Editorial

Seit Wochen befinden wir uns im Lockdown, es ist davon auszugehen, dass uns weitere Wochen bevorstehen. Mittlerweile demonstrieren auf den Straßen Tausende Corona-Verharmloser und -leugner:innen wöchentlich gemeinsam mit Nazis und Rechtsextremen. Die Polizei kann sich nicht recht dazu entschließen, dagegen vorzugehen, auch wenn die Versammlungen untersagt worden sind, die Teilnehmer:innen zu wenig Abstand halten und trotzig keine Masken tragen. Genauso unentschlossen agiert die Regierung, die denjenigen, die den größten Druck ausüben oder den direktesten Draht haben, Lockerungen genehmigt, die anderen verwehrt bleiben. Die Übereinkunft, dass alle gemeinsam auf Aktivitäten verzichten müssen, um die Pandemie zu bekämpfen, löst sich auf. Ein wirklicher Plan ist nach wie vor – zumindest von Regierungsseite – nicht in Sicht, wichtige Strategien und Kampagnen wie NoCovid oder ZeroCovid gehen von der Zivilgesellschaft aus.

Wir haben uns letztes Jahr in einer Schwerpunktausgabe (dérive 80) mit Pandemien auseinandergesetzt, in der letzten Ausgabe einen Beitrag von Christa Kamleithner über die Cholera-Epidemien des 19. Jahrhunderts und ihren Einfluss auf die europäische Stadtentwicklung veröffentlicht und setzen in dieser Sampler-Ausgabe mit Beiträgen über die Auswirkungen von Covid-19 auf die urbane Gesellschaft fort. (Eine Besprechung von Christa Kamleithners äußerst lesenswertem Buch Ströme und Zonen. Eine Genealogie der »funktionalen Stadt« findet sich in dieser Ausgabe.)

Im Fokus unserer Beiträge zu Covid-19 stehen diesmal das Nachtleben und die Clubkultur. Bars und Clubs gehören zu den Einrichtungen, die von den Einschränkungen der Anti-Corona-Maßnahmen am stärksten betroffen sind und deren Zukunftsaussichten am trübsten aussehen, weil die Ermöglichung von sozialer Nähe eine ihrer Kernaufgaben ist. Bis auf die Sommermonate des letzten Jahres, in denen manche unter Einschränkungen aufsperren konnten, haben viele von ihnen mittlerweile seit rund einem Jahr geschlossen. In der Debatte darüber, was systemrelevant ist und was nicht, durften sich Barbetreiber:innen bisher keiner besonderen Aufmerksamkeit erfreuen. Es zeichnet sich jedoch immer stärker ab, dass die ökonomische Krise in der öffentlichen Wahrnehmung zwar präsenter ist, die psychischen Folgen des reduzierten Soziallebens aber für viele wahrscheinlich die gravierenderen und langfristigeren Auswirkungen haben werden. Jedenfalls Folgen, die weniger leicht verhindert und weniger leicht ausgeglichen werden können. Dass ökonomische Konsequenzen der Pandemie wie Jobverlust trotzdem passieren und in Österreich nicht daran gedacht wird, das sehr niedere Arbeitslosengeld dauerhaft zu erhöhen, ist leider auch eine Tatsache.

Der kleine Bar-Club-Schwerpunkt dieser Samplerausgabe bringt einen Artikel des Hamburger Recht-auf-Stadt-Aktivisten Niels Boeing über die Situation der Bars in der Hansestadt und die Gründung des barkombinat Hamburg. Martin Wagner, Geschäftsführer des Wiener Clubs Fluc, berichtet in einem Gespräch über die allgemeine Situation der Clubs in Wien, die Bedeutung der Clubkultur und über die Umsetzung lang gehegter Pläne des Fluc-Teams, die Covid-19 nun beschleunigt hat. Ulf Treger schließlich spricht mit dem Geographen Jack Gieseking über die lesbische und queere Produktion von Raum und damit auch über Bars und Clubs.
Indirekt mit Bars und Clubs hat auch Peter Payers Artikel Eine Stadt verändert ihr Gesicht, in dem es um den islamistischen Terroranschlag am 2. November in Wien geht, zu tun. Der Attentäter hat mit dem Bermudadreieck, ähnlich wie die Attentäter in Paris fünf Jahre zuvor, ein beliebtes Ausgehviertel gewählt. Dass im Bermudadreieck auch die größte Wiener Synagoge steht, war bei der Auswahl des Anschlagsorts sicher kein Zufall. Lebensfreude, die Lust an Musik, Unterhaltung und Geselligkeit ist Islamisten verhasst. Sie gegen religiöse Fundamentalist:innen zu verteidigen, ist ein Auftrag für uns alle. Einen weiteren Text, der sich dem Nachtleben und auch der Lust am Feiern widmet, ist Robert Shaws Beitrag Public Space at Night. Anhand von Beispielen aus Sydney, Shanghai und London stellt er unterschiedliche Konstellationen und Situationen dar, in denen es um Aneignung, Kontrolle, Verdrängung, Infrastrukturen, Arbeit und Vergnügen in der Nacht geht.

Den Beginn des Hefts macht ein Artikel, der ebenfalls Orte der Kultur und der Begegnung in den Fokus nimmt. Die Schwerpunktsetzung ist jedoch eine andere: Das Belgrader Kollektiv Ministry of Space hat letztes Jahr ein Buch veröffentlicht, dem eine große Recherche über Commons in Teilen Ex-Jugoslawiens zu Grunde liegt. Für dérive geben Iva Čukić und Jovana Timotijević einen Einblick in diese Studie, für die auch das Erbe des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus eine wichtige Rolle spielt.

Die weiteren Artikel dieser Samplerausgabe sind Matthias Marschiks Text Das Moped als Sidestep der mobilen Moderne und Udo Häberlins Beitrag Öffentliche Räum als Plattform einer solidarischen Stadt und Baustein der Gemeinwohlorientieurng? Bei Marschik geht es um Massenmotorisierung in der Nachkriegszeit, um Geschlechterrollen und Männlichkeitsbilder, um Stadt und Land und ganz besonders um ein Fortbewegungsmittel, das in unseren Breiten heute nur mehr ein Schattendasein fristet: das Moped. Udo Häberlin gibt auf Basis von Sozialraumanalysen und Daten der Stadt Wien einen Einblick in Themen der Quartiers- und Stadtentwicklung rund um den öffentlichen Raum: seine Zugänglichkeit und Nutzung, seine Potenziale und Aneignungsfähigkeit, seine Verteilung innerhalb der Stadt und die neuen Ansprüche der Stadtbewohner:innen.

Das Kunstinsert hat diesmal Markus Wilfling gestaltet, dem es in seinen Arbeiten oft »um Paradoxe raumzeitlicher Wahrnehmungen, die die naheliegende Kontextualisierung eines Ortes in Frage stellen«, geht.

Es lebe die Bar- und Clubkultur!

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

04—09
Spaces of Commoning in the EX-YU Region
A Study Overview
Iva Čukić, Jovana Timotijević

10—16
(Queere) Territorien, Orte, Konstellationen
Lesbische und queere Produktion von Raum, kartiert von Jack Gieseking in seinem Buch »A Queer New York«
Ulf Treger

17—22
Public Space at Night
Robert Shaw

23—26
Clubkultur in Zeiten der Pandemie
Martin Wagner vom Wiener Fluc im Gespräch
Christoph Laimer

27—31
»Hey Senat, so gehts nicht!«
Hamburger Barbetreiber:innen organisieren sich für den Erhalt der Barkultur
Niels Boeing

Kunstinsert
32—36
Markus Wilfing
seither_ich_weiss

37—42
Das Moped als Sidestep der Mobilen Moderne
Matthias Marschik

43—45
Eine Stadt verändert ihr Gesicht
Versuch zu begreifen
Peter Payer

46—53
Öffentliche Räume als Plattform einer solidarischen Stadt und Baustein der Gemeinwohlorientierung?
Udo Häberlin

Besprechungen
54—61
Zurück zum Start – Architektur- und Städtebaugeschichte als Wissensgeschichte S. 54
Plurale Stadterinnerung in Belgrad S. 56
Die Viennale 2020 als Ort politischer Diskurse S. 58
Ohne Gegenstimmen gibt es keine Möglichkeiten voranzukommen! S. 59
Planung im Zeichen von Konflikt und Demokratie S. 60
Gutes auf den Boden bringen! S. 61

68
Impressum

Öffentliche Räume als Plattform einer solidarischen Stadt und Baustein der Gemeinwohlorientierung?

Chancen und Gelegenheiten, Intensität und menschlicher Austausch, Erleben von großen Gemeinschaften, aber auch das gemeinsame Bewältigen von Krisen sind Elemente der aufgeklärten Stadtgesellschaft und ihres kollektiven Bewusstseins. Angesichts der Bemühungen um Smart-City-Konzepte wird deutlich, dass die gesellschaftliche Dimension der Städte im Vergleich dazu bisher vernachlässigt wurde. Wien ist eine besonders attraktive Stadt, doch auch hier ist der Fokus auf die soziale Lebenswelt der Menschen nicht selbstverständlich. Das, obwohl in Publikationen der Stadt Wien »die leistbare Stadt als rote[r] Faden der Stadtentwicklung« gesehen wird (STEP 2025, S. 27). Auch die solidarische Stadt wird seit über 100 Jahren immer wieder prominent postuliert. Mit Vorhaben wie »niemanden zurücklassen – in Stadteile investieren« oder »sozialer Durchmischung« strebt die Stadt Wien dieses Ziel an (ebd., S. 30–31). Die ausdifferenzierten Realitäten bleiben bei solchen am anvisierten Durchschnitt orientierten Ansätzen unerwähnt und sind nicht kohärent implementiert.

Neue Ansprüche der Bürger*innengesellschaft und die Bedeutung der Demokratie

Wien als wichtigster Bildungsstandort im deutschsprachigen Raum mit rund 190.000 Studierenden besitzt 20 Universitäten und Hochschulen sowie viele betriebliche Ausbildungsstätten. Diese sind ein Garant für stetigen Zuzug und gleichzeitig eine Ursache für die Verjüngung der Bevölkerung und ein Ausgleich zur immer größer werdenden Gruppe (sehr) alter Bewohner:innen. Damit ist die Stadt auf dem Weg zu einer hoch gebildeten Bürger*innengesellschaft. Historische Entwicklungen im öffentlichen Raum der ehemaligen Residenzstadt sowie im Umgang mit ihm (Untertanengeist) waren für die Bevölkerung Wiens über sechs Jahrhunderte bestimmend. Dieser Bewusstseinslage folgt eine Betrachtungsweise von Stadträumen – vom repräsentativen Heldenplatz bis hin zu charakteristischen Märkten – oder auch der Identifikation mit dem Platz vor der eigenen Haustüre, die für die Haltung der Menschen prägend war und zum Teil noch ist. Auch die Mentalität im Roten Wien sowie die Politik der sozialen Fürsorge bedeuteten kaum einen Bruch.

Seit den Hausbesetzungen und Protesten für Kulturräume der Generationen ab den 1970er-Jahren werden bis heute (basis-)demokratische Ansprüche artikuliert, werden mehr Teilhabechancen am und im öffentlichen Raum öfter konkret eingefordert. Im Sinne einer deliberativen Demokratie reagiert auch die Stadtpolitik und -verwaltung mit mehr öffentlichen Foren, Beratung sowie Teilhabemöglichkeiten für Bürger:innen in Entscheidungsprozessen und teilweise auch bei Bezirksbudgets. Beispiele anderer Städte zeigen, dass diese bereits Aktionsfonds zur Förderung von Aktivitäten sowie zur Unterstützung des ehrenamtlichen und nachbarschaftlichen Engagements gegründet oder Quartiersräte eingesetzt haben. Öffentliche Räume repräsentieren wie Schaufenster in Gebäuden die Offenheit einer Stadt und besitzen Interaktions- und Kommunikationsfunktionen für die unterschiedlichen Teile der Gesellschaft. Sie sind der Ort, an dem sich Menschen zufällig begegnen. Damit sie belebt sind, brauchen sie Qualitäten, die Menschen bereichernd und attraktiv finden. Doch die Nutzungsbedürfnisse werden nicht für alle Menschen gleichberechtigt gewichtet. Nicht nur ökonomische Mechanismen verhindern die Aneignung von Freiräumen, auch fehlende soziale Kompetenzen, die rechtliche Stellung oder zu leise Stimmen wirken hier. Daher sind Gleichstellung, Aufklärung und bildungspolitische Maßnahmen[1] wichtig, um die Wahrung und Entwicklung des öffentlichen Raums als Ort des Gemeinwohls, der zwischenmenschlichen Begegnung, des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft zu stärken. Um den künftigen Anforderungen einer individualistischen, aber demokratischen Gesellschaft gerecht zu werden, sollten Freiräume so weit wie möglich als entwicklungsoffene Lebenswelt einer neuen Urbanität umgebaut werden (Häusermann & Siebel 1987). Da öffentliche Räume auch als Bühne dienen, können kreative Ideengeber:innen als Unterstützer:innen einer offenen und friedlichen Gesellschaft gesehen werden. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist die Inklusionskraft dieser Gemeinschaftsorte für die urbane Ambivalenz, die zwischen physischer Nähe und sozialer Distanz in öffentlichen Räumen Spannung erzeugt. Besonders bei Konflikten und deren Aushandlungen wird sich bei künftigen Generationen zeigen, wie sehr urbane Kompetenz und soziales Kapital durch (politische) Bildung und eine Weiterentwicklung der demokratischen Positionen erhöht werden konnten.

Teilhabe und Lebenschancen der Wiener:innen

Auch in Wien sind eine weltweite Polarisierung und rasante Veränderungen durch die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft spürbar. Die positiven Entwicklungen durch Freiheiten und die Renaissance der Städte können die steigende soziale Ungleichheit und Spannungen jedoch nicht überdecken. Nicht alle dieser Entwicklungen sind überall gleichermaßen 
zu erleben, die Lebenswelten in einer Stadt verändern sich ungleich dynamisch. Das Monitoring von kleinräumiger Heterogenität und Segregationstendenzen (Stadtentwicklung Wien 2018) zeigt die Gefahr der Verbreitung von abgehängten Gebieten auf.

Ein wesentlicher, jedoch fragiler Faktor ist die qualitätsvolle Dichte. Die großflächigen Areale der Wiener Gründerzeit[2] sind hierbei markant. Was als Stadtstruktur zunächst uniformiert aussieht, erweist sich bei konkreter Betrachtung des Sozialraums als von kurzen Wegen geprägt, teilweise jedoch ohne ausreichende (grüne) Freiräume. Die kompakte Stadtstruktur besteht aus einem Kaleidoskop unterschiedlicher Baublöcke, aus verschiedenen Wohnformen, Kleingewerbe, Büros, Praxen und vielem mehr. Vom Erdgeschoss bis zum Dachgeschoss ergibt sich oft eine vertikale Durchmischung. Dabei ist die gewachsene und stetig adaptierte Struktur ein flexibler physischer Baustein, der auch für die Zukunft mehr Resilienz und systemische Stabilität ermöglicht.

Nachteile wie schlechte Luft oder fehlende Infrastrukturen, wie beispielsweise Freiräume, betreffen schon alleine aufgrund der hohen Zahl der Bewohnerschaft viele Menschen in diesen Stadtquartieren. Studien zu sozialen Veränderungen sowie der Lebensqualität in unterschiedlichen Vierteln, die Themen wie innerstädtische sozialräumliche Peripherisierung, Quartiere als Integrationsmaschine, Fragmentierungsprozesse, Inselurbanismus oder sozialräumliche Verwerfungen untersuchen (Reinprecht et al. 2010), zeigen die Unterschiede in der Zufriedenheit hinsichtlich verschiedener Lebensbereiche und dichter Stadträume. Eine umfassende aktuelle Analyse aus diesem Datensatz zur Wahrnehmung von Lebenslagen, Orientierungsverlust, sozialen Unsicherheiten wie Abstiegsängsten ist in Vielfalt und Sicherheit im Quartier (Häberlin & Kopetzky 2015; Häberlin 2020) beschrieben. Hinzu kommt der demografische Wandel: in ganz Europa weist die immer größere Zahl alter Menschen neben einer höheren körperlichen Verletzlichkeit auch eine höhere Risikosensibilität auf.

Schrieb Heinz Bude 2014 noch, »die Zeiten in denen die individuelle Tüchtigkeit und gemeinschaftliche Bindung in der Mentalität der Mitte zusammengehören, sind offensichtlich vorbei« (S. 73), registriert man in Zeiten der Covid-Pandemie erstaunt eine doch vorhandene Solidarität und anerkennt die Leistung von Menschen in den sogenannten systemrelevanten Berufen. Die Frage nach der Systemrelevanz von Leistungen für das Gemeinwesen der Gesellschaft oder für das (gesunde) Leben des Einzelnen hatte durch einen reibungslosen Verlauf im Wohlfahrtsstaat keine Grundlage.

Orientierungsverlust und Konkurrenzdruck dürften sich nach der Covid-Pandemie und ihren wirtschaftlichen Folgen noch verstärken. Menschen projizieren Ängste der Schutzlosigkeit auf den öffentlichen Raum. So finden oft Zuschreibungen bezüglich Gefährlichkeit und Risiko statt, deren Gültigkeit kaum überprüft wird. Diffuse Projektionen bleiben oft als leichtfertig gezeichnete Bilder und Verbindungen in den Köpfen zahlreicher Menschen hängen und werden selten revidiert oder korrigiert (vgl. Baumann 2016).

Quartiersentwicklung ist physisch und sozial nötig

Eine explizite Quartiersentwicklung gibt es in Wien nicht. Einer der Wiener Planungsgrundsätze ist, die Stadtviertel lebenswert zu gestalten und kompakt weiter zu entwickeln.[3] Das Fachkonzept Mittelpunkte des städtischen Lebens – Polyzentrales Wien (Stadtentwicklung Wien 2020) will jedoch städtische Zentren als attraktive Orte in der Stadt fördern. So sollen sich Orte der Vielfalt von Funktionen, Versorgungs- und Konsumangeboten, von Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten, Orte der Orientierung, der Kultur und der städtischen Identität neu entwickeln sowie vorhandene städtische Zentren gestärkt werden. Zusätzlich gibt es von den Gebietsbetreuungen zahlreiche Bestrebungen, lokale Netzwerke zu schaffen und eine Quartiersidentität auch bei benachteiligten Gruppen zu fördern.[4] Denn sozialräumliche Disparitäten führten in der Stadt zu gebietsbezogener Politik in der Quartierserneuerung sowie zu einer Neuformulierung der Integrationsarbeit durch mehr Empowerment und Partizipation. »Stadtforscher:innen (…) zeigten, dass eher die soziale Lage als die ethnische Zugehörigkeit für die Positionierung der Menschen in der Stadt und Stadtgesellschaft bedeutend waren (Reimann 2018; Roth & Gesemann 2018) und dass sich ›hybride Identitäten‹ mit vielfältigen Lebensentwürfen herausgebildet hatten«, so Hillemann (2020) zur Erforschung der kosmopolitischen und offenen Stadt. Vor dem Hintergrund, dass das unmittelbare Wohnumfeld mit der langsamen Auflösung anderer sozialer Zugehörigkeiten – z. B. Familien, Glaubensgemeinschaften oder Parteien – wieder an Bedeutung gewinnt, besteht hier auch für die Stadtplanung und -entwicklung ein wichtiges Interventionsmoment. Mit einem Bedeutungsgewinn des Quartiers wird auch die Lebensqualität, die im eigenen Wohnumfeld erfahren wird, wichtig und damit auch die Vertrautheit in diesem Sozialraum als ein Aspekt von Wohlbefinden und Lebensqualität. Ein vertrautes Umfeld bietet gute Voraussetzungen zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und Gemeinschaftsempfindens. Dies kann die Verbundenheit mit dem Quartier erhöhen sowie soziale Prozesse wie ein Miteinander fördern (vgl. Stadtentwicklung wien 2016). Als Basis für Nachbarschaften kann die Auseinandersetzung mit Fragen der Vertrautheit in vielfältig gemischten Quartieren bedeutungsvoll sein. Soziales Vertrauen kann sich im Quartier erhöhen und sogar das Sicherheitsempfinden vor Ort zu verbessern. (DIfU-Impulse 2020). Das kann dem Auseinanderdriften der Wahrnehmungen und einer gespaltenen Gesellschaft entgegenwirken.

Wie lassen sich städtische Lebenswelten – Quartiere und Wohnumfeld – stärken?

Die städtische Lebenswelt setzt sich aus den Ebenen der Quartiere, des Maßstabs des Wohnumfelds und der individuellen Aktionsradien zusammen. Für die Wiener Lebensqualitätsstudien werden die Menschen gezielt nach der Zufriedenheit mit dem Wohngebiet, beispielsweise dem öffentlichen Freiraum und der Nähe zu Grünanlagen gefragt. Dabei gibt es interessante Unterschiede auf kleinteiliger Stadtteilebene sowie bei unterschiedlichen Menschen und deren Erwartungshaltung. Die große Mehrheit der Wiener Bevölkerung ist mit der Nähe zu Grünanlagen zufrieden, außer in einigen dichter bebauten Gebieten. Weniger große Unterschiede in der Zufriedenheit gibt es hinsichtlich der Plätze und anderer öffentlicher Freiräume; rund 78 Prozent der Wiener:innen sind mit den öffentlichen Freiräumen in ihrem Wohngebiet zufrieden. Trotz der hohen Zufriedenheit stehen der Wunsch nach mehr Grünflächen und nach »angenehmeren Plätze und anderen öffentlichen Freiräumen« ganz oben auf der Liste zur Frage nach Maßnahmen für die Verbesserung der Lebensqualität im Wohngebiet. Auch hier sind die lokalen Unterschiede interessant (siehe Tabelle auf S. 50).

Was ist zu tun, wo es nicht gut funktioniert: Benachteiligte Quartiere?

Wien besitzt eine dichte Siedlungsstruktur. Im Durchschnitt leben 4.502 Menschen auf einem Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte in (ehemaligen) Arbeiterinnen*bezirken ist rund fünf Mal so hoch. In solchen Stadtteilen kann sich die Bevölkerung oft weniger leisten, beispielsweise in der Lebenshaltung, im Wohnkomfort oder in der Freizeitgestaltung. Es lohnt daher, die Lebensverhältnisse benachteiligter Gruppen (größere Familien, Haushaltsformen, Alterskohorten) unter und über dem jeweiligen städtischen Durchschnitt zu analysieren. Auch Differenzen zwischen Eigentumswohnungen, privatem Wohnungsmarkt und sozial geförderten Mietwohnungen sind zu erkennen. Neben der Wohnlage ist natürlich die Wohnungsgröße für die Lebensqualität relevant. 6 Prozent der Befragten der repräsentativen Umfrage[5] in Wien leben in einer Wohnung mit nur einem Raum, 24 Prozent haben zwei Wohnräume, 35 Prozent leben in Wohnungen mit drei Räumen. Die restlichen 21 Prozent haben vier oder mehr Wohnräume (vgl. Häberlin 2020). Die Ungleichheit spiegelt sich in den Wohnungsgrößen, den Wohnkosten, der Wohnungsausstattung und dem Zugang zu privatem Freiraum wider. Hier zeigt sich, dass insbesondere in benachteiligten Quartieren im Verhältnis mehr Miete für geringen Wohnraum gezahlt werden muss. Angesichts der Lebensrealitäten und des Alltags in solch dichten Lebensverhältnissen wird klar, dass öffentliche Freiräume hier einiges kompensieren müssen und das auf eine differenzierte Art und Weise, denn Kinder und Jugendliche sowie alte und arbeitslose Menschen haben nochmals speziellere Bedürfnisse für ihre Freizeit und Erholung. Hinzu kommt, dass in den meisten dicht besiedelten Arbeiter*innenquartieren[6] auch die Freiraumversorgung knapp und somit äußerst kostbar ist. Denn größere Grünräume oder Freizeitareale versorgen die Stadt nicht gleichmäßig gut. De facto besteht ein Großteil des öffentlichen Raums im dicht bebauten Siedlungsgebiet aus Straßen, deren Raum zu einem hohen Anteil für Privatautos verwendet wird, die dort fast 23 Stunden pro Tag ohne Nutzung abgestellt werden (Häberlin 2017). Im Gegensatz zu den Bundesländern sinkt der Motorisierungsgrad in Wien seit etlichen Jahren, was hoffen lässt, »dass wir in Zukunft auch mehr Möglichkeiten haben, den öffentlichen Raum anderweitig zu nutzen« (Madreiter 2020).

Manche sehen den öffentlichen Raum als Wohnzimmer der Stadt. Bei einer nüchternen Betrachtung ist jedoch leider der überwiegende Teil der öffentlichen Flächen doch eher Garage – also eher private (Keller-)Nutzung. Die Straßen werden jedoch ebenso für das Gemeinwesen, das Leben für alle gebraucht. Denn »die Straßen und Bürgersteige sind die wichtigsten Orte einer Stadt, sind ihre lebenskräftigsten Organe.« Also: »wenn die Straßen einer Großstadt uninteressant sind, ist die ganze Stadt uninteressant; wenn sie langweilig sind, ist die ganze Stadt langweilig« (Jacobs 1961, S. 27). Daher müssen soziale Funktionen wieder gleichberechtigt Platz finden. Viele Straßen bieten das Potenzial, das Gemeinwesen zu stärken, indem die Verweilqualität ausgebaut wird und sich damit die Nutzbarkeit für alle erhöht (Gehl 2013). Eine »[f]aire Gestaltung des öffentlichen Raums wird wichtiger«, benötigt werden »geeignete Rahmenbedingungen und eine gezielte Steuerung dieser Entwicklung durch die Stadt« (Schechtner 2020, S. 67). Dazu gilt es, in benachteiligten Quartieren sowie in sämtlichen dicht bevölkerten Wohnquartieren die Ansätze der Freiraumgerechtigkeit zu verbessern und eine fair geteilte Straße für alle Gruppen zu ermöglichen. 67 Prozent des Raums stehen hier den Autos zur Verfügung, obwohl diese nur 27 Prozent der Mobilität ausmachen.

73 Prozent der Wege werden in Wien mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad oder zu Fuß bewältigt (Stadtentwicklung Wien 2016). Die Raumverteilung von privaten PKWs ist demnach nicht nur eine Frage des Mobilitätskomforts einiger Menschen, sondern der Urbanität und Lebensqualität aller. Die Umgestaltung von Straßenräumen ist auch »im Sinne einer klimaresilienten Stadt – d. h. mehr Grün und Bäume, mehr Wasserelemente, mehr Beschattung 
für mehr Aufenthaltsqualität für die Weiterentwicklung des Straßenraums zu einem Aufenthaltsraum für alle«. 
(STEP 2025; 2020, S. 67)

Bedeutung der öffentlichen Räume für die Verbesserung der Lebensqualität

Die Bezirke Neubau und Margareten entwickelten in den letzten Jahren viele Verbesserungen zur Begrünung und Nutzbarmachung von öffentlichen Räumen. Altruistisch wird dabei der Aufheizung von dicht bebauten Stadtteilen ohne wesentliche Grünräume begegnet. Im Sinne der Stadtklimaanalyse werden Begrünungsmaßnahmen, Verdunstungsflächen und mehr Schatten geschaffen. Auch die Möglichkeit einer Entsiegelung wird immer öfter geprüft und führte zu einem der ersten Coolen Parks in Wien. Auch Luftströme für die bessere Durchlüftung werden vor allem angesichts der nächtlichen Abkühlung berücksichtigt. Das neue Leitbild der temperatursenkenden Maßnahmen, Investitionen in das Gewässermanagement und urbane Begrünungen (blaue und grüne Infrastruktur) sind im Hinblick auf die Klimakrise wesentlich, um das Leben in der dichten Stadt und auch künftig den Aufenthalt im öffentlichen Raum zu ermöglichen und die Urbanität weiterhin gesund zu erleben.

Die öffentlichen Räume zählen zu den direktesten kommunalen Handlungsfeldern zur Verbesserung der Lebensqualität. Zum einen hat die Stadtverwaltung und Politik die unmittelbare Gestaltungsmacht und zum anderen ist dies der Ort, an dem alle Gruppen einer Stadt partizipieren.

Bedeutung der öffentlichen Räume für Sozialkontakte und das Zusammenleben

Öffentliche Räume sind Orte der Begegnung mit dem Fremden, Orte des selbstbestimmten Austauschs und Experimentierfeld der Gesellschaft. Diese kulturellen und sozialen Funktionen sind wesentlich für die Bildung von speziellen Lebensstilen und urbane Kompetenzen. Da diese Funktionen in der Phase der flächenintensiven Autoorientierung der Städte verdrängt wurden, soll mit jeder größeren Baumaßnahme geprüft und verhandelt werden, ob die öffentlichen Räume diese Funktionen, etwa als Begegnungszonen sukzessive zurückbekommen können. Die Corona-Pandemie hat diese Notwendigkeit noch einmal verstärkt gezeigt. Beim künftigen Umbau der Stadtstruktur und der Transformation des Sozialraums gilt es, die Bedürfnisse der Menschen noch stärker einzubeziehen.

Ältere Menschen, Pensionist:innen[7] oder Personen mit höheren Einkommen äußern sich über ihre Sozialkontakte häufig zufrieden. Seltener zufrieden sind hingegen Frauen bis 29 Jahre ohne Matura, Männer zwischen 30 und 45 ohne Matura, Menschen unter 60 Jahre in Einzelhaushalten, Männer unter 60 Jahre, Personen in Untermiete, Arbeitslose und Menschen mit geringen Einkommen. Für Letztere besteht also ein Bedarf an Möglichkeiten zur persönlichen Begegnung im öffentlichen Raum, auch um Tendenzen zur Vereinsamung entgegenzuwirken. Eine Verbesserung kultureller und sozialer Angebote zur organisierten Begegnung im Quartier ermöglicht es, diesem Bedarf entgegenzukommen.
Will man die Nachbarschaft und die zufällige Begegnung fördern, sind einladende öffentliche Freiräume ein wichtiger Schlüssel. Die Zugänglichkeit der Freiräume und die Teilhabe an Aktivitäten in diesen sollte die Vielfalt der Bewohner:innen, die Diversität der Gesellschaft repräsentieren. Eine resiliente Stadt setzt kooperative und kommunikative Offenheit bei Verbesserungen oder einer Konfliktbewältigung voraus. Hierzu sind (sprach-)barrierefreie Methoden der Mitsprache und Partizipation wichtig. Die Vorteile an mehr Teilhabe am und im öffentlichen Raum sind evident: Er kann nachhaltig und effizient genutzt werden, kann zukunftsfähig für alle Lebensformen oder -stile entwickelt werden, und so schließlich einer breiten Akzeptanz gerecht werden. Die Erwartungen der Menschen lassen sich im lokalen Umfeld hinsichtlich der Möglichkeitsräume und der Modelle menschlichen Zusammenlebens am besten verdeutlichen. Um die Bürger:innen tatsächlich stärker in den Mittelpunkt zu stellen, helfen im Rahmen von Beteiligungsverfahren Icons mit grafischen Symbolen, um die jeweiligen Nutzungsbedürfnisse in einem Raum zu visualisieren. Die Wünsche lassen sich damit besser artikulieren und niederschwellig ohne (sprachliche) Zugangsbarrieren in Partizipationsprozesse einbringen.

Hochwertige Freiraumgestaltung zur Förderung partizipativer Quartiersentwicklung und urbaner Vielfalt

Verfügbarkeit und selbstbestimmter Gebrauch von Raum sind heute ein wichtiges Qualitätskriterium für die urbane Gesellschaft. Dies schließt auch das Selbermachen und Stadtentwicklung von unten ein, was zur Mehrfachnutzung für die vielfältigen Gruppen der Stadtgesellschaft beiträgt. Damit mehr Spielräume geöffnet werden, sind Stadtlabore (futurelabs) geeignete Initiativen dafür, gewohnte Denkmuster zu hinterfragen und ein what if zu erforschen. Das lenkt die Perspektive darauf, was lokale Raumverbundenheit bei den einzelnen Teilhabenden der Stadtgesellschaft schafft: eigene Möglichkeiten der Einflussnahme, demokratische Mitsprache sowie lokale Verbundenheit. Sie sind Voraussetzung und Ergebnis einer gelingenden Nachbarschaft und für soziales Vertrauen. Auch in benachteiligten Quartieren können sie zur Förderung der subjektiven Lebensqualität vor Ort beitragen. Wichtig ist, dass den jeweiligen konkreten lokalen Ansprüchen nicht mit Patentrezepten begegnet wird. Dabei besteht das Geheimnis lediglich in der passenden Transformation von (fachlich) bekannten Lösungen.

Im Rahmen dieser neuen Möglichkeiten der Teilhabe können sich lokale Netzwerke sowie eine Identifikation mit dem eigenen Quartier als Lebenswelt und Ort der direkten Demokratie entwickeln. Darüber hinaus kann ein möglichst konstruktiver Dialog zwischen Verwaltung, Bewohner*innenschaft und den diversen Gruppen der Stadtgesellschaft angestoßen werden, in dem gegenseitiges Vertrauen und Verständnis möglich werden. In den Quartieren lassen sich partizipative Formate zur Stärkung des Gemeinwesens, eines friedlichen Zusammenlebens und urbaner Kompetenzen sowie das Orchestrieren der Prozesse erproben.

Mit diesen Experimenten in der Zivilgesellschaft und lokalen und (sub-)kulturellen Laboren wie Amerlinghaus oder WUK gewinnt die Qualität des Zusammenlebens in Stadt(-teil) und Grätzel eine besondere Beachtung (vgl. dérive 81). Der Stadtteil als sozialer Lebensmittelpunkt, als Ort der direkten Teilhabe wird zunehmend bei der Mitgestaltung und Aneignung verfeinert – und eine stärkere Bemühung in Richtung humane Architektur und ökologische Urbanität entsteht.

Ein homöopathischer Anfang: Grätzloasen, wo immer Zivilgesellschaft erstarkt

Mit wachsender Bevölkerung, und weiter angestrebter Innenverdichtung wird in dichter verbauten Stadtgebieten der Raum kostbarer sowie der öffentliche Raum intensiver genutzt. Bewohner:innen mit unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen teilen sich vorhandene Flächen der Bestandsstadt im Sinne einer multifunktionalen Gemeinschaftsfläche. Familien mit Kleinkindern, Kinder, Jugendliche, Singles, ältere Menschen und Bürger:innen mit geringerem Einkommen verbringen viel Freizeit im städtischen Nahraum. Um gemeinschaftliches Zusammenleben im Stadtraum zu sichern, wird es immer wichtiger im öffentlichen Raum inklusive räumliche Identifikation für alle zu schaffen. Zentral in diesem Prozess ist es, jene Menschen in die Gestaltung und Belebung einzubinden, die diese Freiräume (in Zukunft) nutzen wollen. Damit wird Bürger*innennähe sichergestellt und der Austausch der Menschen im Grätzel aktiv gestärkt.

Stadtbewohner:innen sind lokale Expert:innen ihres Umfelds. Sie wissen gut Bescheid, was (nicht) funktioniert und wo es Verbesserungspotenzial gibt. Jung und Alt haben viele Gestaltungsideen und fordern zunehmend Mitgestaltung vor der eigenen Haustüre ein. Ein besonders Beispiel hierzu bilden die Grätzloasen zur Belebung und Aufwertung öffentlicher Räume, die vom Verein Lokale Agenda 21 und mit einer finanziellen Förderung unterstützt werden. Aktive Bewohner:innen werden unterstützt, ihre Ideen zur Gestaltung ihrer Umwelt als Parklets zu verwirklichen. So entstehen wienweit temporäre Kontaktzonen, Spielflächen, Straßen­feste in der einst monofunktionalen Parkspur stehender Autokolonnen; offen für alle und frei von gewerblichem Interessen. Die Gesellschaft bekommt damit mehr Möglichkeit der direkten Teilhabe an einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Somit können auch neue Formen der Zusammenarbeit und der Erweiterung von Raum-Ressourcen für eine solidarische und resiliente Stadt initiiert werden.

Global wird relevant sein, wie sich die soziale Ungleichheit entwickelt, ob zunehmende Kommerzialisierung den öffentlichen Raum wirklich für alle zugänglich belässt und ob Überwachungsgelüste sowie eine neue Straffreudigkeit ein friedliches Nebeneinander aushöhlen.

Ebenso wichtig ist, wie sich die Bürgerschaft im öffentlichen Raum präsentiert und welche Werte gelebt werden. In den Tagen nach dem Terroranschlag letzten November in Wien zeigten tausende Menschen mit Kerzen und Blumen ihr solidarisches Mitgefühl sowie ihren Wunsch nach einer freien und demokratischen Gesellschaft und setzten damit ein wichtiges Zeichen im öffentlichen Raum. Das trug auch dazu bei, den medialen Diskurs zu verbreitern. Aufgabe von Planung ist es auch, mit ihren Werkzeugen der Zivilgesellschaft Möglichkeiten der demokratischen Teilhabe zu bieten, um räumliche Identität in den jeweiligen Stadtquartieren zu stärken. Die Stadtplanung kann hierzu auf das Gemeinwesen in der Bürgerschaft wirken und somit auch die soziale Lage und Zukunftsfähigkeit verbessern.

Anmerkungen:
[01] Siehe als Beispiel die 2020 verabschiedete Kinder- und Jugendstrategie der Stadt Wien.
[02] In der »ersten Gründerzeit« in Wien erfolgte eine epochale Entwicklung, die wir ganz ähnlich heute wieder erleben. Zwischen 1848 und dem Börsenkrach 1873 entwickelte sich Wien mit der Weltausstellung von einer beschaulichen Residenzstadt zur Großstadt. Politisch war die Zeit bis 1895 von der Dominanz des Liberalismus geprägt; der Freihandel, die liberale Verwaltung und Gewerbe-Gesetze führten zu zahlreichen Neugründungen, die von Spekulationen in Börse- und Bankgeschäften begleitet waren. Die einengenden Mauern der Stadtbefestigungen fielen. Das Glacis wurde mit Ringstraßen-Monumentalbauten bebaut, Eisenbahntrassen sowie Kasernen errichtet. Die Stadterweiterung mit eingegliederten Vorstädten sowie die Donauregulierung kamen hinzu. Die Altstadt wurde umgewandelt, bei gleichzeitiger baulicher Verdichtung der Vorstädte und Erweiterungen mit rasterförmigen Baublöcken aus Mietskasernen. Hinzu kamen »Bassena-Wohnungen« der zugewanderten Arbeiter*innenschaft mit extremen Alltagsbedingungen in der Hinterhofindustrie. Der damalige Umbruch zur urbanen Gesellschaft rief eventuell ähnliche Bruchstellen von Verlust an Überblick und Vertrautheit hervor wie die Dynamik heute. Die globalen Phänomene verschwimmen dabei zusehends und erzeugen eine neue Orientierungslosigkeit, die zusätzlich durch neue Informationstechnologien und Medien auch in den Echokammern des virtuellen Raums verstärkt werden.
[03] »So werden Lücken in der lokalen Versorgung mit Grünraum, Bildung, Gesundheit und Dienstleistungen geschlossen, Arbeitsplätze und neue Wohnungen geschaffen und die Wege zu Alltagspunkten bleiben kurz« (Grundlagen der Wiener Stadtplanung).
[04] Die Palette reicht von Freizeitangeboten, mehr Empowerment (Frauen, Migrant:innen) über Rechtsberatung, bis hin zur Stadtanleitung – Do it Yourself (Magistrat der Stadt Wien 2016).
[05] Wiener Lebensqualitätsstudien: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/grundlagen/stadtforschung/soziologie-oekonomie/lebensqualitaetsstudien/
[06] Eine genauere Analyse und die Beschreibung des »potentiellen Nutzungsdrucks«: Stadt Wien – Integration und Diversität (2020).
[07] Entgegen dieser Werte besteht dennoch die Gefahr von Vereinsamung in der Gesellschaft, vor allem wenn (alte) Menschen von biographischen Brüchen oder gesundheitlichen Schwierigkeiten betroffen sind.

Literatur:
Baumann, Zygmund (2016): Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin: Suhrkamp
Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition
Bartl, Gabriel; Creemers, Niklas & Floeting, Holger (2020): DIfU-Impulse, 2020; Vielfalt und Sicherheit im 
Quartier – Konflikte, Vertrauen und sozialer Zusammenhalt in europäischen Städten. Berlin
Gehl, Jan & Birgitte Svarre (2013): How to Study Public Life. Washington/Cavelo/London; Island Press
Häberlin, Udo & Kopetzky, Barbara (2015) Die sichere Stadt – Sicherheit und Lebensqualität in Wien. In: Floeting, Holger: Sicherheit in der Stadt – Rahmenbedingungen – Praxisbeispiele – Internationale Erfahrungen. Edition Difu, Bd. 14, 201, Deutsches Institut für Urbanistik
Häberlin, Udo & Furchtlehner, Jürgen (2017): Öffentlicher Raum für alle? In: Hauck, Thomas; Hennecke, Stefanie & Körner, Stefan: Aneignung urbaner Freiräume. Ein Diskurs über städtischen Raum (Urban Studies). Bielfeld: Transcript
Häberlin, Udo (2020): Soziale Prozesse, urbane Sicherheit und Zukunftshoffnung. Difu-Impulse, 2020 Vielfalt und Sicherheit im Quartier – Konflikte, Vertrauen und sozialer Zusammenhalt in europäischen Städten
Häberlin Udo; Mückstein, Gerlinde, Peters, Nils; Stratil-Sauer, Gregor; Troger, Tobias; Wasserburger, Maria & Suitner, Johannes (2020): Fachpapier Stadtplanung 02 Covid-19 und die Wiener Stadtplanung. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008581.pdf
Häusermann, Hartmut & Siebel, Walter (1987): Neue Urbanität. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Jacobs, Jane (1963): Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Berlin/Frankfurt/M./Wien: Ullstein
Madreiter, Thomas (2020): Stadt ist die Lösung, nicht das Problem!. In: Wiener Zeitung, 20.09.2020
Magistrat der Stadt Wien (2016): Do it Yourself – Stadtanleitung. Verfügbar unter: www.gbstern.at/fileadmin/redaktion/Presse_und_ Downloads/Downloads/PDF-Dokumente/DIY_Stadtanleitung_2016.pdf
Magistrat der Stadt Wien (2019): Smart City Wien – Rahmenstrategie 2019 – 2050; Die Wiener Strategie für eine nachhaltige Entwicklung; Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008551.pdf
Magistratsabteilung 18 – Stadtentwicklung und Stadtplanung (2011): Perspektive Erdgeschoss. Werkstattbericht Nr. 121; Verfügbar unter www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008355.pdf
Reinprecht, Christoph (2010): Soziale Dynamik im Stadtraum. Ein Projekt am Institut für Soziologie, Universität Wien im Auftrag der Stadt Wien (MA18)
Schechtner, Katja (2020): Faire Gestaltung des öffentlichen Raums wird wichtiger. In: Stadt Wien, Stadtentwicklung und Stadtplanung (Magistratsabteilung 18): STEP 2025; Positionsbestimmung – der STEP 2025 aus heutiger Sicht; aktuelle Einblicke und Ausblicke, S. 67
Stadtentwicklung Wien (2016): Identität und Raum. Werkstattbericht 161 Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008481.pdf
Stadtentwicklung Wien (2018): Segregationstendenzen in Wien? Sozioökonomische Durchmischung 1981–2016. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008541.pdf
Magistratsabteilung 18 – Stadtentwicklung und Stadt-planung (2020): Mittelpunkte des städtischen Lebens – Polyzentrales Wien, Fachkonzept
Stadt Wien – Integration und Diversität (2020): 5. Wiener Integrationsmonitor, S. 162 f
Stadt Wien (2020): Integrationsmonitor 2020. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/spezial/integrationsmonitor2020/oeffentlicher-raum-und-zusammenleben/potenzieller-nutzungsdruck

[Udo Häberlin studierte Stadt- und Raumplanung u. a. bei Detlef Ipsen, Ulla Terlinden und Lucius Burckhardt in Kassel. Er arbeitet bei der Stadt Wien, Abteilung Stadtplanung und -entwicklung im Themenfeld öffentlicher Raum und transdisziplinärer, urbaner Prozesse.
Mit einem empathisch-kreativen Zugang versucht er, Lebenslagen zu erfassen und holistisch die urbanen Lebenswelten zu verstehen.]

dérive, Do., 2021.03.25

25. März 2021 Udo Häberlin

Zurück zum Start – Architektur- und Städtebaugeschichte als Wissensgeschichte

Architektur- und Städtebaugeschichte stellen für die Architekturtheoretikerin und Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner — wie für mich auch — eine spezifische und hoch spannende Wissensgeschichte dar, die — wenn auch oft stark zeitverzögert und mutiert — reale politische Effekte nach sich zieht und sich auf die Lebensverhältnisse in (und zwischen) den Städten auswirkt. Was in der jeweils eigenen Disziplin ohnehin als bekannt vorausgesetzt und/oder in der eigenen Blase erwünscht, gefürchtet oder verdammt wird, ist dabei weniger interessant, als dass durch nur kleine Überschreitungen des eigenen Felds sowie Erweiterungen hinsichtlich der Methoden und Quellen neue Erkenntnisse oder zumindest andere Lesarten ermöglicht werden: Im Fall des vorliegenden Buchs Ströme und Zonen wurde die penible Beobachtung der Entwicklung der Diskurse um die funktionale Stadt weit über die uns vertraute Zeitspanne in Richtung deren (Vor-)Geschichte ausgedehnt. Und tatsächlich räumt das Buch so mit ein paar von uns gut und gerne geglaubten Selbstmystifikationen der Städtebaugeschichte auf und weist den Innovationsanspruch der Helden der Moderne in ihre historischen Grenzen.

Denn das Konzept der funktionalen Stadt wurde, so Christa Kamleithner, nicht erst von den Architekt:innen der CIAM 1933 während ihrer berühmten Schiffsreise erfunden und 1943 in der Charta von Athen verfestigt. Die Genealogie lässt sich vielmehr bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Das Buch beginnt daher auch nicht mit dem vierten CIAM-Kongress. Dieser bildet nur den Epilog, um en passant nachzuweisen, dass trotz der pathetischen revolutionären Rhetorik des Manifests wenig davon neu war. Den Prolog bildet hingegen das Kapitel Bilder einer Ausstellung über die Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin im Jahr 1910, die den Startschuss für eine breitere Begeisterung für Statistiken darstellen sollte. Hier wurden Stadtentwicklungskonzepte aus aller Welt vorgestellt. Der Kern der Ausstellung war jedoch der Wettbewerb Groß-Berlin und seine großformatigen Pläne zu Nutzungsclustern und Verkehrsnetzen, die von statistischen Karten und Diagrammen begleitet wurden, die auch Le Corbusier, den Autor der Charta von Athen beeindruckt hatten. Der Zusammenhang von statistischer Kartografie und moderner Stadtplanung sei, so die Autorin, in der Forschungsliteratur bislang unterbelichtet geblieben (S. 16).

Die zehn Kern-Kapitel ihres Buchs werden demnach von zwei viel diskutierten bildstarken und wirkmächtigen Ereignissen gerahmt. Dazwischen führt die Argumentationskette aber noch weiter zurück, und zwar bis um 1800. Die aktuell mit Recht so heiß diskutierte Bodenfrage begleitet uns von Beginn an durch das Buch, stellte doch die Befreiung des Bodenmarkts (aus der Kontrolle von Adel und Klerus) über die Grenzen der Städte hinaus eine der Grundforderungen der Liberalen dar ebenso wie die Voraussetzung für die Entwicklung neuer Städtebautheorien und ihrer Umsetzungen.

Es war tatsächlich eine Krankheit, die Cholera, die in den 1830er-Jahren, vor allem in England und Frankreich, die wissenschaftliche Untersuchung des städtischen Raums vorangetrieben und neuartige statistische Karten hervorgebracht hat, die jene Ängste vor Dichte und Armut schürten, die für moderne Stadt- und Planungsvorstellungen bestimmend wurden. Die Hygienebewegung rückte den Missständen vorerst nur mit Karten zu Leibe, die die Krankheiten des »sozialen Körpers« offenlegen sollten (siehe auch ihr Beitrag in dérive No 81). Diese Karten förderten aber, so die Autorin, »ein Denken in Stauungen und Ballungen, Flüssen und Zirkulation und legen für verschiedenste Bereiche ein- und dasselbe Vorgehen nahe: die Drainage, also eine technische Steuerung von Verteilungen.« (S. 84f.) Die folgende Aufschließung der Stadt durch moderne Kanäle, Leitungen und Verkehrsachsen sollte aus ihr dann auch tatsächlich einen zusammenhängenden »Organismus« machen.

Mit einiger Verspätung wurden die Maßnahmenkataloge auch in Deutschland und in Österreich gefordert, nun zusätzlich gestützt durch neue ökonomische Stadtmodelle aus den 1860er-Jahren, die von der Vorstellung eines idealen liberalen Bodenmarkts ausgingen: Dabei hatten liberale Ökonomen wie Faucher in Berlin oder Sax in Wien vor allem die Mittelschicht im Auge, die sie in einer Pionierrolle sahen, um in neue Villensiedlungen oder Cottageviertel im Grüngürtel zu ziehen, wozu allerdings erst die »Schaffung billiger und ausgiebiger Kommunikationsmittel« von Nöten war (S. 104). Wie bei der Entwicklung des Schwemmkanalsystems war London auch hier, beim Eisenbahnbau, Pionier und Vorbild. Und tatsächlich lassen sich das unterschiedliche Wachstum von London, Paris, Berlin und Wien mit den unterschiedlichen Verkehrskonzepten und Routen der Stadtbahnen in Verbindung bringen.

Dass Stadtplanung und Liberalismus heute einvernehmlich als Gegensatzpaar verhandelt werden, ist für das Verständnis ihrer Genealogie wenig hilfreich. Christa Kamleithner ist es daher ein Anliegen, auf die Beharrungstendenzen liberaler Ideen in den Planungstheorien hinzuweisen: Die Zeit, als die Städtebaureform Gestalt annahm — im deutschen Sprachraum um 1870 —, gilt bekanntlich ja als Anfang vom Ende des Liberalismus. Ein Auslöser dafür war der Börsencrash 1873, der ausgerechnet durch einen Spekulationsboom bei Bau- und Eisenbahnprojekten ausgelöst worden war. Auch wenn diese Krise zu einer vehementen Kapitalismuskritik führte (die leider auch mit einem zunehmenden Antisemitismus einherging), blieb für die bürgerlichen Reformer jedoch eine Welt ohne freie Märkte unvorstellbar. Diese Märkte sollten nur insoweit verbessert oder reguliert werden, dass die Verteilungseffekte soweit akzeptabel werden, dass eine drohende soziale Revolution verhindert werden kann. Dass die öffentliche Hand Wohnungen für die Armen baut, wie die noch lange von der politischen Mitentscheidung ausgeschlossenen Sozialdemokrat:innen forderten, war für sie nicht denkbar. Vielmehr sollte der Ausbau des Verkehrs allein die Wohnungsnot lindern, weil er mehr bebaubare Fläche erschließen und so die Konkurrenz am Bodenmarkt erhöhen und daher die Preise senken würde.

Reinhard Baumeisters Handbuch von 1876 kann im deutschen Sprachraum als Auftakt eines Planungsdenkens gelten. Darin legt er den Fokus genau darauf: nämlich mit Infrastrukturen in Bevölkerungsbewegungen zu intervenieren, wie das dann auch der Wettbewerb für einen Generalregulierungsplan für Wien 1892 und der Wettbewerb für Groß-Berlin 1910 machen sollten. Für den letzteren war die Stadt ein »wirtschaftspolitischer, verkehrstechnischer und baukünstlerischer Organismus« (S. 235), seine Teilnehmer arbeiteten bereits mit prognostizierten Bevölkerungsentwicklungen und sahen funktionale Zonierungen für ein Verwaltungs- und Geschäftszentrum, Wohngebiete für unterschiedliche soziale Schichten sowie Erholungs- und Industriegebiete vor.

Sowohl die Citybildung als auch die Verlegung der Industrie an die Peripherie blieben um 1910 allerdings Wunschdenken. Abhängige, schlecht verdienende Kleinstunternehmer:innen bevölkerten London, Paris, Berlin und Wien. Zugleich entwickelte sich in den Hinterhöfen eine avancierte Kleinindustrie, die mit der Elektrifizierung einen Aufschwung erfuhr. Gegenüber all dem versprachen sich die Planer einzig von Großhandel und Großindustrie einen Fortschritt. Und um die ihrer Meinung nach atürlichen Prozesse der Citybildung wie der Randwanderung der Industrie zu unterstützen, und die Ärmsten aus dem Zentrum zu vertreiben, riefen die liberalen Reformer dann aber durchaus nach der Hilfe der öffentlichen Hand. Ganz und gar nicht unterschwellig wurde versucht, im Zentrum nur Tätig­keiten zuzulassen, bei denen die Armen ausgeschlossen bleiben. Und auch die von Frauen betriebene Heimarbeit kam unter Beschuss (S. 241). Diese Planungstheorien beinhalteten auch präzise Bilder einer bürgerlichen Geschlechterordnung, die auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet werden sollte.

Auch die Gartenstadtbewegung ist ohne ein leistungsfähiges Eisenbahnnetz undenkbar: Schon der Erfinder der Gartenstadt, Ebenezer Howard, hatte in seinem Buch von 1898 keine Siedlungsutopie vorgestellt, sondern, das betont die Autorin, die ökonomische Folgerichtigkeit seines Konzepts zu zeigen versucht, das darauf hinauslief, Großstädte in ein vernetztes System von Klein- und Mittelstädten zu überführen. Stellte die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft die Idee der Gartenstadt vorerst ebenso in den Dienst einer Streuung der Industrialisierung, so nahm ab 1900 die These von der Großstadt als »Rassengrab« an Fahrt auf: die vermeintlich »tauglichen« Bevölkerungsgruppen würden durch schwache Geburtenraten gegenüber reproduktionsfreudigeren, aber weniger tauglichen immer mehr in die Minderheit gedrängt. Die Angst vor der Stadt als Ort der Degeneration wurde damit zunehmend rassistisch aufgeladen (S. 245). Insgesamt verhärteten sich Organismus-Vorstellungen mit Bakteriologie, Evolutionstheorie und Eugenik: Der einzelne Organismus wie die Bevölkerung, die sich zum Volkskörper formierte, sahen sich in einen dauernden Kriegs­zustand versetzt und nahmen festungsartige Züge an. Das traf, so die Autorin, auch auf die städtebaulichen Konzepte nach 1900 zu. Geschlossene Städte mit Satelliten an Eisenbahnverbindungen begannen, die Stadtmodelle zu dominieren.

Die Strukturmodelle in den Städtebauhandbüchern änderten sich auch nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs, obwohl sich politische Struktur und Planungspraxis radikal verändert hatten (S. 258): Wohnungsmärkte und private Wohnungswirtschaft waren mit dem Krieg zusammen­gebrochen, und die Erfahrungen der Kriegswirtschaft und der politische Erfolg der Sozialdemokratie führten zum Ausbau der Planungs- und Verwaltungsapparate. Die Städtebaumodelle abstrahierten inzwischen aber vollends von ihren Produktionsbedingungen und erschienen als politisch neutral. Diese Trennung von Planung und Politik war auch den CIAM-Architekt:innen extrem wichtig, versuchten sie doch identische Stadtplanungskonzepte in völlig gegensätzlichen politischen Regimen — die sogar von unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen gekennzeichnet waren — umzusetzen: in der kommunistischen Sowjetunion, im von der Volksfront regierten Frankreich, im faschistischen Italien, in Nazi-Deutschland usw. Es gelang ihnen auch, Planung als eine eigenständige Tätigkeit zu etablieren, die scheinbar universell gültigen Prinzipien folgt. Die Trennung von Arbeiten und Wohnen wurde beispielsweise 1962 als Planungsprinzip in der BRD gesetzlich verankert (S. 317). Die Masse an analytischen Karten, die beim vierten CIAM-Kongress zum Einsatz kamen, suggerierte mit Erfolg wissenschaftliche Objektivität. Den CIAM-Architekt:innen gelang es, durch ihre pathetische Sprache und die Bildmächtigkeit der abstrakten Darstellungstechniken ihrer Bestandsanalysen zu suggerieren, dass die von ihnen vorgeschlagene Funktionstrennung der Stadt — wohnen, arbeiten, sich erholen, sich bewegen —, die über Jahrzehnte durch verschiedene Akteurinnen geformt worden war, eine neue, bahnbrechende Idee wäre.

Christa Kamleithners Ströme und Zonen bietet eine Diskursanalyse par excellence: Zu Diskursen zählt Michel Foucault nicht nur die Zirkulation von Texten, sondern eben auch die von Karten und Diagrammen. Diskurse sind ihm zufolge »Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. (…) Wenn über Jahrzehnte auf sie Bezug genommen wird, sind aus ihnen Entitäten geworden, die sich von sichtbaren Dingen kaum unterscheiden und handfeste Konsequenzen haben. So ermöglichte das Denken in statistischen Verteilungen einen Zugriff auf die Stadt, der über alle lokalen Besonderheiten hinwegging, ihre Bevölkerung als bewegliche und formbare Masse begriff, die kanalisierbar schien wie Wasserströme.« (S. 24). Die Entwicklung der Planungstheorien, der Analysewerkzeuge und Praktiken haben — entgegen der Proklamationen der CIAM-Architektinnen — bestehende Tendenzen immer mehr verstärkt und sukzessive die Wunschvorstellungen der Theoretikerinnen und Planerinnen in soziale Realitäten verwandelt: Nachverdichtung des städtischen Raums, höchstmögliche soziale Durchmischung, kurze Wege und ein Mix an Nutzungen waren definitiv unerwünscht.

Christa Kamleithner
Ströme und Zonen.
Eine Genealogie der »funktionalen Stadt«
Bauwelt Fundamente 167 Basel: Birkhäuser 2020
376 Seiten, 29,95 Euro

dérive, Do., 2021.03.25

25. März 2021 Michael Zinganell

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