Inhalt

WOCHENSCHAU
02 Die Wiedergeburt der Pariser Straßenbahn | Boris Maninger
03 Neue alte Bürgerlichkeit | Jochen Paul
03 Grand Prix de l’urbanisme an Francis Cuiller | Kaye Geipel
04 Toyo Itos Shopping Mall „Vivocity“ in Singapur | Florian Schaetz

BETRIFFT
06 Copyright und Konsequenzen | Viktor Oldiges

WETTBEWERBE
08 Erweiterung des Kunstmuseums Bern | Florian Heilmeyer
10 Entscheidungen
11 Auslobungen

THEMA
12 Mythos Interruptus | Kaye Geipel
22 Städtebauliche „promenade architecturale“ | Yvan Mettaud
26 Fragen der Werktreue | Gilles Ragot

RUBRIKEN
05 wer wo was wann
34 Kalender
35 Anzeigen

Le Tramway des Maréchaux. Die Wieder­geburt der Pariser Straßenbahn

Fast 60 Jahre gab es im Pariser Stadtgebiet keine Straßenbahn. Im Dezember sind die ersten acht Kilometer einer neuen Tramlinie eröffnet worden.

Schon Ende der 30er Jahre rangierte Frankreich weltweit an dritter Stelle der Autofahrernationen. Dem Automobil wurde sowohl in der nationalen Verkehrspolitik als auch im Städtebau höchste Priorität einge­räumt; man denke nur an Le Corbusiers Plan Voisin von 1925, mit dem er die gesamte Pariser Innenstadt in ein autogerechtes Hochhausviertel verwandeln wollte. Straßenbahnen galten zu jener Zeit bereits als veraltet, unbeweglich und laut. Sie waren dem zu­neh­menden Autoverkehr im Weg, und fast alle französi­schen Städte ersetzten sie nach und nach durch Busse. Im März 1937 wurde die letzte Straßenbahnlinie durch das Pariser Stadtgebiet eingestellt.

Die Nachteile des Autoverkehrs schlugen sich in den folgenden Jahrzehnten vor allem an der Pariser Stadtgrenze nieder: Sowohl die chronisch verstopfte Ringautobahn le Périphérique als auch der parallel dazu verlaufende Boulevardring les Maréchaux wa­ren zu einer fast unüberwindbaren Grenze zwischen Paris intramuros und seinen Vororten geworden. Zu­dem offenbarte sich hier das entscheidende Manko des Pariser Nahverkehrsnetzes: Alle Métro- und RER-Linien verlaufen konzentrisch. Und während früher einmal die Ringeisenbahn Petite Ceinture die Viertel am Stadtrand und die Vororte miteinander verband, verkehrte inzwischen nur mehr eine unzureichende Busringlinie. Als die Stadt Paris im Jahr 1995 eine Machbarkeitsstudie für eine Straßenbahn entlang ih­res vernachlässigten Südrands in Auftrag gab, konnten man von den Erfahrungen anderer französischer Städte profitieren, die bereits ab Mitte der 80er Jahre wieder moderne Trambahnnetze aufgebaut hatten. Und damit nicht nur Verkehrsprobleme lösten, sondern obendrein ganze Stadtviertel aufwerteten. Zu den Pionieren gehörten Grenoble, Nantes und Straßburg (Hefte 39.00 und 19.06); 1992 war auch im Großraum Paris die erste neue Linie eröffnet worden, Saint Denis–Bobigny, gefolgt von der Linie Issy–La Défense.

Für den Pariser Südrand wurden zwei mögliche Trassenführungen untersucht: die Nutzung der stillgelegten, aber noch existierenden Eisenbahntrasse Petite Ceinture oder auf dem Boulevardring les Maréchaux selbst. Die Eisenbahntrasse hätte den Vorteil einer höheren Durchschnittsgeschwindigkeit geboten, da sie kreuzungsfrei ist. Allerdings hätte es nur wenige Stationen geben können, die zudem schwer zugänglich gewesen wären, da der Schienenstrang
auf Viadukten, abgesenkt in Schluchten und teilweise im Tunnel verläuft. Die zweite Variante auf den Boulevards Maréchaux war deutlich kostengünstiger, bot bessere Verknüpfungsmöglichkeiten mit dem bestehenden Verkehrsnetz und ermöglichte obendrein eine Aufwertung der verkehrsgeplagten Stadtviertel, weshalb man sich auch für sie entschied.

Das erklärte Ziel der Stadt war es, den Autoverkehr um 25 Prozent zu senken, den Straßenraum zum Vorteil von Fußgängern und Radfahrern neu aufzuteilen und das Bild der Straßenzüge auch optisch aufzuwer­ten – womit der Architekt und Stadtplaner Antoine Grumbach beauftragt wurde. Er reduzierte den Autoverkehr auf zwei Spuren pro Richtung, verbreiterte die Gehwege, legte Radwege an, ließ über 1000 Bäume pflanzen und begrünte den gesamten Schienenbereich mit Rasen. Ein gestalterischer Höhe­punkt des Projekts: der Parcours artistique, eine Se­­-­rie von neun Skulpturen und Installationen zeitge­nössi­scher Künstler. Das Design der Haltestellen und des übrigen Mobiliars für die Boulevards, konzipiert von Jean Michel Wilmotte und Arnaud de Bussière, mischt Inspirationen aus dem traditionellen Pariser Stadtmobiliar und der Corporate Identity der Pariser Verkehrsbetriebe RATP. Braun, die charakteristische Farbe der hauptstädtischen Stadtmöbel, und Stahlgrau, ein Verweis auf die Technologie der RATP, dominieren. Das Licht an den Unterseiten der Haltestellenüberdachungen wechselt ständig Farbe und Intensität; die Form der Stützen ist den Ästen eines Baums nachempfunden.

Auch wenn der ganz große Ansturm auf die Immobilien entlang der neuen Straßenbahn noch auf sich warten lässt, sprechen die Makler doch schon von Preissteigerungen zwischen 5 und 10 Prozent in diesem vor kurzem noch unattraktiven Stadtgebiet. Die acht Kilometer lange Strecke zwischen dem Pont du Garigliano und der Porte d’Ivry wurde am 16. Dezember als Linie T3 eröffnet. Ihre Erweiterung bis zur Porte de la Chapelle am nördlichen Stadtrand ist inzwischen beschlossen. Mit dem Bau soll 2008 begonnen werden, die Inbetriebnahme ist für 2012 geplant. Gleichzeitig soll die parallel verlaufende Stadtautobahn teilweise mit einer begrünten Betonplatte abgedeckt werden.

Bauwelt, Fr., 2007.01.26

26. Januar 2007 Boris Maninger

Neue alte Bürgerlichkeit

„Die gegenwärtige Debatte und der neue Bierernst des Feuilletons beschwören jene Muster, mit denen das klassische Bürgermodell im 19. Jahrhundert ­reüs­sierte: Anständigkeit, Eigenverantwortung, Familiensinn, Gemeinsinn, Bildung.“ So lautete die Eingangsthese des Veranstalters, der Bayerischen Architektenkammer. Während des ersten Abends der Reihe durften – moderiert von Armin Nassehi und im­mer wieder brillant strukturiert von Sylvia Schraut – Wolfram Weimer und Jens Bisky darüber diskutieren, was die neue Bürgerlichkeit eigentlich ausmacht und worauf ihre aktuelle Konjunktur zurückgeht. Unklar blieb: Wer ist die sie tragende Schicht, und gibt es überhaupt so etwas wie ein neues Bürgertum.

Am zweiten Veranstaltungsabend sollte es um die Formensprache der neuen Bürgerlichkeit gehen. Das Publikum aber konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich hier in erster Linie um Atti­tüden und Oberflächenphänomene handelte. Dafür sorgte nicht zuletzt Paul Kahlfeldt, dem interessante Er­kennt­nisse über den Zusammenhang von Avantgarde und Krawatten zu verdanken waren – „Egalité als freiwillige Verpflichtung einer modernen bürgerli­chen Gesellschaft, diese Haltung war und ist modern. Heute ist sie die Avantgarde, genauso notwendig wie das Tragen einer Seidenkrawatte“, konstatierte er. Mit Statements wie „Flachdach und jeglicher Verzicht auf baukünstlerische Äußerung, das gilt seit nunmehr fast 100 Jahren als modern, zeitgemäß und seit den nationalsozialistischen Auslassungen eben auch als demokratisch“, redete er sich aber streckenweise um Kopf und Kragen.

Da erschienen die Thesen seines Kontrahenten Jacques Blumer reflektierter und tiefgründiger. Ob es an der größeren Lebenserfahrung liegt, an den Stationen seines beruflichen Werdegangs – Rom, Hel­sinki, Athens/Ohio, Chicago und Bern – oder daran, dass er in Warschau mit Haus- und Reitlehrer aufwuchs? Jedenfalls hat Blumer recht, wenn er sagt, dass die grundlegenden architektonischen Aufgaben zwar immer dieselben sind, jeder Architekt sie aber vor dem Hintergrund und mit den technischen Möglichkeiten seiner Zeit zu lösen hat. Versucht er, „aus seiner Zeit zu springen“, ist das Ergebnis Retro – umso mehr, wenn die Säulen CNC-geschnitten und aus Glasfaserbeton hergestellt sind. Dem hatte Kahlfeldt nur sein Unbehagen an der (Banalität der) Moderne entgegenzusetzen. Für ihn ist Bürgerlichkeit eine Geisteshaltung, die sich nicht in einer architektonischen Sprache ausdrückt; für Blumer dagegen vor allem die Furcht einer Mittelschicht, die langsam ihre Position verliert und sich schützen will vor der gesellschaftlichen Umverteilung, indem sie den Kreis schließt – bis hin zu den „gated communities“ der USA.

Bauwelt, Fr., 2007.01.26

26. Januar 2007 Jochen Paul

Grand Prix de l’urbanisme an Francis Cuiller

In Frankreich ist der Städtebau, mehr als in Deutschland, ein öffentliches Thema. Ein Gradmesser, der über den Stand der Diskussion Auskunft gibt, ist der Grand Prix de l’urbanisme, der jedes Jahr an einen herausragenden Stadtplaner verliehen wird. In den zurückliegenden Jahren ging der Preis mehrmals an Planer, die sich mindestens ebenso sehr als gestaltende Architekten verstehen. 2004 erhielt ihn Christian de Portzamparc und 2005 Bernard Reichen. Der jetzt für 2006 an Francis Cuillier vergebene Preis stellt wieder ganz die strategischen und politischen Möglichkeiten der Stadtplanung in den Vordergrund.

Der Preisträger ist seit 1995 leitender Stadtplaner der Stadt Bordeaux und war die meiste Zeit im Dienst öffentlicher Planungsbehörden tätig. Cuillier beschreibt seinen beruflichen Weg in den zurückliegenden drei Jahrzehnten als „pelerinage“, als Pilgerweg. Tatsächlich war er in einer Art Tour de France in fast allen wichtigen Problemzonen des französischen Nachkriegsstädtebaus und seiner Industrien beteiligt. Er hat von Lille aus eine Forschungsgruppe für die Sanierung kleiner Bergbaustädte geführt; er gehörte zu den ersten Planern, die in der Region Saint-Etienne Pilotprojekte für die Modernisierung des 60er-Jahre-Großwohnbaus entwickelt haben – zusammen mit Christian Devilliers und Alexandre Chemetov. Er leitete in den 80er Jahren in der Lorraine die Transformation der schwindenden Bergbau- und Stahlindustrie; und er hat in Lorient an der Sanierung des Ha­fens – u.a. auch mit der Konversion der ehemali­gen deutschen U-Boot-Basis – gearbeitet.

Cuillier vertritt eine Generation von Planern, die mit einer gewissen Desillusion bezüglich der „grands projets“ wieder stärker die Bedürfnisse des Lokalen in den Vordergrund rücken. Die meisten Stadtbewohner, so Cuiller, betrachten urbane Veränderungen heute als eine Art Aggression. Das führe zu einer Blockade der Argumente und Auffassungen, vor allem aber zu einer immer weitergehenden Fragmentierung städtischer Funktionen. Lassen sich städtebauliche Ziele, die gemeinsam getragen werden, überhaupt erreichen? Cuillier hat sich in den letzten fünfzehn Jahren vor allem für ein Umdenken bei den öffentlichen Transportmitteln engagiert. Als Stadtbaudirektor von Straßburg 1990–95 war er einer der Pioniere der Renaissance der Straßenbahn. Er hat die später von vielen kopierten Konzepte für neue Linien umgesetzt und mit Hilfe von Architekturwettbewerben gleichzeitig für die Neugestaltung der Place Kleber und der Place de la Gare gesorgt. Zwei einfa­che Devisen hält Francis Cuillier bereit, wenn er gefragt wird, was man von seiner Arbeit lernen könne: Die Planungsbehörden müssten, was ihrem Wesen widerspreche, dazulernen; und dann sollten sie ihre Planungen so klar dokumentieren, dass sie von allen verstanden werden.

Bauwelt, Fr., 2007.01.26

26. Januar 2007 Kaye Geipel

Mythos interruptus

(SUBTITLE) Saint-Pierre in Firminy wird zum Museum seines Architekten Le Corbusier

41 Jahre nach dem Tod Le Corbusiers wird in Firminy die halbfertige Kirche Saint-Pierre zu Ende gebaut. Die Frage der Authentizität bleibt offen. Doch die Kleinstadt am Rande des Zentralmassivs wird mit ihrem Erbe an Corbusier-Bauten plötzlich zu einer Konkurrenz für Chandigarh.

Die kleine Stadt am Rande des Zentralmassivs hat sich erst im Laufe der Zeit an die Bebauung der umliegenden Hügel gewagt. Die sich seit den sechziger Jahren wie Schlangen hinräkelnden Großwohnbauten sind inzwischen ein kaum weiter auffallender Bestandteil des städtischen Panoramas geworden. Ein Fremdkörper sticht auf halbem Weg in die Höhe, ein Gebilde, das sich nirgends anlehnt und nur sich selbst zuzuordnen ist. Formale Haltlosigkeit ist die erste und auffälligste Eigenschaft des posthum realisierten Baus von Le Corbusier. Die von ihm Anfang der sechziger Jahre entworfene Kirche ist mit ihrem aufregenden Werdegang (Heft 1-2/2004) zu einem besonderen Fall der Architekturgeschichte geworden. Erst 1970, fünf Jahre nach Le Corbusiers Tod, konnte in einer beispiello­sen Anstrengung mit der Umsetzung begonnen werden. Nach wechselvollem Hin und Her wurde der Rohbau 1978 von den Arbeitern verlassen, endgültig, wie es damals schien. Doch der Bau war noch lange nicht fertig. Seau de charbon, Kohleneimer, nannten die Nachbarn bald die nutzlose, zum Himmel hin offene Ruine. 2003 gelang der Start fürs Weiterbauen. Am 24. November letzten Jahres wurde die Kirche, die künftig vor allem Museumszwecken dient und im Sockel ein Corbusier-Museum beherbergen wird, eröffnet.

Der auf quadratischem Grundriss errichtete Kegelbau ist nicht nur mit seiner Geschichte, sondern auch mit seiner Form aus der Zeit gefallen. Zwar gleicht dieser Sichtbetonkörper den „distorted volumes“ des computerisierten Entwerfens und zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit Entwürfen von Zaha Hadid oder Ben van Berkel auf. Aber dann ist er auch umgürtet von merkwürdigen Dekors, die die Dynamik der Aufwärtsbewegung ad absurdum führen und aus der Hand eines zerstreuten Comiczeichners zu kommen scheinen. Die aus dem Dach hervorstoßenden „Lichtkanonen“ etwa oder die kipplige Führung der Regenrinnen um die riesigen Wände des Kegels stehen für einen Entwurf, den heute kein Architekt so zeichnen könnte. Es ist ein Bau, der seinen Besuchern die Wahrnehmung schwer macht: Die Fotografen suchen irritiert nach dem passenden Standpunkt, und die Kritiker haben plötzlich ein UFO, ein Kraftwerk, einen Betonberg oder einen Raketensilo vor Augen und suchen nach der richtigen Metapher. Dabei ist die einstige Formfindung gar nicht so geheimnisvoll: von oben, von den Hügeln her, ist der aufragende Bau auch als eine Öffnung in den Boden zu deuten: unverkennbarer Hinweis für die die Region prägenden Schächte für Kohleabbau. Und vom Tal, von der alten Stadt her kommend, gibt sich das überdimensionierte, zum Himmel gerichtete Fernrohr als Kirchenentwurf eines modernen Künstlers und verschweigt nicht ganz die Provokation seines atheistischen Entwerfers.

Akropolis-Lektion

Im Juni 1960 kam Le Corbusier nach Firminy-Vert, um innerhalb der „grünen“ Stadterweiterung den Standort der Kirche festzulegen. „Er stieg bergwärts, beobachtete mit dem ihm eigenen Scharfsinn die Gegend, stieg wieder talwärts, langsam bis zu dem Punkte, wo er den Bau situierte.“ So erzählte es Eugène Claudius-Petit, damals Bürgermeister von Firminy und zuvor schon, in seiner Funktion als Wiederaufbauminister Frankreichs, einflussreicher Freund des Architekten, der ihm unter anderem den Auftrag für die Unité in Marseille vermittelt hatte.

Man kann diese Erzählung einer Spurensuche nach dem richtigen Standort heute als konstruierten Mythos bespötteln; der hohe Ton wirkt inzwischen fremd. Die Bedeutung der kleinen Geschichte für die weitere Planung ist aber aufschlussreich. Die katholische Kirche hätte sich einen anderen Standort gewünscht, Le Corbusier aber sah seine Idee eines moder­nen Zentrums nur innerhalb der von ihm selbst bestimmten Umfriedung (Seite 23) des Ovals garantiert. In der weiteren Planung nutzte er die Niveausprünge des ehemaligen Steinbruchs und konzipierte die Kirche als Eckgebäude innerhalb einer ovalen Ringstraße. Hält man sich etwa die Fotos des Parthenons in „Vers une architecture“ vor Augen, könnte man in Firminy-Vert – trotz der ganz anderen Topographie – von einer Akropolis-Lektion sprechen. Alle öffentlichen Bauten Le Corbusiers stehen jetzt auf einem für sich selbst wahrnehmbaren „Plateau“. Der lange Riegel der Maison de la Culture und die steil aufragende Kirche umgreifen Schwimmbad und Stadion von entgegengesetzten Seiten. Die Kirche ist in diesem Gefüge kein statischer Bau mit Vorplatz, sondern ein dynamisches Gelenk, das zugleich den Übergang zwischen alter und neuer Stadt markiert.

Corbusier City

Dino Cinieri hatte mit Architektur nichts im Sinn, als er 2001 für die konservative Partei UMP kandidierte und Firminys neuer Bürgermeister wurde. Cinieri ist ein Unternehmer, dem es gelungen war, ein kleines Büro für Sicherheitsdienste innerhalb von 20 Jahren zu einer Firma von 2000 Mitarbeitern aufzubauen. Bei der Eröffnung von Saint-Pierre im vergangenen November sprach er als Konvertit, dem Le Corbusier sehr am Herzen liegt: „Mir war eines klar geworden: Wenn wir es schaffen, die Kirche fertig zu bauen, dann halten wir ein unvergleich­liches kulturelles, touristisches und ökonomisches Juwel in den Händen.“ Nicht nur für ihn war es ein Sinneswandel. Die Stadt, die seit 1971 kommunistisch regiert wurde, hatte Jahrzehnte lang andere Sorgen; der Kohleabbau, der neben dem Eisenerz zu den Haupteinnahmequellen gehörte, wurde 1983 ein­gestellt, die Arbeitslosigkeit stieg. Firminy ist eine schrumpfende Stadt, von den 24.000 Einwohnern Anfang der achtziger Jahre sind noch 19.000 übrig. Der denkmalgerechte Umgang mit den Bauten Le Corbusiers erschien lange wie eine überflüssige Last. Dann kehrte sich die Stimmung um. Man entdeckte, dass das Erbe des Architekten in Firminy – größter Bestand an Corbusier-Bauten nach Chandigarh – bei der Umstrukturierung helfen könnte. Im Verbund mit dem benachbarten Saint-Etienne, das auch mit Restrukturierungsproblemen zu kämpfen hat, wurde eine Lösung ersonnen. Die „Communauté d’agglomération Saint-Etienne Métropole“, ein Städteverbund mit 400.000 Einwohnern, kaufte 2002 die Ruine für den symbolischen Betrag von einem Euro. In den beiden Sockelgeschossen wird das Museum für moderne Kunst von Saint-Etienne ab diesem Sommer eine Corbusier-Ausstellung einrichten. Die Erwartung ist klar formuliert: Bisher zählte man 15.000 Besucher pro Jahr, künftig sollen es 80.000 sein, manche sprechen von 200.000. Der Konkurrenzkampf um den Kulturtouristen ist bereits erklärt. Dino Cinieri: „Wenn Ronchamps mit seiner Kapelle 150.000 Besucher anlockt, müssten wir eigentlich viel mehr schaffen.“

Ohne den inzwischen 73-jährigen José Oubrerie könnte es solche hochgesteckten Ziele einer „Corbusier-City“ wohl nicht geben. Die Fertigstellung zwischen 2003 und 2006 wurde von ihm geleitet. Der in Ohio, Columbus, lebende Oubrerie ist ne­ben den ausführenden Architekten Yves Perret, Aline Duverger und Romain Chazalon der entscheidende Garant für eine Kontinuität zwischen Le Corbusiers Skizzen und der heutigen Ausführung. Der Mann, der zuerst als Lernender und dann als Mitarbeiter im Pariser Atelier Le Corbusiers an Saint-Pierre gearbeitet hat, war nicht nur über vierzig Jahre hinweg Chefarchitekt, sondern, wie die Amerikaner sagen, „keeper of the flame“. Es war vor allem Oubrerie, der die wichtigen Entscheidungen fällte, der die genaue Neigung des zum Altar hin ansteigenden Bodens festlegte und der die stählerne Kirchentür in starken Farben entwarf.

Ende Januar wird am Wexner Center of the Arts der Ohio State University, an der José Oubrerie unterrichtet, eine große Ausstellung über die 45-jährige Planungsgeschichte von Saint-Pierre eröffnet. Sie trägt den prägnanten Titel und doppeldeutigen Titel: „Architecture interruptus“.[1]

Museumssockel und Kirchenkuppel

Wie viel ist Kontinuität, und wie viel ist „interruptus“, vergli­chen mit den ursprünglichen Plänen Le Corbusiers?2 Jeder Besuch beginnt heute auf der Ostseite, von der man den Sockel mit dem Museum betritt. Mit den aus konservatorischen Gründen aufgedoppelten, kerngedämmten Betonwänden, dem Sammelsurium an Leuchtkörpern, den verschieden gestalteten Ge­länderprofilen und den in leuchtenden Farben gestrichenen Akustikdecken verweist hier kaum noch etwas auf die kargen, isolierten Gemeinderäume, die hier einst vorgesehen waren. Vor allem die jeweils mit hohen Sitzstufen ausgestatteten Ausstellungsräume, die einem ähnlichen Typus in der Maison de la Culture abgeschaut sind, stehen für die Museumsfunktion. „Das damalige Projekt war viel einfacher“, sagt Projektarchitekt Yves Perret. Man habe aber versucht, die gestalterischen Unterschiede herauszuarbeiten und dabei mit möglichst wenigen Materialien auszukommen.

Über die von Sichtbetonwänden flankierte Treppe im Südwesten erreicht man nach mehreren Kehrtwendungen ein Zwischenpodest und steht dann in der nur schwach beleuchteten und eiskalten Kuppel des Kirchenraums. Ein kaum zu be­schreibendes Gefühl von elementarer Monumentalität stellt sich ein zwischen den gekippten Sichtbetonwänden. Man starrt, immer noch geblendet, auf die umlaufenden roten, grünen, blauen und gelben Lichtbänder; man tastet sich beim Blick auf den Altar langsam höher zum Sternbild des Orions an der Ostwand, das das Innere des Mantels von Maria auffaltet, und denkt an das Erhabene. „Cette belle petite Eglise“ – eine schöne kleine Kirche –, hatte Le Corbusier Saint-Pierre genannt und dabei nicht ausgesprochen, dass er mit einfachen Mitteln die größte Wucht erzielen wollte.

Museumssockel und Kirchenkuppel sind heute diametral verschiedene Raumteile. Dass sie konzeptuell nicht ganz auseinanderfallen, ist zurückzuführen auf ein verändertes Erschließungskonzept, das sich José Oubrerie für den Sockel ausgedacht hat. In einer Art Spirale laufen die Besucher längs der Fassade um die kästchenförmigen Museumsräume. Entstanden ist eine lebendige Wegeführung, auf der man sich wie in einer Spirale bis hoch zur Kuppel bewegt. Die Frage ist, ob diese dynamische Eigenbewegung der Sparsamkeit des ursprünglichen Sockels, der als Kontrast zur grandiosen Kuppel gedacht war, nicht widerspricht.

Streit um das Original

Die Kirche wird, wiewohl sie mit allen Bestandteilen eines für den Ritus einer katholischen Messe notwendigen Raums ausgestattet ist, also solcher kaum je benutzt werden. Die seit 1905 in Frankreich geltende strikte Trennung von Staat und Kirche hätte eine staatliche Unterstützung auch nicht erlaubt. Saint-Pierre ist heute ein ekklesialer Schauraum, grandios in seiner Wirkung, aber zur Tatenlosigkeit eines Museums verurteilt.

Er erzählt eine fast vergessene Geschichte aus einer Zeit, in der die katholische Kirche nach dem zweiten vatikanischen Konzil neue Gedanken bauen ließ. Das alles liegt weit zurück. Als verantwortlicher Architekt hat sich José Oubrerie, angesprochen auf die einst vorgesehene Kirchennutzung, auf eine Position zurückgezogen, die die Religion ausspart. „Mich interessieren diese Fragen nicht. Ich halte es mit Henri Lefèbvre, der geschrieben hat, alle Städte brauchen nutzlose, große Räume, die den Bewohnern Platz für Ruhe, Konzentration und Meditation bieten. Und im Übrigen bin ich Atheist”.

Die Fondation Le Corbusier in Paris, Gralshüterin des Corbusier’schen Gedankenguts, hat sich bei der Beurteilung der Frage nach der Authentizität zurückgehalten. Es scheint, als müsse jeder, der Saint-Pierre besichtigt, selbst herausfinden, worauf die Pläne und Modelle des Entwurfs einst zielten und was davon umgesetzt werden konnte. Vieles, was störend wirkt, ist ohne Frage der Funktion Museum geschuldet: Der neue Sockel ist in jeder Hinsicht selbständiger und wichtiger, die Eingänge sind exaltierter, skulpturaler geworden. Es gibt im Ganzen mehr Farben, mehr Dichte, mehr Event, als man sich hätte vorstellen mögen. Durch die andere Nutzung rückt die Bedeutung unwichtiger Bereiche in den Vordergrund, vor allem in den Untergeschossen zerfällt die klare Hierarchie des Corbusier’schen Entwurfs in seine Bestandteile. Aber auch in der Kuppel hat der Bau einiges von der waghalsigen Experimen­tierfreudigkeit, die die vibrierenden Papiermodelle auszeich­nete, eingebüßt. Der Stahlbeton wurde mit dem Know-how neuer selbstverdichtender Fließtechniken gezähmt, aber das Gefühl entwerferischer Askese inmitten der ganzen Farbigkeit, das man in La Tourette hautnah erleben kann, fehlt in Firminy. Kurz: Die Primärkonstruktion hat an Bedeutung verloren, während die erzählenden „Accessoires“ der Gestaltung in den Vordergrund rücken.

Kann man Saint-Pierre in eine Reihe stellen mit La Tourette und Ronchamps? Steht dieser Bau für jenen „dritten, neuen Typ“ einer Kirche, den Le Corbusier im Œuvre complète versprochen hatte? Die Antwort hat zwei Facetten: Von der Gestaltung und der Detaillierung der Innenräume her lautet die Antwort Nein. Zu weit weg ist der ursprüngliche Gedanke, zu viel an der inneren Mixtur von Mu­seum und Kirchenschau­raum ist eben doch Auslegung „im Geiste von...“. Von der äußeren, monolithischen Kraft des Baukörpers und von der städtebaulichen Bedeutung hingegen lautet die Antwort Ja.
Einer der genauesten Kenner der Planungsgeschichte von Saint-Pierre, Anthony Eardley3, sprach 1981 mit Blick auf die Modelle vom Pathos des „zweifelnden Blicks“ ihrer grandiosen Fassade. Als Porträt des zu Ende gehenden Maschinenzeitalters sei die Kuppel von Firminy die möglicherweise überzeugendste Erfindung des Architekten – Bild einer skeptischen, sich selbst erkennenden Moderne. Yves Perret sagt am Schluss des Besuchs: „Il y a une origine pure quelque part.“ Man kann es frei übersetzen: Das Original ist da. Irgendwo.

Bauwelt, Fr., 2007.01.26

26. Januar 2007 Kaye Geipel



verknüpfte Bauwerke
Kirche Saint-Pierre de Firminy

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