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25. März 2021Michael Zinganell
dérive

Zurück zum Start – Architektur- und Städtebaugeschichte als Wissensgeschichte

Architektur- und Städtebaugeschichte stellen für die Architekturtheoretikerin und Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner — wie für mich auch — eine...

Architektur- und Städtebaugeschichte stellen für die Architekturtheoretikerin und Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner — wie für mich auch — eine...

Architektur- und Städtebaugeschichte stellen für die Architekturtheoretikerin und Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner — wie für mich auch — eine spezifische und hoch spannende Wissensgeschichte dar, die — wenn auch oft stark zeitverzögert und mutiert — reale politische Effekte nach sich zieht und sich auf die Lebensverhältnisse in (und zwischen) den Städten auswirkt. Was in der jeweils eigenen Disziplin ohnehin als bekannt vorausgesetzt und/oder in der eigenen Blase erwünscht, gefürchtet oder verdammt wird, ist dabei weniger interessant, als dass durch nur kleine Überschreitungen des eigenen Felds sowie Erweiterungen hinsichtlich der Methoden und Quellen neue Erkenntnisse oder zumindest andere Lesarten ermöglicht werden: Im Fall des vorliegenden Buchs Ströme und Zonen wurde die penible Beobachtung der Entwicklung der Diskurse um die funktionale Stadt weit über die uns vertraute Zeitspanne in Richtung deren (Vor-)Geschichte ausgedehnt. Und tatsächlich räumt das Buch so mit ein paar von uns gut und gerne geglaubten Selbstmystifikationen der Städtebaugeschichte auf und weist den Innovationsanspruch der Helden der Moderne in ihre historischen Grenzen.

Denn das Konzept der funktionalen Stadt wurde, so Christa Kamleithner, nicht erst von den Architekt:innen der CIAM 1933 während ihrer berühmten Schiffsreise erfunden und 1943 in der Charta von Athen verfestigt. Die Genealogie lässt sich vielmehr bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Das Buch beginnt daher auch nicht mit dem vierten CIAM-Kongress. Dieser bildet nur den Epilog, um en passant nachzuweisen, dass trotz der pathetischen revolutionären Rhetorik des Manifests wenig davon neu war. Den Prolog bildet hingegen das Kapitel Bilder einer Ausstellung über die Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin im Jahr 1910, die den Startschuss für eine breitere Begeisterung für Statistiken darstellen sollte. Hier wurden Stadtentwicklungskonzepte aus aller Welt vorgestellt. Der Kern der Ausstellung war jedoch der Wettbewerb Groß-Berlin und seine großformatigen Pläne zu Nutzungsclustern und Verkehrsnetzen, die von statistischen Karten und Diagrammen begleitet wurden, die auch Le Corbusier, den Autor der Charta von Athen beeindruckt hatten. Der Zusammenhang von statistischer Kartografie und moderner Stadtplanung sei, so die Autorin, in der Forschungsliteratur bislang unterbelichtet geblieben (S. 16).

Die zehn Kern-Kapitel ihres Buchs werden demnach von zwei viel diskutierten bildstarken und wirkmächtigen Ereignissen gerahmt. Dazwischen führt die Argumentationskette aber noch weiter zurück, und zwar bis um 1800. Die aktuell mit Recht so heiß diskutierte Bodenfrage begleitet uns von Beginn an durch das Buch, stellte doch die Befreiung des Bodenmarkts (aus der Kontrolle von Adel und Klerus) über die Grenzen der Städte hinaus eine der Grundforderungen der Liberalen dar ebenso wie die Voraussetzung für die Entwicklung neuer Städtebautheorien und ihrer Umsetzungen.

Es war tatsächlich eine Krankheit, die Cholera, die in den 1830er-Jahren, vor allem in England und Frankreich, die wissenschaftliche Untersuchung des städtischen Raums vorangetrieben und neuartige statistische Karten hervorgebracht hat, die jene Ängste vor Dichte und Armut schürten, die für moderne Stadt- und Planungsvorstellungen bestimmend wurden. Die Hygienebewegung rückte den Missständen vorerst nur mit Karten zu Leibe, die die Krankheiten des »sozialen Körpers« offenlegen sollten (siehe auch ihr Beitrag in dérive No 81). Diese Karten förderten aber, so die Autorin, »ein Denken in Stauungen und Ballungen, Flüssen und Zirkulation und legen für verschiedenste Bereiche ein- und dasselbe Vorgehen nahe: die Drainage, also eine technische Steuerung von Verteilungen.« (S. 84f.) Die folgende Aufschließung der Stadt durch moderne Kanäle, Leitungen und Verkehrsachsen sollte aus ihr dann auch tatsächlich einen zusammenhängenden »Organismus« machen.

Mit einiger Verspätung wurden die Maßnahmenkataloge auch in Deutschland und in Österreich gefordert, nun zusätzlich gestützt durch neue ökonomische Stadtmodelle aus den 1860er-Jahren, die von der Vorstellung eines idealen liberalen Bodenmarkts ausgingen: Dabei hatten liberale Ökonomen wie Faucher in Berlin oder Sax in Wien vor allem die Mittelschicht im Auge, die sie in einer Pionierrolle sahen, um in neue Villensiedlungen oder Cottageviertel im Grüngürtel zu ziehen, wozu allerdings erst die »Schaffung billiger und ausgiebiger Kommunikationsmittel« von Nöten war (S. 104). Wie bei der Entwicklung des Schwemmkanalsystems war London auch hier, beim Eisenbahnbau, Pionier und Vorbild. Und tatsächlich lassen sich das unterschiedliche Wachstum von London, Paris, Berlin und Wien mit den unterschiedlichen Verkehrskonzepten und Routen der Stadtbahnen in Verbindung bringen.

Dass Stadtplanung und Liberalismus heute einvernehmlich als Gegensatzpaar verhandelt werden, ist für das Verständnis ihrer Genealogie wenig hilfreich. Christa Kamleithner ist es daher ein Anliegen, auf die Beharrungstendenzen liberaler Ideen in den Planungstheorien hinzuweisen: Die Zeit, als die Städtebaureform Gestalt annahm — im deutschen Sprachraum um 1870 —, gilt bekanntlich ja als Anfang vom Ende des Liberalismus. Ein Auslöser dafür war der Börsencrash 1873, der ausgerechnet durch einen Spekulationsboom bei Bau- und Eisenbahnprojekten ausgelöst worden war. Auch wenn diese Krise zu einer vehementen Kapitalismuskritik führte (die leider auch mit einem zunehmenden Antisemitismus einherging), blieb für die bürgerlichen Reformer jedoch eine Welt ohne freie Märkte unvorstellbar. Diese Märkte sollten nur insoweit verbessert oder reguliert werden, dass die Verteilungseffekte soweit akzeptabel werden, dass eine drohende soziale Revolution verhindert werden kann. Dass die öffentliche Hand Wohnungen für die Armen baut, wie die noch lange von der politischen Mitentscheidung ausgeschlossenen Sozialdemokrat:innen forderten, war für sie nicht denkbar. Vielmehr sollte der Ausbau des Verkehrs allein die Wohnungsnot lindern, weil er mehr bebaubare Fläche erschließen und so die Konkurrenz am Bodenmarkt erhöhen und daher die Preise senken würde.

Reinhard Baumeisters Handbuch von 1876 kann im deutschen Sprachraum als Auftakt eines Planungsdenkens gelten. Darin legt er den Fokus genau darauf: nämlich mit Infrastrukturen in Bevölkerungsbewegungen zu intervenieren, wie das dann auch der Wettbewerb für einen Generalregulierungsplan für Wien 1892 und der Wettbewerb für Groß-Berlin 1910 machen sollten. Für den letzteren war die Stadt ein »wirtschaftspolitischer, verkehrstechnischer und baukünstlerischer Organismus« (S. 235), seine Teilnehmer arbeiteten bereits mit prognostizierten Bevölkerungsentwicklungen und sahen funktionale Zonierungen für ein Verwaltungs- und Geschäftszentrum, Wohngebiete für unterschiedliche soziale Schichten sowie Erholungs- und Industriegebiete vor.

Sowohl die Citybildung als auch die Verlegung der Industrie an die Peripherie blieben um 1910 allerdings Wunschdenken. Abhängige, schlecht verdienende Kleinstunternehmer:innen bevölkerten London, Paris, Berlin und Wien. Zugleich entwickelte sich in den Hinterhöfen eine avancierte Kleinindustrie, die mit der Elektrifizierung einen Aufschwung erfuhr. Gegenüber all dem versprachen sich die Planer einzig von Großhandel und Großindustrie einen Fortschritt. Und um die ihrer Meinung nach atürlichen Prozesse der Citybildung wie der Randwanderung der Industrie zu unterstützen, und die Ärmsten aus dem Zentrum zu vertreiben, riefen die liberalen Reformer dann aber durchaus nach der Hilfe der öffentlichen Hand. Ganz und gar nicht unterschwellig wurde versucht, im Zentrum nur Tätig­keiten zuzulassen, bei denen die Armen ausgeschlossen bleiben. Und auch die von Frauen betriebene Heimarbeit kam unter Beschuss (S. 241). Diese Planungstheorien beinhalteten auch präzise Bilder einer bürgerlichen Geschlechterordnung, die auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet werden sollte.

Auch die Gartenstadtbewegung ist ohne ein leistungsfähiges Eisenbahnnetz undenkbar: Schon der Erfinder der Gartenstadt, Ebenezer Howard, hatte in seinem Buch von 1898 keine Siedlungsutopie vorgestellt, sondern, das betont die Autorin, die ökonomische Folgerichtigkeit seines Konzepts zu zeigen versucht, das darauf hinauslief, Großstädte in ein vernetztes System von Klein- und Mittelstädten zu überführen. Stellte die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft die Idee der Gartenstadt vorerst ebenso in den Dienst einer Streuung der Industrialisierung, so nahm ab 1900 die These von der Großstadt als »Rassengrab« an Fahrt auf: die vermeintlich »tauglichen« Bevölkerungsgruppen würden durch schwache Geburtenraten gegenüber reproduktionsfreudigeren, aber weniger tauglichen immer mehr in die Minderheit gedrängt. Die Angst vor der Stadt als Ort der Degeneration wurde damit zunehmend rassistisch aufgeladen (S. 245). Insgesamt verhärteten sich Organismus-Vorstellungen mit Bakteriologie, Evolutionstheorie und Eugenik: Der einzelne Organismus wie die Bevölkerung, die sich zum Volkskörper formierte, sahen sich in einen dauernden Kriegs­zustand versetzt und nahmen festungsartige Züge an. Das traf, so die Autorin, auch auf die städtebaulichen Konzepte nach 1900 zu. Geschlossene Städte mit Satelliten an Eisenbahnverbindungen begannen, die Stadtmodelle zu dominieren.

Die Strukturmodelle in den Städtebauhandbüchern änderten sich auch nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs, obwohl sich politische Struktur und Planungspraxis radikal verändert hatten (S. 258): Wohnungsmärkte und private Wohnungswirtschaft waren mit dem Krieg zusammen­gebrochen, und die Erfahrungen der Kriegswirtschaft und der politische Erfolg der Sozialdemokratie führten zum Ausbau der Planungs- und Verwaltungsapparate. Die Städtebaumodelle abstrahierten inzwischen aber vollends von ihren Produktionsbedingungen und erschienen als politisch neutral. Diese Trennung von Planung und Politik war auch den CIAM-Architekt:innen extrem wichtig, versuchten sie doch identische Stadtplanungskonzepte in völlig gegensätzlichen politischen Regimen — die sogar von unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen gekennzeichnet waren — umzusetzen: in der kommunistischen Sowjetunion, im von der Volksfront regierten Frankreich, im faschistischen Italien, in Nazi-Deutschland usw. Es gelang ihnen auch, Planung als eine eigenständige Tätigkeit zu etablieren, die scheinbar universell gültigen Prinzipien folgt. Die Trennung von Arbeiten und Wohnen wurde beispielsweise 1962 als Planungsprinzip in der BRD gesetzlich verankert (S. 317). Die Masse an analytischen Karten, die beim vierten CIAM-Kongress zum Einsatz kamen, suggerierte mit Erfolg wissenschaftliche Objektivität. Den CIAM-Architekt:innen gelang es, durch ihre pathetische Sprache und die Bildmächtigkeit der abstrakten Darstellungstechniken ihrer Bestandsanalysen zu suggerieren, dass die von ihnen vorgeschlagene Funktionstrennung der Stadt — wohnen, arbeiten, sich erholen, sich bewegen —, die über Jahrzehnte durch verschiedene Akteurinnen geformt worden war, eine neue, bahnbrechende Idee wäre.

Christa Kamleithners Ströme und Zonen bietet eine Diskursanalyse par excellence: Zu Diskursen zählt Michel Foucault nicht nur die Zirkulation von Texten, sondern eben auch die von Karten und Diagrammen. Diskurse sind ihm zufolge »Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. (…) Wenn über Jahrzehnte auf sie Bezug genommen wird, sind aus ihnen Entitäten geworden, die sich von sichtbaren Dingen kaum unterscheiden und handfeste Konsequenzen haben. So ermöglichte das Denken in statistischen Verteilungen einen Zugriff auf die Stadt, der über alle lokalen Besonderheiten hinwegging, ihre Bevölkerung als bewegliche und formbare Masse begriff, die kanalisierbar schien wie Wasserströme.« (S. 24). Die Entwicklung der Planungstheorien, der Analysewerkzeuge und Praktiken haben — entgegen der Proklamationen der CIAM-Architektinnen — bestehende Tendenzen immer mehr verstärkt und sukzessive die Wunschvorstellungen der Theoretikerinnen und Planerinnen in soziale Realitäten verwandelt: Nachverdichtung des städtischen Raums, höchstmögliche soziale Durchmischung, kurze Wege und ein Mix an Nutzungen waren definitiv unerwünscht.

Christa Kamleithner
Ströme und Zonen.
Eine Genealogie der »funktionalen Stadt«
Bauwelt Fundamente 167 Basel: Birkhäuser 2020
376 Seiten, 29,95 Euro

dérive, Do., 2021.03.25



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28. Mai 2016Michael Zinganell
dérive

Stop and Go – Knotenpunkte transnationaler Mobilitätsnetzwerke

Im Mobilitätskontinuum

In einer sich zunehmend globalisierenden Welt sind immer mehr Menschen gezwungen, immer mehr Zeit unterwegs zu verbringen. Die...

Im Mobilitätskontinuum

In einer sich zunehmend globalisierenden Welt sind immer mehr Menschen gezwungen, immer mehr Zeit unterwegs zu verbringen. Die...

Im Mobilitätskontinuum

In einer sich zunehmend globalisierenden Welt sind immer mehr Menschen gezwungen, immer mehr Zeit unterwegs zu verbringen. Die Distanzen von Transportrouten, die Wege, die ArbeitsmigrantInnen und PendlerInnen zurücklegen müssen, wachsen, Fahrzeuge werden daher zunehmend zum Arbeitsort oder sogar zum persönlichen Behausungsersatz. Für die vielen mobilen Subjekte sind Orte, an denen der Verkehrsfluss aus unterschiedlichen Ursachen anhält oder abgehalten wird – wie Bus-Terminals, Parkplätze für den internationalen Last­kraftwagenverkehr (TIR), Logistik-Zentren, Grenz-Stationen, Autobahnraststätten, formale und informelle Märkte entlang der Straßen –, Schwellen in der Mobilitätslandschaft. An solchen Knotenpunkten lassen sich sowohl Strategien staatlicher und suprastaatlicher Institutionen und großer Unternehmen ablesen, wie sie Mobilitätsströme kontrollieren, als auch die unterschiedlichen Routen, Motive und Mobili­täts-Biographien der sie passierenden AkteurInnen. Mitunter verwandeln sich dabei anthropologische Nicht-Orte (Augé 1995) (an denen bestenfalls Objekte miteinander kommunizieren) zu intimen Ankern im Alltag der multilokalen Existenz hochmobiler Subjekte, an denen diese Rituale und Routinen zu entwickeln versuchen, um sich zu erholen, Kontaktaufnahmen an die Ziel- und Quellregionen in Gang zu setzen, aber auch um vor Ort fragmentierte Gemeinschaften zu pflegen.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entwickelten sich entlang der Straßen-Korridore zwischen dem vormaligen Osten und dem Westen die Kriechströme der Ameisen­händlerInnen, der unzähligen KleinhändlerInnen, die – Karl Schlögel (2009) zufolge – die Wiedervereinigung Europas von unten vorangetrieben hätten, noch bevor mit EU-Mitteln die Infrastrukturen ausgebaut wurden und die großen Lo­gistik-Unternehmen ihre riesigen Warenumschlagplätze und Hubs errichtet haben.

Diese Knoten sind Bestandteile einer neuen Form von dynamischer Urbanität (Bittner 2006). Sie sind jedoch nicht immer permanente Einrichtungen, sie werden mitunter obsolet, verwahrlosen bzw. werden durch neue Knoten ersetzt. Informelle Knoten können formalisiert und kontrolliert werden und an anderen Orten können neue informelle Knoten entstehen. Aktive Knoten repräsentieren »polyrhyth­mische« Ensembles (Crang 2001, Lefebvre 2013) aus statischen Architekturen, mobilen Objekten und Individuen, die abhängig von den täglich, wöchentlich oder saisonal wechselnden Rhythmen des Verkehrsflusses zu unterschiedlichen Nutzungs­dichten anwachsen und schrumpfen. Solche Knoten sind auch keine singulären Entitäten, sondern Bestandteile eines Netzwerkes aus mehreren Knoten, die jeweils Stationen einer Tour von Individuen oder Objekten darstellen.

Die Verkehrs­korridore, die diese Knoten verbinden, repräsentieren außergewöhnliche technische Leistungen und Investitionen, die unter politischem und ökonomischem Druck (und mitunter auch gegen ökologische Argumente und von Konflikten begleitet) geplant, errichtet und ausgebaut wurden und werden. Sie waren und sind Monumente der Modernisierung von Staaten und Staatenverbänden. Gleich­zeitig stellen sie jedoch seit jeher auch Imaginations­arsenale dar, an denen sich eine Vielzahl an Träumen (und Alpträumen) von Individuen und Institutionen festmachen lässt: von Wirt­schafts­wachstum und Völkerverständigung bis zum Truppen­­aufmarsch seitens der staatlichen Institutionen, von der motorisierten Flucht aus dem kleinbürgerlichen elterlichen Haushalt oder dem als entfremdet empfundenen Alltag in den Urlaub bis zur Arbeitsmigration und der Flucht aus Kriegsregionen.

Diese Korridore operieren wie Magnete (Steward 2014, S. 552), die sowohl Dinge als auch Individuen anziehen, die sich auf ihnen bewegen, an ihnen lagern und deren Erfah­rungen und Erlebnisse in den Statistiken der Kontrollorgane, den News-Clips der Massenmedien und in den Alltags-Geschichten der StraßenbenutzerInnen und AnrainerInnen verzeichnet werden – ebenso wie in Forschungsberichten wie diesem.

In diesem Mobilitätskontinuum (Hall 2002) stellen Migration und Tourismus nicht mehr gegensätzliche Pole innerhalb einer Vielfalt von Mobilitätsmotiven dar (Bauman 2000), sondern stehen vielmehr miteinander in Beziehung, bedingen einander (Holert 2006; Zinganel 2006) – ebenso wie die Logistik von Warentransport und Fluchthilfe.

Transformationen Paneuropäischer Transit-Routen und -Knoten

Der Großteil der hier vorliegenden Texte entstand im Rahmen des Forschungsprojektes Stop and Go. Nodes of Transformation and Transition, das Knotenpunkte transnationaler Mobilität und Migration entlang der wichtigsten paneuropäischen Straßen-Verkehrskorridore in einem Dreieck zwischen Wien, Tallinn und der bulgarisch-türkischen Grenze untersucht. Der Terminus technicus Paneuropäische Verkehrskorridore wurde bereits 1991 von den EU-VerkehrsministerInnen eingeführt, um die bedeutendsten Verbindungen zwischen dem ehemaligen kommunistischen Osten und den Ländern West-Europas zu bezeichnen, deren Ausbau als eines der vorrangigen Ziele der EU-Erweiterung definiert wurde. Schwerpunkt des Forschungs­projektes sind daher auch die Effekte der politischen und ökonomischen Transformation entlang dieser Korridore – sowohl vor und nach dem Fall des sogenannten Eisernen Vorhanges als auch parallel zur sukzessiven Verlagerung der EU-Außengrenzen.

Ziel des Projektes ist es, eine sich erweiternde und verdichtende vernetzte Kartographie von beispielhaften Routen und Knoten entlang der Korridore zu erstellen, die damit verbundenen Kontrollambitionen der Institutionen nachzu­zeichnen, aber auch die individuellen Erfahrungen und alternativen Wissensformen der mobilen AkteurInnen, ihrer Taktiken der Raumaneignung und Nutzung, oder pragmatischer: ihres »Doing with Space« (Lussault 2010).1

In Wien, gemäß Selbstvermarktung Drehscheibe zwischen Ost und West – diesseits des ehemaligen Eisernen Vorhanges gelegen –, treffen Korridore aus dem ehemaligen Süd-Osten und Osten zusammen und durchziehen die Stadt. Daher lassen sich anhand der Entwicklung der Knoten transnationaler Mobilität und Migration in und um Wien auch die postsozialis­tischen Transformationen des geopolitischen Umfeldes nachzeichnen – insbesondere in der städtebaulichen Entwick­lung und sukzessiven Translokation und des Imagewandels der internationalen Busbahnhöfe, die Michael Hieslmair in seinem Beitrag Korridore nach Wien vorstellt.

Tallinn in Estland und die bulgarisch-türkische Grenzregion liegen an den beiden entgegengesetzten Enden einer bedeutenden Nord-Süd-Achse in historisch sehr unter­schiedlich gewachsenen geopolitischen Konstellationen und sozialpolitischen Spannungsverhältnissen, die Transforma­tionsprozesse bezüglich der Art der staatlichen Regulierung und der Qualität und Quantität der Gestaltung bis heute jeweils signifikant anders entwickelt haben.

Tallinn, vormals hanseatische, dann sowjetische Hafen-stadt, ist heute die Hauptstadt eines der Musterländer der EU, wo allerorten der Innovationswille der jungen Nation zur Schau gestellt wird. Angetrieben von der enormen Einkommens-, Preis- und Kaufkraftdifferenz zwischen Estland und Finnland entstanden hier massive Ströme der Arbeitsmigration von Estland nach Finnland, denen enorme Ankunftszahlen von TouristInnen aus Finnland (und in kleinerem Masse aus Schweden und Deutschland) gegenüberstehen. Die zu Sowjetzeiten angesie­delte russische Bevölkerung wurde durch die De-Industrialisierung in den Niedriglohnsektor und in graue Märkte abgedrängt, während die auffallend vielen eleganten neu errichteten Bauwerke vorrangig über skandinavische Gesellschaften und Fonds finanziert wurden, mit deren Hilfe russische InvestorInnen ihr gefährdetes Kapital in einem sicheren EU-Hafen verankern. Der Humangeo­graph Tarmo Pikner untersucht in seinem Artikel Lines of movement connecting Tallinn’s old harbor and the city den Tallinner Fährhafen, in dem der paneuropäische Straßen-Korridor durch eine leistungs­starke Fährverbindung ersetzt wird, deren Rhyth­men an Ankünften und Abfahrten die Bewegungsmuster in der vergleichsweise kleinen Stadt signifikant prägen und deren Ausstoß an Personen und Fahrzeugen die Stadt geradezu überformt.

Bulgarien, eines der notorischen schwarzen Schafe der EU, ist auch von Abwanderung gekennzeichnet und als Quellre­gion von Strömen der Arbeitsmigration bekannt. Die ersten Opfer ökonomischer Krisen im Sozialismus und während der postsozialistischen De-Industrialisierung waren hier Roma und türkisch-stämmige BulgarInnen, die als Klein-HändlerInnen im Grenzverkehr zur Türkei und auf offenen Märkten entlang der großen Durchfahrtsstraßen ihr Glück versuchten (Konstantinov 1996). Durch die traditionelle Rolle als Transitland sind auch die Anteile an transnationalen Transportunternehmen hoch, wenn auch viele davon heute Töchter westeuropäischer Partner sind, die den Kostendruck auf die FahrerInnen aus dem Niedriglohn­land abzuwälzen versuchen. Die Anthropologin und Historikerin Emiliya Karaboeva untersucht in ihrem Beitrag Networking Eurasia. Bulgarian international truck drivers and SO MAT during the cold war das geographisch weiträumige Netzwerk des Unternehmens SO MAT. Als Monopol-Unternehmen für den grenzüberschreitenden LKW-Verkehr im sozialistischen Bulgarien kontrollierte es zur Zeit des Kalten Krieges den Landtransport von Gütern zwischen Westeuropa und den sich entwickelnden Staaten im Nahen, Mittleren und Fernen Osten. Dementsprechend groß war auch das Ansehen der FahrerInnen, die zudem durch den Schmuggel von Gütern aller Art ihr Einkommen und den Status ihrer Familien beträchtlich steigern konnten.

Katarzyna Osiecka und Tatjana Vukosavljević zeichnen in ihrem Beitrag am Beispiel von Wólka Kosowska, einem polnischen Dorf im Süden von Warschau, die Entwicklung der urbanen Agglomeration eines von MigrantInnen betriebenen Großhandelszentrums nach, sowie die Migrationsrouten der am Markt tätigen AkteurInnen sowie die Routen des Gütertransports. Billig-Importe aus Asien werden hier mit Schifffahrts-Containern angeliefert, in mehreren hundert Läden vertrieben und von unzähligen KleinhändlerInnen in Kleinbussen zu bis zu 1.000 Kilometer entfernten Einzelhandelsmärkten in Osteuropa weitertransportiert – wie beispielsweise nach Tallinn.

Anke Hagemann und Elke Beyer beschäftigen sich in ihrem aktuellen Forschungsprojekt Transnationale Produktions-räume am Beispiel der Textilindustrie in der Westtürkei mit den städtebau­lichen Auswirkungen globalisierter Güterproduktion und damit, wie sich lokale Stadträume entlang transnationaler Produktionsketten konstituieren und welche weitgehend unsichtbaren Standorte und AkteurInnen daran beteiligt sind.

Juan Moreno und Thomas Grabka erzählten in ihrer Reisereportage Der letzte Europäer über die Routen und Routinen eines rumänischen Busfahrers, der mit seinem Kleinbus nahezu unentwegt die 4.000 Kilometer zwischen Rumänien und Portugal zurücklegt, um vorrangig ArbeitsmigrantInnen zwischen der Heimat und der Diaspora hin und her zu transportieren. Kleinbusse wie diese zählen zu den wichtigsten Verkehrsmitteln auf den paneuropäischen Korridoren, weil sie als Gebrauchtwagen zu erschwinglichen Preisen zu erwerben sind und mit PKW-Führerschein gefahren werden dürfen. Sie unterliegen keinen Nacht- und Wochenendfahrverboten oder Durchfahrtverboten durch Städte, den FahrerInnen werden keine strengen gesetzlichen Ruhezeiten vorgeschrieben und sie müssen sich bei den Grenzkontrollen nicht in die endlosen LKW-Warteschlangen einordnen. Sie eignen sich daher vortrefflich für den Transport von Personen und Waren, ob mit oder ohne gültige Papiere, insbesondere weil die FahrerInnen in der Regel die Grauzonen und Toleranzen der Kontrollorgane kennen und daher das volle Vertrauen ihrer Passagiere und AuftraggeberInnen genießen.

Routen. Rhythmen. (Grenz-)Infrastruktur

Wie eine Folge übergeordneter politische Ereignisse – be­gin­nend mit Kriegshandlungen, politischem Terror und mangelnder Hoffnung von Flüchtlingen im Nahen und Mittleren Osten – Mobi­li­täts­ströme auslösen und deren Routen und Rhythmen massiv beeinflussen, zeigen paradigmatisch die Ereignisse an der österreichisch-ungarischen Grenze vom Sommer und Herbst 2015, als hier durchschnittlich 4.500 Flüchtlinge täglich (am stärksten Wochenende Ende September insgesamt 17.000 Flüchtlinge) aus Ungarn in dem 1.200 EinwohnerInnen zählenden Ort Nickels­dorf ankamen.

Zwischen Hegyeshalom und Nickelsdorf wurden daher zur Bewältigung der Flüchtlingswelle die seit dem Ende der Schengen-Grenze obsoleten Parkflächen und Grenz-Infrastruk­turen als Checkpoints und (Not-)Unterkünfte reaktiviert und mit ephemeren Infrastrukturen aus der Katastrophen-Hilfe und Eventindustrie ergänzt.

Hier entstand in kürzester Zeit ein unfreiwilliger provi­sorischer Lebensraum für Menschen im Transit, die mit Bussen, die andernfalls PendlerInnen oder TouristInnen vorbehalten sind, in die Notquartiere der Stadt Wien gebracht wurden. So entwickelte sich das Grenzdorf kurzfristig zu einem Hub der Flüchtlingslogistik, bis – aufgrund der Entscheidung der unga­rischen Regierung die Grenze zu Serbien und später zu Kroatien zu schließen – der Flüchtlingsstrom weiträumig auf die Haupt­stränge der ehemalige Gastarbeiterroute umgeleitet und die Grenzstation wieder menschenleer und das kleine Dorf beschaulich wie zuvor wurde.

In dem doppelseitigen Diagramm Grenzlogistik Nickelsdorf. Erstversorgung an der Balkanroute (Seite 8-9) wurden die bestehenden und ephemeren Infrastrukturen – Stand Oktober 2015 – nachgezeichnet und von Gerhard Zapfl, dem Bürger­meister der Gemeinde Nickelsdorf kommentiert. Wobei zu bemerken ist, dass der vorübergehende Ausnahmezustand für die Geschichte von Massenfluchtereignissen in der kleinen Grenzgemeinde keineswegs einzigartig war: so passierten während der Ungarn-Krise ab November 1956 180.000 Flücht­linge die Gemeinde, und nach dem Fall des Eisernen Vor­hanges im Herbst 1989 mussten hier 40.000 erschöpfte DDR-Bürger­Innen erstversorgt werden. Und auch die Flucht-Routen sind nicht neu: Es sind durchwegs bewährte Routen, an denen die FluchthelferInnen über Logistik und funktionierende Netzwerke verfügen, die mitunter sogar staatliche Kontroll­organe einschließen, es sind dieselben Routen, die die Autor­Innen in ihrem Forschungsprojekt Stop and Go – gleichzeitig mit unzähligen anderen mobilen Individuen mit unterschiedlichsten Motiven – während ihrer Recherchereisen befahren sind.


Literatur
Augé, Mark (1995): Non-Places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity. New York: Verso Books.
Bauman Zygmunt (2000): Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press
Bittner, Regina; Hackenbroich, Wilfried & Vöckler, Kai (Hg.) (2006): Transiträume. Transit Spaces (Edition Bauhaus, Band 19). Berlin: Jovis.
Crang, Michael (2001): »Rhythms of the City. Temporalised Space and Motion«. In: May, Jon & Thrift, Nigel (Hg.): Timespace. Geographies of Temporality. London: Routledge, S. 187-207.
Hall, C. Michael & Williams, Alan M. (2002): Tourism and Migration. New Relationships between Production and Consumption. London: Kluwer Academic Publishing.
Holert, Tom & Terkessidis, Mark (2006): Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Konstantinov, Yulian (1996): »Patterns of Reinterpretation. Trader-Tourism in the Balkans (Bulgaria) as a Picaresque Metaphorical Enactment of Post-Totalitarianism«. In: American Ethnologist, Vol. 23, No. 4, S. 762-782.
Konstantinov, Yulian; Kressel, Gideon M. & Thuen, Trond (1988): Outclassed by Former Outcasts: Petty Trading in Varna. In: American Ethnologist, Vol. 25, No. 4, 729-745.
Lefebvre, Henri (2013): Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life. London: Bloomsbury Academic.
Massey, Dorren (2004): Geographies of Responsibility. In: Geografiska Annaler: Series B, Human Geography 86, Nr. 1: S. 5–18.
Lussault, Michel & Stock, Mathis (2010): »Doing with space. towards a pragmatics of space«. In: Social Geography, Vol. 5 (1): S. 11-19.
Schlögel, Karl (2005): Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte. München: Hanser.
Schlögel, Karl (2009): Die Ameisenhändler vom Bahnhof Zoo. Geschichte im Abseits und vergessene Europäer. In: Osteuropa, 11/2009: S. 53-60.
Stewart, Kathleen (2014): »Road registers«. In: Cultural Geographies, Vol. 21(4): 549-563.
Zinganel, Michael; Albers, Hans; Sagadin, Marusa & Hieslmair, Michael (Hg.) (2006): Saison Opening. Kulturtransfer über ostdeutschtirolerische Migrationsrouten. Frankfurt am Main: Revolver.

dérive, Sa., 2016.05.28



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10. September 2011Michael Zinganell
Spectrum

Totem der Moderne

Architektur im Fieber der Ereignisse: wie mit dem Erbe der Twin Towers verfahren wurde. Zwischen Ideenwettbewerben für einen Wiederaufbau und pragmatischen Gründen gegen eine Gedenkstätte am Ground Zero.

Architektur im Fieber der Ereignisse: wie mit dem Erbe der Twin Towers verfahren wurde. Zwischen Ideenwettbewerben für einen Wiederaufbau und pragmatischen Gründen gegen eine Gedenkstätte am Ground Zero.

Haben die Anschläge auf das Word Trade Center in New York vom 11.September 2001 auch die Diskurse über Architektur und Stadtplanung verändert, oder sind reale bauliche Interventionen durch die tragischen Ereignisse in New York beeinflusst wurden? Was hat das Verbrechen dort an Produktivkraft freigesetzt?

Zur Erinnerung: Den Terroristen gelang es, die entführten Flugzeuge so exakt zu koordinieren, dass beinahe die ganze Welt gezwungen war, live an den TV-Schirmen zuzusehen, wie die Hochhaustürme zu brennen begannen und später einstürzten. Der Doppelanschlag mit zwei Boeing 767 tötete nicht nur über 2.900 Personen in den Zwillingstürmen, sondern zerstörte riesige Büroflächen und die Arbeitsplätze von über 40.000 Angestellten in sieben Gebäuden. Dabei wurden nicht nur große Teile des Telefonnetzes lahmgelegt, sondern auch das Verkehrssystem in Downtown Manhattan. Das verursachte einen Totalausfall in den Niederlassungen von Finanzdienstleistern im Financial District – und die vorübergehende Schließung der Börse. Auf medialer wie ökonomischer Ebene war der Anschlag an Effektivität kaum zu übertreffen.

Bereits unmittelbar nach dem Attentat meldeten sich Experten unterschiedlichster Disziplinen zu Wort, boten ihre Expertisen an und versuchten sich in der Phase erhöhter Medienaufmerksamkeit mit ihren Vorschlägen in Stellung zu bringen: zuerst Ingenieure und Statiker, im Regelfall Vertreter eines stillen, im Hintergrund arbeitenden Gewerbes, die nun von Sicherheitsexperten und Medienvertretern konsultiert wurden, aber auch Stadtplaner und Architekten.

Warnung vor Wiederaufbau

Am 17. September beispielsweise erklärten James Howard Kunstler und Nikos A. Salingaros das Zeitalter der Wolkenkratzer für beendet: „Hochhäuser stellen eine experimentelle Bautypologie dar, die versagt hat. Kein Megatower wird mehr gebaut, und viele der bereits bestehenden werden abgebrochen werden. Nur in einigen Ländern der dritten Welt, wo sie eben erst als Teil des enormen Nachzieheffekts der Industrialisierung unreflektiert übernommen wurden, bleiben sie noch erhalten.“ Für Kunstler und Salingaros stellten die Türme des World Trade Center bereits seit ihrer Errichtung nichts anderes als „Totems der Moderne“ dar. Sie warnten eindringlich davor, sie wiederzuerrichten: „Die Bilder ihrer Zerstörung haben sich nun nicht nur in die Gedächtnisse potenzieller Opfer eingebrannt, sondern auch in das jedes zukünftigen Terroristen, der vielleicht noch heute in den Kindesschuhen steckt: Sie wieder aufzubauen hieße daher Zielscheiben zu errichten!“ Unterstützung erhielten die Dekonzentrationsverfechter von Sicherheits- und Immobilienexperten: Erstens seien in Lower Manhattan bereits vor dem 11. September ebenso viele Büros leergestanden wie durch den Anschlag verloren gingen, und zum anderen war die Nachfrage gesunken, nachdem der Dotcom-Fallout und die anhaltende Rezession viele Unternehmen zwangen Kosten zu reduzieren. Sicherheitsberater empfahlen ohnehin diskretere Bauwerke, die sich als symbolisches Ziel weniger eigneten, und dezentralere Standorte, die besser zu sichern sind. Sie bewarben die lebensnotwendige Einrichtung von dislozierten Datenbackup-Zentren und parallelen Büroinfrastrukturen, die im Notfall sofort von den Mitarbeitern bezogen werden können.

Angesichts des Schulterschlusses, der die ganze Nation erfasste, formierten sich auch sofort die Verfechter eines symbolischen Gegenschlages: Zwar hatten zahlreiche namhafte Künstler und Intellektuelle Vorschläge für eine permanente Gedenkstätte auf Ground Zero gemacht, doch der neue Bürgermeister stellte bald klar, dass sich die Stadt nicht leisten könne, an dieser Stelle auf eine kommerzielle Nutzung zu verzichten. Und auch in Architektenkreisen wollte man nicht viel von Demut wissen: Das hieße nur, sich vor der Verantwortung einer Neugestaltung zu drücken, so Robert Stern, die Rekonstruktion der Türme symbolisiere die „Unbesiegbarkeit Amerikas“. Ganz im Gegenteil: „We should build an even greater and more innovative scyscraper“, brachte Terence Riley, Leiter der Architekturabteilung des MOMA, die dominierende Vorstellung in der Architekturszene auf den Punkt.

Um die Diskussion nicht zaghaften oder visionslosen Politikern und Wirtschaftskapitänen zu überlassen, hatte der New Yorker Architekturgalerist Max Protetch bereits am 20.September zu einem internationalen Ideenwettbewerb aufgerufen. Die Ausstellung sollte ein „Forum für Optimismus“ bilden. Und obwohl einige der ganz Großen fehlten, boten die Entwürfe von „Stararchitekten“ eine beeindruckende Anzahl ästhetischer Sensationen, die vor allem von einem enormen Drang nach Höhe getrieben schienen: „Die Komplexität der Aufgabe an diesem ,hoch mediatisierten Weltort‘ scheint dieArchitekten beflügelt zu haben“, zeigte sich der Architekturredakteur der „Süddeutschen Zeitung“ begeistert. Das Interesse der Öffentlichkeit an Architektur sei seit dem 11. September eindeutig gestiegen, sogar CNN habesich für die Eröffnung der Ausstellung angesagt, freute sich der Initiator der Schau – und in einem Interview für Telepolis bekräftigte er: „Es ist vermutlich das erste Mal in der Geschichte der USA, dass sich die amerikanische Öffentlichkeit der Bedeutung von Architektur in allen ihren Facetten bewusst wird: Architektur als Symbol und als politisches, soziales und wirtschaftliches Element. Auf einmal haben wir ein Publikum, das aufmerksam zuhört und interessante Fragen stellt. Was das für New York konkret bedeutet? Dass wir bei den Mächtigen in Wirtschaft und Politik leichter Gehör finden, wenn über Stadtpolitik und Stadtentwicklung diskutiert wird.“

Aber auch Vertreter einer rationalen Sachlichkeit meldeten sich sofort zu Wort: Auf Initiative von Norman Foster und Ove Arup wurde als Reaktion auf das Attentat eine sicherheitstechnische Optimierung des alten Motivs der Zwillingstürme entwickelt. Die neuen „twinned towers“, in sich verdrehte Zwillingstürme aus dreieckigen Elementen, die Lasten nachgiebig auffangen, sollten nun gegen Flugzeugeinschläge resistent sein und durch ihre mehrmalige Verschränkung eine Fülle an Fluchtwegen ermöglichen. Ein Modernisierungsschub par excellence, ohne jede Metapher der Trauer.

Von den oben angeführten Visionen ist allerdings nur wenig geblieben: Der Exodus aus Downtown hat zumindest nicht in dem prognostizierten Ausmaß stattgefunden. Hochhäuser werden weiter gebaut. Und auch der Bauherr des World Trade Center könnte zu einem geladenen Wettbewerb genötigt werden. Daniel Libeskinds metaphernreiches Siegerprojekt und seine emotionale Rhetorik haben zwar die Unterstützung der Überlebenden und der Familien der Opfer gewonnen. Seine Lobby hatte sogar die Entlassung des Architekturkritikers der New York Times gefordert, als dieser es wagte, seinen Entwurf zu kritisieren. Aber dieser Streit hat sich mittlerweile erübrigt. Denn der Immobilienmagnat Larry Silverstein, der die sanierungsbedürftigen Gebäude nur drei Monate vor dem Attentat preisgünstig erworben hatte und nun den Wiederaufbau aus Mitteln der Versicherung finanziert, entschied anders: Libeskind durfteden Masterplan zeichnen, als verantwortlichen Projektleiter ernannte er aber David Childs, Partner von Skidmore, Owings & Merrill, einem der weltgrößten Architekturbüros, das sich ebenfalls am Wettbewerb beteiligt hatte, aber bereits vor dem Einsturz des World Trade Center von Silverstein mit dessen Umbau beauftragt war.

Ein kleines, unscheinbares Gebäude

Im Getöse um Aufmerksamkeit ging dabei der Erfolg eines kleinen, unscheinbaren temporären Gebäudes unter: die World Trade Center Temporary Viewing Platform von Rockwell, Kennon, Diller & Scofidio. Sie wurde am 30. Dezember 2001 eröffnet und bestand bloß aus einer aufsteigenden und absteigenden Rampe, getrennt von einer Wand, in die Besucher Worte der Kondolenz eintragen konnten, sowie einem Balkon, der den Blick auf die klaffende Wunde, auf die Trümmerlandschaft freigab. Die kleine, 300 Personen fassende Plattform wurde mit 3,5 Millionen Besuchern zu einem Wallfahrtsort, zu einer Tourismusattraktion, zum Ziel von „patriotischen“ Städtereisen – aber auch zur symbolischen und realen Bühne der Rekonstruktion und Erneuerung der Identität der Nation. Hier wurde die Erfahrung vor Ort mit der Trauerfeier für Pearl Harbour oder der Ermordung John F. Kennedys in eine historische Reihe gestellt. Hier wurde der vielen Nationen erinnert, die in den Zwillingstürmen für die „Werte der Freiheit“ gefallen sind, hier wurde aber auch bald der gemeinsame Feind ausgemacht, den es nun mit aller Härte zu bekämpfen galt.

Spectrum, Sa., 2011.09.10

Publikationen

Presseschau 12

25. März 2021Michael Zinganell
dérive

Zurück zum Start – Architektur- und Städtebaugeschichte als Wissensgeschichte

Architektur- und Städtebaugeschichte stellen für die Architekturtheoretikerin und Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner — wie für mich auch — eine...

Architektur- und Städtebaugeschichte stellen für die Architekturtheoretikerin und Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner — wie für mich auch — eine...

Architektur- und Städtebaugeschichte stellen für die Architekturtheoretikerin und Kulturwissenschaftlerin Christa Kamleithner — wie für mich auch — eine spezifische und hoch spannende Wissensgeschichte dar, die — wenn auch oft stark zeitverzögert und mutiert — reale politische Effekte nach sich zieht und sich auf die Lebensverhältnisse in (und zwischen) den Städten auswirkt. Was in der jeweils eigenen Disziplin ohnehin als bekannt vorausgesetzt und/oder in der eigenen Blase erwünscht, gefürchtet oder verdammt wird, ist dabei weniger interessant, als dass durch nur kleine Überschreitungen des eigenen Felds sowie Erweiterungen hinsichtlich der Methoden und Quellen neue Erkenntnisse oder zumindest andere Lesarten ermöglicht werden: Im Fall des vorliegenden Buchs Ströme und Zonen wurde die penible Beobachtung der Entwicklung der Diskurse um die funktionale Stadt weit über die uns vertraute Zeitspanne in Richtung deren (Vor-)Geschichte ausgedehnt. Und tatsächlich räumt das Buch so mit ein paar von uns gut und gerne geglaubten Selbstmystifikationen der Städtebaugeschichte auf und weist den Innovationsanspruch der Helden der Moderne in ihre historischen Grenzen.

Denn das Konzept der funktionalen Stadt wurde, so Christa Kamleithner, nicht erst von den Architekt:innen der CIAM 1933 während ihrer berühmten Schiffsreise erfunden und 1943 in der Charta von Athen verfestigt. Die Genealogie lässt sich vielmehr bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Das Buch beginnt daher auch nicht mit dem vierten CIAM-Kongress. Dieser bildet nur den Epilog, um en passant nachzuweisen, dass trotz der pathetischen revolutionären Rhetorik des Manifests wenig davon neu war. Den Prolog bildet hingegen das Kapitel Bilder einer Ausstellung über die Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin im Jahr 1910, die den Startschuss für eine breitere Begeisterung für Statistiken darstellen sollte. Hier wurden Stadtentwicklungskonzepte aus aller Welt vorgestellt. Der Kern der Ausstellung war jedoch der Wettbewerb Groß-Berlin und seine großformatigen Pläne zu Nutzungsclustern und Verkehrsnetzen, die von statistischen Karten und Diagrammen begleitet wurden, die auch Le Corbusier, den Autor der Charta von Athen beeindruckt hatten. Der Zusammenhang von statistischer Kartografie und moderner Stadtplanung sei, so die Autorin, in der Forschungsliteratur bislang unterbelichtet geblieben (S. 16).

Die zehn Kern-Kapitel ihres Buchs werden demnach von zwei viel diskutierten bildstarken und wirkmächtigen Ereignissen gerahmt. Dazwischen führt die Argumentationskette aber noch weiter zurück, und zwar bis um 1800. Die aktuell mit Recht so heiß diskutierte Bodenfrage begleitet uns von Beginn an durch das Buch, stellte doch die Befreiung des Bodenmarkts (aus der Kontrolle von Adel und Klerus) über die Grenzen der Städte hinaus eine der Grundforderungen der Liberalen dar ebenso wie die Voraussetzung für die Entwicklung neuer Städtebautheorien und ihrer Umsetzungen.

Es war tatsächlich eine Krankheit, die Cholera, die in den 1830er-Jahren, vor allem in England und Frankreich, die wissenschaftliche Untersuchung des städtischen Raums vorangetrieben und neuartige statistische Karten hervorgebracht hat, die jene Ängste vor Dichte und Armut schürten, die für moderne Stadt- und Planungsvorstellungen bestimmend wurden. Die Hygienebewegung rückte den Missständen vorerst nur mit Karten zu Leibe, die die Krankheiten des »sozialen Körpers« offenlegen sollten (siehe auch ihr Beitrag in dérive No 81). Diese Karten förderten aber, so die Autorin, »ein Denken in Stauungen und Ballungen, Flüssen und Zirkulation und legen für verschiedenste Bereiche ein- und dasselbe Vorgehen nahe: die Drainage, also eine technische Steuerung von Verteilungen.« (S. 84f.) Die folgende Aufschließung der Stadt durch moderne Kanäle, Leitungen und Verkehrsachsen sollte aus ihr dann auch tatsächlich einen zusammenhängenden »Organismus« machen.

Mit einiger Verspätung wurden die Maßnahmenkataloge auch in Deutschland und in Österreich gefordert, nun zusätzlich gestützt durch neue ökonomische Stadtmodelle aus den 1860er-Jahren, die von der Vorstellung eines idealen liberalen Bodenmarkts ausgingen: Dabei hatten liberale Ökonomen wie Faucher in Berlin oder Sax in Wien vor allem die Mittelschicht im Auge, die sie in einer Pionierrolle sahen, um in neue Villensiedlungen oder Cottageviertel im Grüngürtel zu ziehen, wozu allerdings erst die »Schaffung billiger und ausgiebiger Kommunikationsmittel« von Nöten war (S. 104). Wie bei der Entwicklung des Schwemmkanalsystems war London auch hier, beim Eisenbahnbau, Pionier und Vorbild. Und tatsächlich lassen sich das unterschiedliche Wachstum von London, Paris, Berlin und Wien mit den unterschiedlichen Verkehrskonzepten und Routen der Stadtbahnen in Verbindung bringen.

Dass Stadtplanung und Liberalismus heute einvernehmlich als Gegensatzpaar verhandelt werden, ist für das Verständnis ihrer Genealogie wenig hilfreich. Christa Kamleithner ist es daher ein Anliegen, auf die Beharrungstendenzen liberaler Ideen in den Planungstheorien hinzuweisen: Die Zeit, als die Städtebaureform Gestalt annahm — im deutschen Sprachraum um 1870 —, gilt bekanntlich ja als Anfang vom Ende des Liberalismus. Ein Auslöser dafür war der Börsencrash 1873, der ausgerechnet durch einen Spekulationsboom bei Bau- und Eisenbahnprojekten ausgelöst worden war. Auch wenn diese Krise zu einer vehementen Kapitalismuskritik führte (die leider auch mit einem zunehmenden Antisemitismus einherging), blieb für die bürgerlichen Reformer jedoch eine Welt ohne freie Märkte unvorstellbar. Diese Märkte sollten nur insoweit verbessert oder reguliert werden, dass die Verteilungseffekte soweit akzeptabel werden, dass eine drohende soziale Revolution verhindert werden kann. Dass die öffentliche Hand Wohnungen für die Armen baut, wie die noch lange von der politischen Mitentscheidung ausgeschlossenen Sozialdemokrat:innen forderten, war für sie nicht denkbar. Vielmehr sollte der Ausbau des Verkehrs allein die Wohnungsnot lindern, weil er mehr bebaubare Fläche erschließen und so die Konkurrenz am Bodenmarkt erhöhen und daher die Preise senken würde.

Reinhard Baumeisters Handbuch von 1876 kann im deutschen Sprachraum als Auftakt eines Planungsdenkens gelten. Darin legt er den Fokus genau darauf: nämlich mit Infrastrukturen in Bevölkerungsbewegungen zu intervenieren, wie das dann auch der Wettbewerb für einen Generalregulierungsplan für Wien 1892 und der Wettbewerb für Groß-Berlin 1910 machen sollten. Für den letzteren war die Stadt ein »wirtschaftspolitischer, verkehrstechnischer und baukünstlerischer Organismus« (S. 235), seine Teilnehmer arbeiteten bereits mit prognostizierten Bevölkerungsentwicklungen und sahen funktionale Zonierungen für ein Verwaltungs- und Geschäftszentrum, Wohngebiete für unterschiedliche soziale Schichten sowie Erholungs- und Industriegebiete vor.

Sowohl die Citybildung als auch die Verlegung der Industrie an die Peripherie blieben um 1910 allerdings Wunschdenken. Abhängige, schlecht verdienende Kleinstunternehmer:innen bevölkerten London, Paris, Berlin und Wien. Zugleich entwickelte sich in den Hinterhöfen eine avancierte Kleinindustrie, die mit der Elektrifizierung einen Aufschwung erfuhr. Gegenüber all dem versprachen sich die Planer einzig von Großhandel und Großindustrie einen Fortschritt. Und um die ihrer Meinung nach atürlichen Prozesse der Citybildung wie der Randwanderung der Industrie zu unterstützen, und die Ärmsten aus dem Zentrum zu vertreiben, riefen die liberalen Reformer dann aber durchaus nach der Hilfe der öffentlichen Hand. Ganz und gar nicht unterschwellig wurde versucht, im Zentrum nur Tätig­keiten zuzulassen, bei denen die Armen ausgeschlossen bleiben. Und auch die von Frauen betriebene Heimarbeit kam unter Beschuss (S. 241). Diese Planungstheorien beinhalteten auch präzise Bilder einer bürgerlichen Geschlechterordnung, die auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet werden sollte.

Auch die Gartenstadtbewegung ist ohne ein leistungsfähiges Eisenbahnnetz undenkbar: Schon der Erfinder der Gartenstadt, Ebenezer Howard, hatte in seinem Buch von 1898 keine Siedlungsutopie vorgestellt, sondern, das betont die Autorin, die ökonomische Folgerichtigkeit seines Konzepts zu zeigen versucht, das darauf hinauslief, Großstädte in ein vernetztes System von Klein- und Mittelstädten zu überführen. Stellte die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft die Idee der Gartenstadt vorerst ebenso in den Dienst einer Streuung der Industrialisierung, so nahm ab 1900 die These von der Großstadt als »Rassengrab« an Fahrt auf: die vermeintlich »tauglichen« Bevölkerungsgruppen würden durch schwache Geburtenraten gegenüber reproduktionsfreudigeren, aber weniger tauglichen immer mehr in die Minderheit gedrängt. Die Angst vor der Stadt als Ort der Degeneration wurde damit zunehmend rassistisch aufgeladen (S. 245). Insgesamt verhärteten sich Organismus-Vorstellungen mit Bakteriologie, Evolutionstheorie und Eugenik: Der einzelne Organismus wie die Bevölkerung, die sich zum Volkskörper formierte, sahen sich in einen dauernden Kriegs­zustand versetzt und nahmen festungsartige Züge an. Das traf, so die Autorin, auch auf die städtebaulichen Konzepte nach 1900 zu. Geschlossene Städte mit Satelliten an Eisenbahnverbindungen begannen, die Stadtmodelle zu dominieren.

Die Strukturmodelle in den Städtebauhandbüchern änderten sich auch nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs, obwohl sich politische Struktur und Planungspraxis radikal verändert hatten (S. 258): Wohnungsmärkte und private Wohnungswirtschaft waren mit dem Krieg zusammen­gebrochen, und die Erfahrungen der Kriegswirtschaft und der politische Erfolg der Sozialdemokratie führten zum Ausbau der Planungs- und Verwaltungsapparate. Die Städtebaumodelle abstrahierten inzwischen aber vollends von ihren Produktionsbedingungen und erschienen als politisch neutral. Diese Trennung von Planung und Politik war auch den CIAM-Architekt:innen extrem wichtig, versuchten sie doch identische Stadtplanungskonzepte in völlig gegensätzlichen politischen Regimen — die sogar von unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen gekennzeichnet waren — umzusetzen: in der kommunistischen Sowjetunion, im von der Volksfront regierten Frankreich, im faschistischen Italien, in Nazi-Deutschland usw. Es gelang ihnen auch, Planung als eine eigenständige Tätigkeit zu etablieren, die scheinbar universell gültigen Prinzipien folgt. Die Trennung von Arbeiten und Wohnen wurde beispielsweise 1962 als Planungsprinzip in der BRD gesetzlich verankert (S. 317). Die Masse an analytischen Karten, die beim vierten CIAM-Kongress zum Einsatz kamen, suggerierte mit Erfolg wissenschaftliche Objektivität. Den CIAM-Architekt:innen gelang es, durch ihre pathetische Sprache und die Bildmächtigkeit der abstrakten Darstellungstechniken ihrer Bestandsanalysen zu suggerieren, dass die von ihnen vorgeschlagene Funktionstrennung der Stadt — wohnen, arbeiten, sich erholen, sich bewegen —, die über Jahrzehnte durch verschiedene Akteurinnen geformt worden war, eine neue, bahnbrechende Idee wäre.

Christa Kamleithners Ströme und Zonen bietet eine Diskursanalyse par excellence: Zu Diskursen zählt Michel Foucault nicht nur die Zirkulation von Texten, sondern eben auch die von Karten und Diagrammen. Diskurse sind ihm zufolge »Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. (…) Wenn über Jahrzehnte auf sie Bezug genommen wird, sind aus ihnen Entitäten geworden, die sich von sichtbaren Dingen kaum unterscheiden und handfeste Konsequenzen haben. So ermöglichte das Denken in statistischen Verteilungen einen Zugriff auf die Stadt, der über alle lokalen Besonderheiten hinwegging, ihre Bevölkerung als bewegliche und formbare Masse begriff, die kanalisierbar schien wie Wasserströme.« (S. 24). Die Entwicklung der Planungstheorien, der Analysewerkzeuge und Praktiken haben — entgegen der Proklamationen der CIAM-Architektinnen — bestehende Tendenzen immer mehr verstärkt und sukzessive die Wunschvorstellungen der Theoretikerinnen und Planerinnen in soziale Realitäten verwandelt: Nachverdichtung des städtischen Raums, höchstmögliche soziale Durchmischung, kurze Wege und ein Mix an Nutzungen waren definitiv unerwünscht.

Christa Kamleithner
Ströme und Zonen.
Eine Genealogie der »funktionalen Stadt«
Bauwelt Fundamente 167 Basel: Birkhäuser 2020
376 Seiten, 29,95 Euro

dérive, Do., 2021.03.25



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28. Mai 2016Michael Zinganell
dérive

Stop and Go – Knotenpunkte transnationaler Mobilitätsnetzwerke

Im Mobilitätskontinuum

In einer sich zunehmend globalisierenden Welt sind immer mehr Menschen gezwungen, immer mehr Zeit unterwegs zu verbringen. Die...

Im Mobilitätskontinuum

In einer sich zunehmend globalisierenden Welt sind immer mehr Menschen gezwungen, immer mehr Zeit unterwegs zu verbringen. Die...

Im Mobilitätskontinuum

In einer sich zunehmend globalisierenden Welt sind immer mehr Menschen gezwungen, immer mehr Zeit unterwegs zu verbringen. Die Distanzen von Transportrouten, die Wege, die ArbeitsmigrantInnen und PendlerInnen zurücklegen müssen, wachsen, Fahrzeuge werden daher zunehmend zum Arbeitsort oder sogar zum persönlichen Behausungsersatz. Für die vielen mobilen Subjekte sind Orte, an denen der Verkehrsfluss aus unterschiedlichen Ursachen anhält oder abgehalten wird – wie Bus-Terminals, Parkplätze für den internationalen Last­kraftwagenverkehr (TIR), Logistik-Zentren, Grenz-Stationen, Autobahnraststätten, formale und informelle Märkte entlang der Straßen –, Schwellen in der Mobilitätslandschaft. An solchen Knotenpunkten lassen sich sowohl Strategien staatlicher und suprastaatlicher Institutionen und großer Unternehmen ablesen, wie sie Mobilitätsströme kontrollieren, als auch die unterschiedlichen Routen, Motive und Mobili­täts-Biographien der sie passierenden AkteurInnen. Mitunter verwandeln sich dabei anthropologische Nicht-Orte (Augé 1995) (an denen bestenfalls Objekte miteinander kommunizieren) zu intimen Ankern im Alltag der multilokalen Existenz hochmobiler Subjekte, an denen diese Rituale und Routinen zu entwickeln versuchen, um sich zu erholen, Kontaktaufnahmen an die Ziel- und Quellregionen in Gang zu setzen, aber auch um vor Ort fragmentierte Gemeinschaften zu pflegen.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entwickelten sich entlang der Straßen-Korridore zwischen dem vormaligen Osten und dem Westen die Kriechströme der Ameisen­händlerInnen, der unzähligen KleinhändlerInnen, die – Karl Schlögel (2009) zufolge – die Wiedervereinigung Europas von unten vorangetrieben hätten, noch bevor mit EU-Mitteln die Infrastrukturen ausgebaut wurden und die großen Lo­gistik-Unternehmen ihre riesigen Warenumschlagplätze und Hubs errichtet haben.

Diese Knoten sind Bestandteile einer neuen Form von dynamischer Urbanität (Bittner 2006). Sie sind jedoch nicht immer permanente Einrichtungen, sie werden mitunter obsolet, verwahrlosen bzw. werden durch neue Knoten ersetzt. Informelle Knoten können formalisiert und kontrolliert werden und an anderen Orten können neue informelle Knoten entstehen. Aktive Knoten repräsentieren »polyrhyth­mische« Ensembles (Crang 2001, Lefebvre 2013) aus statischen Architekturen, mobilen Objekten und Individuen, die abhängig von den täglich, wöchentlich oder saisonal wechselnden Rhythmen des Verkehrsflusses zu unterschiedlichen Nutzungs­dichten anwachsen und schrumpfen. Solche Knoten sind auch keine singulären Entitäten, sondern Bestandteile eines Netzwerkes aus mehreren Knoten, die jeweils Stationen einer Tour von Individuen oder Objekten darstellen.

Die Verkehrs­korridore, die diese Knoten verbinden, repräsentieren außergewöhnliche technische Leistungen und Investitionen, die unter politischem und ökonomischem Druck (und mitunter auch gegen ökologische Argumente und von Konflikten begleitet) geplant, errichtet und ausgebaut wurden und werden. Sie waren und sind Monumente der Modernisierung von Staaten und Staatenverbänden. Gleich­zeitig stellen sie jedoch seit jeher auch Imaginations­arsenale dar, an denen sich eine Vielzahl an Träumen (und Alpträumen) von Individuen und Institutionen festmachen lässt: von Wirt­schafts­wachstum und Völkerverständigung bis zum Truppen­­aufmarsch seitens der staatlichen Institutionen, von der motorisierten Flucht aus dem kleinbürgerlichen elterlichen Haushalt oder dem als entfremdet empfundenen Alltag in den Urlaub bis zur Arbeitsmigration und der Flucht aus Kriegsregionen.

Diese Korridore operieren wie Magnete (Steward 2014, S. 552), die sowohl Dinge als auch Individuen anziehen, die sich auf ihnen bewegen, an ihnen lagern und deren Erfah­rungen und Erlebnisse in den Statistiken der Kontrollorgane, den News-Clips der Massenmedien und in den Alltags-Geschichten der StraßenbenutzerInnen und AnrainerInnen verzeichnet werden – ebenso wie in Forschungsberichten wie diesem.

In diesem Mobilitätskontinuum (Hall 2002) stellen Migration und Tourismus nicht mehr gegensätzliche Pole innerhalb einer Vielfalt von Mobilitätsmotiven dar (Bauman 2000), sondern stehen vielmehr miteinander in Beziehung, bedingen einander (Holert 2006; Zinganel 2006) – ebenso wie die Logistik von Warentransport und Fluchthilfe.

Transformationen Paneuropäischer Transit-Routen und -Knoten

Der Großteil der hier vorliegenden Texte entstand im Rahmen des Forschungsprojektes Stop and Go. Nodes of Transformation and Transition, das Knotenpunkte transnationaler Mobilität und Migration entlang der wichtigsten paneuropäischen Straßen-Verkehrskorridore in einem Dreieck zwischen Wien, Tallinn und der bulgarisch-türkischen Grenze untersucht. Der Terminus technicus Paneuropäische Verkehrskorridore wurde bereits 1991 von den EU-VerkehrsministerInnen eingeführt, um die bedeutendsten Verbindungen zwischen dem ehemaligen kommunistischen Osten und den Ländern West-Europas zu bezeichnen, deren Ausbau als eines der vorrangigen Ziele der EU-Erweiterung definiert wurde. Schwerpunkt des Forschungs­projektes sind daher auch die Effekte der politischen und ökonomischen Transformation entlang dieser Korridore – sowohl vor und nach dem Fall des sogenannten Eisernen Vorhanges als auch parallel zur sukzessiven Verlagerung der EU-Außengrenzen.

Ziel des Projektes ist es, eine sich erweiternde und verdichtende vernetzte Kartographie von beispielhaften Routen und Knoten entlang der Korridore zu erstellen, die damit verbundenen Kontrollambitionen der Institutionen nachzu­zeichnen, aber auch die individuellen Erfahrungen und alternativen Wissensformen der mobilen AkteurInnen, ihrer Taktiken der Raumaneignung und Nutzung, oder pragmatischer: ihres »Doing with Space« (Lussault 2010).1

In Wien, gemäß Selbstvermarktung Drehscheibe zwischen Ost und West – diesseits des ehemaligen Eisernen Vorhanges gelegen –, treffen Korridore aus dem ehemaligen Süd-Osten und Osten zusammen und durchziehen die Stadt. Daher lassen sich anhand der Entwicklung der Knoten transnationaler Mobilität und Migration in und um Wien auch die postsozialis­tischen Transformationen des geopolitischen Umfeldes nachzeichnen – insbesondere in der städtebaulichen Entwick­lung und sukzessiven Translokation und des Imagewandels der internationalen Busbahnhöfe, die Michael Hieslmair in seinem Beitrag Korridore nach Wien vorstellt.

Tallinn in Estland und die bulgarisch-türkische Grenzregion liegen an den beiden entgegengesetzten Enden einer bedeutenden Nord-Süd-Achse in historisch sehr unter­schiedlich gewachsenen geopolitischen Konstellationen und sozialpolitischen Spannungsverhältnissen, die Transforma­tionsprozesse bezüglich der Art der staatlichen Regulierung und der Qualität und Quantität der Gestaltung bis heute jeweils signifikant anders entwickelt haben.

Tallinn, vormals hanseatische, dann sowjetische Hafen-stadt, ist heute die Hauptstadt eines der Musterländer der EU, wo allerorten der Innovationswille der jungen Nation zur Schau gestellt wird. Angetrieben von der enormen Einkommens-, Preis- und Kaufkraftdifferenz zwischen Estland und Finnland entstanden hier massive Ströme der Arbeitsmigration von Estland nach Finnland, denen enorme Ankunftszahlen von TouristInnen aus Finnland (und in kleinerem Masse aus Schweden und Deutschland) gegenüberstehen. Die zu Sowjetzeiten angesie­delte russische Bevölkerung wurde durch die De-Industrialisierung in den Niedriglohnsektor und in graue Märkte abgedrängt, während die auffallend vielen eleganten neu errichteten Bauwerke vorrangig über skandinavische Gesellschaften und Fonds finanziert wurden, mit deren Hilfe russische InvestorInnen ihr gefährdetes Kapital in einem sicheren EU-Hafen verankern. Der Humangeo­graph Tarmo Pikner untersucht in seinem Artikel Lines of movement connecting Tallinn’s old harbor and the city den Tallinner Fährhafen, in dem der paneuropäische Straßen-Korridor durch eine leistungs­starke Fährverbindung ersetzt wird, deren Rhyth­men an Ankünften und Abfahrten die Bewegungsmuster in der vergleichsweise kleinen Stadt signifikant prägen und deren Ausstoß an Personen und Fahrzeugen die Stadt geradezu überformt.

Bulgarien, eines der notorischen schwarzen Schafe der EU, ist auch von Abwanderung gekennzeichnet und als Quellre­gion von Strömen der Arbeitsmigration bekannt. Die ersten Opfer ökonomischer Krisen im Sozialismus und während der postsozialistischen De-Industrialisierung waren hier Roma und türkisch-stämmige BulgarInnen, die als Klein-HändlerInnen im Grenzverkehr zur Türkei und auf offenen Märkten entlang der großen Durchfahrtsstraßen ihr Glück versuchten (Konstantinov 1996). Durch die traditionelle Rolle als Transitland sind auch die Anteile an transnationalen Transportunternehmen hoch, wenn auch viele davon heute Töchter westeuropäischer Partner sind, die den Kostendruck auf die FahrerInnen aus dem Niedriglohn­land abzuwälzen versuchen. Die Anthropologin und Historikerin Emiliya Karaboeva untersucht in ihrem Beitrag Networking Eurasia. Bulgarian international truck drivers and SO MAT during the cold war das geographisch weiträumige Netzwerk des Unternehmens SO MAT. Als Monopol-Unternehmen für den grenzüberschreitenden LKW-Verkehr im sozialistischen Bulgarien kontrollierte es zur Zeit des Kalten Krieges den Landtransport von Gütern zwischen Westeuropa und den sich entwickelnden Staaten im Nahen, Mittleren und Fernen Osten. Dementsprechend groß war auch das Ansehen der FahrerInnen, die zudem durch den Schmuggel von Gütern aller Art ihr Einkommen und den Status ihrer Familien beträchtlich steigern konnten.

Katarzyna Osiecka und Tatjana Vukosavljević zeichnen in ihrem Beitrag am Beispiel von Wólka Kosowska, einem polnischen Dorf im Süden von Warschau, die Entwicklung der urbanen Agglomeration eines von MigrantInnen betriebenen Großhandelszentrums nach, sowie die Migrationsrouten der am Markt tätigen AkteurInnen sowie die Routen des Gütertransports. Billig-Importe aus Asien werden hier mit Schifffahrts-Containern angeliefert, in mehreren hundert Läden vertrieben und von unzähligen KleinhändlerInnen in Kleinbussen zu bis zu 1.000 Kilometer entfernten Einzelhandelsmärkten in Osteuropa weitertransportiert – wie beispielsweise nach Tallinn.

Anke Hagemann und Elke Beyer beschäftigen sich in ihrem aktuellen Forschungsprojekt Transnationale Produktions-räume am Beispiel der Textilindustrie in der Westtürkei mit den städtebau­lichen Auswirkungen globalisierter Güterproduktion und damit, wie sich lokale Stadträume entlang transnationaler Produktionsketten konstituieren und welche weitgehend unsichtbaren Standorte und AkteurInnen daran beteiligt sind.

Juan Moreno und Thomas Grabka erzählten in ihrer Reisereportage Der letzte Europäer über die Routen und Routinen eines rumänischen Busfahrers, der mit seinem Kleinbus nahezu unentwegt die 4.000 Kilometer zwischen Rumänien und Portugal zurücklegt, um vorrangig ArbeitsmigrantInnen zwischen der Heimat und der Diaspora hin und her zu transportieren. Kleinbusse wie diese zählen zu den wichtigsten Verkehrsmitteln auf den paneuropäischen Korridoren, weil sie als Gebrauchtwagen zu erschwinglichen Preisen zu erwerben sind und mit PKW-Führerschein gefahren werden dürfen. Sie unterliegen keinen Nacht- und Wochenendfahrverboten oder Durchfahrtverboten durch Städte, den FahrerInnen werden keine strengen gesetzlichen Ruhezeiten vorgeschrieben und sie müssen sich bei den Grenzkontrollen nicht in die endlosen LKW-Warteschlangen einordnen. Sie eignen sich daher vortrefflich für den Transport von Personen und Waren, ob mit oder ohne gültige Papiere, insbesondere weil die FahrerInnen in der Regel die Grauzonen und Toleranzen der Kontrollorgane kennen und daher das volle Vertrauen ihrer Passagiere und AuftraggeberInnen genießen.

Routen. Rhythmen. (Grenz-)Infrastruktur

Wie eine Folge übergeordneter politische Ereignisse – be­gin­nend mit Kriegshandlungen, politischem Terror und mangelnder Hoffnung von Flüchtlingen im Nahen und Mittleren Osten – Mobi­li­täts­ströme auslösen und deren Routen und Rhythmen massiv beeinflussen, zeigen paradigmatisch die Ereignisse an der österreichisch-ungarischen Grenze vom Sommer und Herbst 2015, als hier durchschnittlich 4.500 Flüchtlinge täglich (am stärksten Wochenende Ende September insgesamt 17.000 Flüchtlinge) aus Ungarn in dem 1.200 EinwohnerInnen zählenden Ort Nickels­dorf ankamen.

Zwischen Hegyeshalom und Nickelsdorf wurden daher zur Bewältigung der Flüchtlingswelle die seit dem Ende der Schengen-Grenze obsoleten Parkflächen und Grenz-Infrastruk­turen als Checkpoints und (Not-)Unterkünfte reaktiviert und mit ephemeren Infrastrukturen aus der Katastrophen-Hilfe und Eventindustrie ergänzt.

Hier entstand in kürzester Zeit ein unfreiwilliger provi­sorischer Lebensraum für Menschen im Transit, die mit Bussen, die andernfalls PendlerInnen oder TouristInnen vorbehalten sind, in die Notquartiere der Stadt Wien gebracht wurden. So entwickelte sich das Grenzdorf kurzfristig zu einem Hub der Flüchtlingslogistik, bis – aufgrund der Entscheidung der unga­rischen Regierung die Grenze zu Serbien und später zu Kroatien zu schließen – der Flüchtlingsstrom weiträumig auf die Haupt­stränge der ehemalige Gastarbeiterroute umgeleitet und die Grenzstation wieder menschenleer und das kleine Dorf beschaulich wie zuvor wurde.

In dem doppelseitigen Diagramm Grenzlogistik Nickelsdorf. Erstversorgung an der Balkanroute (Seite 8-9) wurden die bestehenden und ephemeren Infrastrukturen – Stand Oktober 2015 – nachgezeichnet und von Gerhard Zapfl, dem Bürger­meister der Gemeinde Nickelsdorf kommentiert. Wobei zu bemerken ist, dass der vorübergehende Ausnahmezustand für die Geschichte von Massenfluchtereignissen in der kleinen Grenzgemeinde keineswegs einzigartig war: so passierten während der Ungarn-Krise ab November 1956 180.000 Flücht­linge die Gemeinde, und nach dem Fall des Eisernen Vor­hanges im Herbst 1989 mussten hier 40.000 erschöpfte DDR-Bürger­Innen erstversorgt werden. Und auch die Flucht-Routen sind nicht neu: Es sind durchwegs bewährte Routen, an denen die FluchthelferInnen über Logistik und funktionierende Netzwerke verfügen, die mitunter sogar staatliche Kontroll­organe einschließen, es sind dieselben Routen, die die Autor­Innen in ihrem Forschungsprojekt Stop and Go – gleichzeitig mit unzähligen anderen mobilen Individuen mit unterschiedlichsten Motiven – während ihrer Recherchereisen befahren sind.


Literatur
Augé, Mark (1995): Non-Places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity. New York: Verso Books.
Bauman Zygmunt (2000): Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press
Bittner, Regina; Hackenbroich, Wilfried & Vöckler, Kai (Hg.) (2006): Transiträume. Transit Spaces (Edition Bauhaus, Band 19). Berlin: Jovis.
Crang, Michael (2001): »Rhythms of the City. Temporalised Space and Motion«. In: May, Jon & Thrift, Nigel (Hg.): Timespace. Geographies of Temporality. London: Routledge, S. 187-207.
Hall, C. Michael & Williams, Alan M. (2002): Tourism and Migration. New Relationships between Production and Consumption. London: Kluwer Academic Publishing.
Holert, Tom & Terkessidis, Mark (2006): Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Konstantinov, Yulian (1996): »Patterns of Reinterpretation. Trader-Tourism in the Balkans (Bulgaria) as a Picaresque Metaphorical Enactment of Post-Totalitarianism«. In: American Ethnologist, Vol. 23, No. 4, S. 762-782.
Konstantinov, Yulian; Kressel, Gideon M. & Thuen, Trond (1988): Outclassed by Former Outcasts: Petty Trading in Varna. In: American Ethnologist, Vol. 25, No. 4, 729-745.
Lefebvre, Henri (2013): Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life. London: Bloomsbury Academic.
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dérive, Sa., 2016.05.28



verknüpfte Zeitschriften
dérive 63 Korridore der Mobilität - Knoten, Akteure, Netzwerke

10. September 2011Michael Zinganell
Spectrum

Totem der Moderne

Architektur im Fieber der Ereignisse: wie mit dem Erbe der Twin Towers verfahren wurde. Zwischen Ideenwettbewerben für einen Wiederaufbau und pragmatischen Gründen gegen eine Gedenkstätte am Ground Zero.

Architektur im Fieber der Ereignisse: wie mit dem Erbe der Twin Towers verfahren wurde. Zwischen Ideenwettbewerben für einen Wiederaufbau und pragmatischen Gründen gegen eine Gedenkstätte am Ground Zero.

Haben die Anschläge auf das Word Trade Center in New York vom 11.September 2001 auch die Diskurse über Architektur und Stadtplanung verändert, oder sind reale bauliche Interventionen durch die tragischen Ereignisse in New York beeinflusst wurden? Was hat das Verbrechen dort an Produktivkraft freigesetzt?

Zur Erinnerung: Den Terroristen gelang es, die entführten Flugzeuge so exakt zu koordinieren, dass beinahe die ganze Welt gezwungen war, live an den TV-Schirmen zuzusehen, wie die Hochhaustürme zu brennen begannen und später einstürzten. Der Doppelanschlag mit zwei Boeing 767 tötete nicht nur über 2.900 Personen in den Zwillingstürmen, sondern zerstörte riesige Büroflächen und die Arbeitsplätze von über 40.000 Angestellten in sieben Gebäuden. Dabei wurden nicht nur große Teile des Telefonnetzes lahmgelegt, sondern auch das Verkehrssystem in Downtown Manhattan. Das verursachte einen Totalausfall in den Niederlassungen von Finanzdienstleistern im Financial District – und die vorübergehende Schließung der Börse. Auf medialer wie ökonomischer Ebene war der Anschlag an Effektivität kaum zu übertreffen.

Bereits unmittelbar nach dem Attentat meldeten sich Experten unterschiedlichster Disziplinen zu Wort, boten ihre Expertisen an und versuchten sich in der Phase erhöhter Medienaufmerksamkeit mit ihren Vorschlägen in Stellung zu bringen: zuerst Ingenieure und Statiker, im Regelfall Vertreter eines stillen, im Hintergrund arbeitenden Gewerbes, die nun von Sicherheitsexperten und Medienvertretern konsultiert wurden, aber auch Stadtplaner und Architekten.

Warnung vor Wiederaufbau

Am 17. September beispielsweise erklärten James Howard Kunstler und Nikos A. Salingaros das Zeitalter der Wolkenkratzer für beendet: „Hochhäuser stellen eine experimentelle Bautypologie dar, die versagt hat. Kein Megatower wird mehr gebaut, und viele der bereits bestehenden werden abgebrochen werden. Nur in einigen Ländern der dritten Welt, wo sie eben erst als Teil des enormen Nachzieheffekts der Industrialisierung unreflektiert übernommen wurden, bleiben sie noch erhalten.“ Für Kunstler und Salingaros stellten die Türme des World Trade Center bereits seit ihrer Errichtung nichts anderes als „Totems der Moderne“ dar. Sie warnten eindringlich davor, sie wiederzuerrichten: „Die Bilder ihrer Zerstörung haben sich nun nicht nur in die Gedächtnisse potenzieller Opfer eingebrannt, sondern auch in das jedes zukünftigen Terroristen, der vielleicht noch heute in den Kindesschuhen steckt: Sie wieder aufzubauen hieße daher Zielscheiben zu errichten!“ Unterstützung erhielten die Dekonzentrationsverfechter von Sicherheits- und Immobilienexperten: Erstens seien in Lower Manhattan bereits vor dem 11. September ebenso viele Büros leergestanden wie durch den Anschlag verloren gingen, und zum anderen war die Nachfrage gesunken, nachdem der Dotcom-Fallout und die anhaltende Rezession viele Unternehmen zwangen Kosten zu reduzieren. Sicherheitsberater empfahlen ohnehin diskretere Bauwerke, die sich als symbolisches Ziel weniger eigneten, und dezentralere Standorte, die besser zu sichern sind. Sie bewarben die lebensnotwendige Einrichtung von dislozierten Datenbackup-Zentren und parallelen Büroinfrastrukturen, die im Notfall sofort von den Mitarbeitern bezogen werden können.

Angesichts des Schulterschlusses, der die ganze Nation erfasste, formierten sich auch sofort die Verfechter eines symbolischen Gegenschlages: Zwar hatten zahlreiche namhafte Künstler und Intellektuelle Vorschläge für eine permanente Gedenkstätte auf Ground Zero gemacht, doch der neue Bürgermeister stellte bald klar, dass sich die Stadt nicht leisten könne, an dieser Stelle auf eine kommerzielle Nutzung zu verzichten. Und auch in Architektenkreisen wollte man nicht viel von Demut wissen: Das hieße nur, sich vor der Verantwortung einer Neugestaltung zu drücken, so Robert Stern, die Rekonstruktion der Türme symbolisiere die „Unbesiegbarkeit Amerikas“. Ganz im Gegenteil: „We should build an even greater and more innovative scyscraper“, brachte Terence Riley, Leiter der Architekturabteilung des MOMA, die dominierende Vorstellung in der Architekturszene auf den Punkt.

Um die Diskussion nicht zaghaften oder visionslosen Politikern und Wirtschaftskapitänen zu überlassen, hatte der New Yorker Architekturgalerist Max Protetch bereits am 20.September zu einem internationalen Ideenwettbewerb aufgerufen. Die Ausstellung sollte ein „Forum für Optimismus“ bilden. Und obwohl einige der ganz Großen fehlten, boten die Entwürfe von „Stararchitekten“ eine beeindruckende Anzahl ästhetischer Sensationen, die vor allem von einem enormen Drang nach Höhe getrieben schienen: „Die Komplexität der Aufgabe an diesem ,hoch mediatisierten Weltort‘ scheint dieArchitekten beflügelt zu haben“, zeigte sich der Architekturredakteur der „Süddeutschen Zeitung“ begeistert. Das Interesse der Öffentlichkeit an Architektur sei seit dem 11. September eindeutig gestiegen, sogar CNN habesich für die Eröffnung der Ausstellung angesagt, freute sich der Initiator der Schau – und in einem Interview für Telepolis bekräftigte er: „Es ist vermutlich das erste Mal in der Geschichte der USA, dass sich die amerikanische Öffentlichkeit der Bedeutung von Architektur in allen ihren Facetten bewusst wird: Architektur als Symbol und als politisches, soziales und wirtschaftliches Element. Auf einmal haben wir ein Publikum, das aufmerksam zuhört und interessante Fragen stellt. Was das für New York konkret bedeutet? Dass wir bei den Mächtigen in Wirtschaft und Politik leichter Gehör finden, wenn über Stadtpolitik und Stadtentwicklung diskutiert wird.“

Aber auch Vertreter einer rationalen Sachlichkeit meldeten sich sofort zu Wort: Auf Initiative von Norman Foster und Ove Arup wurde als Reaktion auf das Attentat eine sicherheitstechnische Optimierung des alten Motivs der Zwillingstürme entwickelt. Die neuen „twinned towers“, in sich verdrehte Zwillingstürme aus dreieckigen Elementen, die Lasten nachgiebig auffangen, sollten nun gegen Flugzeugeinschläge resistent sein und durch ihre mehrmalige Verschränkung eine Fülle an Fluchtwegen ermöglichen. Ein Modernisierungsschub par excellence, ohne jede Metapher der Trauer.

Von den oben angeführten Visionen ist allerdings nur wenig geblieben: Der Exodus aus Downtown hat zumindest nicht in dem prognostizierten Ausmaß stattgefunden. Hochhäuser werden weiter gebaut. Und auch der Bauherr des World Trade Center könnte zu einem geladenen Wettbewerb genötigt werden. Daniel Libeskinds metaphernreiches Siegerprojekt und seine emotionale Rhetorik haben zwar die Unterstützung der Überlebenden und der Familien der Opfer gewonnen. Seine Lobby hatte sogar die Entlassung des Architekturkritikers der New York Times gefordert, als dieser es wagte, seinen Entwurf zu kritisieren. Aber dieser Streit hat sich mittlerweile erübrigt. Denn der Immobilienmagnat Larry Silverstein, der die sanierungsbedürftigen Gebäude nur drei Monate vor dem Attentat preisgünstig erworben hatte und nun den Wiederaufbau aus Mitteln der Versicherung finanziert, entschied anders: Libeskind durfteden Masterplan zeichnen, als verantwortlichen Projektleiter ernannte er aber David Childs, Partner von Skidmore, Owings & Merrill, einem der weltgrößten Architekturbüros, das sich ebenfalls am Wettbewerb beteiligt hatte, aber bereits vor dem Einsturz des World Trade Center von Silverstein mit dessen Umbau beauftragt war.

Ein kleines, unscheinbares Gebäude

Im Getöse um Aufmerksamkeit ging dabei der Erfolg eines kleinen, unscheinbaren temporären Gebäudes unter: die World Trade Center Temporary Viewing Platform von Rockwell, Kennon, Diller & Scofidio. Sie wurde am 30. Dezember 2001 eröffnet und bestand bloß aus einer aufsteigenden und absteigenden Rampe, getrennt von einer Wand, in die Besucher Worte der Kondolenz eintragen konnten, sowie einem Balkon, der den Blick auf die klaffende Wunde, auf die Trümmerlandschaft freigab. Die kleine, 300 Personen fassende Plattform wurde mit 3,5 Millionen Besuchern zu einem Wallfahrtsort, zu einer Tourismusattraktion, zum Ziel von „patriotischen“ Städtereisen – aber auch zur symbolischen und realen Bühne der Rekonstruktion und Erneuerung der Identität der Nation. Hier wurde die Erfahrung vor Ort mit der Trauerfeier für Pearl Harbour oder der Ermordung John F. Kennedys in eine historische Reihe gestellt. Hier wurde der vielen Nationen erinnert, die in den Zwillingstürmen für die „Werte der Freiheit“ gefallen sind, hier wurde aber auch bald der gemeinsame Feind ausgemacht, den es nun mit aller Härte zu bekämpfen galt.

Spectrum, Sa., 2011.09.10

Profil

Michael Zinganel studierte Architektur an der Technischen Universität Graz, Kunst an der Jan van Eyck Akademie Maastricht und promovierte in Zeitgeschichte an der Universität Wien ab. Er lebt als Architekturtheoretiker, Kulturwissenschaftler, Künstler und Kurator in Wien und arbeitet in Kooperation mit Michael Hieslmair zu Stadtforschung, Massentourismus, transnationale Mobilität und Migration. Seit 2016 arbeiten beide in situ über die Transformation des letzten innerstädtischen Logistik-Knotens am Wiener Nordwestbahnhof.

Lehrtätigkeit

Er agierte als Gastvortragender, Gastkritiker, Lehrbautragter, Universitätsassistent und Gastprofessor an verschiedensten Universitäten und Akademien, u.a. am Postgraduateprogramm der Stiftung Bauhaus Dessau, an der ETH Zürich, HSLU Luzern, UdK und TU und Berlin, AAU Klagenfurt, TU Graz und Wien.

Publikationen

mit Michael Hieslmayr (Hrsg): Stop and Go – Nodes of Transformation and Transition (Schriftenreihe der Akademie der bildenden Künste Wien, Bd. 23), sternberg press, Berlin 2019
mit Michael Hieslmayr (Hrsg): Road*Registers. Aufzeichnungen mobiler Lebenswelten. Ausstellungskatalog, Akademie der Bildenden Künste Wien, Wien 2017
mit Elke Beyer und Anke Hagemann (Hrsg):: Holidays after the Fall. Seaside Architecture and Urbanism in Bulgaria and Croatia, jovis, Berlin 2013
sowie Beiträge in diversen wissenschaftlichen Sammelbänden und Zeitschriften

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