Editorial
Wenn die allseits geforderte Bauwende gelingen und der CO2-Verbauch der Branche merklich sinken soll, werden wir weniger Neubau und mehr Umbau brauchen. Doch wie steht die junge Generation von Architektinnen und Architekten zu den Themen Sanierung, Modernisierung und Transformation? Um diese Frage zu beantworten, widmen wir unsere aktuelle Sommer-Sonderausgabe dem Nachwuchs in der Architekturszene und beleuchten darin sein Engagement beim Bauen im Bestand. Im Hauptteil porträtieren wir sieben junge Planungsbüros mit je einem Umbauprojekt. | Christian Schönwetter
Neues Wohnen im alten Stall
(SUBTITLE) Casa Boscaia in Castasegna (CH)
Jung und motiviert bringen Alder Clavuot Nunzi frischen Wind ins Bergell. Zwischen atemberaubender Alpenlandschaft und historischer Bündner Bausubstanz verorten sich die meisten ihrer Eingriffe in der Transformation alter Häuser. 2021 fertiggestellt, dient ein ehemaliger Doppelstall in Castasegna heute dem Wohnen einer jungen Familie.
Matthias Alder, Silvana Clavuot und Alessandro Nunzi sind junge Architekt:innen, ausgebildet an der ETH Zürich und der Berner Fachhochschule. Sie engagieren sich für das Bauen abseits der bekannten Hotspots Zürich, Basel, Genf und tragen einen wichtigen Teil zur architektonischen Weitergestaltung ländlicher Strukturen bei. Direkt nach dem Studienabschluss gründeten sie 2013 das gemeinsame Architekturbüro in Soglio, einem kleinen Bergdorf im Bergell nahe der italienischen Grenze, das nicht umsonst zu einem der schönsten Dörfer der Schweiz gewählt wurde. Da Alessandro Nunzi dort aufgewachsen ist, ergaben sich von vornherein kleine Aufträge, mit denen sich das junge Büro ein Standbein bilden konnte. Nach nun 10 Jahren praktischer Tätigkeit lässt sich – neben den bekannten Stationen der Seilbahn Funivia Albigna (2016) – im Werkverzeichnis eine klare Tendenz erkennen: die für die Region typischen historischen Bauten umgestalten und weiternutzen. Eine Aufgabe, die Handwerklichkeit, Zurückhaltung und Durchhaltevermögen voraussetzt. Alder Clavuot Nunzi geht es als jungem Büro nicht darum, nach eigenen architektonischen Vorlieben Neubauten auf der grünen Wiese zu errichten, sondern Haltung im Umgang mit bestehender Substanz zu zeigen. Eine Auffassung, die sich vor allem auf dem starken Interesse am Handwerk und den dringenden Fragen nach einer nachhaltigen Entwicklung gründe, erklären die Architekt:innen.
Die Region Bergell im Schweizer Süd-Osten ist geprägt von den für den Kanton Graubünden typischen Wohnhäusern mit Steindächern, Ställen im hölzernen Strickbau und herrschaftlichen Palazzi. Es ist eine Region, die im Sommer über ihre Grenzen hinaus Tausende Touristen anzieht und im Winter in den Tiefschlaf fällt. In den kleinen Dorfstrukturen mit engen Gassen und vermoosten Dächern legt die Denkmalschutzbehörde besonderen Wert auf den Erhalt von Ortsbildern und Bausubstanz. Dass alte Strukturen geschützt werden müssen, sei unbestritten, aber eine Musealisierung des gegenwärtigen Zustands könne nicht die Lösung sein, so die jungen Planenden. Sie werden mit der Frage nach Umbau und Transformation vor Herausforderungen gestellt, mit denen sie im Studium an der ETH Zürich nur gering – wenn überhaupt – konfrontiert wurden. Das Bauen im Bestand sei damals noch kein großes Thema gewesen, erklärt Matthias Alder. Sie als Architekt:innen seien nach dem Abschluss ins kalte Wasser gesprungen und ihnen obliege nun die Aufgabe, die verschiedenen Pole – Denkmalschutz, Handwerk und Gestaltung – auszubalancieren.
Schichtung aus Alt und Neu
So auch beim Umbau eines Stalls, der dem für die Region typischen Konstruktionsprinzip folgt – gemauertes Sockelgeschoss im EG, ggf. Mauerpfeiler und Ausfachung mit vertikalen Holzbrettern im 1. OG und offener hölzerner Strickbau im 2. OG. Das Gebäude aus dem 17. Jahrhundert mit späterem Anbau haben Alder Clavuot Nunzi nun zu einem Wohnhaus, der Casa Boscaia, umgewandelt. Mit einer Nutzfläche von über 100 m² bietet dieses mit zwei Schlafzimmern, zwei Bädern, einem Gäste-/Arbeitsraum, einer offenen Wohnküche und einem Wohnzimmer sowie Eingangsbereich und Nebenräumen im gemauerten EG ausreichend Platz für eine Familie.
Einige Eingriffe von Alder Clavuot Nunzi lassen sich an der Fassade auf den ersten Blick klar ablesen. Neu hinzugefügte Öffnungen setzen sich in der Farbigkeit des frischen Fichtenholzes vom Bestand ab. Das wird besonders an dem langen Balkon im 2. OG an der Südfassade und an neuen Tür- und Fensteröffnungen deutlich. Bis auf einen weiteren Balkon aus Beton im 1. OG blieb die restliche Fassade allerdings im Großen und Ganzen unverändert. Um trotzdem Tageslicht ins Innere zu lassen, wurden im 1. OG einzelne vertikale Bretter der Ausfachung entfernt. Auf den zweiten Blick sieht man nun, dass sich hinter der alten Hülle eine eigene, neue Fassade verbirgt. Eine gestalterische Entscheidung, die aus den Anforderungen der neuen Nutzung und dem bestmöglichen Erhalt der ursprünglichen Erscheinung resultiert. Bei einem anderen Umbauprojekt, das sich im Nachbardorf noch im Bau befindet, treiben die Architekt:innen dieses Prinzip weiter, indem sie einen circa 30 cm breiten Abstand als großzügige Hinterlüftung zwischen altem Stall als Hülle und neuem Wohnkern lassen.
Dämmen mit Maß und Ziel
Die Wohnräume im 1. und 2. OG der Casa Boscaia, innen in Fichtenholz bekleidet oder an den Bestandsmauerpfeilern mit Dämmputz verputzt und mit neuem Estrichboden versehen, haben eine gemütliche Atmosphäre und entsprechen modernen Anforderungen. Für Stauraum ist ebenfalls durch schlichte Einbaumöbel aus Holz gesorgt. Auf den beiden oberen Geschossen wurde gedämmt, wohingegen das gemauerte EG mit Nebenräumen als Kaltraum erhalten blieb. Eine bewusste Entscheidung, das Haus weiterhin »atmen« zu lassen und, soweit vorhanden, im Erdreich zu belassen.
Schließlich müsse ein altes Gebäude nicht den Anforderungen eines Neubaus entsprechen und stattdessen vielmehr den Charakter des Bestands weitertragen, so Matthias Alder.
Besonders eindrucksvoll ist die durch die starke Hanglage auf allen drei Ebenen vorhandene Beziehung zum Außenraum. Im 1. OG bildet eine große Dachterrasse auf dem Anbau eine Erweiterung der Wohnküche und im 2. OG wurde ein Ausgang nach Norden ergänzt, der zum grünen Garten führt. Von hier aus hat man einen imposanten Blick auf das Dach, das in regionaltypischer Weise mit Steinplatten gedeckt ist. Davon sind 1/3 Bestand und 2/3 mussten neu hinzugefügt werden. Ein facettenreiches Farbenspiel aus Alt und Neu – aus unterschiedlich grau-braun und silbrig schimmernden Steinplatten – erstreckt sich über das ganze Dach.
Von der Casa Boscaia, die sich am Ortsrand Castasegnas befindet, eröffnen sich weite Ausblicke auf die gegenüberliegende Alpenlandschaft. Enge Nischen und Gassen des Dorfes in direkter Umgebung machen die kontrastreichen Eigenschaften des Grundstücks aus. Diese spiegeln sich auch im Haus wider, das von zurückgezogenen und offenen Bereichen mit Durch- und Ausblicken geprägt ist. Der Umbau der Casa Boscaia ist ein über die Grenzen des Bergell hinaus wichtiges Projekt: Es stärkt die ländliche Region, die allzu sehr vom Tourismus geprägt ist, und bringt bis dato unbenutzte, historische Baustrukturen mit Perspektive in die Zukunft.db, Di., 2023.08.01
01. August 2023 Nele Rickmann
Die 60er Jahre weitergestrickt
(SUBTITLE) Wohnungsumbau in London (GB)
»Lubetkin Apartment« nennt das STUDIO NAAMA seinen Umbau einer Wohnung in einem Hochhaus von Berthold Lubetkin. Ist dieser Name gerechtfertigt? Tatsächlich greift die Neugestaltung zahlreiche Merkmale des Bestands auf und entwickelt sie subtil weiter.
Das Projekt für den Umbau einer Dreiraumwohnung in Sivill House war bereits in Planung, als das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt wurde. Mitte der 60er Jahre hatten prominente Architekten der englischen Vor- und Nachkriegsmoderne, Skinner, Bailey und Lubetkin, das Hochhaus als sozialen Wohnungsbau in Ostlondons trendiger Columbia Road errichtet; nun stand dem eleganten, 20-geschossigen Wohnturm eine plumpe Modernisierung mit doppelt verglasten Kunststofffenstern bevor, deren Gestaltung deutlich vom Original abwich. Dies rief die Twentieth Century Society and architekturverliebte Nachbarn auf den Plan, die für einen Eintrag in die Denkmalliste plädierten. Historic England und die Zentralregierung stimmten zu und Sivill House wurde 2020 auf der niedrigsten Denkmalstufe, Grade II, in die Liste eingetragen. Die Wohnungen selbst sind davon nicht betroffen und können im Innern prinzipiell ohne denkmalrechtliche Genehmigung verändert werden. Dennoch reichten die Architekt:innen Natalie Savva und Mark Rist von Studio NAAMA einen Bauantrag ein, v. a. um ihre Bauherren abzusichern, denn ein Bruch des Denkmalgesetztes ist in England strafbar.
Mehr Licht, mehr Durchblick, mehr Stauraum
Die Wohnung liegt im 12. OG des Hochhauses. Aufgrund des ungewöhnlichen Gebäudegrundrisses mit zwei Flügeln, die durch einen zentralen runden Treppenturm verbunden und in vier Einheiten pro Geschoss aufgeteilt sind, bietet sie Ausblick nach drei Seiten. Trotz der dadurch möglichen Helligkeit waren die Räume nicht gerade lichtdurchflutet, zudem wirkte die Dreizimmerwohnung auf insgesamt 65 m² eher kompakt. Die jungen Architekt:innen entfernten daher eine Reihe nichttragender Wände zugunsten von möbelartigen Einbauelementen, die mehr Stauraum, Durchblick und Lichteinfall ermöglichen. Die Wand zwischen dem Wohnzimmer und größerem Schlafzimmer wurde durch ein Regal inklusive einer mehrteiligen Schiebetür ersetzt. Die Wand zwischen Hauptschlafzimmer und Flur machte in ähnlicher Weise Platz für ein Regal. Das kleinere Schlafzimmer avancierte zum Mehrzweckraum: An der Wand befindet sich ein ausklappbares Bett, das in neu entworfenen Einbauschränken verschwindet, wenn das Zimmer als Büro oder Fahrrad-Trainingsraum benutzt wird. Einen ursprünglich kleinen Einbauschrank im Flur ließ STUDIO NAAMA vergrößern, um darin die Bikes der fahrradbegeisterten Bauherren verstauen zu können. Die spartanisch ausgestattete Küche wiederum wurde von einem geschlossenen Element vor dem beinahe bodentiefen Fenster befreit und mit einer minimierten Spüle versehen, um möglichst wenig Ausblick und Licht zu verlieren – eine neue frei stehende Frühstücksbar bietet gleichzeitig einen Essplatz. Der Flur schließlich erhielt ein frei stehendes Garderobenmöbel mit einer verspiegelten Seitenfläche, um den kleinen Raum optisch zu vergrößern, und einer Rückwand aus transluzentem Polycarbonat, um Licht zu streuen.
Der Bestand als Leitschnur
Ein Ziel des Umbaus war es, die Materialität des 60er-Jahre-Hochhauses aufzugreifen. Die Wohnung selbst hatte keine erhaltenswerten originalen Elemente, aber die spektakuläre Haupttreppe im Zentrum des Gebäudes und der Fußbodenbelag im Gemeinschaftsflur dienten als Inspiration für neue Materialien in der Wohnung: So erhielt die Küche einen grünen Terrazzoboden, der dem im Aufzugsflur ähnelt, und viele der Einbauelemente, etwa die Frühstücksbar und Garderobe, sind aus gebogenen Metallrahmen konstruiert, die an das Treppengeländer von Skinner, Bailey und Lubetkin erinnern. In Anlehnung an andere Interieurs der 60er Jahre bestehen die Einbaumöbel aus dem preiswerten Material Sperrholz. Alle Türen wurden gegen moderne Exemplare mit Holzrahmen und Glasfüllung ausgetauscht, da die vorherigen Bewohner pseudoviktorianische Modelle eingebaut hatten.
Trotz dieser zahlreichen Veränderungen war es den Architekt:innen wichtig, den Originalbau nicht komplett unter neuen Elementen verschwinden zu lassen. Betonunterzüge etwa wurden freigelegt und sichtbar belassen und unterbrechen die hölzerne Wandpaneelierung – auch dies eine Referenz an die Gestaltung der Gemeinschaftsflächen des Gebäudes, verleiht doch eine Betonstruktur dem Haupteingang im EG besonderen Charakter.
Handwerklich, preiswert, nachhaltig
Das Rastermaß aller Einbauten war durch den Bestand vorgegeben: Der Aufzug, dessen Benutzung für einen Umbau im 12. OG unabdingbar war, ist klein; er erlaubte nur den Transport schmaler und flach verpackter Elemente und diktierte somit einen Rhythmus von 600 mm breiten Bekleidungen und anderen Einbauten. Sie wurden vom Bauunternehmer montiert, der das kleinere Schlafzimmer während des Umbaus zur Werkstatt umfunktionierte . Diese handgefertigte Herangehensweise liegt Mark Rist und Natalie Savva am Herzen: Besonders sie entwirft viel Ausstellungsdesign und Bühnenbilder, oft für kleine Budgets, die eine volle Konzentration auf das Essenzielle und Wirkungskräftigste im Entwurf verlangen, manchmal mit den alltäglichsten Materialien. Bei der Neugestaltung der Wohnung setzten die beiden u. a. auf einfache Metallrohre, die in abgesägter Form als Griffmuscheln der Einbauschränke dienen und die Verwendung teurer Beschläge überflüssig machten.
Eines der wichtigsten Kriterien der Bauherren für den Umbau war eine nachhaltige Energieversorgung. Die bestehende Erdgasleitung wurde daher gekappt. Die naheliegende Installation einer Luftwärmepumpe als Ersatz kam nicht infrage, da der Balkon der Wohnung, der einzige zugängliche Außenraum, außen verglast ist und eine sichtbare Pumpe nicht den Denkmalkriterien entsprochen hätte. Stattdessen baute man in die Küche einen 210 l fassenden Wärmespeicher ein, der sich nachts über Ökostrom auflädt und tagsüber die Wohnung sowohl mit Warmwasser versorgt als auch die Heizung bedient.
Sind solche Aspekte nachhaltigen Bauens etwas, das den Architekt:innen schon an der Universität vermittelt wurde? Beide erzählen, dass dieses Themenfeld während ihres eigenen Studiums vor wenigen Jahren noch eine geringe Rolle spielte, doch dass die Lehre sich seither rapide verändert habe. Heute unterrichten beide an der Oxford Brookes Universität und die Ausbildung sei inzwischen klar auf Nachhaltigkeit als einen der wichtigsten Aspekte des Entwerfens und Bauens orientiert. Für Mark Rist ist gerade in diesem Bereich, der sich sehr dynamisch entwickelt, das Prinzip des lebenslangen Lernens von größter Bedeutung.db, Di., 2023.08.01
01. August 2023 Christian Schönwetter, Cordula Zeidler