Editorial

Energie sparen und Kultur pflegen!

Noch eifriger als sonst werden gegenwärtig Gebäude saniert, der hohe Ölpreis befeuert noch die landesübliche Liebe zum Renovieren. Das Parlament diskutiert Effizienzprogramme und verschärfte Verbrauchsnormen, denn die CO2-Emissionen wachsen immer noch. Ohne Rückgang des Energieverbrauchs verpasst die Schweiz die CO2-Reduk-tionsziele, zu denen sie sich im Kyoto-Protokoll verpflichtet hat. Bund und Kantone fördern deshalb energietechnische Sanierungen. Die Stiftung Klimarappen, finanziert aus den von der Erdölbranche freiwillig erhobenen 1.5 Rappen pro Liter Treibstoff, hat ein Gebäudeprogramm lanciert, das die Wärmedämmung und die Erneuerung von Fenstern bei Wohn- und Geschäftsbauten fördert. 2008 bis 2012 sollen 182 Mio. Fr. Fördergelder eine Reduktion von 500000t CO2 bewirken (vgl. tec21 26/2006, S.38).

Die Baumessen spiegeln diese Bemühungen. An der «Bauen & Modernisieren» in Zürich (31.8.–4.9.), wo 35000 Besucher erwartet werden, haben rund die Hälfte der Sonderschauen und viele Vorträge mit dem Thema Energie zu tun; die Stiftung Klimarappen stellt ihr Gebäudeprogramm vor. Auch die «Lurenova» in Luzern (5.–8.10.) boomt, viele der 300 Aussteller bieten dort Produkte aus dem Energiebereich an. Die Sonderschau «bau-schlau» wirbt für Energieeffizienz und ein Musterhaus zeigt, wie das aussehen kann.
Das sind gute Nachrichten aus Sicht des Klimaschutzes – aber aus kultureller Sicht geben sie Anlass zur Sorge! Denn nun drohen noch mehr wertvolle Fassaden unter Schaumstoff, Dämmputz und Blech zu verschwinden. Kulturhistorisches Erbe der Energiesanierung zu opfern ist aber nicht nachhaltig. Nachhaltige Entwicklung umfasst auch die Pflege vorhandener kultureller Werte. Die Internetseite des Bundesamts für Kultur (BAK) verkündet: «Der Heimatschutz trägt zur nachhaltigen Entwicklung unserer Gesellschaft bei und ist Teil der entsprechenden Strategie 2002 des Bundesrats. Ein sorgsamer Einbezug der historischen Bausubstanz ist bei ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Planungen unabdingbar.» Es müsste nicht sein, dass die Energiepolitik das Anliegen der Denkmalpflege untergräbt, denn die beiden Aspekte lassen sich verbinden. Damit das geschieht, ist eine breite Sensibilisierung der Hausbesitzer nötig. Doch in den Messeprogrammen sucht man vergeblich eine Sonderschau oder einen Vortrag zum Umgang mit historischer Bausubstanz.

Wie wäre es, wenn das BAK, zu dessen Aufgaben gehört, Anliegen der Denkmalpflege einem breiten Publikum zu vermitteln, an den Baumessen präsent wäre? Zusammen mit kantonalen Denkmalpflegen, (Fach-)Hochschulen und spezialisierten Firmen könnte es dort den zahlreichen Hauseigentümern Informationen über den kulturhistorischen Wert ihrer Bauten liefern und über Umbaumethoden, welche energietechnische und denkmalpflegerische Aspekte verbinden, informieren. Die Messen stehen unter dem Patronat der Hauseigentümerverbände. Auch diesen stünde es nicht schlecht an, sich für die kulturellen Werte in den Häusern ihrer Mitglieder einzusetzen.

Dieses Heft präsentiert drei Umbauten, die bewusst – aber sehr unterschiedlich – mit historischer Substanz umgehen. Von den Methoden, die hier an einer Schule, einem Museum und einer Bank erprobt werden, kann auch beim Umbau von Privathäusern profitiert werden. Ruedi Weidmann

Inhalt

Kernschmelze
Axel Simon
Der Hauptsitz der Graubündner Kantonalbank in Chur wurde von Jüngling und Hagmann erweitert. Sie entwarfen eine strassenseitige Verlängerung und eine Konstruktion im Innenhof, die von Orangerien inspiriert ist.

Innige Umarmung
Maren Harnack
Der Umbau eines Schulhauses im Londoner Stadteil Elephant & Castle zum Hauptquartier einer zeitgenössischen Tanzkompanie zeigt, wie gerade mit Respektlosigkeit dem Altbau Ehre erwiesen wird.

Neue Gebäudetechnik im Kunsthaus Zürich
Katja Hasche
Die neue Gebäudetechnik des Kunsthauses musste die hohen raumklimatischen Anforderungen an moderne Kunstmuseen erfüllen und dabei sorgsam in die denkmalgeschützten Räume eingepasst werden.

Kostenprognosen
Urs Hess-Odoni
Ein neues Bundesgerichtsurteil führt zur Verschärfung der Haftung von Architekten und Ingenieuren für Kostenschätzungen und Kostenvoranschläge.

Reibschweissen
von HolzBernhard Stamm und Yves Weinard
Das Reibschweissverfahren zur Herstellung von kraftschlüssigen Verbindungen zwischen Holzteilen wird an der EPF Lausanne untersucht.

Magazin
Klimawandel / Kunst und Smog / Probebohrungen / Wasserknappheit / Richard La Nicca / Gretzenbach / Entschädigung für Grundbesitzer / Sondermülldeponie / Tourismusprojekt Andermatt / Ausbau der Oberengadiner Skigebiete / Stade de Suisse / Koffein im Wasser / In Kürze

Aus dem SIA
SIA-Service / Wahlen in Kommissionen im 1. Semester 2006 /
Berufshaftpflichtversicherung für Planer

Produkte

Veranstaltungen

Kernschmelze

Jüngling und Hagmann haben den Hauptsitz der Graubündner Kantonalbank in Chur erweitert. Ihre Eingriffe erscheinen zunächst widersprüchlich: An der Strasse verlängert ein Haus im Geist der «Kritischen Rekonstruktion» den geschützten Altbau. Im Innenhof überspannt eine expressive Konstruktion die Kundenhalle und lässt zum rückwärtigen Park Bilder aufscheinen vom Spätmodernismus der 1970er-Jahre und von den Orangerien, die einst hier standen.

Prominent beherrscht das Stammhaus der Graubündner Kantonalbank (GKB) den Churer Postplatz. 1911 von Otto Schäfer und Martin Risch gebaut, gilt es als ein Paradestück des Bündner Heimatstils. 2000 gewannen die Architekten Dieter Jüngling und Andreas Hagmann den eingeladenen Wettbewerb zur Erweiterung des Hauses, mit der die Bank ihren Kundenauftritt verstärken und ihre Beratungsfunktionen an einem Ort bündeln will. Wegen der heiklen Lage in der Altstadt verlängerte sich die Planungsphase etwas. 2003 wurde mit dem Bau begonnen, vor kurzem konnten die neuen Räume bezogen werden.

Einordnen

Der kürzere Schenkel des winkelförmigen GKB-Gebäudes richtet sich mit Arkade, Läden und Café zur Poststrasse, die vom Platz aus in die Churer Altstadt führt. Ein Neubau ersetzt hier ein historisches, aber bereits in den 1960er-Jahren entkerntes Haus mit annähernd gleichem Volumen. Mit seinen Proportionen, Arkaden, vertikalen Fensterbändern und dem leicht zurückspringenden dritten Obergeschoss führt es die Hauptmerkmale des Stammhauses weiter. Die Fassadenplatten und Stützen aus gelblichem Kunststein sind vollständig mit einem vertieften floralen Ornament überzogen, mit dem auch die Fensterläden aus Metall perforiert sind. Als Motivvorlage diente ein Bandornament eines Säulenkapitells im Altbau. Was im ersten Moment an eine «tätowierte» Fassade à la Herzog&de Meuron denken lässt, wird von einer tektonischen Gliederung in den Hintergrund gerückt. Fenstergewände, Brüstungen und Gesims heben sich stark von den ornamentierten Flächen ab: Sie sind glatt, ockerfarben und springen aus der Fassade vor, ebenso das Faltwerk der geschlossenen Fensterläden.

Auffüllen

Zwischen der GKB und dem benachbarten barocken Palais weitet sich die Poststrasse zu einem kleinen Platz. Hier zeigt sich, dass der Ersatzneubau nur ein Teil der Erweiterung ist. Hinter seiner Ecke schaut ein Gebäude hervor, das eine vollkommen andere Sprache spricht. Erst der Blick vom rückwärtigen Fontanapark, der von Guido Hager interpretierend rekonstruiert wurde, klärt die Zusammenhänge. Kaskadenartig ragt hier ein Neubau hinter dem historischen Parkmäuerchen auf, der den Innenhof des GKB-Baus vollständig auffüllt. Massstab, Form und Material (bronzefarben eloxiertes Aluminium) sowie sein knirschender Anschluss an das Küchenhäuschen des Palais erinnern an spätmodernistische Zeiten und lösen die Frage nach der Urheberschaft aus: Sind das die gleichen Architekten wie bei der «kritischen Rekonstruktion» an der Poststrasse?

Interpretieren

Sie sind es. Und auf den zweiten Blick enthüllt das Hausgebirge seine Qualitäten: Assoziationen an den barocken Park, der sich hier einst hinter dem Palais symmetrisch aufspannte und mit Orangerien zur einstigen Stadtmauer hin abschloss. Jener Bautyp inspirierte die Architekten zu einem neuartigen Sonnenschutz: Matten aus Aluminiumstäben sind als offene Rollen über den Glasflächen installiert oder hängen im geschlossenen Zustand leicht durch. Sie erinnern an Bambusmatten, die Gewächshäuser vor der Sonne schützen. Sind sie geöffnet, zeigt sich oberhalb der denkmalgeschützten Gartenmauer ein Fensterband, dahinter ein raumhoher Fachwerkträger. Rankpflanzen an der Mauer, auf dem Dach sowie an partiellen Drähten vor den Fenstern sollen in Zukunft Alt und Neu, Garten und Gebäude zusammenwachsen lassen.

Verschränken

Die eindrucksvolle weisse Kundenhalle, die sich hinter diesen bronzefarbigen Terrassen befindet, liegt dreieckig zwischen den beiden Flügeln des Altbaus. Mit diesem verbindet sie sich lediglich über die alte Schalterhalle, deren einstige Hoffenster nun Durchgänge sind. Beide Räume sprechen jedoch eine eigenständige Sprache: In der eher dunklen alten Halle stehen nun Besprechungsinseln, umschlossen von gerundeten Holzwänden aus schwärzlich gebeizter Buche. Auf den restlichen Altbau hatten die Architekten keinen Zugriff.

Überspannen

In der lichten neuen Kundenhalle verteilen sich fünf inselartige Schalter, die zu allen Seiten eine Bedienung ermöglichen. Der Hallenraum teilt sich in sehr unterschiedliche Zonen. Der spitz zulaufende Hauptbereich wird von vier Sheddächern überspannt. Dass die Decke kontinuierlich ansteigt, nimmt man durch die Geometrie der Halle kaum war. Eine Galerie begleitet zwei Seiten des Raumes. Sie erschliesst Büroräume, die sich zweigeschossig über den hinteren, sehr niedrigen Teil der Halle spannen. Deren Brückenkonstruktion mit raumhohen Betonfachwerken korrespondiert mit dem ebenfalls aus Dreiecken gebildeten Stahltragwerk der Sheddächer. Der Raumeindruck der Halle und vor allem derjenige der «Brückenbüros» werden vom Fachwerk stark geprägt, zumal es längs gebogen ist. Eine schmale doppelgeschossige Querhalle mit Glasdach schliesst den Schaltersaal hinter den eingehängten Büroetagen ab. Hier befindet sich der Zugang von der Poststrasse.
Anfangs sollte sich hier die Kundenhalle über einen Saal zum schmalen Hof hin öffnen, der sich hinter der alten Gartenmauer befindet. Das ist der Grund der durchgehenden Stützenfreiheit auch dieses Teils, über dem ein weiterer Büroraum «schwebt». Leider befinden sich darunter nun auch Büros, die eine normale Leichtbauwand von der Halle trennt. Dadurch wird der konstruktive Kraftakt der Architektur hier nicht nachvollziehbar. An anderer Stelle generiert er jedoch ausdrucksstarke Räume, die den gewaltigen und auch gewalttätigen Eingriff in den Bestand nicht leugnen.

TEC21, Fr., 2006.09.08

08. September 2006 Axel Simon



verknüpfte Bauwerke
Erweiterung Graubündner Kantonalbank

Innige Umarmung

Der Umbau eines leer stehenden Schulhauses im Londoner Stadtteil Elephant&Castle zum Hauptquartier der zeitgenössischen Tanzkompanie «Siobhan Davies Dance Studios» zeigt, wie gerade mit Respektlosigkeit der Substanz des Altbaus Respekt erwiesen wird.

Die Siobhan Davies Dance Company ist eine der bekanntesten und erfolgreichsten zeitgenössischen Tanzgruppen in England. Sie kann ihren Mitgliedern komfortable Bedingungen bieten: ein festes Einkommen einerseits, andererseits verfügt sie – seit neuestem – auch über ein festes Domizil, das die Architektin Sarah Wigglesworth der Truppe auf den Leib geschneidert hat.
Die Tänzer mussten allerdings lange darauf warten. Das erste Projekt wurde 1996 begonnen, schon damals mit Sarah Wigglesworth. Doch die Räume, die Siobhan Davies erwerben wollte, erwiesen sich als zu gross. Der zweite Versuch wurde gemeinsam mit anderen Künstlern gestartet, Räume standen in Aussicht, Sarah Wigglesworth plante. Aber die Zusammenarbeit mit den Partnern erwies sich als schwierig, das Risiko, zu viele Kompromisse eingehen zu müssen, als zu hoch.
Das Gebäude, das Sarah Wigglesworth schliesslich für die Siobhan Davies Dance Company umgebaut hat, ist ein altes Schulhaus im Stadtteil Elephant&Castle. Es hat eine bewegte Geschichte: In das Haus wurde eingebrochen, es wurde besetzt, überstand Brandstiftung und Wasserschäden. Elephant&Castle, südlich der Themse und jenseits des glamourösen London der Touristen gelegen, gehörte lange zu den Gegenden, die man als Fremder lieber mied, aber in den letzten Jahren hat auch hier die Stadterneuerung eingesetzt. Das Projekt der Siobhan Davies Dance Company kann man zweifellos als Teil dieses Aufwertungsprozesses sehen. Die Baukosten von rund 2.5 Millionen Pfund wurden sogar zu zehn Prozent aus Revitalisierungsmitteln finanziert.

Struktur bewahrt, aber neu interpretiert

Die Grundfläche des viktorianischen Schulhauses von 1893 entsprach der Grösse der Bühnen, auf denen die Siobhan Davies Dance Company normalerweise auftritt und die sie sich daher auch für ihren Probensaal wünschte. Das machte das Gebäude für die Tänzer auf Anhieb interessant. Aber es wurde auch schnell klar, dass das Haus als Teil eines grösseren, unter Denkmalschutz stehenden Schulensembles würde erhalten werden müssen und dass es folglich nicht ganz einfach werden würde, den Probensaal unterzubringen.
Das bestehende Schulhaus war klar gegliedert: rechts und links je ein Kubus mit Klassenzimmern, dazwischen die Erschliessung. Die Architektin entschied sich dafür, diese Struktur beizubehalten, sie gleichwohl neu zu interpretieren. Die beiden Kuben, in denen früher die Klassenräume untergebracht waren, wurden erhalten, die Erschliessungszone wurde allerdings komplett entkernt, sodass in der Mitte des Gebäudes ein zweigeschossiges Foyer entstehen konnte. Dieses verbindet alle Nutzungsbereiche des Hauses: im Erdgeschoss Büros und Aufenthaltsräume, im 1.Obergeschoss Umkleideräume und einen kleinen Probenraum. Über dem bestehenden Mauerwerksbau wurde ein neuer, grosser Saal errichtet, der die gesamte Grundfläche des Altbaus einnimmt und das Foyer überspannt. Alle Erschliessungsflächen stehen direkt mit dem Foyer in Verbindung und können von den Tänzern genutzt
werden, aber auch von den Besuchern, wenn im Hause Aufführungen stattfinden. Nur die Eingangszone des grossen Saals ist vom Foyer getrennt.

Wie ein Laib Brot

Der grosse Saal selbst ist der spektakulärste Innenraum dieses Gebäudes. Wie ein Laib Brot, der aus einer Backform quillt, hebt sich das Dach aus der Umhüllung des alten Gebäudes. Die Dachhaut hebt und senkt sich in Streifen, dazwischen entsteht Raum für Oberlichter, durch die gefiltertes Tageslicht in den Saal fällt. Sarah Wigglesworth hat es damit geschafft, Bezüge nach draussen herzustellen, Wetter und Jahreszeiten erlebbar zu machen und dem Raum gleichzeitig die Ruhe und Abgeschlossenheit zu geben, die ein Tanzstudio braucht.

Das Potenzial einer Notlösung

Die Dachkonstruktion besteht aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Sie hat ihren Ursprung allerdings nicht im technischen Anspruch der Gebäudehülle oder in Anforderungen an das Tragwerk, sondern ist eine Notlösung. Ursprünglich sollte das Dach in Holz konstruiert werden, und zwar von Gordon Cowley, der auch für Alsop & Störmer das Dach der Peckham Library gebaut hat. Das erwies sich aber als zu teuer, und so wich man auf glasfaserverstärkten Kunststoff aus, aus dem beispielsweise auch Wohnwagen hergestellt werden. Das Material ist leicht und kann ohne den Einsatz von Spezialmaschinen bearbeitet und repariert werden. Risse oder Löcher werden einfach ausgeschnitten und mit neuem Material geschlossen. Ähnlich wie der Backstein des Altbaus, in den man ohne grossen technischen Aufwand und nach Bedarf Löcher schneiden kann, ist auch dieser Kunststoff ein sehr nachsichtiges Material.

In Schwingung versetzt

Die vertikale Erschliessung befindet sich nach dem Umbau in einem leichten Anbau auf der Rückseite des Hauses. Die Treppe ist an Flachstählen von der Decke abgehängt und schwingt mit den Schritten des Benutzers, wie überhaupt alle Böden als Schwingböden ausgeführt sind und den Besucher ständig spüren lassen, dass er sich in einem Haus befindet, das für Tänzer gebaut wurde. Um den Grundstücksstreifen für das Treppenhaus zu erwerben, waren noch einmal harte Verhandlungen nötig, da das Bestandsgebäude direkt an den Schulhof einer Grundschule stösst. Doch auch dies ist gelungen: Die Fläche des Schulhofs wurde um wenige Quadratmeter reduziert, und die transparente Fassade des neuen Treppenhauses ermöglicht einen viel intensiveren Austausch der beiden Welten, als es die bestehende Backsteinhaut jemals hätte tun können.

Alt und Neu verwoben, aber Brüche nicht geglättet

Bemerkenswert an dem Gebäude ist die Art und Weise, wie Sarah Wigglesworth mit dem Bestand umgegangen ist. Das neu geschaffene Foyer hat sie mit einer Fülle von Elementen ausgestattet. Gleich am Eingang wird man von einer leuchtend gelben, schräg gestellten Säule empfangen, der Blick fällt auf das angebaute Treppenhaus, die Brüstung im ersten Obergeschoss besteht zum Teil aus Drahtgeflecht, zum Teil ist sie wie ein Sofa mit weinrotem Kunstleder gepolstert. Die Eingangsfassade ist verglast und in einer einfachen Pfosten-Riegel-Kons-
truktion konstruiert. Ein grosses, mit Drahtgewebe bespanntes Schiebepaneel davor bietet bei Bedarf Sicht- und Blendschutz.
Das erscheint zunächst als sehr viel, unterstützt aber die Haltung, mit der die Architektin das Gebäude angefasst und gewissermassen umarmt hat. Entgegen der bekannten Strategie, Alt und Neu sorgfältig auseinanderzuhalten und sich gegenseitig ausstellen zu lassen, verwebt sie beides so miteinander, dass es zwar in seiner Eigenart erkennbar bleibt, aber nicht mehr voneinander zu trennen ist. Die Brüche, Benutzungsspuren und Wunden, die der Bestand mitgebracht hat, bleiben ebenso bestehen wie die Verletzungen, die er während des Umbaus hinnehmen musste. Abgebrochene Ecken, abgeplatzte Oberflächen, Farbreste, Maueransätze und abgebrochene Treppenstufen zeugen von der Unbekümmertheit und Ruppigkeit, mit der die vorherigen Nutzer, aber auch die Architektin dem alten Schulhaus begegnete.
Im Gegenzug wird es gleichsam neu eingekleidet, und zwar in einer Art, die fast schon liebevoll ist. Streifen von Putz, der nach einer traditionellen Rezeptur angefertigt und mit Ziegenhaaren versetzt ist, ziehen sich über den Altbau mit seinen Anbauten und verbinden beides miteinander. Dabei verdecken sie Stellen, an denen Abbruchkanten zu rau oder sogar gefährlich waren, und betonen sie dadurch gleichzeitig. Das Ziegenhaar wirkt dabei als Armierung, gibt den verputzten Oberflächen aber auch eine unerwartete haptische Qualität.

Respektvoll in der Respektlosigkeit

Auch das rückwärtig angebaute Treppenhaus ist in diesem Sinne zweideutig: Es läuft der alten Struktur zuwider, macht sie aber dadurch, dass man den Altbau bei jedem Geschosswechsel verlässt und wieder betritt, überhaupt erst nachvollziehbar. Dasselbe gilt für die vielen Elemente, die im Foyer aufeinandertreffen: Mit ihrer Respektlosigkeit vor dem Bestand ermutigen sie die heutigen Nutzer ebenfalls zu Respektlosigkeit, und so nutzen die Tänzer jede verfügbare Brüstung, um sich daran aufzuwärmen, jeden verfügbaren Absatz, um darauf zu sitzen, und jedes Stück Boden, um darauf in irgendeiner Form zu tanzen. Dieses Haus ist das Gegenteil von steril. Es ist auf eine sehr zupackende Art respektvoll.

TEC21, Fr., 2006.09.08

08. September 2006 Maren Harnack

Neue Gebäudetechnik im Kunsthaus Zürich

Kunstmuseen müssen heute einen grossen technischen Aufwand leisten, um die internationalen Klima- und Sicherheitsstandards für Leihgaben zu erfüllen. Ist wie im Fall des Kunsthauses Zürich auch das Gebäude schützenswert, müssen bei der Sanierung die Bedürfnisse von Kunst, Gebäude und Publikum sorgfältig gegeneinander abgewogen werden.

Das Kunsthaus Zürich besteht aus drei Gebäudeteilen: Der Hauptbau von 1910 mit niedrigerem Seitenflügel sowie die erste rückwärtige Erweiterung von 1924 stammen von Karl Moser. Den Anbau mit dem grossen Bührle-Saal für Wechselausstellungen, Restaurant und Vortragssaal bauten 1958 die Gebrüder Pfister; die rückwärtigen Erweiterungsbauten erstellte Erwin Müller 1976.

Um weiterhin Leihgaben zu erhalten und mit international renommierten Kunstmuseen konkurrieren zu können, muss das historische Gebäude die gleichen klimatischen Normwerte erfüllen wie ein Neubau. Während der vier Jahre dauernden Renovation (2001–05) wurde deshalb die Haustechnik vollständig erneuert. Die einzelnen Ausstellungsräume wurden auf den neusten Stand von Klima-, Licht- und Sicherheitstechnik gebracht und denkmalpflegerisch restauriert; strukturell wurde nur wenig verändert. Um den Museumsbetrieb aufrechtzuerhalten, wurden die Arbeiten in Abschnitte unterteilt. Insgesamt verursachten die gebäudetechnischen Massnahmen mit den begleitenden Baumassnahmen rund zwei Drittel der gesamten Renovationskosten von rund 50 Mio. Franken.

Seit Herbst 2005 ist das gesamte Museum wieder der Öffentlichkeit zugänglich. Doch die Optimierung des technischen Betriebs wird erst in diesem Sommer abgeschlossen sein, denn die hochflexible Gebäudetechnik bedingt eine präzise Justierung. Sie muss grosse jahreszeitliche und betriebliche Schwankungen berücksichtigen. Dazu gehören auch Extremsituationen wie die Monet-Ausstellung im letzten Herbst mit bis zu 900 Besuchern im Saal. Doch bereits wenige Monate nach der Sanierung wiesen die gemessenen Temperatur- und Feuchtewerte ein so konstantes Raumklima aus, dass momentan die Optimierung der Energiekosten im Vordergrund steht.
Die Überwachung der technischen Anlagen erfolgt heute während 24 Stunden. Die Gebäudeautomation umfasst die Bereiche Gebäudetechnik, Raumluftklimatisierung, Kunst- und Tageslichtregulierung sowie die Alarmierung von Brand- und Diebstahlschutz. Diese wird bei einem Totalausfall durch ein redundantes Meldesystem ersetzt.

Wenig Platz für die Haustechnik

Die Sanierung der Haustechnik konzentrierte sich aus Kostengründen auf die älteren Gebäudetrakte und sparte den Müller-Bau aus. Das zentrale Anliegen sowohl von Seiten der Denkmalpflege als auch der Gebäudetechniker war, die lüftungstechnischen Anlagen aus den Dachräumen über den Oberlichtern in die Kellerräume zu verlegen. Denn die Installationen verringerten den ursprünglich beabsichtigten Tageslichteinfall in die Ausstellungsräume, und sie waren bei den extremen Temperaturen im Dachbereich von bis zu 70°C schadenanfällig.

Ein grosses Problem stellten die begrenzten Räumlichkeiten des Kunsthauses dar. Laut Arnold Brunner vom Ingenieurbüro Brunner Haustechnik AG, das für die Planung der Gebäudetechnik zuständig war, sollten bei einem Museum normalerweise etwa 30 % des Gebäudevolumens für Gebäudetechnik zur Verfügung stehen. Im Fall des Kunsthauses Zürich waren es jedoch nur 15 %. In den Moser-Bauten wurde nur wenig Platz für die gebäudetechnische Ausstattung vorgesehen. Da-mals wurde über die Fenster oder die in den Oberlichtern integrierten Lüftungsklappen gelüftet. Auch begnügte man sich mit weniger Kunstlicht als heute und passte die Öffnungszeiten an das Tageslicht an. Zwar wurden die obersten Räume der Moser-Bauten später klimatechnisch nachgerüstet, trotzdem wiesen sie vor der Sanierung grosse Temperatur- und Feuchteschwankungen auf. Erst die jüngeren Erweiterungsbauten der Gebrüder Pfister und von Erwin Müller verfügten über ein integriertes Lüftungs- und Beleuchtungssystem.

Die Verlegung der Technikzentralen in die Untergeschosse erforderte aufgrund des begrenzten Raums eine präzise Koordination. Für die Optimierung der Installationen innerhalb der Technikzentralen wurden deshalb sogar 3-D-Planungen erstellt. Heute befindet sich in den Untergeschossen der Moser-Bauten 2 und 3, des Pfister- und des Müller-Baus je eine Lüftungszentrale. Um die darüber liegenden Ausstellungsräume akustisch nicht zu beeinträchtigen, wurden die Lüftungsgeräte und -kanäle mit Schalldämpfern ausgestattet.
Die Aussenluftaufbereitung ist für insgesamt etwa 1250 Personen konzipiert und erfolgt leistungsbezogen: Je mehr Besucher sich im Museum befinden, desto mehr Aussenluft wird der Umluft beigemischt. Zur Energiekostensenkung wird die bei der Aufbereitung entstehende Wärme, ebenso wie die Abluftwärme, in die Wärmerückgewinnung eingespeist und wieder verwendet. Ab einer Aussentemperatur von >5°C fungiert auch die Kältemaschine als Wärmepumpe. Die Wärme- und die Kältezentrale im Untergeschoss des Pfister-Baus sind so ausgerüstet, dass sie im Notfall durch den Anschluss einer mobilen Heiz- bzw. Kältezentrale unterstützt werden können.

Prinzip Quelllüftung

Die Verteilung der gebäudetechnischen Leitungen vom Untergeschoss in die einzelnen Obergeschosse erfolgt über zwei neue Schächte zwischen den Moser-Bauten 1 und 3. Sie wurden als Wandverdickungen ausgebildet und übernehmen gleichzeitig eine statische Funktion für die erhöhten Anforderungen an die Erdbebensicherheit. Die horizontalen Lüftungsinstallationen werden in den meisten Bereichen unter den abgehängten Decken installiert.
Gelüftet wird nach dem Prinzip der Quelllüftung. Dabei strömt die Zuluft im unteren Wandbereich ein, steigt auf und wird über die Staubdecke geführt, wo sie gefasst wird. Die Abluftauslässe befinden sich immer im Deckenbereich; von Raum zu Raum wurden hier individuelle Lösungen gefunden. In den Räumen ohne Brüstungen strömt die Zuluft über offene Schlitze im unteren Wandbereich ein. Durchgangsräume werden mit der überströmenden Zuluft aus den benachbarten Räumen belüftet, was allerdings zu leichten Temperaturunterschieden (maximal 1°C) von Raum zu Raum führen kann.

Neue Klimatechnik und Denkmalpflege

Die Planungen bewegten sich im Spannungsfeld zwischen technischen Anforderungen, denkmalpflegerischen Anliegen und baulichen Vorgaben und Vorschriften. Die denkmalpflegerischen Auflagen waren für die Ausstellungsräume innerhalb der kantonal geschützten Moser- und Pfister-Bauten unterschiedlich. Die höchste Schutzstufe umfasste die zentrale Erschliessung und die T-förmige Raumabfolge im ersten Obergeschoss (Böcklin-Saal, Füssli-Saal und anschliessende Kabinette) sowie den Munch-Saal mit gegenüberliegendem Loggia-Saal in den Moser-Bauten.
Peter Baumgartner, Leiter Bauberatung bei der kantonalen Denkmalpflege und Dozent für historische Haustechnik, legte bei der Renovation auch Wert auf den Erhalt schützenswerter Haustechnikanlagen. In den Ausstellungsräumen wurden die denkmalgeschützten Heizkörpernischen für die Einführung der Zuluft und die Kabelkanäle genutzt. Im Bührle-Saal konnten die denkmalgeschützten Zuluftauslässe als Abluftelemente umgenutzt werden. In den anderen Oberlichtsälen wurden einzelne Glaselemente durch eigens entworfene Lüftungsgitter ersetzt, und die originalen, in den Oberlichtern integrierten mechanischen Lüftungsklappen blieben erhalten. Die bestehende Bodenheizung im Bührle-Saal wurde zum Change-over-System umfunktioniert und kann heute bei publikumsstarken Wechselausstellungen als Bodenkühlung eingesetzt werden.

Beim Abwägen zwischen Denkmalpflege und der Anforderung, überall ähnliche Klimawerte zu erzielen, musste man gewisse Kompromisse eingehen. So wurden saisonal unterschiedliche Grundtemperaturen bei einem langsamen Wechsel toleriert, ausserdem einigte man sich darauf, die geforderten Raumluftqualitäten nur bis zu einer für die Kunstwerke ausschlaggebenden Höhe von etwa 2.50 m einzuhalten. Theoretisch sei heute eine unabhängige Bespielung der Räume möglich, erklärt Sacha Wiesner vom ausführenden Architekturbüro sam Architekten, seiner architektonischen Qualitäten wegen werde aber nach wie vor der Bührle-Saal für Wechselausstellungen genutzt.

Im Eingangsfoyer wurden im Bereich des Cafés das Fussbodenniveau erhöht und eine Fussbodenheizung integriert. Hier strömt die Luft über ebenerdige Gitter entlang der Glasfassade zum Museumshof in das Foyer ein und wird in den Deckenfeldern im Bereich der indirekten Beleuchtung abgesogen. Im Foyer erfolgten die grössten architektonischen Eingriffe. Um den Raum in seiner ganzen Breite zu öffnen, wurden die Garderobe und der Museumsshop in den rückwärtig angrenzenden Moser-Bau 3 verschoben.

Gemischte Beleuchtung

Das Beleuchtungskonzept für die Ausstellungsräume basiert auf einer Kombination von indirektem Tageslicht, indirektem Kunstlicht und direktem Kunstlicht in Form von Spots. Im Moser-Bau waren noch zwei originale Lampen vorhanden. Um in den Oberlichtsälen einen nahtlosen Übergang vom indirekten Tageslicht zum Kunstlicht zu erreichen, wurden oberhalb der Lichtdecken Leuchtstoffröhren angebracht. Die Menge des einfallenden Tageslichts wird durch ein mechanisches Sonnenschutzsystem aus Rollos (Moser Bau 2) und Lamellen (Moser Bau 1 und 3 sowie Pfister-Bau) reguliert. Zwischen der inneren Staubdecke und der äusseren Glashaut wurde eine zusätzliche dampfdichte Isolierglasdecke eingefügt, die eine für die Bilder schädliche UV-Strahlung filtert und gleichzeitig ein Aufsteigen von Feuchte verhindert.

Insgesamt haben die teilweise aufwändigen Planungsprozesse zu einem beeindruckenden Ergebnis geführt. Die Gebäudetechnik wurde so gut integriert, dass man sie bei einem Besuch der Ausstellungsräume kaum wahrnimmt.

TEC21, Fr., 2006.09.08

08. September 2006 Katja Hasche

Kostenprognosen

(SUBTITLE) Verschärfung der Haftung der Planer

Ein neues Bundesgerichtsurteil vom 15. März 2005 (4C.424/2004) führt zu einer deutlichen Verschärfung der Haftung von Architekten und Ingenieuren für Kostenschätzungen und Kostenvoranschläge.
Um Honorarkürzungen und grosse Haftpflichtfälle zu vermeiden, welche zudem durch die meisten Planerberufshaftpflichtversicherungen nicht gedeckt werden, müssen die Planungsbüros zwingend rechtzeitig verbindliche Kostenprognosen mit definiertem Genauigkeitsgrad erstellen.

Urs Hess-OdoniDie Architekten und Ingenieure waren schon immer verpflichtet, ihren Auftraggebern Kostenschätzung und Kostenvoranschläge abzugeben, welche den in den entsprechenden Ordnungen SIA102/103/108 vorgegebenen Genauigkeitsgrad (Toleranzrahmen) einzuhalten haben. Die grundsätzliche Regelung ist somit nicht neu. Es war auch schon immer klar, dass Planer für ungenaue Kostenvoranschläge haftpflichtig werden können. Dabei ist die Praxis mit dem Urteil BGE119II249 im Jahre 1993 gegenüber früher verschärft worden, weil das Bundesgericht die so genannte Vertrauensschadenhaftung für Kostenvoranschlagsüberschreitungen herausgestellt hat. Mit einem neuen Urteil vom 15.März2005 hat das Bundesgericht die entsprechende Haftung der Architekten und Ingenieure nun aber nochmals deutlich verschärft. Diese neue Bundesgerichtspraxis zwingt die Planer, in ihrem Büro in Bezug auf alle Kostenfragen eine neue, viel präzisere Kultur aufzubauen, wenn sie entsprechende Haftpflichtfälle vermeiden wollen. Es muss ein geschlossenes System der Kosteninformationen aufgebaut und konsequent umgesetzt werden. Die Kostenprognosen müssen während der ganzen Projektbearbeitung immer eine dominante Stellung haben. Sie bekommen damit ein Gewicht, das den Planern wahrscheinlich nicht sympathisch ist. Diese Betonung der Kostenseite ist umso wichtiger, als die meisten Planerberufshaftpflichtversicherungen für derartige Haftungsfälle aus Überschreitung von Kostenprognosen keine Deckung gewähren, sodass die Haftpflichtfolgen vom entsprechenden Büro selber getragen werden müssen.

Zwingende Angabe des Genauigkeitsgrades

Im erwähnten Urteil hat das Bundesgericht zunächst einmal festgehalten, dass es einem Bauherrn nicht zugemutet werden könne, aus den massgebenden Ordnungen SIA102/103/108 herauszulesen, welchen Genauigkeitsgrad eine Kostenprognose habe. Es sei Pflicht eines jeden Planers, bei jeder Kostenprognose den Genauigkeitsgrad präzis anzugeben. Wenn der Planer keinen entsprechenden Toleranzrahmen angebe, so dürfe der Bauherr davon ausgehen, dass die Kostenprognose präzis sei und praktisch mit keinen Abweichungen gerechnet werden müsse. Vergisst der Planer also die Angabe des Genauigkeitsgrades, so geht das Bundesgericht nun von einer Nulltoleranz aus. Wenn es dann doch zu Abweichungen kommt, so haftet der Planer. Es genügt dabei ausdrücklich nicht, die Kostenprognose mit einem Begriff wie «approximativ», «provisorisch» oder «ungefähr» zu versehen. Dabei muss sich der Planer anhand der konkreten Fragestellung genau überlegen, welchen Genauigkeitsgrad er wirklich angeben und garantieren kann. Auch hier verträgt es keine Fahrlässigkeit. Insbesondere bei Umbauten und Sanierungen ist der Genauigkeitsgrad oft kleiner, als ihn die Ordnungen SIA102/103/108 grundsätzlich vorsehen.
Im Weiteren hat das Bundesgericht betont, dass eine gründliche Information des Auftraggebers über die Kostenfolgen der einzelnen Planungsschritte sowie seiner eigenen Entscheidungen zu den allgemeinen und selbstverständlichen Informationspflichten eines Architekten oder Ingenieurs gehöre. Diese Kosteninformation müsse auch dann abgegeben werden, wenn darüber keine spezielle Vereinbarung getroffen worden sei; sie ergebe sich direkt und unmittelbar aus der allgemeinen Informations- und Interessenwahrungspflicht gemäss Art. 398 OR.

Kostenvoranschlag vor Baubeginn

Aus dem neuen Bundesgerichtsentscheid ergibt sich weiter, dass Planer ihren Bauherren vor Baubeginn einen verbindlichen Kostenvoranschlag abgeben müssen, sodass der Bauherr noch die Möglichkeit hat, zu reagieren und das Projekt zu stoppen bzw. zu redimensionieren, falls er die Kosten als zu hoch erachtet. Fehlt dieser Kostenvoranschlag oder wird er erst verspätet vorgelegt, so ist der Architekt oder Ingenieur nach der neuen Bundesgerichtspraxis grundsätzlich haftpflichtig. Sollte der Bauherr ausnahmsweise auf einen Kostenvoranschlag vor Baubeginn verzichten, so müsste dies ausdrücklich schriftlich vereinbart und festgehalten werden.
Selbstverständlich muss dieser Kostenvoranschlag dann – mit der ausdrücklich angegebenen Toleranz – eingehalten werden, wofür wiederum der Planer vertragsrechtlich verantwortlich ist.
Dieser Kostenvoranschlag ist jedoch nicht isoliert zu beurteilen. Er muss im Gleichgewicht mit einem konkreten Projekt stehen. Es ist auch Aufgabe und Pflicht des Planers, ausreichend präzis und konkret zu definieren, welches Projekt die Grundlage des Kostenvoranschlages bildet. Nur so kann der Kostenvoranschlag auch wirklich verstanden und auf ein konkretes Bauvorhaben bezogen werden. Ungenauigkeiten in den Grundlagen, welche dem Kostenvoranschlag zugrunde liegen, gehen wiederum zu Lasten des Architekten oder Ingenieurs.
Vergrösserungen oder Verkleinerungen dieses genau definierten Projektes bewirken auch entsprechende Veränderungen des Kostenvoranschlags. Diese Selbstverständlichkeit kommt aber nur dann zum Tragen, wenn eben das Ausgangsprojekt genügend präzis definiert ist.

Zwang zur fortlaufenden Kosteninformation

Nach der Bundesgerichtspraxis muss der Architekt oder Ingenieur den Bauherrn auch nach dem Kostenvoranschlag fortlaufend über alle kostenrelevanten Entwicklungen ausreichend informieren. So muss der Planer den Bauherrn auf die Kostenfolgen aller Bau-herrenentscheidungen ausdrücklich hinweisen. Ebenso muss der Planer den Bauherrn darauf aufmerksam machen, wenn objektive Faktoren von aussen (z.B. Faktoren des Baugrundrisikos) zu Kostensteigerungen führen. Es muss sich dabei immer um präzise Informationen handeln. Der Bauherr muss also vom Planer fortlaufend über den Kostenstand informiert werden. Kommt der Architekt oder Ingenieur dieser Informationspflicht nicht nach, so macht er sich einer Ver-
tragsverletzung schuldig und kann prinzipiell haftpflichtig werden.
Die Erfahrung zeigt, dass hier der grösste Handlungsbedarf besteht: In den Planungsbüros ist ein Automatismus einzubauen, gemäss welchem der Bauherr bei jeder (noch so kleinen) kostenrelevanten Entscheidung betragsmässig präzis auf die Auswirkungen für die Baukosten aufmerksam gemacht wird.
Zu beachten ist, dass der Architekt oder Ingenieur in all diesen Bereichen vorbehaltlos die Beweislast trägt. Er muss beweisen können, dass er die Informationspflicht erfüllt hat.

Vermutung der Vertragsverletzung

Das Bundesgericht hat im erwähnten Präjudiz ausdrücklich erklärt, dass immer dann, wenn der im Kostenvoranschlag angegebene Kostenrahmen überschritten werde, eine schuldhafte Pflichtverletzung des Architekten oder Ingenieurs zu vermuten sei. Bei jeder Überschreitung des Toleranzrahmens kommt der Planer also in den Beweiszwang, wenn er nicht haftpflichtig
werden will.
Wenn keine Veränderung der Arbeitskultur in Bezug auf die Kostenprognosen erreicht wird, werden viele Architektur- und Ingenieurbüros in solchen Fällen den Entlastungsbeweis nicht erbringen können und in eine gravierende Haftung hineinlaufen.
Es gibt aber auch die umgekehrte Vermutung: Solange der angegebene Toleranzrahmen eingehalten wird, ist davon auszugehen, dass der Planer seine Pflicht zu einer klaren Kostenprognose eingehalten hat. Auch hier bleibt dem Bauherrn aber die Möglichkeit des Nachweises, dass bei besserer Kostenkontrolle die Baukosten in Wirklichkeit noch tiefer ausgefallen wären. Selbst für diesen Fall gibt es für die Planer also keine vollständige Entwarnung.
Aufgrund dieser neuen Bundesgerichtspraxis sind die Architekten und die Ingenieure also dringend zu warnen: Wenn sie das Gewicht nicht auf die Kostenprognose und die Kostenüberwachung legen, werden sie in Anbetracht der strengeren Praxis Haftpflichtfälle nicht vermeiden können.

TEC21, Fr., 2006.09.08

Zusatz:
Grundregeln zur Kosteninformation und -überwachung
– Ein Kostenvoranschlag vor Baubeginn ist zwingend, damit der Bauherr noch rechtzeitig entscheiden kann.
– Jede Kostenschätzung und jeder Kostenvoranschlag muss den Genauigkeitsgrad (Toleranzrahmen) ausdrücklich angeben, sonst gilt die Nulltoleranz.
– Die Kostenprognosen sind einzuhalten.
– Die Auswirkungen jeder kostenrelevanten Entscheidung oder Entwicklung sind dem Bauherrn unverzüglich zu melden und mit einer präzisen Angabe über die Höhe der Auswirkung zu versehen.

08. September 2006 Urs Hess-Odoni

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