Inhalt

WOCHENSCHAU
02 Kosmos der Architektur. Ungers in der Neuen Nationalgalerie | Peter Rumpf
03 Humboldthafen in Berlin | Jan Friedrich
03 Gartenstadt Atlantic | Silke Reifenberg
04 Stuttgart 21. Abschied vom Großprojekt? | Ursula Baus
05 Megalopolis Shanghai | Olaf Bartels
05 Messe „denkmal“ in Leipzig | Sebastian Redecke

BETRIFFT
10 „Europaviertel Hellersdorf“ | Ulrich Brinkmann

WETTBEWERBE
12 Cricoteka in Krakau | Doris Kleilein
14 Autobahnkirche in Niedersachsen | Sebastian Redecke
15 Auslobungen

THEMA
16 Baustelle Stadt | Klaus Theo Brenner
24 Maßarbeit für die Bauherrengemeinschaft | Christiane Gabler
28 Typologische Unschärfe am Markt | Michael Kasiske
32 Organisiertes Licht am Nordhang | Oliver Elser

REZENSIONEN
39 Der ideale Grundriss. Das Einfamilenhäuser-Planbuch | Frank F. Drewes
39 Im Detail: Reihen- und Doppelhäuser | Volker Lembken

RUBRIKEN
07 wer wo was wann
38 Kalender
41 Anzeigen

Kosmos der Architektur

(SUBTITLE) Oswald Mathias Ungers in der Neuen Nationalgalerie

Was nicht zu sehen ist: Architektur in ihrer Umgebung, aus der heraus sie entwickelt wurde und in die sie hineinwirkt; innere Funktionsabläufe, dargestellt durch Grundrisse, Schnitte und Isometrien; Anlass und Verlauf eines Entwurfs; Angaben zu Bauherren, Mitarbeitern, Flächen, Kubaturen, Materialien oder ob ein Projekt Projekt blieb oder realisiert wurde. Da­für werden auf quadratischen grauen Podesten 36 sorgfältig in Buchenholz gearbeitete Modelle in unterschiedlichen Maßstäben präsentiert, ergänzt von 36 quadratischen Schwarz-Weiß-Fotos bzw. Zeichnun­gen. Der in den 60er und 70er Jahren erfolgreiche Architekturlehrer – an der TU Berlin, in Cornell, Harvard, Los Angeles, Wien und Düsseldorf – will hier keine als Ausstellung verkleidete Gebäudelehre-Vorlesung über sein berufliches Lebenswerk halten. Wer Detaillierteres erfahren will, sei auf die zahllosen Bü­cher und Veröffentlichungen verwiesen.

Oswald Mathias Ungers und sein Kurator von den Museen Preußischer Kulturbesitz Andres Lepik hatten anderes im Sinn, als vor drei Jahren die Idee geboren wurde, anlässlich seines 80. Geburtstags OMU – nach Renzo Piano und Rem Koolhaas – eine große Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie zu widmen. Konzept und „Architektur“ der Ausstellung entstanden dann am Schreibtisch in Ungers’ Bibliothek, die er sich 1990 als studiolo neben seinem Haus in der Belvederestraße in Köln-Müngersdorf errichtet hat. Am 26. Oktober wurde der „Kosmos der Architektur“ mit einem Vortrag von Ungers’ Schüler und jahrelangem Mitstreiter Rem Koolhaas eröffnet.
Und was ist nun zu sehen in Mies van der Rohes „Tempel der Moderne“? Ungers als Sammler. Er selbst korrigierte diesen Begriff vor sieben Jahren in der Kölnischen Rundschau: „Man müsste eher von einer Ansammlung sprechen oder von Schichten, die sich im Laufe der Jahre abgelagert haben.“ Das, was Ungers um sich versammelt hat, ist auf das Engste mit ihm und seinem theoretischen Fundament verbunden. Es ist Bestandteil seiner Arbeit, oder wie es Andres Lepik im Katalog formuliert: „Die Beschäftigung mit Ungers’ Sammlungen gleicht einer Suche nach Entwicklungslinien, nach den Ankerpunkten seines archi­tektonischen Denksystems.“

Und genau das versucht die Ausstellung sichtbar zu machen. Da überraschen neben den Modellen seiner Projekte andere Modelle, gearbeitet in ma-kellosem Alabastergips (von Bernd Grimm), Modelle nach Inkunabeln der Architekturgeschichte: der Parthenon in Athen und das Pantheon in Rom, Boullées Entwurf eines Kenotaphs für Newton und das Castel del Monte in Apulien, Bramantes Tempietto und das Mausoleum von Halikarnassos. Als „Gegenmodelle“ symmetrisch auf der anderen Seite der Halle sechs nicht realisierte Hochhausmodelle von Ungers selbst, ebenfalls in Weiß.

In eine andere, wenn auch eng verwandte Abteilung seines „Kosmos“ führt die kleine, aber feine Auswahl von Schriften, Traktaten und Illustrationen, ausnahmslos Erstausgaben: von Vitruv und Alberti über Dürer, Palladio und Piranesi bis zu Schinkel, Tatlin und Le Corbusier. (Sie sind wegen ihrer Lichtempfindlichkeit nur donnerstags von 17 bis 22 Uhr zu sehen.) Neben Werner Oechslin hat sich Ungers mit der wohl vollständigsten und wertvollsten Biblio­thek zum Thema Architektur umgeben. Vor der gegenüberliegenden Glaswand stehen kleine Fundstücke aus griechischer, römischer und etruskischer Zeit neben Plastiken von Ian Hamilton Finlay, Simon Ungers und Donald Judd. Die gesammelte Kunst hat für Ungers durchgängig mit den Grundlagen der Architektur zu tun, mit Geometrie wie zum Beispiel das „Idealquadrat“ von Gerhard Merz oder der „Basalt Circle“ von Richard Long. So sind aus der privaten Umgebung in Ungers’ Häusern – inzwischen zwei in Köln und eines in der Eifel – auch nach Berlin gereist: Piet Mondrian, Josef Albers, Gerhard Richter und andere Zeitgenossen, aber auch Ölgemälde von Hendrik van Cleve, Leo von Klenze und eine marmorne Schinkel-Büste von Tieck.

Diese etwas tabellarische und zudem unvoll­stän­dige Aufzählung soll zeigen, was im „Kosmos der Architektur“ von OMU alles Platz hat und wie es zusammengehört, in einen Dialog miteinander tritt und sich wie selbstverständlich ergänzt. Wer Ungers, sein Werk und seine seit Jahrzehnten ausformulierte Architektursprache verstehen will, kann in der Natio­nal­galerie durchaus Einsichten gewinnen. Andere enthält der Katalog. Die fundierteren allerdings sind sei­nen eigenen Schriften, Vorträgen und Traktaten vorbehalten. Das kann eine Ausstellung wie diese nicht leisten. Will sie auch nicht.

Bauwelt, Fr., 2006.11.10

10. November 2006 Peter Rumpf

Europaviertel Hellersdorf

Die „Hellersdorfer Promenade“ war jahrelang eine Art Zentrumsersatz für die letzte Erweiterung von Berlin, Hauptstadt der DDR. Als Ende der neunziger Jahre das Bezirkszentrum „Helle Mitte“ eröffnete (Heft 45/1998), fielen zuerst die Läden brach und nach und nach auch die Wohnungen. Jetzt sind die Blöcke an einen Linzer Investor verkauft worden, und der will mit Kunst aus Lyon die Wohnungen am Markt neu positionieren. Malerei als letzter Hilfeschrei der Vermarktungsstrategen – und ein Schlaglicht auf die Zukunft, die den Plattenbauquartieren allerorten droht.

Eigentümer betrachten die Fassaden ihrer DDR-Montagebau­ten mit schöner Regelmäßigkeit als ein leeres Blatt Papier: frei von jeder Botschaft und deshalb nach Belieben aufteilbar, zu bemalen oder, wenn sich denn gar kein Einfall einstellen will, in den Reißwolf zu stecken. Das war schon so, als die Plattenbauten noch durchgängig im Besitz städtischer Wohnungsbaugesellschaften waren, und das ist heute nicht anders, wo ein Unternehmen nach dem anderen von den klammen Kommunen auf den Markt geworfen wird und dann Anlegern in Übersee sichere Renditen bescheren soll. Die stagnierende, vie­lerorts gar zurückgehende Nachfrage nach Wohnraum treibt die Besitzer zu immer groteskeren Versuchen, ihren Bestand von der gleichförmigen Konkurrenz abzusetzen, als ob dem Leerstand im Ganzen damit beizukommen wäre.

Peter Brockhaus ist sich sicher, dass in Berlin-Hellersdorf ein Touristenmagnet entstehen wird. Der Geschäftsführer der Level One Holding GmbH aus Linz, welche im Juni dieses Jahres sechs Blöcke rechts und links der FuZo „Hellersdorfer Promenade“ erworben hat, will das Aufwertungsprojekt, das der Architekt Andreas Wunderlich, Vorbesitzer der Blöcke, erdacht hat, zügig umsetzen. Brockhaus erwartet, dass sich das Quartier damit auf Anhieb ganz oben in der Gunst der Hauptstadtreisenden etabliert, „gleich hinter Museumsinsel und Hackeschen Höfen“ – wenn es denn erst fertig ist, das „längste Wandbild Europas“. Die graubraunen Fassaden der WBS-70-Blöcke sollen sich in ein Potpourri der europäischen Architekturgeschichte verwandeln. Für 64.000 Quadratmeter Platte liegen 15 Millionen Euro bereit. Die Front an der magistralen Stendaler Straße wird zum „deutschen Block“ umgestaltet, eine österreichisch-charmante Verneigung vor Hellersdorf, das bei der Wahl im September die rechtsradikale NPD mit ebenso vielen Abgeordneten ins Bezirksparlament gewählt hat wie FDP und Grüne. Mit gebührendem Abstand folgen danach links und rechts der Einkaufsmeile französisches, griechisches, italienisches, holländisches, spanisches und britisches Viertel. Der Clou: Die Bemalung liefert das Thema für die Vermarktung der Gewerbeeinheiten gleich mit. Im Erdgeschoss des französischen Blocks darf also auf eine Weinhandlung gehofft werden, im holländischen auf ein Käsefachgeschäft, im spani­schen auf eine Tapas-Bar und im britischen auf einen Pub. Auf diese Weise, ist die Level One Holding überzeugt, wird sich die gemiedene Lage im Schatten des Bezirkszentrums mit kleinteiliger Nutzung profilieren. Um das Konzept umzusetzen, reichen zur Not schon Gyros-Grill und Pizza-Toni.

Ende September begannen die Maler der Gruppe „Cité de la Création“, die sich im schönen Lyon bereits mit der Bemalung innerstädtischer Brandwände hervorgetan hat, die Anmutung der Ecke Stendaler/Quedlinburger Straße in Richtung Altberlin zu verschieben. Inzwischen ist das Werk vollbracht. Wir se­hen zweidimensionale Plastizität: Schieferschindeln täuschen ein Mansard-Dach vor, Ziegel einen Mauerwerksbau, eine Frau, die sich die Haare kämmt, signalisiert nette Nachbarn; sogar eine Taube flattert durchs Bild. Das Licht kommt von links oben: ein nicht enden wollender Sommernachmittag. Im gleichen Stil soll es weitergehen; die nördlich anschließende Einheit wird in Bälde pseudoklassizistisch und mithin etwas berli­nischer daherkommen.

Bemalung an sich ist nicht verwerflich; die Möglichkeiten, die die WBS 70 mit ihren Fassadentafeln als konkrete „Bilderrahmen“ für eine neue, abstrakte „Erzählebene“ im öffentlichen Raum bietet, sind längst nicht ausgeschöpft. Pseudo-Historie leistet dazu keinen Beitrag. Das Traurige daran ist, dass diese Bemalung fest im Zeitgeist steht: verwoben mit dem verbreiteten Sichbegnügen mit dem Abklatsch, mit der allgemeinen Abstumpfung gegenüber dem Wert des Originalen. Nicht nur signalisiert das „Europaviertel Hellersdorf“ den Bewohnern ei­nes unsanierten Plattenbaus, eben nicht in einem authenti­schen Kapitel der europäischen Architekturgeschichte zu le­ben, es maßt sich auch an, den Reichtum dieser Erzählung mit seinen beschränkten Mitteln anschaulich machen zu können. Vor allem aber, und das ist das Perfideste an diesem Vorhaben, unterstellen seine Urheber den Bewohnern ihrer Blöcke, allein mit etwas Farbe alle Wünsche an ein lebendiges Wohnumfeld, wie es in Berlin die innerstädtischen Gründerzeitviertel verkörpern, bereits erfüllt zu sehen.

„Durch die Auswahl guter Standorte und hoher Bauqualität in einem stabilen sozialen Umfeld gelingt es, das Anlagerisiko zu minimieren“, verspricht die Level One Holding potentiellen Anlegern auf ihrer Website und beruhigt den Zweifelnden: „Level One ist bei der Auswahl der Objekte, der Durchführung der Due Diligence und bei der Abwicklung äußerst selektiv und fasst nur jene Objekte ins Auge, die eine nachhaltige Rendite versprechen.“ Die Zukunft der Plattenbauquartiere lässt sich, nimmt man dieses Engagement beim Wort, schwärzer nicht ausmalen. Fragmentiert durch Abrissprogramme wie den „Stadtumbau Ost“, bleibt der Rest zur einen Hälfte unsaniert, mit geringstem Aufwand bewohnbar gehalten als Billigstunterkunft, zur anderen Hälfte wird er naiv-fröhlich bepinselt für die verbliebenen Mittelschichtler, um zu zeigen, dass sich auch hier auf Distinktion bestehen lässt.

Bauwelt, Fr., 2006.11.10

10. November 2006 Ulrich Brinkmann

Baustelle Stadt

(SUBTITLE) Erfahrungen mit der Maskerade der Architektur

Seit sich das Interesse von Bauherren, Investoren, Planungspolitikern und Architekten wieder der Stadt, genauer: dem Stadtzentrum, zugewendet hat, ist nicht nur klar geworden, dass das Wohnen in der ursprünglichen komplexen Bedeutung des Begriffs wieder zum städtischen Leben gehören soll; es haben sich auch die räumlichen und die architektonischen Zielvorstellungen grundlegend verändert. Vom Siedlungsbau zum Stadtbau – eine reale Veränderung unserer Arbeitsperspektive, verbunden mit einem neuen Leitbild von städtischer Architektur. Seit der Moderne der zwanziger Jahre bis weit in die neunziger Jahre hinein haben vollkommen andere, dazu gegensätzliche Vorstellungen geherrscht: Entflechtung, Diversifikation, das Wohnen im Grünen und ein Architekturbegriff, der sich um das frei stehende Objekt drehte, entweder als mehr oder weniger ungebunden im Siedlungsraum herumstehender Wohnungsbau oder als spektakuläres Einzelbauwerk, das, auch wenn es im städtischen Kontext platziert wurde, erst einmal Raum um sich herum beanspruchte (was meist den Abriss des historischen Bestands voraussetzte). Diese Vorstellungen, so stadtfeindlich sie waren, haben das architektonische Denken, das sprachliche Vokabular der Architekten und auch die Entwurfslehre an den Hochschulen dominiert. Wenn wir uns jetzt (wieder) mit städtischer Architektur beschäftigen, ist die Veränderung der Ziele und der zum Erreichen dieser Ziele notwendigen architektonischen Mittel radikal. Wer sich das nicht klarmacht, wird diesen neuen Herausforderungen nicht gerecht, und die Chance wäre vertan, die jetzt allerorts aufgespürten und noch aufzuspürenden innerstädtischen oder stadtnahen Areale mit Häusern zu bebauen, die nicht nur (und zwar zwingend) öffentlichen Raum bilden, sondern auch hohe individuelle Wohnqualitäten aufweisen; die repräsentativ und wohnlich zugleich sind und die bei aller Dichte und Komplexität räumlich und funktional doch Großzügigkeit – un certo respiro! – ausstrahlen. Dass dieser Perspektivwechsel auf allen Ebenen schwieriger ist als gedacht, zeigt sich daran, dass die meisten Projekte, die heute realisiert werden, entweder so aussehen, als hätte man den Siedlungsbau in die Stadt getragen, oder als ginge es immer noch um das spektakuläre Einzelobjekt. Auch das Gegenteil dazu gibt es natürlich, den Bodensatz an architektonisch nichtssagenden Bauten, die sogenannte Investorenarchitektur, tödlich für die Atmosphäre der Stadt und von Architekten tatkräftig mitgestaltet.

Nach Max Weber handelt es sich bei städtischer Architektur im Wesentlichen um die Architektur „eingebauter Häuser“. Eingebaut meint „Wand an Wand“ stehend, eingebunden in eine dichte bauliche Struktur, die auf engstem Raum öffentliche und private Räume bildet. Das klassische Bild dieser Struktur aus „eingebauten Häusern“ ist der städtische Baublock, aus einzelnen Häusern zusammengesetzt, mit geschlossenen Raumkanten zur Straße und (im komplementären Kontrast dazu) einem mehr oder weniger grünen Innenraum. Statt „eingebaute Häuser“ könnte man auch Reihenhäuser sagen; Reihenhäuser (egal welcher Dimension, vom Einfamilienhaus bis zum Hochhaus) sind Häuser, die einen öffentlichen Raum bilden und gleichzeitig diesen gegenüber dem eher privaten Raum der Höfe oder Gärten abgrenzen. Das städtische Haus bezieht aus diesem Umstand seinen zweigesichtigen Charakter: zur Straße die repräsentative, anspruchsvolle, möglicherweise bis zur Maskenhaftigkeit stilisierte Fassade mit dem Hauseingang als Mittler zwischen Innen und Außen, und nach hinten die informelle Seite, ganz der Beziehung zwischen Wohnung und Garten gewidmet. Die Ignoranz ganzer Architektengenerationen dieser eigentlich sehr einfachen traditionellen Grunddisposition des städtischen Hauses gegenüber hat zur Folge, dass sich die Architekten heute gerade mit der öffentli­chen, repräsentativen Seite des Hauses, seiner Straßenfassade, besonders schwertun, obwohl die Geschichte bis in die dreißi­ger Jahre hinein (mit den Architekten der „Anderen Moderne“, also denjenigen, die nicht in den Siedlungsbau geflüchtet sind und im traditionellen Stadtkontext weitergearbeitet ha­ben) reich ist an beeindruckenden Beispielen für charaktervolle Stadtarchitektur, gerade in ihrer Wirkung im öffentlichen Raum. Werner Hegemann hat, und das ist erstaunlich, wenn man den damaligen Zeitgeist berücksichtigt, im Jahre 1927 sein Buch „Reihenhausfassaden“ veröffentlicht, wo er der Straßenfassade des städtischen, eingebauten Hauses eine besondere Bedeutung zumisst und seine historische Sammlung nach Ländern und Fassadentypen ordnet. Die Geschichte gut zu kennen und sie, ohne historienselig zu werden, in unsere Zeit weiterzutragen, ist die eine Herausforderung der neuen Stadtarchitektur; die andere ist, aktuelle ästhetische Tenden­zen und atmosphärische Ansprüche auf die traditionelle Versuchsanordnung für städtische Architektur anzuwenden – sicherlich eine interessante, experimentelle Situation. Architekten wie Loos, Ponti, Muzio, Perret, Lubetkin, Höger und in Berlin die Gebrüder Luckhardt, Bruno Paul oder Paul Zucker haben schon in den zwanziger und dreißiger Jahren gezeigt, wie man mit dieser Situation kreativ umgehen kann; expressionistische, surrealistische und diverse Abstraktionstenden­zen haben damals mit Erfolg Einzug in die Stadtarchitektur gehalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte dieses Interesse in Berlin noch einmal auf beim Bau der damaligen Stalinallee.

Zusammengefasst handelt es sich um vielleicht vier Themen, um die es immer wieder geht, wenn wir uns mit der Ästhetik des städtischen Hauses und seiner Fassade beschäftigen, wobei allein schon der Begriff des Hauses, der eine klar begrenzte Einheit und einen definierten Typus im städtebauli­chen Kontext (im Block, an der Straße, in der Reihe) bezeichnet, vor dem Hintergrund der „Entgrenzungstendenzen“ der Moderne, die auch das architektonische Objekt erfasst haben, von grundlegender Bedeutung ist:

1. Dimension und Maßstab der Gesamterscheinung eines Hauses im städtischen Kontext;
2. die plastische Grobgliederung von Körper und Fassade zwischen Gehweg und Dach;
3. die Sprache des Materials;
4. die strukturelle Textur der Fassadenoberfläche mit Fensteröffnungen, Vor- und Rücksprüngen usw.

Jedes gute städtische Haus, egal in welchem Stil (oder auch Material) erbaut, entwickelt seinen individuellen Charakter innerhalb dieser Themen und teilt diesen der Straße mit. Über die Nutzer oder Bewohner eines Hauses hinaus sind ja all die anderen – Spaziergänger und Passanten (das sind tausendmal so viele Menschen als diejenigen, die wirklich in den Häusern wohnen) – unmittelbar davon betroffen. Neben Form- und Stilfragen rückt dabei auch wieder die Frage der Ikonographie, nach Sinn und Bedeutung der Form in den Vordergrund der Betrachtung. Für Adolph Loos (am Haus Tzara) und Giovanni Muzio (an der Ca’ Brütta) war die Frage der Ikonographie ein zentrales Problem der architektonischen Komposition. Ästhetische Mutmaßungen über die Fassade des städtischen Hauses von heute finden dort ihr spezifisches Experimentierfeld, wo über den Stil hinaus über „Typus und Kultur“ im Sinne von Erwin Panofsky geredet wird. Hier tut sich ein ungeheures Potential für die architektonische Gestaltung auf, gerade weil der entwurfliche Rahmen, wo wir es nicht mehr mit „frei schwebenden Körpern“ zu tun haben, so eng und begrenzt ist auf die Fassade des Hauses und deren dreidimensionale Erscheinung. Sehr schnell erweisen sich dabei viele unserer gewohnten Tricks als untauglich, schon allein deshalb, weil vieles nur graphisch gedacht ist und nicht materiell und kon­struktiv, oder weil sich kompositorische Spielereien eher negativ auf die Präsenz des Hauses als stehendes Bild im bewegten städtischen Raum auswirken.

Lebenswelten spielen sich vor, in und hinter den Häusern ab. Sie sind ebenso getrennt, wie sie sich im Tagesablauf der Stadtbewohner vermischen. Während der architektoni­sche Raum der Straße den Bewohnern, aber mehr noch den Passanten gehört, bilden Hof oder Garten das genaue Gegenteil dazu. Dazwischen allerdings liegt die Wohnung, der Kernraum der Häuser, der in jeweils spezifischer, mehr oder weniger offener Form mit den diversen Außenräumen kommuniziert. Diese spannungsreiche Konzeption zwischen öffentlichem und privatem Raum steht dem „Allraumprinzip“ der Moderne, das auf eine Nivellierung sämtlicher Unterschiede abzielt, diametral entgegen. Liegt die Wohnung wieder in der Stadt, liegt sie mitten in diesem Spannungsfeld. Nach Simmel liebt der Stadtbewohner gerade diese Spannungszustände. Was heißt das für den Entwurf der Wohnung? Wo liegen die Möglichkei­ten ihrer Gestaltung? Im Wesentlichen werden ihr Grundriss und ihre räumliche Struktur von ihrer Größe im Verhältnis zur Raumanzahl und zur Zielgruppe beeinflusst: je großzügi­ger das Raumprogramm, desto größer der entwurfliche Spielraum, wobei zu erwarten ist, dass der Wohnungsgrundriss in den kommenden Jahren neben der Fassade das interessanteste Spielfeld darstellen wird, wenn wir uns mit dem Entwurf städtischer Häuser beschäftigen. Dieser Spielraum wird umso größer, je geringer die Bindungen an die herkömmlichen Zwänge sind, die in den letzten Jahrzehnten eigentlich alle etwas mit den Vorschriften zum Sozialen Wohnungsbau zu tun gehabt haben. Grundsätzlich stehen drei Entwurfsstrategien zur Verfügung: das Kammer-Modell mit abgeschlossenen Zimmern als die rationalistische Lösung im Sinne von Funktionalität auf engstem Raum, wie wir sie in Hotels oder Apartmenthäusern finden; das bürgerliche Modell der guten alten Stadtwohnung mit der Differenzierung zwischen Wohn- (groß und repräsentativ) und Schlafräumen (intim und ruhig, meist zum Garten gelegen) und schließlich die „Einraumwohnung“, eingeschossig als offenes Loft oder mehrgeschossig nach dem Raumplan (Loos) oder als Maisonette-Wohnung organisiert, die gestapelt eine Art Haus-im Haus-Lösung darstellt.

Die Struktur des Hausgrundrisses wirkt entscheidend auf das Lebensgefühl der Bewohner, so wie die Fassade des Hauses entscheidend ist für die ästhetische Qualität der Stadträume. Inwiefern beide Welten miteinander kommunizieren und wie offen oder abgetrennt ihre Beziehung sich architektonisch artikuliert, ist erst einmal die Frage. Da wir, dem Stadtbild verpflichtet, nicht mehr im Sinne des Funktionalismus davon ausgehen müssen, dass die Fassade des Hauses zwangsläufig die inneren Funktionen widerspiegeln muss, könnten wir theoretisch hinter jeder Fassade (als Maske) jede Art von Grundriss inszenieren. So wurden bereits erfolgreich Lofts in romani­sche Kirchen oder ein Hotel in eine ehemalige Großbank ein­gebaut. Wir stoßen damit auf die Frage: In welchem Stile sollen wir bauen? Da gibt es die „Klassizisten“ im Sinne einer antiquarischen Stilauffassung und die „Modernisten“, denen die Glasfassade alles ist. Die eigentliche Herausforderung aber ist, starke Häuser zu entwerfen, die über jeden Stilkanon hinaus authentisch, vielleicht geistreich oder kultiviert, ebenso zeitlos wie präsent städtische Architektur darstellen und sprachlich artikulieren.

Bauwelt, Fr., 2006.11.10

10. November 2006 Klaus Theo Brenner

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