilterter Einblick ins Innere ist auch bei den Glastüren nicht erwünscht, weshalb die Architekten zwischen den Glasscheiben einen hölzernen Lamellenvorhang heruntergelassen haben. Erinnerungen an den traditionellen japanischen Holzbau werden wach, wo feingliedrige Paravents aus Holzlamellen oder Bambus Einblicke in die Häuser verhindern sollten. Die Architekten hatten das Ziel, mit dem gedämpften Licht, das den Eintretenden wie in alten japanischen Häusern umfängt, eine Atmosphäre der Konzentration und Kontemplation zu schaffen, die der Arbeit und Lehre in diesen Räumen förderlich sein dürfte. Dass man bei der Gestaltung der Innenräume auf jeglichen architektonischen Firlefanz verzichtete und sich auf das Wesentliche beschränkte, ist schlüssig. Der sich von dem Weiß der Trennwände absetzende Sichtbeton an den Decken und den statisch relevanten Wänden sowie die Bodenbeläge aus anthrazitgrauem Linoleum und Naturstein aus der Region, die das Grau des Sichtbetons aufnehmen, kontrastieren mit dem warmen Ton der hölzernen Lamellen, die sich außen vor den raumhohen Verglasungen ausbreiten. Dabei erzeugen die Läden in geschlossenem Zustand gerade so viel Intimität, dass auch die WC-Anlagen ohne Matt- oder Riffelglas auskommen und wie vollwertige Räume mit einem vielschichtigen, fein dosierten Ausblick auf die Umgebung aufwarten.

Die Fakultätsgebäude sind längs auseinander geschnitten. Die von oben beleuchtete Fuge birgt zwischen hohen Sichtbetonwänden zwei Treppenanlagen, deren Offenheit durch brandschutztechnische Zusatzmaßnahmen ermöglicht wurde, sowie drei nicht begehbare Leerräume: zwei extrem schmale, gangartige Räume an den Stirnseiten, die sich hier zu den überdimensionalen schlitzartigen Ausrufezeichen öffnen, und in der Gebäudemitte ein schachtartiger, dämmriger Raum, dessen Grund mit grauem Schotter bedeckt ist. Von den engen, ein wenig an die Architektur altägyptischer Tempelanlagen gemahnenden Grüfte führt die kaskadenartig ansteigende Treppe hinauf. Ganz oben, über der Brüstung schwebend, zeigt sich eine den hohen Raum abschließende, hell beleuchtete Fläche. Lockt diese „Himmelsleiter“ in eine elegante Bar? Nein. Aber immerhin läuft man nicht ins Leere, sondern wird mit einem berückenden Panorama auf die sanften Wellen der schwäbischen Ostalb belohnt.

Im weitgehend identischen Gebäude jenseits der Erschließungsachse installierte der Münchener Künstler Albert Hien in dem mittleren, ebenfalls aufgeschotterten Leerraum eine Sequenz aus vertikalen, schrägen und auch gebogenen Neonröhren. Wechselnd geschaltet, erzeugen sie in dem tiefen engen Raum eine Folge leuchtender, rätselhaft-kryptischer Zeichen, die auch die benachbarten Erschließungsflure in blaues und rotes Licht tauchen. Ob die Arbeit mit dem Titel „Mehr Licht“ den Mitarbeitern des angrenzenden Studentensekretariats vielleicht zu aufregend ist, oder ob ihnen die zurückhaltende Architektur zu karg erscheint – eine ganze Batterie unterschiedlicher Topfpflanzen und Dauergewächse in einer Variation von Übertöpfen, im Eingangsbereich auf die unteren Profile der raumhohen Flurverglasung gestellt, versucht hier jedenfalls schon nach wenigen Wochen Hochschulbetrieb eine andere Art Heimat zu erschaffen.

Wer will, kann sich auch in die Bibliothek der Hochschule zurückziehen, den kleinen Bruder der beiden Fakultätsgebäude. Der Bau bietet an der Schmalseite nach Süden in allen drei Geschossen eine offene „Laube“ mit Ausblick an – ein aufmerksames Geschenk an die Studierenden.

Bauwelt, Fr., 2007.01.19

19. Januar 2007 Max Stemshorn

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