Editorial

Das Zentrum historischer europäischer Städte ist traditionell der Ort weltlicher und religiöser Macht ebenso wie der großen Kultur- und Bildungseinrichtungen. Ein starkes Bevölkerungswachstum im Zuge der Industrialisierung und die Eingemeindung von Vororten führte, die Grenzen der mittelalterlichen Stadt sprengend, im 19. und 20. Jahrhundert zu einer starken, oft konzentrischen räumlichen Ausdehnung. Leistungsstarke öffentliche Verkehrsmittel und speziell die Verbreitung des Autos erlaubten es, die Funktionen in der Stadt zu trennen und zu bündeln, was zur Folge hatte, dass immer längere Strecken zu überwinden waren, um zur Arbeit, zu Orten für Freizeit, zu Geschäften zu kommen. Die Gegenbewegung war die Stadt der kurzen Wege, die heute als 15-Minuten-Stadt in neuer Form Schlagzeilen macht und auf polyzentralen Strukturen basiert. Sie soll es möglich machen, viele alltägliche Wege zu Fuß, mit dem Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln in kurzer Zeit zu erreichen und damit den motorisierten Individualverkehr eindämmen. Dadurch sinkt der CO2-Ausstoß, wird Straßenraum frei und kann vielfältiger genutzt werden. Lärm und schlechte Luft werden reduziert, es entsteht Platz für mehr Grün, wodurch Hitzeinseln verschwinden.

Der Einwand, dass es weiterhin viele Menschen geben wird, die nicht ums Eck arbeiten, sondern sich mehr als 15 Minuten durch die Stadt bewegen werden müssen, stimmt natürlich ebenso wie die Gefahr einer ›green gentrification‹ besteht, weil in attraktiven Gegenden höhere Mieten verlangt werden können. Eine mögliche Verdörflichung der Stadt fassen zumindest wir bei dérive auch eher als eine Bedrohung denn als einen Grund zur Freude auf.

Ansätze wie in Barcelona und Valencia, wo versucht wird, mit sehr einfachen Mitteln in kurzer Zeit viele Superblocks und Plätze zu transformieren, um über die ganze Stadt verteilt Verbesserungen zu schaffen, ist auch ein Versuch, einerseits Gentrifizierung zu verhindern und andererseits durch das Überangebot keine neuen singulären touristischen Attrak­tionen zu schaffen. Ob das gelingen kann, wird sich zeigen. Ohne starkes Mietrecht und regulatorische Eingriffe in den Boden- und Immobilienmarkt wird es wohl eher nicht funktionieren.

In der vorliegenden Ausgabe von dérive werfen wir einen kritischen Blick auf die breit diskutierten Projekte in Barcelona und Paris. Wir veröffentlichen Simon de Boecks ausführlichen Beitrag Barcelonas Superblocks und die Rückgewinnung des öffentlichen Raums, für den er sich die Konzepte und die ersten Umsetzungen in Barcelona auch im Vergleich zur Pariser 15-Minuten-Stadt detailliert angesehen hat.

Um bauliche Transformationsprozesse im Geiste einer sozial- und klimagerechten Stadtentwicklung geht es auch in einem Artikel von Katharina Kirsch-Soriano da Silva über ein Wiener Nachverdichtungsbeispiel, in dem sie die unmittelbaren Veränderungen für die alltäglichen Lebenswelten von länger ansässigen Bewohner:innen in den Fokus nimmt, die solchen Eingriffen oft kritisch gegenüberstehen.

Das Potenzial von polyzentralen Strukturen im Zusammenhang mit Bildungs- und Kulturzentren erkundet ein Text über gemeinschaftsorientierte Bildungsnahversorgung nach 1945 in Wien, den Carina Sacher und Lukas Vejnik verfasst haben.

Selbstverständlich betrachtet die aktuelle Ausgabe von dérive das Konzept der Polyzentralität auch historisch und beleuchtet den unmittelbaren, aktuellen Diskurs dazu. Andre Krammer hat sich dieser Aufgabe angenommen und eine
kritische Evaluation des Leitbilds Polyzentralität geschrieben.

Der Magazinteil bringt einen Beitrag über zwei typische Schweizer Großwohnsiedlungen der 1950er bis 1970er Jahre in Bern bzw. Aarau. Eveline Althaus und Leonie Pock haben diese im Rahmen eines Forschungsprojekts am ETH Wohnforum untersucht und gehen in ihrem Beitrag für dérive »am Beispiel der Erneuerungsprozesse von Spielplätzen auf Veränderungen und Kontinuitäten von den Planungskonzepten bis heute ein«.

Tino Buchholz, Post-doc am Städtebau-Institut der Universität Stuttgart, steuert einen Beitrag über das Format der Internationalen Bauausstellung IBA sowie seine Mängel und Mög­lichkeiten zwischen Baukultur und Technoplanung bei.
Im Besonderen geht es ihm dabei um »ein konflikthaftes Verständnis sozialer Raumproduktion entlang nicht endender Kämpfe um sozialräumliche Anerkennung«.

Die Interviewgäste in der dérive-Serie zu Kunst im öffentlichen Raum bzw. öffentlicher Kunst sind diesmal Anna Schäffler, Jochen Becker und Simon Sheikh, die als Projektgruppe Situation Berlin Teil der Initiative Urbane Praxis sind. Anliegen ist ihnen, nicht die »klassische Vorstellung von Kunst im öffentlichen Raum zu propagieren«, sondern ein operieren »an der Schnittstelle zur Stadtpolitik und aktivistischer Praxis«.

Das Kunstinsert stammt diesmal von der wohl bekanntesten tschechischen Performance-Gruppe ZTOHOVEN rund um die Künstler:innen Roman Týc, Tomáš Jasný and Matej Hajek, die für uns eine rote Unterhose über der Prager Burg wehen lassen.

Wenn diese Ausgabe erscheint, steht das 13. urbanize!-Festival vor der Tür. Mit Around the Corner: Polyzentrale Stadt-Strukturen für die ökosoziale Transformation lädt es ein, gemeinsam die Gegenwart und Zukunft der Stadt zu entwerfen. Wir freuen uns, euch zu sehen!

Christoph Laimer

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt
04—09
Das Leitbild der Polyzentralität
Eine kritische Evaluation
Andre Krammer

10—15
Zentren geistiger Stadterweiterung
Gemeinschaftsorientierte Bildungsnahversorgung nach 1945
Carina Sacher, Lukas Vejnik

16—25
Barcelonas Superblocks und die Rückgewinnung des öffentlichen Raums
Simon de Boeck

26—36
Transformationsprozesse in der wachsenden Stadt – zwischen Chancen und Widerständen
Katharina Kirsch-Soriano da Silva

Kunstinsert
32—36
Out of Shit!
ZTOHOVEN

Magazin
37—42
Geteilte Räume im Wandel – am Beispiel von Begegnungs- und Spielorten in Großwohnsiedlungen
Eveline Althaus, Leonie Pock

43—48
Technoplanung und die Internationale Bauausstellung in der kritischen Phase der Urbanisierung: Was kann IBA?
Tino Buchholz

49—54
»Die Spirale muss nach oben gehen«
Ein Interview mit Mitgliedern der Berliner Initiative Urbane Praxis
Ursula Maria Probst, Anna Schäffler, Jochen Becker und Simon Sheikh

Besprechungen
55—60
Unter Sternen – Manifesta 14 S.55
Wie Phönix aus der Asche, Stadtentwicklung in Moravia, Medellín S.56
Wie die documenta fifteen neue Formen von Kunst und Zusammenleben eröffnet S.57
Die Stadt im Outdoor-Tanzfieber S.59

68
Impressum

Das Leitbild der Polyzentralität. Eine kritische Evaluation

Die polyzentrale Stadt ist eines der Leitbilder – wie etwa auch jenes der Smart City –, das in den letzten Jahrzehnten auf Konferenzen und in Publikationen Karriere machte und seine Spuren in Stadtentwicklungsplänen vieler Städte hinterlassen hat. Primär handelt es sich um ein Modell, das ökonomisch auf Standortfragen ausgerichtet ist, aber in dessen Rahmen auch potentiell positive soziale Effekte verhandelt werden. Bereits in den 1960er Jahren starteten in europäischen Großstädten Versuche, der alten gewachsenen Stadt eine neue City gegenüberzustellen. Meist handelte es sich dabei um Büroviertel mit Zusatzfunktionen. La Defense in Paris kam eine (zweifelhafte) Vorbildwirkung zu. Wien zog mit der Wiener Donaucity Mitte der 1990er Jahre verspätet nach. Auch in Wien wird die Sinnhaftigkeit dieser zweiten City immer wieder in Frage gestellt, hat diese doch nie ganz das Image der Künstlichkeit und Retortenhaftigkeit ablegen können. Das Zweit-Zentrum schien vielerorts bald in einer allzu groben Dialektik festgefahren. Die polyzentrische Stadt ist auch der Versuch, eine stärker plurale und dynamische Entwicklung in den Blick zu nehmen.

Gegenwärtig wird das Konzept der Polyzentralität auf unterschiedliche Maßstäbe angewandt – auf Metropolregionen, die mehrere Städte umfassen, auf Städte und ihr Umland oder auf das engere Stadtgebiet. Dabei geht es immer um ein komplementäres Zusammenwirken einer gegebenen Anzahl zentraler Orte. Durch Kooperationen sollen nicht nur wirtschaftliche und soziale Synergien erzielt werden, von denen man sich in der globalen Konkurrenz Standortvorteile erhofft, sondern auch drängende Probleme – wie aktuell etwa Mobilitäts- und Klimafragen – die durch Zusammenarbeit der maßgeblichen Akteur:innen großräumlich verhandelt und gelöst werden können.

Vorbild Randstad

Seit den 1960er Jahren gilt die niederländische Städte­region Randstad als die archetypische polyzentrische Metropolis. Sie umfasst heute ca. 7.000 km² und zählt rund sieben Millionen Einwohner:innen. Im Verbund übernehmen die einzelnen Städte spezielle Aufgaben. Amsterdam etwa hat seinen Schwerpunkt im Bereich Wirtschaft und Finanzen, Den Haag in den Feldern Regierung und Verwaltung bzw. Internationale Gerichtsbarkeit, in Rotterdam sind der Hafen und die Logistik im Zentrum und Utrecht ist für Forschung und Entwicklung zuständig (Nadin, Zonneveld 2022). Befürworter:innen des Randstad-Verbunds heben die Komplementarität der maßgeblichen Städte hervor, die eine Effektivitätssteigerung mit sich bringe und Doppelgleisigkeiten vermeide. Kritiker:innen verweisen auf die geringe Alltagsmobilität zwischen den Kernzonen. Zef Hemel von der Amsterdamer Stadtplanung spricht in diesem Zusammenhang gar von einem »Mythos Randstad« (ebd.). Ähnliche Diskussionen begleiten auch andere Agglomerationen wie etwa das Deutsche Ruhrgebiet. In der polyzentral ausgerichteten Randstad, für die es einen übergeordneten Raumplan und ein einheitliches Fördersystem gibt, geht die Kooperation über Fragen der wirtschaftlichen Prosperität und der Siedlungsentwicklung hinaus. Auch wird zumindest versucht, Maßnahmen gegen den Klimawandel weitgehend abzustimmen, den Kampf gegen das Hochwasser zu koordinieren und die soziale Durchlässigkeit und Mobilität zu erhöhen.

Multizentrale Konzepte der Stadtplanung

Schon das rasante Städtewachstum im Rahmen der Industrialisierung ließ monozentrale Stadtstrukturen auf Grund der oft enormen Distanz zwischen der Kernstadt und ihren flächenmäßig explodierenden Randzonen zunehmend als defizitär erscheinen. Das radikalste Gegenmodell war die Gartenstadt, deren Konzept Ebenezer Howard 1902 vorstellte. 
Eine zentrale Gartenstadt wird ab einer festgelegten Wachstumsgrenze durch Töchterstädte ergänzt, die mit der Mutterstadt in einer symbiotischen Beziehung stehen. Die Bevölkerungszahl, die territoriale Ausdehnung und das Verhältnis privater wie öffentlicher Räume ist hier mathematisch kalkuliert und kalibriert. Die landwirtschaftlich genutzten Flächen, die zur Versorgung der Garden Cities of Tomorrow gebraucht werden, sind sichergestellt. Die Reform existierender Städte, die nach Vorbild des Gartenstadtmodells reformiert werden sollten, war ein komplexes Verfahren. Oft sind nur Tochter- und Satellitenstädte von der Utopie übriggeblieben. Die Konzeption des Stadtarchipels von Oswald Maria Ungers und Rem Koolhaas von 1977 (Hertwek & Marot 2013) imaginierte Berlin als shrinking city, in der die Natur sich die Stadt rückerobert und nur eine Sammlung urbaner Fragmente zurücklässt, die in eine neuartige Interaktion treten sollen.

Mit der Netzstadt propagierten Peter Baccini und Franz Oswald (Baccini & Oswald 1999) eine Analyse und Planung netzförmiger urbaner Systeme, die sich nicht mehr hierarchisch in Zentrum und Peripherie gliedern lassen, sondern komplexe Gebilde darstellen, ähnlich Ökosystemen (ebd., S. 48). Eine einfache wie bestechende Vision stellt Yona Friedmans Continent City Europa dar. Darin verbindet ein Netzwerk aus Schnellzügen – ein Interrailsystem – alle europäischen Haupt- und Großstädte zu einer kontinentalen Metropolregion.

Aktueller Diskurs

Im aktuellen Diskurs zur polyzentralen Raumentwicklung dominieren heute noch immer wirtschaftliche Gesichtspunkte (Wertschöpfung) und Ansätze einer effizienten Verteilung von Versorgungseinrichtungen und sozialer Infrastruktur. Welche Vorteile bietet die polyzentrale Stadt bzw. Stadtregion aber ihren Bewohner:innen? Wird das »multioptionale« Angebot von Arbeitsplätzen, Wohnorten und Freizeitangeboten genutzt (vgl. Kühl, Wörmer 2012) oder bleibt die gewünschte Mobilität und soziale Durchlässigkeit eingeschränkt? Urbanität und eine Steigerung der Lebensqualität wird immer wieder als Nebeneffekt und Zielsetzung einer funktionalen Verdichtung an einzelnen Standorten beschworen. Die Verwaltungsfrage wird breit diskutiert – so wird etwa die räumlich gefasste, stark institutionalisierte Region einem vergleichsweise losen Patchwork, in dem inhalts- und akteursbezogen kooperiert wird, gegenübergestellt (Growe et al. 2012). Polyzentrale Regionen können sich durch Kooperationen einzelner Akteur:innen, durch konkrete administrativ zusammengeschlossene Territorien konstituieren.

Auch die Hoffnung nach mehr Demokratie und Beteiligung wird mit der Polycentric City in Verbindung gebracht (King 2004). Eine Vermeidung von zentralisierten Entscheidungsstrukturen soll die lokale Kompetenz erhöhen und eine plural verwaltete Stadtlandschaft generieren. Liberale Verfechter:innen einer dezentralen Verwaltung sehen hier eine Fragmentierung der Entscheidungsstrukturen als Chance und setzen auf erhöhte soziale Mobilität (Aufstiegschancen) und Wahlfreiheit in Bezug auf Wohnort und Arbeitsstelle, während Vertreter:innen des Kommunitarismus geteilte Werte und Präferenz in den Vordergrund stellen (ebd.). Gesichert ist, dass heute die regionale Maßstabsebene vielerorts erhöhte ökonomische Bedeutung erlangt hat (ebd.).

Polyzentrales Territorium oder polyzentrales Netzwerk?

In Bezug auf die polyzentrische Region Ruhr in Nordrhein-Westfalen – die viele künftig zur Ruhrstadt bzw. zur 
Metropole Ruhr ausgebaut sehen wollen – wurde auf die bisherige Dominanz einer netzwerkartigen, auf die Kernzonen der beteiligten Städte fokussierte Kooperation verwiesen, unter Vernachlässigung der dazwischen liegenden, suburban geprägten Zonen (Growe et al. 2012). Das Ruhrgebiet wird von manchen eher als Agglomerationsraum mehrerer Städte beschrieben, der noch kein gemeinsamer Handlungsraum ist (ebd.). Temporäre Veranstaltungen wie die RUHR.2010 – Kulturhauptstadt Europas waren auch Versuche, eine verstärkte Kooperation anzustoßen.

Das polyzentrale System tendiert mancherorts zur Betonung der Zentren und zur Ausblendung der Zwischenzonen. Mit dem Schnellzug TGV kann man vom französischen Lille das Zentrum Londons in rund 80 Minuten erreichen. Zentren wachsen zusammen, die dazwischenliegende (Stadt-)Landschaft rückt in die Ferne, wird zum vom Zugfenster gerahmten Bild, wenn nicht gar Zerrbild.

Wien und die Bürde der Monozentralität

Wien war lange stadtstrukturell und funktional auf die ›Innere Stadt‹ ausgerichtet. Die ringförmig konzentrisch ausgerichteten Stadterweiterungen im 19. Jahrhundert, mit ins Zentrum zielenden Radialstraßen, die stark ausgeprägte Raumhierarchie in der feudalistisch geprägten Stadt – Hofburg und Kirche im Zentrum, Palais des Hochadels im Anschluss, Arbeiterviertel in der Vorstadt – haben eine Monozentralität verfestigt, die bis ins republikanische Zeitalter, wenn auch unter anderen Vorzeichen in ihren Grundzügen erhalten geblieben ist. Berlin etwa weist aus den bekannten zeitgeschichtlichen Gründen ein Doppelzentrum auf (Ost, West), das als Chance begriffen wird und ist in seiner Flächenausdehnung – die zweifache von Wien – eher dafür prädestiniert, ein System emanzipierter Nebenzentren auszubilden. In Wien gab es in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Versuche, Subzentren abseits der auf wirtschaftlicher, administrativer und kultureller Ebene so dominanten City zu etablieren. Stadtplaner Ronald Rainer propagierte bereits in seinem Planungskonzept für Wien 1962 eine polyzentrische Stadterweiterung. In Kagran, Liesing, Favoriten und in den Gebieten links der Donau sollten neue Zentren entstehen. Punkt 4 seiner 11 Grundsätze einer zukünftigen Stadtentwicklung Wiens befasst sich mit der Bildung neuer städtischer Zentren. In späteren Stadtentwicklungsplänen (STEPs) sollte dieser Aspekt aufgegriffen und weitergeführt werden. Der STEP 85 sah an Schnittstellen der wesent­lichen radialen Achsen, die durch öffentliche Verkehrsmittel – vorzugsweise die U-Bahn – geprägt waren, eine Reihe von neuen bzw. ›aufzuwertenden‹ Zentren vor. In den 1990er und 2000er Jahren wurde viel über neue urbane Zentren bzw. Town-in-Town-Konzepte diskutiert, die Zonen in den Blick nahmen, die sich durch eine Integration von Arbeitsplätzen, Wohnen, Versorgungseinrichtungen und Freizeitangeboten auszeichnen sollten und an das öffentliche Verkehrsnetz 
angeschlossen sind.

Wien polyzentral

In jüngster Zeit ist eine verstärkte Zuwendung zu einem polyzentralen Leitbild in Wien zu verzeichnen. Die Wiener Stadtplanung publizierte die Studie Wien polyzentral. Forschungsstudie zur Zentren-Entwicklung Wiens (2016) und das dem STEP 2025 beigestellte Fachkonzept Mittelpunkte des städtischen Lebens. Polyzentrales Wien (2020). Auch im übergeordneten Stadtentwicklungsplan 2025 wird die Erweiterung von City-Bereichen (Zonen mit hochrangigen Büro- und Verwaltungsfunktionen, Universitäten, Handel, Kultur, Einkaufs- und Freizeitzone) in Bereiche einer Reihe zukünftig auszubauender Hauptzentren thematisiert und (vage) verortet sowie ein System von Stadtteilzentren und Subzentren – zum Teil basierend auf den alten Ortskernen der Vorstädte – skizziert. Die Zentren sollen sich durch Multifunktionalität und Vielfalt auszeichnen (STEP 2025, S. 61). Versorgungs- und Konsumangebote, Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten sollen idealerweise kombiniert werden (ebd., S. 60). Es wird auf die Immobilienprojekte verwiesen, die zur Attraktivierung des Stadtlebens beitragen sollen (ebd., S. 61). Wie eine übergeordnete Wertabschöpfung der ›unternehmerischen Stadt‹ der Allgemeinheit konkret zugutekommen kann, bleibt unklar.

Wien wird zudem in einer Metropolregion zwischen St. Pölten, Brünn, Bratislava, Györ und Wiener Neustadt (CENTROPE) verortet (ebd., S. 69). Damit werden allgemein »Wachstumschancen« verbunden (ebd.). Im aktuellen Fachkonzept Mittelpunkte des städtischen Lebens. Polyzentrales Wien wird die Schaffung und Stärkung zentraler Orte mit Fragen des Wirtschaftsstandorts, der Lebensqualität und dem Image der Stadt verbunden (Fachkonzept, S. 10). Wien soll als Standort für internationale Unternehmen und als Tourismusstadt gestärkt werden. Auffallend ist die Fixierung auf die Bereiche Handel und Versorgung, auch wenn immer wieder darüber hinausgehende soziale Aspekte wie der »freie Zugang & sozialer Raum für unterschiedliche NutzerInnengruppen« (ebd., S. 18) angesprochen werden. Der Suburbanisierungsprozess und die damit einhergehende Tendenz zum autozentrierten Einzelhandelszentrum sollen durch die Stärkung der Stadt- und Ortskerne konterkariert werden (ebd., S. 17). Es werden Ausschlusszonen für neue Einkaufszentren »auf der grünen Wiese« definiert (ebd., S. 83).

Wie sieht es aber mit den Mehrwerten einer gestärkten polyzentralen Struktur für eine emanzipierte, selbstbestimmte Stadtgesellschaft aus? Da bleibt das Fachkonzept vage und erinnert an eine Werbebroschüre, etwa wenn darauf verwiesen wird, dass »Initiativen zur Mitgestaltung des Grätzels zunehmen« (ebd., S. 23). Das Räumliche Leitbild – Polyzentrale Raumstruktur unterscheidet Metropolzentren (Innere Stadt, Mariahilfer Straße), von Hauptzentren (wie etwa die Wiedner Hauptstraße, das Zentrum Kagran, das Zentrum Floridsdorf), Quartierszentren bzw. zentralen Bereichen und neu im Entstehen begriffenen »Neuen Quartierszentren«. Der Seestadt Aspern als ausgewiesenes »Neues Hauptzentrum« kommt besondere Bedeutung zu. Die Konzeption der Seestadt – derzeit Europas größtes zusammenhängendes Stadtentwicklungsgebiet – als ›Stadt in der Stadt‹, wie sie auch im vorliegenden Fachkonzept beschrieben wird, setzt auf Urbanität in peripherer Lage. Die Distanz zur City wurde durch den U-Bahnanschluss reduziert (ca. 30 Minuten), aber die angestrebte Rolle als neues Zentrum für die Donaustadt und darüber hinaus wird die innerstädtische Satellitenstadt (ein Paradox) erst finden müssen.

Noch immer wird die Donau von vielen Wiener:innen als Barriere wahrgenommen, die ein Cis- von einem Transdanubien trennt. Die zahlreichen Zentren, Citys und Städte im Gebiet links der Donau geben ein urbanes Versprechen, das nur schwer einzulösen ist: Die Donau City, das Zentrum Donaustadt, die Frauen-Werk-Stadt, die Compact City, die Siemens City, nicht zuletzt die Seestadt Aspern markieren so mehr eine Distanz zur Inneren Stadt als dass sie eine Autonomie glaubhaft machen können.

Zentralität anders betrachtet

Zentralität wird in polyzentralen Konzepten – auch in Wien – primär wirtschaftlich und auf den Versorgungsaspekt (Handel, Dienstleistung, soziale Infrastruktur) fokussiert verstanden. Soziale Aspekte werden tendenziell als Nebeneffekte ins Treffen geführt. Oft ist da sehr vage von ›Urbanität‹ die Rede, die mit ›Zentralität‹ verbunden sei. Interessanterweise handelt es sich dabei um zwei Begriffe, die eine wichtige Rolle in der Tradition eines kritischen Urbanismus einnehmen, 
der auf den französischen Sozialtheoretiker Henri Lefebvre (1901–1991) zurückgeht. Lefebvre geht in seinem Werk von einer Kritik von allen Formen der Herrschaft im marktförmig strukturierten System aus und verbindet die Hoffnung auf eine selbstbestimmtere Gesellschaft insbesondere mit einer schrittweisen Revolution einer sich urbanisierenden Alltagskultur. ›Urbanität‹ im Sinne Lefebvres ist eine zukünftige Gesellschaft im Werden, die sich dadurch auszeichnet, dass differente Elemente der Gesellschaft zusammengeführt werden und miteinander in Austausch treten. Auf diese Weise soll der ›abstrakte Raum‹, der technokratisch von oben verwaltet wird, durch einen ›differentiellen Raum‹ abgelöst werden. Auch wenn Urbanität so verstanden theoretisch überall entstehen kann, kommt städtischer Zentralität, die sich oft durch soziale Dichte und das Nebeneinander von Gegensätzen auf engem Raum auszeichnet, eine besondere Bedeutung zu (vgl. Ronneberger 2015). Diese Zentralität, die auf soziales Leben und soziales Ausverhandeln von Differenzen und Konflikten ausgerichtet ist, unterscheidet sich grundlegend vom zentralen Kommerzraum der innerstädtischen City, die das Ergebnis einer zentral gelenkten Konsumgesellschaft ist (Vogelpohl 2011, Ronneberger 2012). Doch sind Städte für Lefebvre nicht ausschließlich abstrakter Raum bzw. hierarchisch organisierte Machtzentren, sondern auch Zentren des sozialen und politischen Lebens. Zentralität kann im Idealfall einen kreativen Überschuss generieren, der keine ökonomische Zielsetzung kennt. Zentralität kann auch als gesellschaftliche Ressource verstanden werden, wo Orte selbstbestimmt von den Vielen genutzt werden, in der Freizeit, im Rahmen von Festen oder für die Produktion von Wissen. Die Abnahme von Kontrolle und Normierung im Alltag ist Voraussetzung für eine steigende Selbstbestimmung der Stadtbewohner:innen (Ronneberger 2015, Vogenpohl 2011).

Andrej Holm und Dirk Gebhardt fassen den Zentralitätsbegriff bei Lefebvre folgendermaßen zusammen (Holm, Gebhard 2011): »Recht auf Zentralität, als den Zugang zu den Orten des gesellschaftlichen Reichtums, der städtischen Infrastruktur und des Wissens; und das Recht auf Differenz, das für eine Stadt als Ort des Zusammentreffens, des Sich-Erkennens und Anerkennens und der Auseinandersetzung steht […]. Es beschränkt sich nicht auf die konkrete Benutzung städtischer Räume, sondern umfasst ebenso den Zugang zu den politischen und strategischen Debatten über die künftigen Entwicklungspfade. Das Recht auf die Stadt orientiert sich an den utopischen Versprechungen des Städtischen und reklamiert ein Recht auf die schöpferischen Überschüsse des Urbanen.«

Emanzipatorisch ausgerichtete Bewegungen wie etwa die bereits global formierte Recht-auf-Stadt-Bewegung, die sich in ihre Forderung nach Teilhabe, Selbstbestimmung und Repolitisierung des urbanen Raums immer wieder auf Lefebvre bezieht, benötigen aber auch – wie der anvisierte Urbanisierungsprozess insgesamt – Orte und konkrete Räume, wo Teilhabe, Begegnung und Austausch außerhalb eine dominierenden Marktförmigkeit möglich ist.

Wien – Selbstermächtigung und Freiräume der Zivilgesellschaft

Zivilgesellschaftliches Engagement ist in einer fürsorglichen und manchmal auch paternalistisch verwalteten Stadt wie Wien keine Selbstverständlichkeit. Dennoch haben sich immer wieder von unten initiierte und manchmal auch erkämpfte Orte bzw. Zentren der weitgehend selbstverwalteten Alternativkultur herausgebildet, interessanterweise oft dort, wo Gebäudestrukturen aus der Produktionslogik herausgefallen sind. Das ehemalige Schlachthofgelände in Erdberg, das als Arena ab Anfang der 1970er Jahre Veranstaltungen der Alternativkultur (Theater, Konzerte) beherbergte, wurde Mitte der 1970er Jahre von engagierten Wiener:innen besetzt, nachdem Abrisspläne der Stadt publik geworden waren. Die Arena etablierte sich in Folge als Kulturzentrum im Bereich des sogenannten Inlandsschlachthofs. Auch das Werkstätten- und Kulturhaus – kurz WUK, ehemals Lokomotivfabrik und später Technologisches Gewerbemuseum, konnte Ende der 1970er Jahre auf Grund von Bürger*inneninitiativen für einen weitgehend selbstverwalteten und autonomen Kulturbetrieb bis heute erhalten werden. Das Amerlinghaus am Wiener Spittelberg wurde Mitte der 1970er Jahre besetzt, den Verwertungsbestrebungen der Stadt entzogen und ist bis heute ein für diverse zivilgesellschaftliche Initiativen offen gehaltener Ort.

Dass die Etablierung alternativ genutzter Räume in Wien nach wie vor auf Schwierigkeiten stoßen kann, zeigt etwa die Kontroverse um die Nordbahnhalle, eine vakant gewordene frühere Lagerhalle auf einem Gelände der Österreichischen Bundesbahnen, die temporär von der Technischen Universität Wien und einer Reihe von lokalen Initiativen als Gemeinschafts- und Kulturzentrum genutzt wurde. Eine Zusage zu Erhalt und Weiternutzung seitens der Stadt blieb aus. 2019 fiel die Halle während der Kampagne für ihren Erhalt einer Brandlegung zum Opfer. Die Hintergründe der Tat sind bis heute ungeklärt.

Kleinteilige Vernetzung auf Nachbarschaftsebene

In Wien werden die Pole der sozialen Betreuung und der sozialen Selbstbestimmung vielerorts immer wieder neu verhandelt. Ein Netzwerk an Nachbarschaftszentren soll am Gemeinwesen orientierte Aktivitäten, Austausch, aber auch lokale Sozial- und Gesundheitsbetreuung ermöglichen (Kirsch-Soriano da Silva & Rautner 2019). Oft basiert diese ›Soziale Arbeit‹ sowohl auf der Betreuung durch Institutionen wie der Wiener Caritas, den Wohnpartnern – diese leisten seit 2011 Gemeinwesenarbeit in Wiener Gemeindebauten – oder den Teams der Lokalen Agenda sowie auch auf Freiwilligenarbeit.
Ein jüngeres Beispiel ist das kooperative Stadtteilzentrum Herbststraße 15 das von verschiedenen sozialen Einrichtungen ins Leben gerufen wurde. Sogenannte ehrenamtlich engagierte Grätzel-Eltern, die aus unterschiedlichen Communitys stammen und in insgesamt 25 Sprachen kommunizieren, versorgen neu zugewanderte Personen im Quartier mit dringend benötigtem Wissen (ebd.).

Gleichzeitig werden u. a. Sprach-, Computer-, Theater- und Tanzkurse angeboten. Dabei wird der Gehsteig- bzw. Straßenraum temporär bespielt, auch um Sichtbarkeit zu erzeugen. Katharina Kirsch-Soriano da Silva und Florian Rautner weisen in ihrer Zwischenbilanz darauf hin, dass die Herstellung einer Gleichberechtigung der beteiligten Akteur:innen eine große Herausforderung darstellt und auch von Konflikten geprägt ist, die nur durch eine übergeordnete Organisationsstruktur im verträglichen Rahmen gehalten werden kann. Auch hier wird das Spannungsfeld zwischen Betreuung auf der einen und Selbstbestimmung auf der anderen Seite wieder deutlich spürbar. Ein kleinteiliges Netzwerk dezentraler Orte der Zusammenkunft bleibt aber weiterhin ein anzustrebendes Ideal. Wien zeichnet unter anderem die Dichte seines öffentlichen Verkehrsnetzes aus. Das bietet nicht zuletzt die Chance zu Urbanität im Sinne Lefebvres an schier unzähligen Stellen.

Konzentration versus Verteilung

Stadt ist immer durch ein bestimmtes Verhältnis von Konzentration und Verteilung von Funktionen geprägt. Der Fallstrick eines betont polyzentralen Systems ist die Konzentration von Funktionen und Kapitaleinsatz an einigen wenigen hervorgehobenen Orten. Das kann auch zu einer Verarmung der unmittelbaren Umgebung etwa in punkto der Versorgungsstruktur führen. So betrachtet, kann es zu einem Energieverlust in der Fläche kommen, zu einer Art urbanem Vampirismus. Stadtplanerische Konzepte wie die gegenwärtige vielfach lancierte 15-Minuten-Stadt – die eine Erreichbarkeit wesentlicher Funktionen des Alltags in einer Gehdistanz von einer Viertelstunde propagiert – bedürfen eher einer Verteilung der urbanen Versorgungstruktur als deren Konzentration an ausgewiesenen Stellen. Der von Carlos Moreno und anderen beschworene ›Chronourbanismus‹ setzt auf kleinteilige lokale Produktion, lokale Konsumption einer flächendeckend gemischt genutzten Stadt (Allam, Moreno et al. 2021). Die Versorgung mit den wesentlichen Funktionen in unmittelbarer Nähe würde die Alltagswege entscheidend verkürzen und die motorisierte Mobilität stark reduzieren. Der gewonnene Straßenraum könnte stärker begrünt werden und so das Stadtklima positiv beeinflusst werden.

In gewisser Hinsicht ist die ›Polyzentrale Stadt‹ als ›Funktionale Stadt‹ jenseits einer Tabula-rasa-Doktrin zu verstehen. Da eine tiefgreifende und großflächige Transformation der Europäischen Stadt durch Kahlschläge glücklicherweise nicht mehr in Betracht gezogen wird, können nur ausgewählte Zonen nach Maßgabe aktueller funktionalistischer Konzepte entwickelt werden. Der propagierte Nutzungsmix der Orte mit Zentrumsfunktion ähnelt sich oft, sodass aus aller Buntheit nur derselbe Grauton entsteht und statt tatsächlicher Urbanität nur deren mattes Abbild entsteht.

Der Stadtplaner Vicente Guallart – von 2011–2015 als offizieller Chefarchitekt von Barcelona tätig – forderte in der Konferenz Drivers of a polycentric city model, veranstaltet vom Moskauer urban forum 2015 dazu auf, in der Stadtplanung immer auch vom Einzelnen, der Nachbarschaft, von den Fußgänger:innen auszugehen, im Sinne einer ›Stadt der kurzen Wege‹. Die einseitige Ausrichtung auf eine Reihe ausgewählter, von der Stadtplanung in den Fokus genommener Hauptzentren sei zu wenig, will man eine für das Gemeinwohl erstrebenswerte Metropolis of Neighbourhoods sicherstellen.

Andre Krammer ist Architekt und Urbanist in Wien. Er lehrt und forscht am Forschungsbereich Städtebau der Technischen Universität Wien.

dérive, Di., 2022.10.18

18. Oktober 2022 André Krammer

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