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Herrlichkeit in Hoogvliet

Hoogvliet, ein Stadtteil von Rotterdam (NL), wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1948 nach dem Vorbild der englischen New Towns als eine mit einem Grüngürtel umgebene Siedlung mit voneinander abgegrenzten, um ein Zentrum angelegten Quartieren geplant. Mitte der 1990er-Jahre schrieb der Ort die «Chronik eines Ghettos». Nun hat die britische Architektengruppe FAT mit starken Farben, zeichenhaft en Formen und einfachen Details einem Unort eine ebenso unverwechselbare wie robuste Identität gegeben.

Hoogvliet, ein Stadtteil von Rotterdam (NL), wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1948 nach dem Vorbild der englischen New Towns als eine mit einem Grüngürtel umgebene Siedlung mit voneinander abgegrenzten, um ein Zentrum angelegten Quartieren geplant. Mitte der 1990er-Jahre schrieb der Ort die «Chronik eines Ghettos». Nun hat die britische Architektengruppe FAT mit starken Farben, zeichenhaft en Formen und einfachen Details einem Unort eine ebenso unverwechselbare wie robuste Identität gegeben.

Der Park «Heerlijkheid Hoogvliet» war in erster Linie als temporäres jährliches Sommerfestival geplant, um der Hoogvlieter Bevölkerung zu zeigen, dass Hoogvliet trotz umfassenden Stadterneuerungsmassnahmen ein lebenswerter Wohnort ist. Der Park lehnt sich deshalb ursprünglich an den temporären, zweidimensionalen Kulissenbau an, wie er bei indischen Hochzeiten, aber auch in der Zeit des Wiederaufbaus bei Rotterdamer Geschäftsleuten gebräuchlich war, und soll Hoffnung und Fantasien der Bewohner (trotz der städtebaulichen Realität) widerspiegeln. Die Heerlijkheid Hoogvliet ist im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Rotterdam Hoogvliet entstanden und wurde durch die Programmleitung namens WiMBY! (Welcome into my backyard!) initiiert (siehe Kasten S. 22). Die Idee eines temporären Festivals wuchs sich schnell zu einem grossen, ernst zu nehmenden Bauprojekt aus. Bei der Planung und Konzeption des Parks wurden zwei Prinzipien verfolgt: Einerseits wurden von Anfang an potenzielle Nutzer einbezogen, anderseits sollte die Gestaltung garantieren, dass sich das Image von Hoogvliet verbessert und der Park über den Stadtteil hinaus Wirkung entfaltet. Das jährliche Festival bekam nun zusätzlich die Funktion, die Akzeptanz unter den Bewohnern für das Konzept und das Programm des zukünftigen Parks zu testen. Neben einem kulturellen Programm (unter anderem mit Auftritten verschiedener landesweit bekannter Künstler) bekamen Hoogvlieter Vereine und Organisationen die Gelegenheit, sich zu präsentieren, und machten für alle Bewohnergruppen ein breites Angebot. Nach und nach fanden sich so Gruppen, die sich langfristig für den Park engagieren wollten und die während der Festivals ausgiebig Gelegenheit hatten, sich kennenzulernen und probeweise miteinander zu arbeiten. WiMBY! ging davon aus, dass diejenigen, die sich schon am Planungsprozess beteiligen, den Park anschliessend auch nutzen und sich um ihn kümmern würden, und so das langfristige Bestehen des Parks gesichert ist.

„Dekorierte Schuppen“

Die britische Architektengruppe FAT (Fashion, Architecture, Taste) wurde von WiMBY! damit beauftragt, ein detailliertes Gestaltungskonzept für den Park zu entwickeln. FAT wurde 1995 von Sean Griffiths, Charles Holland und Sam Jacob in London gegründet und hat sich vor allem in den ersten Jahren durch kleinere Interventionen, Statements und vor allem ihre Vorliebe für die Postmoderne einen Namen gemacht – mittlerweile gehören auch grössere Wohnungsbauprojekte zu den Aufträgen der Gruppe. Während WiMBY! auf die Suche nach potenziellen, permanenten Nutzern des Parks ging, interpretierte FAT mithilfe von Fotocollagen, die an die Arbeit der amerikanischen Architekten Venturi und Scott-Brown erinnern, die Einrichtung von Vorgärten und Laubengängen im Stadtteil, um einen zu Hoogvliet passenden Architekturstil zu entwickeln. Die Architektursprache des Parks greift heute zwar ortstypische Elemente auf, kann aber keiner der vielen hier lebenden Gruppen explizit zugeordnet werden. Dies war wichtig, damit der Park zu einem Ort werden konnte, mit dem sich alle Hoogvlieter identifizieren können. Die Arbeit und die Entwürfe von FAT wurden der Öffentlichkeit und den zukünftigen Nutzern immer wieder vorgestellt und mit ihnen diskutiert. Wegen der Sprachschwierigkeiten wurde der Partizipationsprozess von WiMBY! moderiert. So konnte sichergestellt werden, dass der Park den Bedürfnissen der zukünftigen Nutzer entspricht und auch die Gestaltung nicht auf Widerstand stossen würde. FAT, bekannt für poppig-polemische Gestaltung, war in diesem Fall genau die richtige Wahl. Mit starken Farben, zeichenhaften Formen und einfachen Details hat es FAT geschafft, einem Unort ein unverwechselbares Gesicht zu geben. Während der hier vorherrschende Witz der Architektur im Wohnumfeld schnell aufdringlich wirken kann, ermutigt er in Hoogvliet dazu, sich Park und Villa anzueignen, und weist indirekt darauf hin, dass Ballspiele, Grillieren und all die Dinge, die in anderen Parks verboten sind, hier ausdrücklich erwünscht sind.

Die Gruppen, die heute im Park aktiv sind oder Teile des Parks betreiben, sind so unterschiedlich wie die Bevölkerung Hoogvliets. Eine Gruppe vornehmlich älterer Damen, die Baumritter, die sich schon früher für den Erhalt von Bäumen eingesetzt hat, betreibt ein Arboretum. Es grenzt den Park von der angrenzenden Wohnbebauung ab, erfüllt also gleichzeitig eine in das Gesamtkonzept eingebundene gestalterische Funktion und trägt dazu bei, Konflikte mit den Anwohnern zu vermeiden, weil es als ruhiger Ort zwischen eventuell lärmerzeugenden Aktivitäten und Wohnbebauung Abstand schafft. Eine gelbe «Hobbyhütte» wird vom Modellbootverein, dem vor allem ältere Hoogvlieter angehören, als Vereinsheim genutzt. Zunächst sollte ein ganzes Dorf dieser Hütten entstehen, für die verschiedene andere Vereine Interesse gezeigt haben, aber dies liess sich leider nicht finanzieren. Eigentlich waren die Hobbyhütten als eine Art erweiterter Garagen in einfachster Ausführung gedacht, mussten dann aber Anforderungen an Aufenthaltsräume erfüllen und ausserdem mit Sanitäranlagen ausgestattet werden – und wurden damit für die zukünftigen Nutzer zu teuer.

Im nordwestlichen Teil des Parks ist ein Abenteuerspielplatz angesiedelt, der mit einem Wassergraben vom Rest des Parks abgegrenzt ist. Die Brücke und das Tor, über das man ihn betritt, sind ebenfalls von FAT gestaltet und machen deutlich, dass er zum Park gehört. Der nordöstliche Teil des Parks wird von einer grossen, flexibel nutzbaren Rasenfläche und einem See eingenommen. Auf dem Rasen ist Ballspielen ebenso möglich, wie Festivals veranstaltet werden können. Der See hat die Form der Niederlande. Ausserdem gibt es in diesem Teil des Parks Grillstellen und viele Sitzgelegenheiten.

Einfachheit als Widerstandsfähigkeit

Am wichtigsten für den Park ist die Villa Heerlijkheid, in der ganz verschiedene Aktivitäten stattfinden können. Typologisch handelt es sich um einen «dekorierten Schuppen», eine einfache Halle mit Stahlskelett und Wandverkleidung aus Holzfaserplatten, auf die Baumornamente und eine an die Schornsteine in der Umgebung angelehnte Holzverkleidung appliziert wurden. Beides ist deutlich als schmückendes Ornament erkennbar und verbirgt nicht, dass die eigentliche Gebäudehülle darunter einfach, billig und zweckmässig gebaut ist. Auch innen fehlt unnötiger Schnickschnack: Man sieht die pink angestrichene Stahlkonstruktion, es gibt einen unauffälligen, aber belastbaren Industrieboden, und die Treppe in den ersten Stock ist ein einfaches Standardprodukt aus dem Gerüstbau. Von innen wird auch sichtbar, dass die Fensterformen den Ornamenten auf der Fassade nicht entsprechen, sondern dahinter einfach rechteckig bleiben. Diese Einfachheit ist von einer Robustheit, die vielleicht widerstandsfähiger ist als manche Bauten, deren Architekten eine vermeintliche «Wahrheit» zur Schau stellen, die aber sowohl ästhetisch als auch im Gebrauch sehr viel anfälliger auf den Zahn der Zeit reagieren.

Die Villa verfügt über eine Profiküche, einen grossen Veranstaltungssaal, einen kleinen Saal, in dem ein Restaurant betrieben wird, und über zwei schalldichte Räume, in denen ursprünglich ein kulturell orientierter Kinoveranstalter Filme zeigen wollte. Veränderte politische Konstellationen haben dazu geführt, dass diese Kooperation nicht zustande kam. Stattdessen werden die beiden Räume heute von Musikern als Proberäume genutzt. Dass die Villa Heerlijkheid flexibel genutzt werden kann, hat sich damit schon einmal gezeigt, aber auch das Spektrum der Veranstaltungen, die in den beiden Sälen stattfinden, ist breit gefächert und reicht von islamischen Hochzeiten bis zu Technokonzerten. Für den Fall, dass kommerzielle Veranstaltungen im Aussenraum stattfinden, lässt sich der Bereich um die Villa herum abtrennen. Er ist dann nur noch über eine Brücke zu erreichen, sodass der Zugang sich sehr einfach kontrollieren lässt. Dass kommerzielle Nutzungen nötig sind, um die Villa auf Dauer betreiben zu können, war allen Beteiligten klar und schmälert den Gewinn für Hoogvliet nicht. Im Gegenteil, die Villa ist so nicht von einem einzigen Geldgeber abhängig, kann ein vielfältigeres Angebot machen und ausserdem Veranstaltungen, die dem Stadtteil nützen, quersubventionieren.

Nachdem WiMBY! ihre Arbeiten in Hoogvliet 2007 abgeschlossen hat, ist es nun an den beteiligten Hoogvlieter Organisationen, den Park als einen Treffpunkt für alle Bewohner zu erhalten und auszubauen. Das ist vor allem eine Frage des Gleichgewichts unter den vielen verschiedenen Nutzergruppen. Bisher sieht es ganz so aus, als würde ihnen das auch ohne die Betreuung durch WiMBY! bestens gelingen.

TEC21, Fr., 2009.05.08



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tec21 2009|19 Robustheit

01. April 2009Maren Harnack
db

»Engelsstadt«

Angell Town ist ein Quartier in Brixton, Lambeth, im Süden der Londoner Innenstadt, das lange Zeit so verrufen war, dass nicht einmal Taxifahrer und Pizzaboten sich dorthin trauten. Dass es inzwischen wieder zu einem lebenswerten Stück Stadt mit ansprechender Architektur geworden ist, grenzt an ein kleines Wunder und ist vor allem der Initiative und dem Engagement der Bewohner sowie der guten Zusammenarbeit von Bewohnern und Architekten zu verdanken.

Angell Town ist ein Quartier in Brixton, Lambeth, im Süden der Londoner Innenstadt, das lange Zeit so verrufen war, dass nicht einmal Taxifahrer und Pizzaboten sich dorthin trauten. Dass es inzwischen wieder zu einem lebenswerten Stück Stadt mit ansprechender Architektur geworden ist, grenzt an ein kleines Wunder und ist vor allem der Initiative und dem Engagement der Bewohner sowie der guten Zusammenarbeit von Bewohnern und Architekten zu verdanken.

Um 1850 hatte die Familie Angell in Brixton einen sogenannten »Estate« entwickelt, ein spekulativ gebautes Wohngebiet mit standardisierten Reihenhäusern, die in Erbpacht an die Bewohner vergeben wurden. Wie in vielen vergleichbaren Gebieten, war die bauliche Qualität der Gebäude mäßig, und weil wachsende Familien kaum Aussicht auf eine größere Wohnung hatten, waren sie bald so stark überbelegt, dass Angell Town zu einem Slum wurde. Schon um 1900 begann die Stadt London damit, Slums zu sanieren, indem sie die Eigentümer enteignete, die Gebäude abriss und an deren Stelle eigene Wohnbauten errichtete – so auch in Angell Town.
Unterbrochen von zwei Weltkriegen zog sich die Sanierung der Slums aber über Jahrzehnte hin. Wie die meisten Quartiere nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch Angell Town nach den Prinzipien des Modernen Städtebaus neu geplant. Obwohl das Projekt letztendlich erst 1978 zum Abschluss kam und sich in ähnlichen Siedlungen bereits erste schwerwiegenden Probleme wie Kriminalität, Verwahrlosung und Unzufriedenheit der Bewohner einstellten, hielt man an den Prämissen der Planungen der sechziger Jahre fest.

Der neue Angell Town Estate bestand aus neun drei- bis fünfgeschossigen Wohnhäusern, die für Fußgänger von sogenannten Decks im ersten Stock aus erschlossen wurden. Im Erdgeschoss gab es nur die Straßenerschließung und Garagen, die, wegen der auskragenden Decks, kaum einsehbar waren. Die Decks der Häuser waren untereinander mit Brücken verbunden. Geplant war, das System der Deckerschließung auf die angrenzenden Estates auszudehnen. Dazu kam es aber nicht, und so blieb Angell Town von der unmittelbaren Umgebung abgeschnitten. Niemand, der nicht in eine der Wohnungen wollte, betrat das Gelände. Durch das Übereinander von Straßen und Decks war das Gebiet extrem unübersichtlich und unsicher. Da die Situation in anderen, vergleichbaren Estates allerdings kaum besser war, beschlossen die Bewohner sich nicht um neue Sozialwohnungen zu bemühen, sondern sich für die Verbesserung ihrer Lebensumstände im Quartier einzusetzen. Eine Rolle spielte dabei sicher auch, dass Angell Town relativ zentral liegt und gut ans U-Bahn-Netz angebunden ist.

Aussergewöhnliches Engagement

Wie so oft, war auch das Engagement der Bewohner in Angell Town nur erfolgreich, weil es einzelne Personen gab, die sich besonders einbrachten. In Angell Town war das vor allem die mittlerweile verstorbene Dora Boatemah, die 1986 eine im Laufe der Sanierung besonders aktive, gemeinnützige GmbH, das Angell Town Community Project, gründete. Sie initiierte eine Partnerschaft mit der Architekturfakultät der Universität Oxford Brookes, die die Sanierung von Anfang an begleitete. So wurden die Bewohner beispielsweise nach ihren Wünschen gefragt; auf Grundlage der Ergebnisse entwickelten die Studierenden ein Gutachten, das wiederum zur Grundlage der weiteren Planungen wurde. Gemeinsam mit Oxford Brookes, der Bauverwaltung von Lambeth und dem Planungsbüro Burrell Foley Fischer warb das Angell Town Community Project beim European Regional Fund fünf Mio. Pfund für ein Pilotprojekt zur Umnutzung der Erdgeschosszonen in Ladenlokale und den Umbau der darüberliegenden Wohnungen ein. Diese Partnerschaft wurde 1989 mit dem RIBA Partnership Award ausgezeichnet.1991 wurde Angell Town zudem als eines der letzten Projekte in das staatliche Förderprogramm »Estate Action« aufgenommen, das speziell für die Sanierung von großen, kommunalen Wohnsiedlungen konzipiert worden war. Um die nötigen Komplementärmittel aufzubringen, musste Lambeth insgesamt etwa 200 Wohnungen an gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften verkaufen, die dann die eigentliche Sanierung des Quartiers durchführten und sich verpflichteten, die Wohnungen weiterhin als Mietwohnungen anzubieten. Gesteuert wurde der Sanierungsprozess von einem Gremium, in dem Vertreter der lokalen Verwaltung, der Bewohnervertretung, des Angell Town Community Projects, der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften und angesehene Persönlichkeiten aus dem Quartier vertreten waren. Eine Besonderheit der Sanierung von Angell Town ist, dass das Angell Town Community Project nicht nur als ehrenamtliche Bewohnervertretung an dem Prozess beteiligt war, sondern von der Verwaltung als offizieller Berater beauftragt wurde. In dieser Rolle organisierte es unter anderem die Beteiligung der Bewohner sowie die Auswahl der Architekturbüros und Bauträger für den Um- und Neubau der Wohnhäuser. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Büros für Beteiligungsprozesse aufgeschlossen waren und zumindest über erste Erfahrungen in diesem Bereich verfügten. Durch die gute Vernetzung der Aktivisten im Quartier erreichten alle Informationen schnell und unbürokratisch die Bewohner, die ihrerseits in allen Phasen des Projekts die Kontrolle über die Vorgänge in ihrem Quartier behielten.

Bewohner planen ihren Stadtteil

Neben den Verbesserungen in der Sicherheit, der Erschließung und der bauphysikalischen Qualität der Wohnungen ging es den Bewohnern immer auch darum, dass ihr Quartier nicht mehr wie ein Estate des Sozialen Wohnungsbaus aussehen sollte. Durch die Beauftragung von mehreren Architekten und Bauträgern hat sich zwar der Planungsaufwand beträchtlich erhöht, aber gerade die Unterschiedlichkeit der einzelnen Gebäude wirkt dem Eindruck entgegen, dass Angell Town ein Quartier des Sozialen Wohnungsbaus ist. Das Pilotprojekt, der Umbau von »Holles House« und »Warwick House« direkt an der Brixton Road, wurde von Anne Thorne Architects geplant. Das Erscheinungsbild wird auch weiterhin von gelbem Klinker geprägt und auch die Laubengänge existieren noch, wurden aber zum Teil zu Balkonen umgenutzt. Dank neuer Treppenhäuser ist heute jede Wohnung auf nur einem Weg erreichbar und die Bewohner eines Aufganges kennen sich, so dass eine gewisse beiläufige Kontrolle besteht. Die ehemals gemeinschaftlich genutzte Terrasse über den Garagen wurde aufgeteilt und den Wohnungen im ersten Stock zugeschlagen, die auch von hier erschlossen werden und dadurch den Charakter von Reihenhäusern bekommen. Durch die energetische Sanierung der Häuser konnten die Heizkosten um durchschnittlich die Hälfte gesenkt werden.

Ebenfalls von Anne Thorne Architects wurde der Neubau des Ökohauses am Boatemah Walk geplant. Die Bewohner hatten sich für ein Gebäude nach den neuesten ökologischen Standards eingesetzt. Boatemah Walk ist ein dreigeschossiger Holzskelettbau, dessen Dach mit Solarzellen bestückt ist. Außerdem wird das Regenwasser für die Toilettenspülung genutzt. Das Holz für den Bau stammt aus dem zertifizierten nachhaltigen Anbau von Forest Stewardship. Boatemah Walk erhielt den Ecohomes Standard »Excellent«, den höchsten Standard, den es in Großbritannien gibt.

Gestalterisch am auffälligsten ist der Umbau des »Langport House« vom Büro Mode[1]. Wie bei Holles und Warwick House wurde die Erschließung des fünfgeschossigen Wohngebäudes komplett verändert. Im Souterrain wurden Gewerberäume untergebracht, die Wohnungen im ersten und zweiten Stock wurden zu Maisonetten zusammengelegt, die über den Gewerbeeinheiten große Terrassen haben. Von hier aus kann man einen neu angelegten Park überschauen, der Angell Town mit dem benachbarten Estate verbindet. Die, zu dreigeschossigen Wohnungen zusammengelegten Einheiten über den Maisonetten werden paarweise über neue, weiße Treppentürme mit frei angeordneten Fenstern erschlossen, die dem gesamten Bau ein neues Gesicht geben, das nicht im Geringsten an einen sozialen Wohnungsbau erinnert.

Auf der gegenüberliegenden Seite wurde der Bestand nicht saniert, sondern die Architekten Greenhill Jenner errichteten neue, dreigeschossige Wohnbauten (Iriton und Marston House), die sich auch an der Marcella und der Overton Road finden. Durch Einschnitte und Materialwechsel in der Fassade erinnern sie an frei stehende Stadtvillen oder, so die Intention der Architekten, an traditionelle Londoner Stadthäuser. Mit diesen haben sie auch die ummauerten Vorgärten gemein, die Abstand zur Straße und für die Erdgeschosswohnungen ein Mindestmaß an Privatsphäre schaffen. Die Fassaden sind größtenteils mit Ziegeln verkleidet, dort wo sich die Einschnitte befinden wird Zink und Holz verwendet. So vermeiden die Architekten Monotonie. Neben den Geschosswohnungsbauten gibt es noch einige zweigeschossige Reihenhäuser, die nach demselben Prinzip gestaltet wurden. Obwohl die relativ niedrigen Gebäude einen familiären Maßstab erzeugen, stellt sich die Frage, ob ein weiteres Geschoss wirklich geschadet hätte – Wohnungen, zumal bezahlbare, sind in London sehr knapp, und hier hätten durchaus noch einige zusätzliche entstehen können.

Runderneuerung auf allen Ebenen

Die erwähnten Gebäude sind nicht die einzigen, die im Rahmen der Sanierung grundlegend erneuert wurden. Keines der Bestandsgebäude beließ man in seinem ursprünglichen Zustand, alle Häuser wurden entweder energetisch saniert und mit einer neuen Erschließung versehen oder sogar neu gebaut. Diese Mischung war den Bewohnern wichtig, die weder einen erneuten Totalabriss noch eine Sanierung ohne Neubauten wollten. Doch nicht nur die Gebäude, auch der öffentliche Raum wurde umgestaltet – oder besser gesagt: überhaupt erst geschaffen. Anstatt der Deckerschließung gibt es nun Straßen und Gehwege, die das Quartier selbstverständlich in seine Umgebung einbinden. Sie sind zweckmäßig und ansprechend, aber nicht aufdringlich gestaltet und vor allem gepflegt, was auch daran liegt, dass die Bewohner und insbesondere die Jugendlichen aus dem Quartier an der Gestaltung beteiligt waren und sie nun mit dem entsprechenden Respekt behandeln. Neben dem bestehenden Ballspielplatz wurde ein großer Kinderspielplatz geschaffen, angesichts der noch immer verhältnismäßig dicht belegten Wohnungen ein absolut notwendiger Bewegungsraum. Die bauliche Erneuerung von Angell Town wurde von Anfang an durch eine »soziale Erneuerung« ergänzt, die auf einer breiten Basis versuchte, die vorhandenen Benachteiligungen der Bewohner abzubauen und zukünftigen Benachteiligungen beispielsweise von Kindern und Jugendlichen frühzeitig entgegenzuwirken. Hierzu wurde von den beteiligten Wohnungsbaugesellschaften eine Quartiersmanagerin eingestellt, deren Stelle mittlerweile leider ausgelaufen ist und die nun schmerzlich vermisst wird, obwohl die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften einen Teil der Angebote weiterhin aufrechterhalten.

Bei allen außergewöhnlichen und modellhaften Aspekten ist Angell Town auch ein ganz gewöhnliches Stadterneuerungsprojekt, das enormen Zwängen unterlag und das Förderrichtlinien einhalten musste. Stadterneuerung im Sozialen Wohnungsbau ist gewissermaßen das Schwarzbrot des Planeralltags. Der Erfolg von Angell Town liegt einerseits im enormen Engagement der Bewohner begründet, die zum Teil wie in einem Vollzeitjob für das Projekt gearbeitet haben, ohne dafür bezahlt worden zu sein, andererseits waren auch die Planer des London Borough of Lambeth engagierter als es für Angestellte der öffentlichen Verwaltung üblich ist. Nicht zuletzt haben die Architekten enorm viel Zeit und Arbeit investiert. Der Erfolg des Projekts mag manchen für seine unbezahlte Arbeit entschädigen, und die vielen Preise, die das Projekt bekommen hat, könnten sich sogar in barer Münze auszahlen. Auf jeden Fall gewonnen haben allerdings die Bewohner, die heute in einem attraktiven, sicheren Quartier leben und an ihrem angestammten Standort bleiben konnten, anstatt in weniger zentral gelegene Wohngebiete verdrängt zu werden. Sie werden hoffentlich auch in Zukunft dafür sorgen, dass Angell Town ein lebenswertes Quartier bleibt.

db, Mi., 2009.04.01



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db 2009|04 Europäische Stadtquartiere

08. September 2006Maren Harnack
TEC21

Innige Umarmung

Der Umbau eines leer stehenden Schulhauses im Londoner Stadtteil Elephant&Castle zum Hauptquartier der zeitgenössischen Tanzkompanie «Siobhan Davies Dance Studios» zeigt, wie gerade mit Respektlosigkeit der Substanz des Altbaus Respekt erwiesen wird.

Der Umbau eines leer stehenden Schulhauses im Londoner Stadtteil Elephant&Castle zum Hauptquartier der zeitgenössischen Tanzkompanie «Siobhan Davies Dance Studios» zeigt, wie gerade mit Respektlosigkeit der Substanz des Altbaus Respekt erwiesen wird.

Die Siobhan Davies Dance Company ist eine der bekanntesten und erfolgreichsten zeitgenössischen Tanzgruppen in England. Sie kann ihren Mitgliedern komfortable Bedingungen bieten: ein festes Einkommen einerseits, andererseits verfügt sie – seit neuestem – auch über ein festes Domizil, das die Architektin Sarah Wigglesworth der Truppe auf den Leib geschneidert hat.
Die Tänzer mussten allerdings lange darauf warten. Das erste Projekt wurde 1996 begonnen, schon damals mit Sarah Wigglesworth. Doch die Räume, die Siobhan Davies erwerben wollte, erwiesen sich als zu gross. Der zweite Versuch wurde gemeinsam mit anderen Künstlern gestartet, Räume standen in Aussicht, Sarah Wigglesworth plante. Aber die Zusammenarbeit mit den Partnern erwies sich als schwierig, das Risiko, zu viele Kompromisse eingehen zu müssen, als zu hoch.
Das Gebäude, das Sarah Wigglesworth schliesslich für die Siobhan Davies Dance Company umgebaut hat, ist ein altes Schulhaus im Stadtteil Elephant&Castle. Es hat eine bewegte Geschichte: In das Haus wurde eingebrochen, es wurde besetzt, überstand Brandstiftung und Wasserschäden. Elephant&Castle, südlich der Themse und jenseits des glamourösen London der Touristen gelegen, gehörte lange zu den Gegenden, die man als Fremder lieber mied, aber in den letzten Jahren hat auch hier die Stadterneuerung eingesetzt. Das Projekt der Siobhan Davies Dance Company kann man zweifellos als Teil dieses Aufwertungsprozesses sehen. Die Baukosten von rund 2.5 Millionen Pfund wurden sogar zu zehn Prozent aus Revitalisierungsmitteln finanziert.

Struktur bewahrt, aber neu interpretiert

Die Grundfläche des viktorianischen Schulhauses von 1893 entsprach der Grösse der Bühnen, auf denen die Siobhan Davies Dance Company normalerweise auftritt und die sie sich daher auch für ihren Probensaal wünschte. Das machte das Gebäude für die Tänzer auf Anhieb interessant. Aber es wurde auch schnell klar, dass das Haus als Teil eines grösseren, unter Denkmalschutz stehenden Schulensembles würde erhalten werden müssen und dass es folglich nicht ganz einfach werden würde, den Probensaal unterzubringen.
Das bestehende Schulhaus war klar gegliedert: rechts und links je ein Kubus mit Klassenzimmern, dazwischen die Erschliessung. Die Architektin entschied sich dafür, diese Struktur beizubehalten, sie gleichwohl neu zu interpretieren. Die beiden Kuben, in denen früher die Klassenräume untergebracht waren, wurden erhalten, die Erschliessungszone wurde allerdings komplett entkernt, sodass in der Mitte des Gebäudes ein zweigeschossiges Foyer entstehen konnte. Dieses verbindet alle Nutzungsbereiche des Hauses: im Erdgeschoss Büros und Aufenthaltsräume, im 1.Obergeschoss Umkleideräume und einen kleinen Probenraum. Über dem bestehenden Mauerwerksbau wurde ein neuer, grosser Saal errichtet, der die gesamte Grundfläche des Altbaus einnimmt und das Foyer überspannt. Alle Erschliessungsflächen stehen direkt mit dem Foyer in Verbindung und können von den Tänzern genutzt
werden, aber auch von den Besuchern, wenn im Hause Aufführungen stattfinden. Nur die Eingangszone des grossen Saals ist vom Foyer getrennt.

Wie ein Laib Brot

Der grosse Saal selbst ist der spektakulärste Innenraum dieses Gebäudes. Wie ein Laib Brot, der aus einer Backform quillt, hebt sich das Dach aus der Umhüllung des alten Gebäudes. Die Dachhaut hebt und senkt sich in Streifen, dazwischen entsteht Raum für Oberlichter, durch die gefiltertes Tageslicht in den Saal fällt. Sarah Wigglesworth hat es damit geschafft, Bezüge nach draussen herzustellen, Wetter und Jahreszeiten erlebbar zu machen und dem Raum gleichzeitig die Ruhe und Abgeschlossenheit zu geben, die ein Tanzstudio braucht.

Das Potenzial einer Notlösung

Die Dachkonstruktion besteht aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Sie hat ihren Ursprung allerdings nicht im technischen Anspruch der Gebäudehülle oder in Anforderungen an das Tragwerk, sondern ist eine Notlösung. Ursprünglich sollte das Dach in Holz konstruiert werden, und zwar von Gordon Cowley, der auch für Alsop & Störmer das Dach der Peckham Library gebaut hat. Das erwies sich aber als zu teuer, und so wich man auf glasfaserverstärkten Kunststoff aus, aus dem beispielsweise auch Wohnwagen hergestellt werden. Das Material ist leicht und kann ohne den Einsatz von Spezialmaschinen bearbeitet und repariert werden. Risse oder Löcher werden einfach ausgeschnitten und mit neuem Material geschlossen. Ähnlich wie der Backstein des Altbaus, in den man ohne grossen technischen Aufwand und nach Bedarf Löcher schneiden kann, ist auch dieser Kunststoff ein sehr nachsichtiges Material.

In Schwingung versetzt

Die vertikale Erschliessung befindet sich nach dem Umbau in einem leichten Anbau auf der Rückseite des Hauses. Die Treppe ist an Flachstählen von der Decke abgehängt und schwingt mit den Schritten des Benutzers, wie überhaupt alle Böden als Schwingböden ausgeführt sind und den Besucher ständig spüren lassen, dass er sich in einem Haus befindet, das für Tänzer gebaut wurde. Um den Grundstücksstreifen für das Treppenhaus zu erwerben, waren noch einmal harte Verhandlungen nötig, da das Bestandsgebäude direkt an den Schulhof einer Grundschule stösst. Doch auch dies ist gelungen: Die Fläche des Schulhofs wurde um wenige Quadratmeter reduziert, und die transparente Fassade des neuen Treppenhauses ermöglicht einen viel intensiveren Austausch der beiden Welten, als es die bestehende Backsteinhaut jemals hätte tun können.

Alt und Neu verwoben, aber Brüche nicht geglättet

Bemerkenswert an dem Gebäude ist die Art und Weise, wie Sarah Wigglesworth mit dem Bestand umgegangen ist. Das neu geschaffene Foyer hat sie mit einer Fülle von Elementen ausgestattet. Gleich am Eingang wird man von einer leuchtend gelben, schräg gestellten Säule empfangen, der Blick fällt auf das angebaute Treppenhaus, die Brüstung im ersten Obergeschoss besteht zum Teil aus Drahtgeflecht, zum Teil ist sie wie ein Sofa mit weinrotem Kunstleder gepolstert. Die Eingangsfassade ist verglast und in einer einfachen Pfosten-Riegel-Kons-
truktion konstruiert. Ein grosses, mit Drahtgewebe bespanntes Schiebepaneel davor bietet bei Bedarf Sicht- und Blendschutz.
Das erscheint zunächst als sehr viel, unterstützt aber die Haltung, mit der die Architektin das Gebäude angefasst und gewissermassen umarmt hat. Entgegen der bekannten Strategie, Alt und Neu sorgfältig auseinanderzuhalten und sich gegenseitig ausstellen zu lassen, verwebt sie beides so miteinander, dass es zwar in seiner Eigenart erkennbar bleibt, aber nicht mehr voneinander zu trennen ist. Die Brüche, Benutzungsspuren und Wunden, die der Bestand mitgebracht hat, bleiben ebenso bestehen wie die Verletzungen, die er während des Umbaus hinnehmen musste. Abgebrochene Ecken, abgeplatzte Oberflächen, Farbreste, Maueransätze und abgebrochene Treppenstufen zeugen von der Unbekümmertheit und Ruppigkeit, mit der die vorherigen Nutzer, aber auch die Architektin dem alten Schulhaus begegnete.
Im Gegenzug wird es gleichsam neu eingekleidet, und zwar in einer Art, die fast schon liebevoll ist. Streifen von Putz, der nach einer traditionellen Rezeptur angefertigt und mit Ziegenhaaren versetzt ist, ziehen sich über den Altbau mit seinen Anbauten und verbinden beides miteinander. Dabei verdecken sie Stellen, an denen Abbruchkanten zu rau oder sogar gefährlich waren, und betonen sie dadurch gleichzeitig. Das Ziegenhaar wirkt dabei als Armierung, gibt den verputzten Oberflächen aber auch eine unerwartete haptische Qualität.

Respektvoll in der Respektlosigkeit

Auch das rückwärtig angebaute Treppenhaus ist in diesem Sinne zweideutig: Es läuft der alten Struktur zuwider, macht sie aber dadurch, dass man den Altbau bei jedem Geschosswechsel verlässt und wieder betritt, überhaupt erst nachvollziehbar. Dasselbe gilt für die vielen Elemente, die im Foyer aufeinandertreffen: Mit ihrer Respektlosigkeit vor dem Bestand ermutigen sie die heutigen Nutzer ebenfalls zu Respektlosigkeit, und so nutzen die Tänzer jede verfügbare Brüstung, um sich daran aufzuwärmen, jeden verfügbaren Absatz, um darauf zu sitzen, und jedes Stück Boden, um darauf in irgendeiner Form zu tanzen. Dieses Haus ist das Gegenteil von steril. Es ist auf eine sehr zupackende Art respektvoll.

TEC21, Fr., 2006.09.08



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tec21 2006|35 transformiert

Publikationen

Presseschau 12

Herrlichkeit in Hoogvliet

Hoogvliet, ein Stadtteil von Rotterdam (NL), wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1948 nach dem Vorbild der englischen New Towns als eine mit einem Grüngürtel umgebene Siedlung mit voneinander abgegrenzten, um ein Zentrum angelegten Quartieren geplant. Mitte der 1990er-Jahre schrieb der Ort die «Chronik eines Ghettos». Nun hat die britische Architektengruppe FAT mit starken Farben, zeichenhaft en Formen und einfachen Details einem Unort eine ebenso unverwechselbare wie robuste Identität gegeben.

Hoogvliet, ein Stadtteil von Rotterdam (NL), wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1948 nach dem Vorbild der englischen New Towns als eine mit einem Grüngürtel umgebene Siedlung mit voneinander abgegrenzten, um ein Zentrum angelegten Quartieren geplant. Mitte der 1990er-Jahre schrieb der Ort die «Chronik eines Ghettos». Nun hat die britische Architektengruppe FAT mit starken Farben, zeichenhaft en Formen und einfachen Details einem Unort eine ebenso unverwechselbare wie robuste Identität gegeben.

Der Park «Heerlijkheid Hoogvliet» war in erster Linie als temporäres jährliches Sommerfestival geplant, um der Hoogvlieter Bevölkerung zu zeigen, dass Hoogvliet trotz umfassenden Stadterneuerungsmassnahmen ein lebenswerter Wohnort ist. Der Park lehnt sich deshalb ursprünglich an den temporären, zweidimensionalen Kulissenbau an, wie er bei indischen Hochzeiten, aber auch in der Zeit des Wiederaufbaus bei Rotterdamer Geschäftsleuten gebräuchlich war, und soll Hoffnung und Fantasien der Bewohner (trotz der städtebaulichen Realität) widerspiegeln. Die Heerlijkheid Hoogvliet ist im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Rotterdam Hoogvliet entstanden und wurde durch die Programmleitung namens WiMBY! (Welcome into my backyard!) initiiert (siehe Kasten S. 22). Die Idee eines temporären Festivals wuchs sich schnell zu einem grossen, ernst zu nehmenden Bauprojekt aus. Bei der Planung und Konzeption des Parks wurden zwei Prinzipien verfolgt: Einerseits wurden von Anfang an potenzielle Nutzer einbezogen, anderseits sollte die Gestaltung garantieren, dass sich das Image von Hoogvliet verbessert und der Park über den Stadtteil hinaus Wirkung entfaltet. Das jährliche Festival bekam nun zusätzlich die Funktion, die Akzeptanz unter den Bewohnern für das Konzept und das Programm des zukünftigen Parks zu testen. Neben einem kulturellen Programm (unter anderem mit Auftritten verschiedener landesweit bekannter Künstler) bekamen Hoogvlieter Vereine und Organisationen die Gelegenheit, sich zu präsentieren, und machten für alle Bewohnergruppen ein breites Angebot. Nach und nach fanden sich so Gruppen, die sich langfristig für den Park engagieren wollten und die während der Festivals ausgiebig Gelegenheit hatten, sich kennenzulernen und probeweise miteinander zu arbeiten. WiMBY! ging davon aus, dass diejenigen, die sich schon am Planungsprozess beteiligen, den Park anschliessend auch nutzen und sich um ihn kümmern würden, und so das langfristige Bestehen des Parks gesichert ist.

„Dekorierte Schuppen“

Die britische Architektengruppe FAT (Fashion, Architecture, Taste) wurde von WiMBY! damit beauftragt, ein detailliertes Gestaltungskonzept für den Park zu entwickeln. FAT wurde 1995 von Sean Griffiths, Charles Holland und Sam Jacob in London gegründet und hat sich vor allem in den ersten Jahren durch kleinere Interventionen, Statements und vor allem ihre Vorliebe für die Postmoderne einen Namen gemacht – mittlerweile gehören auch grössere Wohnungsbauprojekte zu den Aufträgen der Gruppe. Während WiMBY! auf die Suche nach potenziellen, permanenten Nutzern des Parks ging, interpretierte FAT mithilfe von Fotocollagen, die an die Arbeit der amerikanischen Architekten Venturi und Scott-Brown erinnern, die Einrichtung von Vorgärten und Laubengängen im Stadtteil, um einen zu Hoogvliet passenden Architekturstil zu entwickeln. Die Architektursprache des Parks greift heute zwar ortstypische Elemente auf, kann aber keiner der vielen hier lebenden Gruppen explizit zugeordnet werden. Dies war wichtig, damit der Park zu einem Ort werden konnte, mit dem sich alle Hoogvlieter identifizieren können. Die Arbeit und die Entwürfe von FAT wurden der Öffentlichkeit und den zukünftigen Nutzern immer wieder vorgestellt und mit ihnen diskutiert. Wegen der Sprachschwierigkeiten wurde der Partizipationsprozess von WiMBY! moderiert. So konnte sichergestellt werden, dass der Park den Bedürfnissen der zukünftigen Nutzer entspricht und auch die Gestaltung nicht auf Widerstand stossen würde. FAT, bekannt für poppig-polemische Gestaltung, war in diesem Fall genau die richtige Wahl. Mit starken Farben, zeichenhaften Formen und einfachen Details hat es FAT geschafft, einem Unort ein unverwechselbares Gesicht zu geben. Während der hier vorherrschende Witz der Architektur im Wohnumfeld schnell aufdringlich wirken kann, ermutigt er in Hoogvliet dazu, sich Park und Villa anzueignen, und weist indirekt darauf hin, dass Ballspiele, Grillieren und all die Dinge, die in anderen Parks verboten sind, hier ausdrücklich erwünscht sind.

Die Gruppen, die heute im Park aktiv sind oder Teile des Parks betreiben, sind so unterschiedlich wie die Bevölkerung Hoogvliets. Eine Gruppe vornehmlich älterer Damen, die Baumritter, die sich schon früher für den Erhalt von Bäumen eingesetzt hat, betreibt ein Arboretum. Es grenzt den Park von der angrenzenden Wohnbebauung ab, erfüllt also gleichzeitig eine in das Gesamtkonzept eingebundene gestalterische Funktion und trägt dazu bei, Konflikte mit den Anwohnern zu vermeiden, weil es als ruhiger Ort zwischen eventuell lärmerzeugenden Aktivitäten und Wohnbebauung Abstand schafft. Eine gelbe «Hobbyhütte» wird vom Modellbootverein, dem vor allem ältere Hoogvlieter angehören, als Vereinsheim genutzt. Zunächst sollte ein ganzes Dorf dieser Hütten entstehen, für die verschiedene andere Vereine Interesse gezeigt haben, aber dies liess sich leider nicht finanzieren. Eigentlich waren die Hobbyhütten als eine Art erweiterter Garagen in einfachster Ausführung gedacht, mussten dann aber Anforderungen an Aufenthaltsräume erfüllen und ausserdem mit Sanitäranlagen ausgestattet werden – und wurden damit für die zukünftigen Nutzer zu teuer.

Im nordwestlichen Teil des Parks ist ein Abenteuerspielplatz angesiedelt, der mit einem Wassergraben vom Rest des Parks abgegrenzt ist. Die Brücke und das Tor, über das man ihn betritt, sind ebenfalls von FAT gestaltet und machen deutlich, dass er zum Park gehört. Der nordöstliche Teil des Parks wird von einer grossen, flexibel nutzbaren Rasenfläche und einem See eingenommen. Auf dem Rasen ist Ballspielen ebenso möglich, wie Festivals veranstaltet werden können. Der See hat die Form der Niederlande. Ausserdem gibt es in diesem Teil des Parks Grillstellen und viele Sitzgelegenheiten.

Einfachheit als Widerstandsfähigkeit

Am wichtigsten für den Park ist die Villa Heerlijkheid, in der ganz verschiedene Aktivitäten stattfinden können. Typologisch handelt es sich um einen «dekorierten Schuppen», eine einfache Halle mit Stahlskelett und Wandverkleidung aus Holzfaserplatten, auf die Baumornamente und eine an die Schornsteine in der Umgebung angelehnte Holzverkleidung appliziert wurden. Beides ist deutlich als schmückendes Ornament erkennbar und verbirgt nicht, dass die eigentliche Gebäudehülle darunter einfach, billig und zweckmässig gebaut ist. Auch innen fehlt unnötiger Schnickschnack: Man sieht die pink angestrichene Stahlkonstruktion, es gibt einen unauffälligen, aber belastbaren Industrieboden, und die Treppe in den ersten Stock ist ein einfaches Standardprodukt aus dem Gerüstbau. Von innen wird auch sichtbar, dass die Fensterformen den Ornamenten auf der Fassade nicht entsprechen, sondern dahinter einfach rechteckig bleiben. Diese Einfachheit ist von einer Robustheit, die vielleicht widerstandsfähiger ist als manche Bauten, deren Architekten eine vermeintliche «Wahrheit» zur Schau stellen, die aber sowohl ästhetisch als auch im Gebrauch sehr viel anfälliger auf den Zahn der Zeit reagieren.

Die Villa verfügt über eine Profiküche, einen grossen Veranstaltungssaal, einen kleinen Saal, in dem ein Restaurant betrieben wird, und über zwei schalldichte Räume, in denen ursprünglich ein kulturell orientierter Kinoveranstalter Filme zeigen wollte. Veränderte politische Konstellationen haben dazu geführt, dass diese Kooperation nicht zustande kam. Stattdessen werden die beiden Räume heute von Musikern als Proberäume genutzt. Dass die Villa Heerlijkheid flexibel genutzt werden kann, hat sich damit schon einmal gezeigt, aber auch das Spektrum der Veranstaltungen, die in den beiden Sälen stattfinden, ist breit gefächert und reicht von islamischen Hochzeiten bis zu Technokonzerten. Für den Fall, dass kommerzielle Veranstaltungen im Aussenraum stattfinden, lässt sich der Bereich um die Villa herum abtrennen. Er ist dann nur noch über eine Brücke zu erreichen, sodass der Zugang sich sehr einfach kontrollieren lässt. Dass kommerzielle Nutzungen nötig sind, um die Villa auf Dauer betreiben zu können, war allen Beteiligten klar und schmälert den Gewinn für Hoogvliet nicht. Im Gegenteil, die Villa ist so nicht von einem einzigen Geldgeber abhängig, kann ein vielfältigeres Angebot machen und ausserdem Veranstaltungen, die dem Stadtteil nützen, quersubventionieren.

Nachdem WiMBY! ihre Arbeiten in Hoogvliet 2007 abgeschlossen hat, ist es nun an den beteiligten Hoogvlieter Organisationen, den Park als einen Treffpunkt für alle Bewohner zu erhalten und auszubauen. Das ist vor allem eine Frage des Gleichgewichts unter den vielen verschiedenen Nutzergruppen. Bisher sieht es ganz so aus, als würde ihnen das auch ohne die Betreuung durch WiMBY! bestens gelingen.

TEC21, Fr., 2009.05.08



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tec21 2009|19 Robustheit

01. April 2009Maren Harnack
db

»Engelsstadt«

Angell Town ist ein Quartier in Brixton, Lambeth, im Süden der Londoner Innenstadt, das lange Zeit so verrufen war, dass nicht einmal Taxifahrer und Pizzaboten sich dorthin trauten. Dass es inzwischen wieder zu einem lebenswerten Stück Stadt mit ansprechender Architektur geworden ist, grenzt an ein kleines Wunder und ist vor allem der Initiative und dem Engagement der Bewohner sowie der guten Zusammenarbeit von Bewohnern und Architekten zu verdanken.

Angell Town ist ein Quartier in Brixton, Lambeth, im Süden der Londoner Innenstadt, das lange Zeit so verrufen war, dass nicht einmal Taxifahrer und Pizzaboten sich dorthin trauten. Dass es inzwischen wieder zu einem lebenswerten Stück Stadt mit ansprechender Architektur geworden ist, grenzt an ein kleines Wunder und ist vor allem der Initiative und dem Engagement der Bewohner sowie der guten Zusammenarbeit von Bewohnern und Architekten zu verdanken.

Um 1850 hatte die Familie Angell in Brixton einen sogenannten »Estate« entwickelt, ein spekulativ gebautes Wohngebiet mit standardisierten Reihenhäusern, die in Erbpacht an die Bewohner vergeben wurden. Wie in vielen vergleichbaren Gebieten, war die bauliche Qualität der Gebäude mäßig, und weil wachsende Familien kaum Aussicht auf eine größere Wohnung hatten, waren sie bald so stark überbelegt, dass Angell Town zu einem Slum wurde. Schon um 1900 begann die Stadt London damit, Slums zu sanieren, indem sie die Eigentümer enteignete, die Gebäude abriss und an deren Stelle eigene Wohnbauten errichtete – so auch in Angell Town.
Unterbrochen von zwei Weltkriegen zog sich die Sanierung der Slums aber über Jahrzehnte hin. Wie die meisten Quartiere nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch Angell Town nach den Prinzipien des Modernen Städtebaus neu geplant. Obwohl das Projekt letztendlich erst 1978 zum Abschluss kam und sich in ähnlichen Siedlungen bereits erste schwerwiegenden Probleme wie Kriminalität, Verwahrlosung und Unzufriedenheit der Bewohner einstellten, hielt man an den Prämissen der Planungen der sechziger Jahre fest.

Der neue Angell Town Estate bestand aus neun drei- bis fünfgeschossigen Wohnhäusern, die für Fußgänger von sogenannten Decks im ersten Stock aus erschlossen wurden. Im Erdgeschoss gab es nur die Straßenerschließung und Garagen, die, wegen der auskragenden Decks, kaum einsehbar waren. Die Decks der Häuser waren untereinander mit Brücken verbunden. Geplant war, das System der Deckerschließung auf die angrenzenden Estates auszudehnen. Dazu kam es aber nicht, und so blieb Angell Town von der unmittelbaren Umgebung abgeschnitten. Niemand, der nicht in eine der Wohnungen wollte, betrat das Gelände. Durch das Übereinander von Straßen und Decks war das Gebiet extrem unübersichtlich und unsicher. Da die Situation in anderen, vergleichbaren Estates allerdings kaum besser war, beschlossen die Bewohner sich nicht um neue Sozialwohnungen zu bemühen, sondern sich für die Verbesserung ihrer Lebensumstände im Quartier einzusetzen. Eine Rolle spielte dabei sicher auch, dass Angell Town relativ zentral liegt und gut ans U-Bahn-Netz angebunden ist.

Aussergewöhnliches Engagement

Wie so oft, war auch das Engagement der Bewohner in Angell Town nur erfolgreich, weil es einzelne Personen gab, die sich besonders einbrachten. In Angell Town war das vor allem die mittlerweile verstorbene Dora Boatemah, die 1986 eine im Laufe der Sanierung besonders aktive, gemeinnützige GmbH, das Angell Town Community Project, gründete. Sie initiierte eine Partnerschaft mit der Architekturfakultät der Universität Oxford Brookes, die die Sanierung von Anfang an begleitete. So wurden die Bewohner beispielsweise nach ihren Wünschen gefragt; auf Grundlage der Ergebnisse entwickelten die Studierenden ein Gutachten, das wiederum zur Grundlage der weiteren Planungen wurde. Gemeinsam mit Oxford Brookes, der Bauverwaltung von Lambeth und dem Planungsbüro Burrell Foley Fischer warb das Angell Town Community Project beim European Regional Fund fünf Mio. Pfund für ein Pilotprojekt zur Umnutzung der Erdgeschosszonen in Ladenlokale und den Umbau der darüberliegenden Wohnungen ein. Diese Partnerschaft wurde 1989 mit dem RIBA Partnership Award ausgezeichnet.1991 wurde Angell Town zudem als eines der letzten Projekte in das staatliche Förderprogramm »Estate Action« aufgenommen, das speziell für die Sanierung von großen, kommunalen Wohnsiedlungen konzipiert worden war. Um die nötigen Komplementärmittel aufzubringen, musste Lambeth insgesamt etwa 200 Wohnungen an gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften verkaufen, die dann die eigentliche Sanierung des Quartiers durchführten und sich verpflichteten, die Wohnungen weiterhin als Mietwohnungen anzubieten. Gesteuert wurde der Sanierungsprozess von einem Gremium, in dem Vertreter der lokalen Verwaltung, der Bewohnervertretung, des Angell Town Community Projects, der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften und angesehene Persönlichkeiten aus dem Quartier vertreten waren. Eine Besonderheit der Sanierung von Angell Town ist, dass das Angell Town Community Project nicht nur als ehrenamtliche Bewohnervertretung an dem Prozess beteiligt war, sondern von der Verwaltung als offizieller Berater beauftragt wurde. In dieser Rolle organisierte es unter anderem die Beteiligung der Bewohner sowie die Auswahl der Architekturbüros und Bauträger für den Um- und Neubau der Wohnhäuser. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Büros für Beteiligungsprozesse aufgeschlossen waren und zumindest über erste Erfahrungen in diesem Bereich verfügten. Durch die gute Vernetzung der Aktivisten im Quartier erreichten alle Informationen schnell und unbürokratisch die Bewohner, die ihrerseits in allen Phasen des Projekts die Kontrolle über die Vorgänge in ihrem Quartier behielten.

Bewohner planen ihren Stadtteil

Neben den Verbesserungen in der Sicherheit, der Erschließung und der bauphysikalischen Qualität der Wohnungen ging es den Bewohnern immer auch darum, dass ihr Quartier nicht mehr wie ein Estate des Sozialen Wohnungsbaus aussehen sollte. Durch die Beauftragung von mehreren Architekten und Bauträgern hat sich zwar der Planungsaufwand beträchtlich erhöht, aber gerade die Unterschiedlichkeit der einzelnen Gebäude wirkt dem Eindruck entgegen, dass Angell Town ein Quartier des Sozialen Wohnungsbaus ist. Das Pilotprojekt, der Umbau von »Holles House« und »Warwick House« direkt an der Brixton Road, wurde von Anne Thorne Architects geplant. Das Erscheinungsbild wird auch weiterhin von gelbem Klinker geprägt und auch die Laubengänge existieren noch, wurden aber zum Teil zu Balkonen umgenutzt. Dank neuer Treppenhäuser ist heute jede Wohnung auf nur einem Weg erreichbar und die Bewohner eines Aufganges kennen sich, so dass eine gewisse beiläufige Kontrolle besteht. Die ehemals gemeinschaftlich genutzte Terrasse über den Garagen wurde aufgeteilt und den Wohnungen im ersten Stock zugeschlagen, die auch von hier erschlossen werden und dadurch den Charakter von Reihenhäusern bekommen. Durch die energetische Sanierung der Häuser konnten die Heizkosten um durchschnittlich die Hälfte gesenkt werden.

Ebenfalls von Anne Thorne Architects wurde der Neubau des Ökohauses am Boatemah Walk geplant. Die Bewohner hatten sich für ein Gebäude nach den neuesten ökologischen Standards eingesetzt. Boatemah Walk ist ein dreigeschossiger Holzskelettbau, dessen Dach mit Solarzellen bestückt ist. Außerdem wird das Regenwasser für die Toilettenspülung genutzt. Das Holz für den Bau stammt aus dem zertifizierten nachhaltigen Anbau von Forest Stewardship. Boatemah Walk erhielt den Ecohomes Standard »Excellent«, den höchsten Standard, den es in Großbritannien gibt.

Gestalterisch am auffälligsten ist der Umbau des »Langport House« vom Büro Mode[1]. Wie bei Holles und Warwick House wurde die Erschließung des fünfgeschossigen Wohngebäudes komplett verändert. Im Souterrain wurden Gewerberäume untergebracht, die Wohnungen im ersten und zweiten Stock wurden zu Maisonetten zusammengelegt, die über den Gewerbeeinheiten große Terrassen haben. Von hier aus kann man einen neu angelegten Park überschauen, der Angell Town mit dem benachbarten Estate verbindet. Die, zu dreigeschossigen Wohnungen zusammengelegten Einheiten über den Maisonetten werden paarweise über neue, weiße Treppentürme mit frei angeordneten Fenstern erschlossen, die dem gesamten Bau ein neues Gesicht geben, das nicht im Geringsten an einen sozialen Wohnungsbau erinnert.

Auf der gegenüberliegenden Seite wurde der Bestand nicht saniert, sondern die Architekten Greenhill Jenner errichteten neue, dreigeschossige Wohnbauten (Iriton und Marston House), die sich auch an der Marcella und der Overton Road finden. Durch Einschnitte und Materialwechsel in der Fassade erinnern sie an frei stehende Stadtvillen oder, so die Intention der Architekten, an traditionelle Londoner Stadthäuser. Mit diesen haben sie auch die ummauerten Vorgärten gemein, die Abstand zur Straße und für die Erdgeschosswohnungen ein Mindestmaß an Privatsphäre schaffen. Die Fassaden sind größtenteils mit Ziegeln verkleidet, dort wo sich die Einschnitte befinden wird Zink und Holz verwendet. So vermeiden die Architekten Monotonie. Neben den Geschosswohnungsbauten gibt es noch einige zweigeschossige Reihenhäuser, die nach demselben Prinzip gestaltet wurden. Obwohl die relativ niedrigen Gebäude einen familiären Maßstab erzeugen, stellt sich die Frage, ob ein weiteres Geschoss wirklich geschadet hätte – Wohnungen, zumal bezahlbare, sind in London sehr knapp, und hier hätten durchaus noch einige zusätzliche entstehen können.

Runderneuerung auf allen Ebenen

Die erwähnten Gebäude sind nicht die einzigen, die im Rahmen der Sanierung grundlegend erneuert wurden. Keines der Bestandsgebäude beließ man in seinem ursprünglichen Zustand, alle Häuser wurden entweder energetisch saniert und mit einer neuen Erschließung versehen oder sogar neu gebaut. Diese Mischung war den Bewohnern wichtig, die weder einen erneuten Totalabriss noch eine Sanierung ohne Neubauten wollten. Doch nicht nur die Gebäude, auch der öffentliche Raum wurde umgestaltet – oder besser gesagt: überhaupt erst geschaffen. Anstatt der Deckerschließung gibt es nun Straßen und Gehwege, die das Quartier selbstverständlich in seine Umgebung einbinden. Sie sind zweckmäßig und ansprechend, aber nicht aufdringlich gestaltet und vor allem gepflegt, was auch daran liegt, dass die Bewohner und insbesondere die Jugendlichen aus dem Quartier an der Gestaltung beteiligt waren und sie nun mit dem entsprechenden Respekt behandeln. Neben dem bestehenden Ballspielplatz wurde ein großer Kinderspielplatz geschaffen, angesichts der noch immer verhältnismäßig dicht belegten Wohnungen ein absolut notwendiger Bewegungsraum. Die bauliche Erneuerung von Angell Town wurde von Anfang an durch eine »soziale Erneuerung« ergänzt, die auf einer breiten Basis versuchte, die vorhandenen Benachteiligungen der Bewohner abzubauen und zukünftigen Benachteiligungen beispielsweise von Kindern und Jugendlichen frühzeitig entgegenzuwirken. Hierzu wurde von den beteiligten Wohnungsbaugesellschaften eine Quartiersmanagerin eingestellt, deren Stelle mittlerweile leider ausgelaufen ist und die nun schmerzlich vermisst wird, obwohl die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften einen Teil der Angebote weiterhin aufrechterhalten.

Bei allen außergewöhnlichen und modellhaften Aspekten ist Angell Town auch ein ganz gewöhnliches Stadterneuerungsprojekt, das enormen Zwängen unterlag und das Förderrichtlinien einhalten musste. Stadterneuerung im Sozialen Wohnungsbau ist gewissermaßen das Schwarzbrot des Planeralltags. Der Erfolg von Angell Town liegt einerseits im enormen Engagement der Bewohner begründet, die zum Teil wie in einem Vollzeitjob für das Projekt gearbeitet haben, ohne dafür bezahlt worden zu sein, andererseits waren auch die Planer des London Borough of Lambeth engagierter als es für Angestellte der öffentlichen Verwaltung üblich ist. Nicht zuletzt haben die Architekten enorm viel Zeit und Arbeit investiert. Der Erfolg des Projekts mag manchen für seine unbezahlte Arbeit entschädigen, und die vielen Preise, die das Projekt bekommen hat, könnten sich sogar in barer Münze auszahlen. Auf jeden Fall gewonnen haben allerdings die Bewohner, die heute in einem attraktiven, sicheren Quartier leben und an ihrem angestammten Standort bleiben konnten, anstatt in weniger zentral gelegene Wohngebiete verdrängt zu werden. Sie werden hoffentlich auch in Zukunft dafür sorgen, dass Angell Town ein lebenswertes Quartier bleibt.

db, Mi., 2009.04.01



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db 2009|04 Europäische Stadtquartiere

08. September 2006Maren Harnack
TEC21

Innige Umarmung

Der Umbau eines leer stehenden Schulhauses im Londoner Stadtteil Elephant&Castle zum Hauptquartier der zeitgenössischen Tanzkompanie «Siobhan Davies Dance Studios» zeigt, wie gerade mit Respektlosigkeit der Substanz des Altbaus Respekt erwiesen wird.

Der Umbau eines leer stehenden Schulhauses im Londoner Stadtteil Elephant&Castle zum Hauptquartier der zeitgenössischen Tanzkompanie «Siobhan Davies Dance Studios» zeigt, wie gerade mit Respektlosigkeit der Substanz des Altbaus Respekt erwiesen wird.

Die Siobhan Davies Dance Company ist eine der bekanntesten und erfolgreichsten zeitgenössischen Tanzgruppen in England. Sie kann ihren Mitgliedern komfortable Bedingungen bieten: ein festes Einkommen einerseits, andererseits verfügt sie – seit neuestem – auch über ein festes Domizil, das die Architektin Sarah Wigglesworth der Truppe auf den Leib geschneidert hat.
Die Tänzer mussten allerdings lange darauf warten. Das erste Projekt wurde 1996 begonnen, schon damals mit Sarah Wigglesworth. Doch die Räume, die Siobhan Davies erwerben wollte, erwiesen sich als zu gross. Der zweite Versuch wurde gemeinsam mit anderen Künstlern gestartet, Räume standen in Aussicht, Sarah Wigglesworth plante. Aber die Zusammenarbeit mit den Partnern erwies sich als schwierig, das Risiko, zu viele Kompromisse eingehen zu müssen, als zu hoch.
Das Gebäude, das Sarah Wigglesworth schliesslich für die Siobhan Davies Dance Company umgebaut hat, ist ein altes Schulhaus im Stadtteil Elephant&Castle. Es hat eine bewegte Geschichte: In das Haus wurde eingebrochen, es wurde besetzt, überstand Brandstiftung und Wasserschäden. Elephant&Castle, südlich der Themse und jenseits des glamourösen London der Touristen gelegen, gehörte lange zu den Gegenden, die man als Fremder lieber mied, aber in den letzten Jahren hat auch hier die Stadterneuerung eingesetzt. Das Projekt der Siobhan Davies Dance Company kann man zweifellos als Teil dieses Aufwertungsprozesses sehen. Die Baukosten von rund 2.5 Millionen Pfund wurden sogar zu zehn Prozent aus Revitalisierungsmitteln finanziert.

Struktur bewahrt, aber neu interpretiert

Die Grundfläche des viktorianischen Schulhauses von 1893 entsprach der Grösse der Bühnen, auf denen die Siobhan Davies Dance Company normalerweise auftritt und die sie sich daher auch für ihren Probensaal wünschte. Das machte das Gebäude für die Tänzer auf Anhieb interessant. Aber es wurde auch schnell klar, dass das Haus als Teil eines grösseren, unter Denkmalschutz stehenden Schulensembles würde erhalten werden müssen und dass es folglich nicht ganz einfach werden würde, den Probensaal unterzubringen.
Das bestehende Schulhaus war klar gegliedert: rechts und links je ein Kubus mit Klassenzimmern, dazwischen die Erschliessung. Die Architektin entschied sich dafür, diese Struktur beizubehalten, sie gleichwohl neu zu interpretieren. Die beiden Kuben, in denen früher die Klassenräume untergebracht waren, wurden erhalten, die Erschliessungszone wurde allerdings komplett entkernt, sodass in der Mitte des Gebäudes ein zweigeschossiges Foyer entstehen konnte. Dieses verbindet alle Nutzungsbereiche des Hauses: im Erdgeschoss Büros und Aufenthaltsräume, im 1.Obergeschoss Umkleideräume und einen kleinen Probenraum. Über dem bestehenden Mauerwerksbau wurde ein neuer, grosser Saal errichtet, der die gesamte Grundfläche des Altbaus einnimmt und das Foyer überspannt. Alle Erschliessungsflächen stehen direkt mit dem Foyer in Verbindung und können von den Tänzern genutzt
werden, aber auch von den Besuchern, wenn im Hause Aufführungen stattfinden. Nur die Eingangszone des grossen Saals ist vom Foyer getrennt.

Wie ein Laib Brot

Der grosse Saal selbst ist der spektakulärste Innenraum dieses Gebäudes. Wie ein Laib Brot, der aus einer Backform quillt, hebt sich das Dach aus der Umhüllung des alten Gebäudes. Die Dachhaut hebt und senkt sich in Streifen, dazwischen entsteht Raum für Oberlichter, durch die gefiltertes Tageslicht in den Saal fällt. Sarah Wigglesworth hat es damit geschafft, Bezüge nach draussen herzustellen, Wetter und Jahreszeiten erlebbar zu machen und dem Raum gleichzeitig die Ruhe und Abgeschlossenheit zu geben, die ein Tanzstudio braucht.

Das Potenzial einer Notlösung

Die Dachkonstruktion besteht aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Sie hat ihren Ursprung allerdings nicht im technischen Anspruch der Gebäudehülle oder in Anforderungen an das Tragwerk, sondern ist eine Notlösung. Ursprünglich sollte das Dach in Holz konstruiert werden, und zwar von Gordon Cowley, der auch für Alsop & Störmer das Dach der Peckham Library gebaut hat. Das erwies sich aber als zu teuer, und so wich man auf glasfaserverstärkten Kunststoff aus, aus dem beispielsweise auch Wohnwagen hergestellt werden. Das Material ist leicht und kann ohne den Einsatz von Spezialmaschinen bearbeitet und repariert werden. Risse oder Löcher werden einfach ausgeschnitten und mit neuem Material geschlossen. Ähnlich wie der Backstein des Altbaus, in den man ohne grossen technischen Aufwand und nach Bedarf Löcher schneiden kann, ist auch dieser Kunststoff ein sehr nachsichtiges Material.

In Schwingung versetzt

Die vertikale Erschliessung befindet sich nach dem Umbau in einem leichten Anbau auf der Rückseite des Hauses. Die Treppe ist an Flachstählen von der Decke abgehängt und schwingt mit den Schritten des Benutzers, wie überhaupt alle Böden als Schwingböden ausgeführt sind und den Besucher ständig spüren lassen, dass er sich in einem Haus befindet, das für Tänzer gebaut wurde. Um den Grundstücksstreifen für das Treppenhaus zu erwerben, waren noch einmal harte Verhandlungen nötig, da das Bestandsgebäude direkt an den Schulhof einer Grundschule stösst. Doch auch dies ist gelungen: Die Fläche des Schulhofs wurde um wenige Quadratmeter reduziert, und die transparente Fassade des neuen Treppenhauses ermöglicht einen viel intensiveren Austausch der beiden Welten, als es die bestehende Backsteinhaut jemals hätte tun können.

Alt und Neu verwoben, aber Brüche nicht geglättet

Bemerkenswert an dem Gebäude ist die Art und Weise, wie Sarah Wigglesworth mit dem Bestand umgegangen ist. Das neu geschaffene Foyer hat sie mit einer Fülle von Elementen ausgestattet. Gleich am Eingang wird man von einer leuchtend gelben, schräg gestellten Säule empfangen, der Blick fällt auf das angebaute Treppenhaus, die Brüstung im ersten Obergeschoss besteht zum Teil aus Drahtgeflecht, zum Teil ist sie wie ein Sofa mit weinrotem Kunstleder gepolstert. Die Eingangsfassade ist verglast und in einer einfachen Pfosten-Riegel-Kons-
truktion konstruiert. Ein grosses, mit Drahtgewebe bespanntes Schiebepaneel davor bietet bei Bedarf Sicht- und Blendschutz.
Das erscheint zunächst als sehr viel, unterstützt aber die Haltung, mit der die Architektin das Gebäude angefasst und gewissermassen umarmt hat. Entgegen der bekannten Strategie, Alt und Neu sorgfältig auseinanderzuhalten und sich gegenseitig ausstellen zu lassen, verwebt sie beides so miteinander, dass es zwar in seiner Eigenart erkennbar bleibt, aber nicht mehr voneinander zu trennen ist. Die Brüche, Benutzungsspuren und Wunden, die der Bestand mitgebracht hat, bleiben ebenso bestehen wie die Verletzungen, die er während des Umbaus hinnehmen musste. Abgebrochene Ecken, abgeplatzte Oberflächen, Farbreste, Maueransätze und abgebrochene Treppenstufen zeugen von der Unbekümmertheit und Ruppigkeit, mit der die vorherigen Nutzer, aber auch die Architektin dem alten Schulhaus begegnete.
Im Gegenzug wird es gleichsam neu eingekleidet, und zwar in einer Art, die fast schon liebevoll ist. Streifen von Putz, der nach einer traditionellen Rezeptur angefertigt und mit Ziegenhaaren versetzt ist, ziehen sich über den Altbau mit seinen Anbauten und verbinden beides miteinander. Dabei verdecken sie Stellen, an denen Abbruchkanten zu rau oder sogar gefährlich waren, und betonen sie dadurch gleichzeitig. Das Ziegenhaar wirkt dabei als Armierung, gibt den verputzten Oberflächen aber auch eine unerwartete haptische Qualität.

Respektvoll in der Respektlosigkeit

Auch das rückwärtig angebaute Treppenhaus ist in diesem Sinne zweideutig: Es läuft der alten Struktur zuwider, macht sie aber dadurch, dass man den Altbau bei jedem Geschosswechsel verlässt und wieder betritt, überhaupt erst nachvollziehbar. Dasselbe gilt für die vielen Elemente, die im Foyer aufeinandertreffen: Mit ihrer Respektlosigkeit vor dem Bestand ermutigen sie die heutigen Nutzer ebenfalls zu Respektlosigkeit, und so nutzen die Tänzer jede verfügbare Brüstung, um sich daran aufzuwärmen, jeden verfügbaren Absatz, um darauf zu sitzen, und jedes Stück Boden, um darauf in irgendeiner Form zu tanzen. Dieses Haus ist das Gegenteil von steril. Es ist auf eine sehr zupackende Art respektvoll.

TEC21, Fr., 2006.09.08



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