Editorial

Walter Förderer und Fritz Wotruba waren Meister des Betons, aber auch Paul Rudolph hat seine Geschichte mit eindrucksvollen Gebäuden mitgeschrieben. Bauten, die in ihrer skulpturalen Intensität eine eigene Wesenheit entwickelten, die nur so, nur durch diesen Baustoff ihre Wirkung entfalten konnten. Und Gottfried Böhm hat die skulpturalen Möglichkeiten des Baustoffes in Ikonen der Betonarchitektur verwandelt.

Beton als Sichtbeton hat seit den neunziger Jahren eine Re-naissance erfahren, gehört mittlerweile zum guten Ton in der Klaviatur anspruchsvollen Bauens, ist so etabliert, dass er mittlerweile werbetauglich ist – wie Werbespots und Anzeigenmotive der jüngeren Zeit zeigen. Angekommen und arriviert also im 21. Jahrhundert? Und doch beschleicht einen dabei ein Gefühl des Unbehagens – und des Verlustes.

Die Publikationen der letzten Jahre sind vielfältig, ob Fachzeitschrift oder -buch, auf endlosen Seiten werden Oberflächenbearbeitungen, Schalungsvarianten und Zugaben von »Wundermitteln« propagiert. Und erst vor Kurzem hat Zaha Hadid sich in Wolfsburg mittels eines komplexen Baustoffgemisches und unter Aufbietung aller Schalkunst über die Gesetze des Möglichen, der Schwerkraft und über jedes Budget hinweggesetzt. »Entdecke die Möglichkeiten«

Gute Architektur in Beton entsteht jenseits des chemisch Machbaren und unter anderen Bedingtheiten. Wo Beton nicht nur konstruktiv, sondern auch entwurfsbestimmend auftritt, bleibt es leider häufig bei einer eher oberflächlichen Gestaltung - die weniger auf das abzielt, was das Material ist, als das, was es kann; eine Betonhochleistungsshow.

Aber gerade wenn vieles möglich ist, liegt die wahre Meisterschaft in der Beschränkung und im authentischen Umgang. elp

Inhalt

03 Kommentar
Urheberrecht: Der Berliner Hauptbahnhof | Thomas A. Fülling

06 Magazin
12 On European Architecture
Big Jim's big legacy – Rediscovering James Stirling | Aaron Betsky

14 Im Blickpunkt
Architektur-Olympiade Hamburg | Dirk Meyhöfer

16 Schwerpunkt: Beton
17 Zum Thema: Beton – Gedanken und Zitate
18 Niederländische Botschaft in Addis Abeba, van Gameren-Mastenbroek | Pierijn van der Putt
28 Kirche in RIjsenhout, von Claus Kaan | Anneke Bokern
34 Kirche in Firminy von Le Corbusier, José Oubrerie | Roland Pawlitschko
40 Interview mit Tadao Ando | Ulf Meyer
44 Neue Mitte Ulm – Zwei Büro- und Geschäftsbauten von Stephan Braunfels | Falk Jaeger
52 Konfliktpotenzial Sichtbeton | Arno Knott, Jan Philipp Koch
58 ... in die Jahre gekommen: Art & Architecture building in Yale | Rüdiger Krisch

64 Kalender

64 Ausstellungen
Staatsarchitektur der Weimarer Republik (Berlin) | Ralf Wollheim
Hochhausarchitektur (Frankfurt) | Peter Struck

66 Neu in …
...Baden (CH) | Hubertus Adam
...Kösching | Roland Pawlitschko
...Minneapolis (USA) | Achim Geissinger

68 Bücher

70 Energie
Etikettieren ist nicht Planen | Christian Fischer

74 Ökonomie
Marktfaktor Architektur | Gudrun Escher

Produkte
76 Betontechniken, Schalung, Wandbaustoffe | rm

86 Infoticker | rm

88 Schaufenster
Bodenbeläge | rm

92 Schwachstellen
Regelverstöße bei Dacheindeckungen | Rainer Oswald

Detailbogen
101 Kirche in RIjsenhout
104 Neue Mitte Ulm

Roter Monolith

In Lalibela, im Norden Äthiopiens, finden sich mehrere Kirchen, die den Besuchern, gleich welchen Glaubens, den Atem stocken lassen. Die im 13. Jahrhundert in den und aus dem Felsboden gehauenen christlichen Gotteshäuser sind Monolithen im wahrsten Sinne des Wortes – aus einem (mono) Stein (lithos). Dick van Gameren und Bjarne Mastenbroek dienten sie als Inspiration für die Architektur der Niederländischen Botschaft in Äthiopien, die sie noch in ihrer gemeinsamen Zeit bei de architectengroep entwarfen. Die Botschaft sollte, ähnlich den Kirchen, wie aus einem blockhaften Felsen zu bestehen scheinen. Somit fiel die Wahl des Baustoffes auf bewehrten Ortbeton.

Äthiopien kämpft mit einem Imageproblem. Seit Bob Geldof sein »Band Aid«-Konzert organisierte, beschwört jede Erwähnung des Landes automatisch die Bilder von ausgehungerten, von Fliegen umschwirrten Kindern herauf. Und der Krieg mit der Provinz Eritrea, der 1998 eskalierte, hat dieses negative Bild verstärkt. Dabei ist dies nur ein, wenngleich trauriger Teil der Realität. Internationale Diplomaten wissen die zentrale Lage und relative Stabilität des Landes zu schätzen, und Äthiopien, besonders seine Hauptstadt Addis Abeba, entwickelt sich immer mehr zu einem Zentrum für internationale Konferenzen. Nicht nur die African Union, das afrikanische Pendant zur Europäischen Union, hat dort ihren Sitz, sondern auch zahlreiche westliche Länder sind hier mit ihren Botschaften vertreten.
Die Niederländische Botschaft in Addis Abeba befindet sich auf einem acht Hektar großen bewaldeten Gelände am Rande der Stadt. Entlang des Westrands des Grundstücks verläuft die gerade fertiggestellte Ringstraße, im Osten öffnet sich ein Panoramablick auf Berggipfel und grüne Täler. In Nord-Süd-Richtung wird das Gelände diagonal von einem Hügelrücken durchschnitten.
Aus dieser landschaftlichen Zäsur ergab sich die Aufteilung des umfangreichen Raumprogramms in die Wohnbereiche auf der einen und die repräsentativen diplomatische Räumlichkeiten auf der anderen Seite des Grundstücks. Alle Wohnungen liegen in der westlichen Hälfte, während die Kanzlei und das Eingangsgebäude sich in der östlichen Hälfte befinden. Um das beeindruckende Landschaftsbild nicht zu stören, wurden die meisten Gebäude am Rand des Geländes angesiedelt. Bei der Kanzlei und der Botschafterwohnung, die aus Sicherheitsgründen mit großem Abstand zur Grundstücksgrenze zentral platziert werden mussten, entschied man sich dafür, diese als ein eigenständiges Element mit der Landschaft verschmelzen zu lassen. Die restlichen Gebäude – die Wohnung des Vizebotschafters, drei Wohnungen für Angestellte, eine Grundschule, ein Technikraum und das Eingangsgebäude – wurden gemäß dem Wunsch des Auftraggebers, die Qualitäten der Landschaft möglichst gut zur Geltung kommen zu lassen, über das ganze Gelände verteilt.

polderlandschaft in rotem beton

Die Architekten haben Residenz und Kanzlei in einem 14 Meter breiten und 140 Meter langen, massiv erscheinenden »Riegel« zusammengefasst. Durchgänge und Fenster wirken darin wie Einschnitte und die dahinter liegenden Räume, als wären sie aus dem »Block« ausgehöhlt worden. Wie die meisten anderen Gebäude besteht er aus rohem roten Beton. Hierbei von einem Sichtbeton zu sprechen, wäre zu weit gegriffen. Aufgrund der eher einfachen Baustelleneinrichtung waren komplexe Anforderungen an die Oberflächen nicht möglich, und die italienisch-äthiopische Baufirma konnte keine bessere Qualität garantieren. Da dies zu einem sehr frühen Zeitpunkt bekannt war, entschlossen sich die Architekten, dieses »Handicap« als gestaltgebendes Element in den Entwurf aufzunehmen. Der mit einem Pigment rot eingefärbte Ortbeton nimmt Bezug auf seine Umgebung – der Farbton entspricht dem der äthiopischen Erde. Das mit der Landschaft verschmelzende begehbare Dach wurde als Teich gestaltet, in dem äthiopische und niederländische Motive – Fragmente eines ziselierten äthiopischen Kreuzes und einer niederländischen Polderparzellierung – zu einer symbolischen künstlichen Landschaft vereint wurden. Auf typisch niederländische Weise wird hier unter dem Wasserspiegel gelebt und gearbeitet.
Ursprünglich sollte mit dem Regenwasser, das im Teich gesammelt wird, auch noch das Gelände besprengt werden – eine Form von intelligenter Wasserwirtschaft, die als Beispiel dafür hätte dienen können, wie niederländisches Ingenieurwissen eventuell einen Beitrag zur Entwicklung der äthiopischen Landwirtschaft beitragen könnte. Allerdings erwies sich die technische Umsetzung dieser Idee so kostspielig, dass lediglich ein »gewöhnlicher« Teich übrig blieb, in dem sich nur in der Regenzeit Wasser sammelt.
Die räumliche Organisation der Kanzlei ist sehr klar: Zu beiden Seiten eines zentralen, leicht ansteigenden Korridors liegen Büros, Nebenräume und ein Konferenzsaal. Am Ende des Gebäudes kragt das obere der zwei Geschosse weit aus. In diesem Kopf befinden sich die Büroräume des Botschafters. Im Gegensatz zum Korridor, dessen Wände die gleiche raue Betonoberfläche wie die Außenfassade haben, wurden die Büros und Nebenräume mit anderen Materialien, zum Beispiel Holz und Fliesen, verkleidet. Große, öffenbare Fenster sorgen für direkten Kontakt mit den umstehenden Nadelbäumen, Akazien und Eukalyptusbäumen.
Es gibt keinen Flur, der Kanzlei und Amtswohnung miteinander verbindet. Stattdessen kann der Botschafter von seinem Büro aus das Dach betreten und entlang eines Pfads zu seiner Wohnung gehen. Diese hat zwei Geschosse, die mit einer Funktionstrennung einhergehen: Im Obergeschoss befindet sich ein Empfangsraum, ein Speisesaal mit Küche und das Arbeitszimmer des Botschafters. Dort »schleichen« sich seine beruflichen Aufgaben in die Wohnumgebung ein. Drei recht versteckt gelegene Treppen führen in das untere Geschoss, in dem sich der eigentliche Privatbereich befindet.
Genau wie die Kanzlei, besteht er aus drei Teilen: Während im mittleren Bereich viel Beton zu sehen ist, sind die beiden außen liegenden Trakte mit »feineren« Materialien wie Holz und Putz ausgekleidet. Wohnzimmer, Salon und Esszimmer haben eine vollständig verglaste Fassade. Die Schlafzimmer liegen weiter innen im Riegel, sind sozusagen im Hügel vergraben.
Die auskragende Terrasse ist in Form und Größe eine Kopie der Auskragung auf der Kanzleiseite des Gebäudes. Die Botschaft ist kein glattes Gebäude. Im Gegenteil: An der rauen Fassade hat die aufwändig gezimmerte Schalung deutliche Spuren hinterlassen. Vielleicht ist das aber eher ein Vor- als ein Nachteil: Die Fassade der Botschaft erzählt dadurch die Geschichte ihrer eigenen Entstehung.
Diese Geschichte mag nicht so spektakulär sein wie die der Kirchen von Lalibela, aber sie zeugt doch von einer beeindruckenden Leistung. Böden, Wände und Dächer bilden auch hier eine einzige, nahtlose Einheit, die teils wie eine Grotte, teils wie ein skulptural behauener Felsbrocken wirkt. Es sei den Architekten vergeben, dass sie diesen Einheitlichkeitsgedanken noch weitertreiben wollten und dafür versucht haben, die zwei separaten, keilförmigen Gebäude, die mit den Spitzen zueinanderstehen, wie ein einziges Gebäude wirken zu lassen. Die landschaftlichen Qualitäten, die dadurch gewonnen wurden, machen diese kleine Unehrlichkeit mehr als wett.

db, Di., 2007.01.02

02. Januar 2007 Pierijn van der Putt



verknüpfte Bauwerke
Niederländische Botschaft in Addis Abeba

Denken mit dem Architekturgedächtnis der Welt

(SUBTITLE) Im Interview mit der db erläutert Tadao Ando seine Einstellung zu Architektur und dem Beton

Tadao Ando, den sicher berühmtesten Architekten Japans, zu kontaktieren, ist eine Herausforderung. Denn die öffentlichen Auftritte des als publikumsscheu bekannten Ando sind ebenso minimalistisch wie seine feinen Sichtbetonarchitekturen. Weder eine Webseite noch Briefpapier, weder einen Telefonbucheintrag noch einen PR-Referent hat Ando nötig. Um dennoch ein exklusives Gespräch mit dem interview-resistenten Entwerfer zu bekommen, bedurfte es einiger Finesse: Mit Hilfe einer Muttersprachlerin, die die Interview-Fragen vorab gewissenhaft ins Japanische übersetzte und per Fax nach Osaka schickte, gelang es, Zugang zu den Gedanken des architektonischen Autodidakten zu finden ...

In Europa spricht man bei feinem Sichtbeton mit höchsten Ansprüchen an die Ausführungsqualität von »Ando-Beton«. Eigentlich ist Beton ein hartes Material, aber in Ihren Entwürfen bekommt er eine hohe haptische Qualität: Die weichen Sichtbetonoberflächen möchte man förmlich berühren. Aus dem monumentalen Werkstoff machen Sie ein weiches, sensibles Material, das man streicheln möchte, Sie benutzen nie raue Schalungen. Beton lässt sich wie »flüssiger Stein« frei formen, aber Sie verwenden ihn nicht plastisch, sondern flächig-tafelhaft. Resultiert das aus der japanischen Bautradition der flächigen Shoji (papierbespannte Trenn- und Schiebewand)?

Als ich ungefähr zwanzig Jahre alt war, fand ich in einem Antiquariat ein Buch von Le Corbusier. Von dem wenigen Geld, das ich gespart hatte, habe ich es gekauft. Dieses Buch riss mich mit. Als 1964 endlich auch normale Japaner ohne Visum ins Ausland reisen konnten, fuhr ich sofort nach Europa. Zwar konnte ich Le Corbusier leider nicht treffen, aber ich sah seine Architektur mit meinen eigenen Augen und war begeistert davon, wie er den Beton so einfach und so kräftig verwendete. Jedoch fühlte ich, dass die rauen Oberflächen auf Japaner sehr fremd wirken würden, wenn sie sie jeden Tag anschauen und damit leben sollten.
Ich gründete bald mein eigenes Architekturbüro und entwarf selbst erste kleine Häuser. Dabei wollte ich Gebäude aus Stahl, Glas und Beton gestalten, den weit verbreiteten Baumaterialien des 20. Jahrhunderts, und diese an das japanische Klima anpassen.
So intensiv mit Beton gebaut habe ich, um das Material zur Wirkung zu bringen. Außerdem ist es ein sehr günstiger Baustoff und benötigt kein Finish. Um ein »japanisches Raumgefühl« zu schaffen, arbeitete ich mit den Arbeitern auf der Baustelle immer aus, wie der Beton verarbeitet werden sollte, wie zum Beispiel durch das Streichen der Furnier-Schalung eine besonders glatte Betonoberfläche erreicht werden kann. So entwickelte und testete ich verschiedene Mischungen des Betons, bis ich eine fand, bei der sich der Beton auch angenehm anfühlte.
Für mich ist beim Entwerfen auch die Geometrie sehr wichtig. Architektur begleitet das Leben der Menschen, ist physisch erfahrbar und spiegelt ihre Umgebung wider, die reine Geometrie hingegen ist abstrakt. Wenn man beides mischt, kann eine Architektur entstehen, die Ordnung und Vielfalt bietet, einfache und komplexe Aspekte hat.
Beton, wie ich ihn in meiner Architektur verwende, zeigt ebene oder geschwungene Geometrien, die keine Tiefe haben. Er wirkt nicht durch seine monolithische Masse, sondern durch seine raumfassenden Flächen. Die traditionelle Holzbauarchitektur in Japan basiert ebenso auf Linien und Flächen und auf einem Skelett. Deshalb scheint es vordergründig eine Ähnlichkeit mit der japanischen traditionellen Architektur zu geben. Ich habe von dieser Architektur viel gelernt, bin sicher auch von ihr beeinflusst. Aber ich weiß nicht, ob dieser Einfluss so unmittelbar ist.

Bauen Sie in Europa anders als in ihrer Heimat? Die Handwerkskunst, aber auch das ästhetische und kulturelle Verständnis sind hier ja anders.

Zuerst lade ich die Mitarbeiter des ausländischen Büros ein, sich meine Werke anzuschauen; besonders solche Projekte, die noch im Bau sind, damit sie verstehen, was für uns beim Bauen wichtig ist. Anschließend sollen sie vor Ort diskutieren, wie unser Entwurf realisiert werden kann. Wir bieten natürlich unser Fachwissen an, aber wir zwingen niemandem japanische Techniken oder Detailausführungen auf, weil die Technik an den jeweiligen Ort gebunden ist. So gehen wir aber nicht nur im Ausland vor, sondern auch in Japan. Die Architektur entsteht durch die Zusammenarbeit mit den Bauunternehmern und Bauherren.
Ich glaube, Grundlage eines Entwurfs ist es, das Grundstück und den Hintergrund des Gebäudes zu»lesen«. Meine Architektur bezieht sich zwar auf die gegenwärtige Technik. Aber ich werde durch den Ort, die geplante Nutzung des Bauwerks und die Denkweise des Auftraggebers inspiriert und erhalte hierdurch die entscheidenden Impulse. Außerdem denke ich mit dem Gedächtnis der Architektur der Welt, auch der japanischen, und nutze die bisherigen Erfahrungen. Meine Architektur hat Kenneth Frampton »critical regionalism« genannt. Seiner Meinung nach gibt es in meiner Baukunst wenige direkte Zitate. Durch meine Erfahrung und das kulturelle Gedächtnis, zusammen mit dem Einfluss des Ortes, wird meine Architektur erdacht.

Mehr als andere Architekten werden Sie mit einem Werkstoff identifiziert, dem Beton. Werden Sie damit identifiziert oder identifizieren Sie sich auch selbst damit? Und was was wollen Sie vom Beton? Warum Beton?

Ich baue nicht nur mit Beton, sondern auch mit Holz und Stahl. Wie gesagt, als ich mein Büro gründete, fand ich Beton sehr attraktiv und habe seinen Möglichkeiten nachgejagt. Dies hat meine Karriere geprägt, das möchte ich nicht verneinen. Beton ist ein faszinierendes Material und ich hege eine sehr große Zuneigung zu diesem Baustoff, aber letztlich ist er doch nur ein Mittel, um zu bauen. Die Materialwahl erfolgt unter sehr verschiedenen Bedingungen. Also: »Beton-Architektur« ist nicht meine einzige Identifikation.

Sie haben bisher viele Museen und öffentliche Gebäude entworfen. Das Projekt »Omotesando Hills« in Tokio, ein großes Einkaufszentrum, ist Ihr größtes kommerzielles Bauprojekt. Ist es ein Ausbruch in Material und Maßstab?

Heutzutage sind Waren hochwertig verfeinerte Kunstwerke. Mein »Omotesando-Hills«-Bau ist wie ein Ausstellungsraum. Ich denke nicht, dass es heutzutage einen großen Unterschied zwischen einem Einkaufszentrum und einem Museum gibt.
Zu Beginn meiner Architekturtätigkeit habe ich sowohl kleine Privathäuser als auch Geschäftshäuser samt Innenausstattung entworfen, wie zum Beispiel »Rose Garden«, TIME'S und »Collezione« in Tokio. Das sind meine repräsentativen kommerziellen Werke. Bei diesen Projekten habe ich Gebäude entworfen, die nicht nur als kommerzieller, sondern auch als öffentlicher Raum genutzt werden können, durch den viele Leute wandeln. Diese Denkweise war auch bei anderen Projekten, die für unterschiedliche Nutzungen entworfen wurden, die Grundlage. Dieses Mal hatte ich Gelegenheit, für das Projekt Omotesando Hills Gewerbe und Wohnungen zu mischen.

Die Korrespondenz für die db führte Ulf Meyer.

db, Di., 2007.01.02

02. Januar 2007 Ulf Meyer

Glaubenssache

Die Expansion des Amsterdamer Flughafens verschlang auch die Kirche der benachbarten Gemeinde. Als »eine feste Burg« entstand an anderer Stelle ein Ersatzbau, dessen Materialität das landläufige Bild von Bauten mit »Waschbeton-Optik« auf den Prüfstand stellt.

Rijsenhout ist ein 4000-Seelen-Dorf am östlichen Rand des Haarlemmermeerpolders, dem ältesten maschinell trockengelegten Polder der Niederlande. Was zunächst nach beschaulichem Landleben klingt, hat damit in Wirklichkeit wenig zu tun. Einen großen Teil der Polderfläche nimmt der Flughafen Schiphol ein. Der Rest ist eine nicht enden wollende Ansammlung von gesichtslosen Siedlungen und Gehöften, Gewächshäusern, Bürokomplexen und Gewerbehöfen, umgeben von pfannkuchenflachen, geometrischen Ackerflächen. Und über allem dröhnen ständig die Motoren der startenden und landenden Jets.

Die Hauptdurchgangsstraße von Rijsenhout wird von frei stehenden Wohnhäusern aus dunklem Backstein gesäumt und ist eigentlich nicht weiter bemerkenswert. Dass man sich hier nicht lange aufhält, beweisen nicht nur die vorbeirasenden Autos, sondern auch das Nichtvorhandensein eines Gehwegs. Aber selbst bei einer Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern kommt man nicht umhin, einen Fremdkörper im Einerlei wahrzunehmen: In der Reihe der Wohnhäuser taucht plötzlich ein skulpturaler, maisgelber Kirchenbau mit einem 15 Meter hohen Turm auf. Die Ästhetik des abgetreppten Volumens erinnert ein wenig an Bauten von Willem Marinus Dudok (1884–1974) aus seiner Frank-Lloyd-Wright-Phase, scheint aber auf den ersten Blick mindestens ebenso sehr mit brutalistischer Architektur der sechziger und siebziger Jahre verwandt. Letzteres liegt unter anderem am Material: Die Kirche besteht ganz aus sandgestrahltem Ortbeton, dem auf den ersten Blick der Charakter von Waschbeton zu eigen ist.

Der Flughafen will sein Frachtareal erweitern und hat dafür seit 1990 die meisten Gebäude im einige Kilometer nördlich von Rijsenhout gelegenen Ort Rozenburg aufgekauft und abgerissen. Nur die alte Kirche der Niederländisch-Reformierten Gemeinde Haarlemmermeer-Ost stand noch.

Nach vierzehnjährigen Verhandlungen einigte man sich 2005 darauf, dass die Flughafengesellschaft die alte Kirche abreißen durfte, dafür aber in Rijsenhout eine neue Kirche für die Gemeinde errichten sollte. Obwohl die Kirchengemeinschaft zunächst ihren Hausarchitekten beauftragen wollte, entschied sie sich letztlich für das Büro Claus en Kaan, vorgeschlagen von Schiphol Real Estate. Die Architekten, die noch nie eine Kirche gebaut hatten und angesichts der schwindenden Kirchgängerzahlen in den Niederlanden vermutlich auch nie wieder eine bauen werden, versprachen der Gemeinde ein außergewöhnliches Gebäude.

Die Kirche besteht aus drei Teilen: dem Kirchensaal für 250 Besucher, einem Trakt mit Besprechungszimmern, Kinderhort und Teeküche sowie einer Wohnung für den Küster. Sie alle sind um ein großes, innen liegendes Foyer arrangiert, das man durch den Haupteingang an der Nordseite des Gebäudes betritt. Beleuchtet wird es über mehrere schlitzförmige, horizontale Fensteröffnungen, die teils direkt unter, teils direkt über dem Übergang von Wand zu Dach liegen. Zwei große Flügeltüren trennen das Foyer vom Kirchensaal und ermöglichen, es bei großen Veranstaltungen als Erweiterung des Saals zu benutzen.

Dem recht einfachen Grundriss steht eine für niederländische Verhältnisse hochwertige Materialisierung des Kircheninneren gegenüber. Das Foyer wurde rundum mit osteuropäischem Eichenholz verkleidet, hinter dem auch die Klimaanlage sowie alle Leitungen versteckt sind. Altar, Kanzel und Orgelgehäuse bestehen aus demselben Material und wurden ebenfalls von Claus en Kaan entworfen. Den Boden bedecken sowohl im Foyer als auch im Kirchensaal anthrazitfarbene Keramikfliesen; die Bestuhlung besteht aus einfachen Stahlrohrstühlen mit schwarzen Holzsitzen und -lehnen. Insgesamt wirken die Räume zwar warm, aber auch recht karg – was zu den Grundsätzen der streng protestantischen Glaubensgemeinschaft passt.

Nahezu verspielt wirkt bei all dieser Strenge das verspringende Muster, das die dimmbaren Neonröhren an der Decke des Kirchensaals bilden.

Die einzelnen Funktionsbereiche der Kirche sind von außen deutlich ablesbar: Da Kirche, Wohnung und Gemeinschaftsräume jeweils eine andere Deckenhöhe haben, präsentiert sich der Bau als Konglomerat aus abgestuften und zusammengeschobenen kubischen Elementen. So wurde mit minimalen Mitteln ein skulpturaler Eindruck erzeugt, zu dem auch die Wasserspeier einen großen Teil beitragen: Sie sind in kubische Mauervorsprünge integriert.

Mit Fenstern sind die Architekten an den Schauseiten der Kirche eher sparsam umgegangen. In der Hauptfassade befindet sich nur ein einziges großes laibungsloses Fenster mit dünnem Stahlrahmen über dem Altar, das genau dasselbe Format hat wie das vertikale Fenster in der Turmspitze. Die Seitenfassaden sind, abgesehen vom einem braunen Stahltor, völlig geschlossen. Dagegen haben die zum Parkplatz hin orientierten Gemeinschaftsräume und die Küsterwohnung jeweils große Fensterfronten mit dreißig Zentimeter tiefen Laibungen, die aber von der Straße aus nicht zu sehen sind.

Raue Betonhaut

Die Geschlossenheit der Fassaden und das Fehlen eines sichtbaren Dachrandes, vor allem aber die uniforme Materialisierung in »Waschbeton-Optik« lassen die Kirche sehr monolithisch wirken. Während jedoch bei Waschbeton die Platten am Ende der Fertigung ausgewaschen werden, wurde hier die fertige Fassade sandgestrahlt. Das Ergebnis sieht Waschbeton täuschend ähnlich – wobei man dieses Fassadenmaterial in der Regel wahrhaftig nicht mit Skulpturalität oder Monolithik assoziiert. Im Gegenteil: Kaum ein anderes Material ist so sehr zum Synonym für menschenfeindliche Bausünden der siebziger Jahre geworden. Den meisten Leuten fallen zu diesem Stichwort vor allem billige Massenwohnungsbauten und unattraktive Mehrzweckhallen ein, verkleidet mit mausgrauen, stumpfen, pickeligen Fertigteilplatten. In Rijsenhout handelt es sich jedoch nicht um vorgefertigte Platten, sondern um eine tragende Fassade aus 28 Zentimeter dickem Ortbeton. Was man auf den ersten Blick für Dehnungsfugen halten könnte, sind in Wirklichkeit Schalfugen. Um den gewünschten Farbton und die Kieselgröße für den Beton zu bestimmen, haben Claus en Kaan zahlreiche Materialproben anfertigen lassen. Zuletzt wurde auf dem Kirchengrundstück ein Fassadenmuster errichtet, an dem der Strahlprozess getestet wurde. Man entschied sich für einen gelb eingefärbten Beton und eine etwas größere Gesteinskörnung als gewöhnlich. Als die Kirche dann stand, waren die Architekten, die noch keine Erfahrung mit dem Material hatten, dennoch schockiert darüber, wie intensiv gelb sie schien. Erst nach dem Sandstrahlen nahm sie ihre jetzige, sanft maisgelbe Farbe an.

Der Beton überzieht das Gebäude wie eine raue Haut. Seine Struktur passt unerwartet gut zur Gesamtform: Sie überträgt ihre Skulpturalität sozusagen auf einen kleineren Maßstab. Damit bewerkstelligt der Kirchenbau beinahe so etwas wie eine Ehrenrettung des unbeliebten Waschbeton-Looks. Die Fassade ist taktil, warm und schwer.

Allerdings verträgt sich die Betonhaut gar nicht mit dem blaugrauen Kies, mit dem die Außenanlagen bestreut wurden. Mit Ausnahme zweier Pflanzbeete und eines betonierten Pfads zum Tor ist das gesamte Gelände damit bedeckt. Laut den Architekten geschah das aus ästhetischen Erwägungen, denn der große Parkplatz hinter der Kirche steht nur sonntags voller Autos. Man wollte dort keine Asphaltwüste schaffen, sondern eine Einheit mit der Architektur erreichen. Tatsächlich beißt sich der Farbton des Kieses jedoch mit dem des Betons und strahlt die lieblos zugeschüttete Optik des Geländes unvorteilhaft auf die Kirche ab. Dadurch wirkt die Fassade im Gesamtbild harscher als nötig. Das ändert aber nichts daran, dass dieser Kirchenbau sicher manch einen, der kiesgespickte Betonfassaden bisher für einen Frevel gehalten hat, zum Glauben bekehren kann.

Beton
Ausführungsvorgaben durch die Architekten:
Beton, Schalung und Ebenheit waren nach der niederländischen Richtlinie CUR 100 »Schoon Beton« (Sichtbeton) auszuführen. Auch in Deutschland wird diese Vorschrift oft zur Rate gezogen.
Einen wesentlicher Unterschied zu den meisten deutschen Sichtbetonausschreibungen stellte die Forderung dar, mit Hilfe des Reifecomputers nach Erreichen der Ausschalfestigkeit den festgelegten Reifegrad zum Ausschalen der Betonflächen zu ermitteln. Um eine einheitliche Betonfarbe zu erhalten, ist es unbedingt nötig, immer dieselbe Reife anzustreben, diese kann gleichzeitig mit der Ausschalfestigkeit übereinstimmen.
Die Wände (3 m und 7 m hoch) sollten in jeweils nur einem Betonierabschnitt betoniert werden. Für die Wandaußenseite war eine Betonüberdeckung von 60 mm vorgegeben, die ohne die Verwendung von Abstandhalterklötzen zu realisieren war. Die äußere Bewehrungsmatte musste an der inneren befestigt werden.
Die Durchankerungsöffnungen mussten mit demselben Beton geschlossen werden. Die Fensterlaibungen wurden poliert, die Außenflächen sandgestrahlt (Vergleich mit Probewand) und mit Funcosil hydrophobiert.

Nach vielen Betonversuchen wurden folgende Festlegungen getroffen:
Betonfestigkeitsklasse: C25/30 nach 91 Tagen
Gesteinskörnung: 0/32
Zement: CEM III/B 42,5 N/LH
Zusatzstoff : Kalksteinmehl (380 kg/m³)
Mehlkorn: Gehalt mindestens 160 l/m³
Farbpigment: Gelb (10 kg/m³)

Wandaufbau:
– Beton (280 mm)
– Holzlattung
– Isolierung (125 mm)
– dampfdichte Schicht
– 2 x Gipsplatte

db, Di., 2007.01.02

02. Januar 2007 Anneke Bokern



verknüpfte Bauwerke
Kirche in Rijsenhout

Städtische Skulptur in Beton

(SUBTITLE) Neue Mitte Ulm – Zwei Büro- und Geschäftsbauten

Ein Sichtbeton-Ensemble in technischer Perfektion – abgeliefert vom Meister des Sichtbetons – komplettiert die Neue Mitte Ulms. Wie viel Erfahrung und Wissen um betontechnologische Finessen in seine Realisierung eingeflossen ist, sieht man ihm nicht an. Und vieles bleibt Bürogeheimnis. Aber auch unter gestalterisch-städtbaulichen Aspekten begeistert der Entwurf.

In der Innenstadt von Ulm geht man endlich daran, die städtebaulichen Sünden der Nachkriegszeit zu tilgen. Mit zwei skulpturalen Neubauten wurde die brachiale Verkehrsschneise Neue Straße auf Altstadtproportionen reduziert und die Zäsur zwischen Münsterplatz und Marktplatz über¬wunden.
»Neue Mitte« ist sicher kein glückliches Label für die Bemühungen in der ehemaligen Reichsstadt Ulm, eine städtebauliche Maladie zu heilen, die ihren Ursprung im Bombenhagel vom 17. Dezember 1944 hat, als siebzig Prozent der Innenstadt in Trümmer sanken. Schließlich besetzt das spätgotische Münster als monumentale Bauskulptur unübersehbar diese Mitte und dominiert sie als städtebauliches Signet.

Neue Mitte: Meier, Böhm, Braunfels – und Wöhr

Eigentlich begann das Projekt »Neue Mitte« schon 1986 mit dem Bau des Stadthauses, dieses strahlendweißen Artefakts, das Richard Meier wie ein Objekt von einem anderen Stern auf den Platz vors Münster setzte. Zuvor hatten sich die Ulmer ein Jahrhundert lang über den zu großen Münsterplatz gezankt, der um 1880 entstanden war, als man das Münster vom »kleinlichen Gewinkel« zu seinen Füßen befreit hatte, um es besser zur Wirkung zu bringen.
Altmeister Gottfried Böhm war der nächste auswärtige Stararchitekt. Er platzierte eine gläserne Pyramide als Stadtbibliothek neben das Alte Rathaus. Hatte sich die Nachkriegsbebauung bis dato um eine harmonieorientierte Ergänzung der Häuserfamilie bemüht, was zur heute schon wieder belächelten vielgiebligen Lego-Moderne rings um den Münsterplatz führte, wählte Böhm einen radikal neuen Weg. Seine gläserne Bauskulptur ist in keiner Weise bereit, den nachbarlichen Altstadthäusern Avancen zu machen, weder durch das ringsum übliche Baumaterial, noch durch Reflexion des Bautypus’.
Böhm ging damit einen Schritt weiter als Richard Meier, der immerhin noch mit Putzfassaden aufgewartet hatte. Diese beiden Sonderbauten setzten nun die flankierenden Marksteine für den Stadtraum zwischen Münster und Altem Rathaus, der zurzeit grundsätzlich und weitgreifend umgestaltet wird.
»In Ulm, um Ulm und um Ulm herum«, heißt ein alter Zungenbrecher aus dem Schwäbischen, von mitten »durch Ulm hindurch« ist dabei jedoch nie die Rede. Das hatten die Stadtväter beim Wiederaufbau nach dem Krieg wohl nicht bedacht, als sie die Neue Straße als sechsspurige Bresche quer durch die Innenstadt trieben. Heute wird diese autogerechte Schneise als brutaler städtebaulicher Sündenfall empfunden und wieder zugebaut, um eine Struktur zu gewinnen, die dem Charakter der noch immer historisch geprägten Innenstadt besser entspricht.
Eine weiträumig neue Verkehrsorganisation machte es möglich, die Neue Straße wieder zu einer Altstadtstraße ohne Durchgangsfunktion zurückzustufen. Die drei als »Neue Mitte« firmierenden Gebäude, die auf die Tiefgarage gesetzt wurden und den Straßenraum wieder auf kernstädtische Proportionen einschränken, haben nun die Aufgabe, die Verbindung zwischen Münsterplatz und Marktplatz zu knüpfen.
Der Heizkesselfabrikant Siegfried Weishaupt, der sich schon im nahen Schwendi einen Museumsbau von Richard Meier leistete, lässt sich hier von dem Münchner Architekten Wolfram Wöhr eine »Kunsthalle Weishaupt« für seine Sammlung moderner Kunst bauen, die mit dem dann gleichfalls von Wöhr erneuerten Museum verbunden werden wird.
Der im Frühjahr zu eröffnende Bau zeigt an seinen Längsseiten über einem gläsernen Sockelgeschoss eine weitgehend geschlossene Steinfassade und nach Westen ein gebäudehohes Panoramafenster. Seine mangelnde Maßstäblichkeit wird, so muss befürchtet werden, nicht in gleichem Maß durch skulpturale Kraft legitimiert, wie es nebenan geschieht. Denn als Nachbarn hat die Kunsthalle zwei neue Geschäfts- und Bürohäuser, die die Vermittlung zwischen historisch geprägten Randbedingungen und baukünstlerischer Zeitgenossenschaft sehr gekonnt meistern.

Widerworte in Beton

Die Antwort auf ein historisch geprägtes Ambiente kann durch Anpassung oder durch Konfrontation und Widerworte gegeben werden; unentschlossenen Zwischenlösungen mangelt es meist jedoch an Qualität und Überzeugungskraft. Der Münchner Architekt Stephan Braunfels wählt immer den zweiten Weg. Für neohistoristische Etüden hat er sich nie erwärmen können. Geschult an der klassischen Moderne versucht er, die Baugeschichte fortzuschreiben. Und er wählt immer Beton, ob bei den Parlamentsbauten in Berlin, der Museumsarchitektur in München oder eben der Altstadtbaukunst in Ulm. Beton als ästhetische Aussage, aber auch als fügsames Material für die Konkretisierung skulptural zum Ausdruck kommender Kräfte und Bewegungen.
Die beiden Gebäude an der Neuen Straße akzentuieren und gliedern als kunstvoll austariertes Arrangement aus Kuben selbstbewusst den Stadtraum und nehmen ihn für sich ein. Trotz deutlicher Horizontalgliederung treten sie nicht als konventionelle Hauskörper, sondern als plastische, geschossübergreifende Volumina in Erscheinung, die zwar gegenüber der Nachbarbebauung im Maßstab nicht auftrumpfen, aber dennoch als eigenständige Bauskulpturen wahrgenommen werden. Die beiden im Grundriss keilförmigen, aufeinander zulaufenden Bauten strukturieren den Stadtraum, geben ihm Richtung und Bezüge. Stoßrichtung, Auskragungen und das Lasten und Balancieren interpretieren das von Gulio Carlo Argan analysierte Leitmotiv der Dynamik von Masse und Bewegung, wie es der Raum-Zeit-Architektur der Bauhausmoderne zu eigen ist.
Beim Gebäude der Sparkasse spreizen sich die beiden Riegel, öffnen sich mit der gläsernen Spalte gegen den Rathausplatz und forcieren die Simultanität zwischen innen und außen. Ein vorgeschobener, gleichfalls gläserner Pavillon bildet das Entree zum Foyer und zu den Bürogeschossen. Der niedrigere südliche Riegel mit nur vier Geschossen bietet auf seinem Dach Platz für eine Terrasse. Ein schwebender Rahmen fasst den Freiraum und bringt Le Corbusiers Ikonografie ins Spiel. Feinster, glatter Sichtbeton und flächenbündige Verglasungen ohne Eckpfosten definieren die skulpturale Erscheinung der Kuben mit großer Präzision.
Akkuratesse und Präzision beherrschen auch die Gestaltung und Detaillierung im Inneren. Weiß- und Grautöne bestimmen die Farbpalette der Büroräume und des Lichthofs. Die Attraktion ist die Stadt, kein »Hingucker« schmälert die Aufmerksamkeit für die wunderbaren Ausblicke in die umgebenden Straßenraumfluchten.
Das zweite, etwas kleinere Gebäude, nach Süden und Westen noch blockhafter, geschlossener, bildet das »Münstertor« am Durchgang zum Münsterplatz. Als »Haus der Sinne« haben es die Marketingstrategen apostrophiert. Auf vier Ebenen durch versetzte Deckenaussparungen mit Rolltreppen erschlossen, breitet sich ein Brillencenter aus, ergänzt um ein Kosmetikinstitut, einen Designer-Friseur, um Confiserie, Teeladen und Vinothek. »Bella Vista« heißt das Dachcafé an der Münsterplatzseite, das mit einem atemberaubenden Ausblick aufwartet. Von hier aus kann man in aller Ruhe das mittelalterliche Rippen- und Fialengebirge nebenan studieren und über die Unterschiede der gotischen Tektonik und der Raum-und-Scheiben-Architektur von Braunfels' Moderne nachsinnen.
Die »Neue Mitte« nimmt keinen direkten Bezug auf die altstadttypische kleinformatige Binnengliederung; beide Häuser gewinnen ihren Charakter durch abstrakt-formale Qualitäten und das dynamische Wechselspiel miteinander an diesem exponierten Standort. Verglichen mit ihnen wirkt Böhms Bibliothek in sich gekehrt, während Meiers Stadthaus, das mit Nutzungsproblemen zu kämpfen hat, wenigstens optisch mithalten kann – wenn es von Zeit zu Zeit frisch geweißelt wird. Dagegen wird es die zurückhaltendere Weishaupt-Kunsthalle etwas schwerer haben, das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Jedenfalls ist Ulm auf dem richtigen Weg bei der Strukturverbesserung und Stadtbildauffrischung seiner Innenstadt.

Beton
Ausgangssituation: Die beiden unmittelbar nebeneinander liegenden Gebäude haben zwei unterschiedliche Bauherren. Deshalb waren zwei verschiedene Baufirmen mit der jeweiligen Ausführung beauftragt, zusätzlich gab es unterschiedliche Betonlieferanten und Betone unterschiedlicher Festigkeitsklassen.
Zielsetzung: Die beiden Gebäude sollten trotz dieser Bedingungen eine einheitliche Sichtbetonansicht mit einer hellen, gräulich-blauen Oberfläche bieten – ohne Ausblutungen, Verfärbungen und Farbunterschiede zwischen den einzelnen Betonierabschnitten bei einem fugenlosen Betonieren unter der Vorgabe einer Rissüberbrückung.
Vorgehen: Trotz externer Bauleitung erfolgte die Erstellung des Leistungsverzeichnisses, die Vergabe sowie die Betreung der Betonierarbeiten vor Ort durch Stephan Braunfels Architekten. Dabei waren Musterbauteile zur Festlegung der Betonrezeptur in Abhängigkeit von dem Erscheinungsbild und Verarbeitungsqualitäten zu erstellen. Außerdem war die Verwendung einer Spezialschalung (15-fach verleimtes Birkensperrholzfurnier) vorgegeben.
Besonderheit: Eigentlich wäre zur Verminderung der Rissbildung ein durch seine niedrige Hydrationswärmeentwicklung rissminimierend wirkender Hochofenzement (NW-Zement) erforderlich gewesen. Da dieser aber zu dunkleren Ansichtsflächen führt, fiel die Entscheidung für einen Portlandzement.

Auszüge Betonrezeptur Sparkasse Ulm:
Festigkeitsklasse: B35/45
Zement: Portlandkalksteinzement CEM II/A-LL 32,5 R
w/z Wert: < 0,50
- Aufheller als Zuschlagstoff

Auszüge Betonrezeptur Münstertor:
Festigkeitsklasse: B35 – C35/37
Zement: Portlandkalksteinzement CEM II/ 16 R
w/z Wert: < 0,45
- Zugabe von Verflüssiger / Verzögerer
- ohne Aufheller
Nachbehandlung: Der Beton wurde nicht nachbearbeitet. Allerdings wurden eine hydrophobe Imprägnierung gegen eindringendes Wasser (spätere Rostschäden, Algenbildung) und ein Grafittischutz aufgetragen.

db, Di., 2007.01.02

02. Januar 2007 Falk Jaeger



verknüpfte Ensembles
Neue Mitte Ulm

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