Editorial
Die Tour zu den Jahreslieblingen der db-Redaktion gehört im Dezember-Heft längst zur lieb gewonnen Tradition für die Leser und die Redakteure. Und so machten wir uns auch 2020 wieder auf. Corona- und reisebeschränkungsbedingt erkundeten wir diesmal unser direktes Umfeld – also Stuttgart und Umgebung. Folgen Sie uns auf den nächsten Seiten zu einer Ballettschule in Stuttgart, einer Grundschulerweiterung in Ludwigsburg, einem Wohnhaus in Schwaikheim und der Bundeswehrfachschule in Karlsruhe. Alle Projekte stellen wir Ihnen unter dem spezifischen und gewohnt architekturkritischen Blickwinkel der db vor. | Die Redaktion
Rhythmische Staffelung am Hang
(SUBTITLE) John Cranko Schule in Stuttgart
Nach Jahrzehnten in einem räumlichen Provisorium hat die weit über Stuttgart hinaus berühmte John Cranko Schule endlich ein adäquates Domizil erhalten. Mit seinen beiden Eingangsbauten und der dazwischen liegenden, gelungenen und von außen ablesbaren Abfolge von Schulräumen, Ballettsälen, Erschließungsflächen, Terrassen und Innenhöfen, ist der Komplex aber auch städtebaulich ein Gewinn für die Landeshauptstadt.
Der Ruf John Crankos ist in Stuttgart legendär. Nachdem der britische Choreograf 1961 die Leitung des Stuttgarter Balletts übernommen hatte, formte er in der guten Dekade bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1973 daraus eine hochgelobte, auch international erfolgreiche Kompagnie. Das Debut 1969 an der Metropolitan Opera in New York geriet zum fulminanten Siegeszug, Gastspielreisen führten die Stuttgarter rund um den Globus. Und es gelang, den Erfolg unter den nachfolgenden Intendanten und Intendantinnen zu verstetigen.
Eine der Gründe für dieses »Stuttgarter Ballettwunder« war eine eigene Ballettschule, die Cranko 1971 in Stuttgart gegründet hatte. Heute werden zwei Drittel der Tänzer und Tänzerinnen des Stuttgarter Balletts an der John Cranko Schule ausgebildet. Ansässig war die Institution lange Jahre in einem umgebauten Druckereigebäude an der Urbanstraße nordöstlich der Innenstadt. Dem kanadischen Intendanten Reid Anderson gelang schließlich der entscheidende Schritt: Seine langjährige Überzeugungsarbeit in den Kreisen von Politik und Sponsoren führte zum Beschluss eines eigenen Neubaus für die Schule. 2011 konnte ein prominent besetzter Architekturwettbewerb durchgeführt werden. Überraschungssieger wurde der Beitrag des seinerzeit nahezu unbekannten Münchner Büros Burger Rudacs. Sie konnten die nationale und internationale Prominenz ausstechen, darunter Lederer Ragnarsdóttir Oei, Zaha Hadid, Nieto Sobejano, gmp, Snøhetta, Delugan Meissl und Sauerbruch Hutton.
Herausforderung Topografie
Als einzigen Teilnehmern des Wettbewerbs war es dem Architekturbüro aus München gelungen, mit einer Staffelung von Volumina auf die Herausforderungen der Topografie zu reagieren. Denn das Baugrundstück – vormals Standort eines alten Wasserwerks, dessen denkmalgeschützte unterirdische Kavernen erhalten bleiben mussten – erstreckt sich am Hang zwischen Urban- und Verastraße und weist eine Höhendifferenz von 21 m auf. Burger Rudacs ließen die nördliche Hälfte des Grundstücks frei, um eine für den Stuttgarter Talkessel wichtige Frischluftschneise zu bewahren, und konzentrierten die Baumasse auf der Südseite. Insgesamt fünf durch hofartige Einschnitte deutlich voneinander differenzierte Segmente erklimmen den Hang, wobei der viergeschossige Riegel des Internats mit Doppelzimmern für 80 der insgesamt 150 Schüler den markanten oberen Abschluss bildet. Die Segmente darunter werden jeweils aus der Kombination eines größeren, über Oberlichter talseitig belichteten und eines kleineren, großflächig zum Park hin geöffneten Probensaals gebildet. Mit 12 x 12 und 9 x 9 m besitzen die Säle quadratischen Zuschnitt; dem insgesamt 90 x 36 messenden Gebäude liegt ein 3-m-Raster zugrunde. Von außen kaum erkennbar, schiebt sich unter das talseitige Ende des Gebäudes eine große Probebühne mit einer Zuschauertribüne und einem doppelgeschossigen, mit einer elliptischen Öffnung verbundenen Foyer. Mit 30 x 24 m entsprechen die Abmessungen des 10 m hohen Bühnenraums exakt denen der Staatsoper, die gar nicht weit entfernt unten im Talboden liegt. Die auch für öffentliche Aufführungen genutzte Probebühne unten und der private Internatsbaukörper oben bilden mithin zwei Pole mit eigenen Eingängen, zwischen denen sich die terrassierte Sequenz der eigentlichen Unterrichtsräume aufspannt.
Begleitet wird diese auf der Südseite von einer Spange, welche die Administration, Räume für das Lehrpersonal und eine Bibliothek aufnimmt. Von den Korridoren aus erlauben große Verglasungen Einblicke in die Probensäle, am jeweiligen Ende der Gänge befinden sich kleine Loggien. Der größte Außenraum indes ist die große, mit einer kreisförmigen Dachöffnung versehene Terrasse, die sich an die im EG des Internatsbaus untergebrachte Mensa anschließt und damit so etwas wie das kommunikative Binnenzentrum des Hauses darstellt. Aufgrund dieser Anordnung ist der an dieser Stelle befindliche Probensaal hier in den Sockel verschoben.
Purismus und Klarheit
Der klaren Organisation der Räume entspricht eine ebenso klare Materialsprache. Das gesamte Gebäude wurde innen und außen in, durch weiße Titandioxid-Pigmente leicht aufgehelltem Sichtbeton realisiert, wobei Schaltafeln im liegenden Format von 3 x 1,75 m Verwendung fanden. Die Außenwände sind zweischalig aufgebaut. Eine besondere Herausforderung stellte die stützen- und unterzugslose Konstruktion der Probebühne dar: Hier fungieren die Wandscheiben der darüberliegenden Übungssäle als Träger. Die gesamte Haustechnik ist in den Decken und Wänden verborgen: Elektrorohre, Sprinkleranlage, Betonkernaktivierung und Dachentwässerung. Nichts stört damit den puristischen Charakter, der das Gebäude auch im Innern prägt.
Hinzu treten nur wenige weitere Materialien: Holz und eloxiertes Aluminium an den Fenstern, polyurethanbeschichtete Fußböden, Holzbekleidungen und natürlich die großflächigen Verglasungen. In den Tanzsälen reichen die Wandbekleidungen bis zu den Oberlichtern, die Spiegel besitzen dieselbe Höhe. Die Klarheit und Präzision, mit der Burger Rudacs vorgegangen sind, beeindruckt: Auf alles, was ablenkt, wurde verzichtet, auch auf zusätzliche Farbigkeit, um möglichst neutrale Räume für die jungen Tänzer und Tänzerinnen zu schaffen. Gottlob verhallte die von politischer Seite aus zwecks Kostenreduktion erwogene Realisierung mit einem Wärmedämmverbundsystem ungehört.
Die Architekten sprechen angesichts ihrer Baukörper von Rhythmus und Struktur und von einer Analogie zu Musik und Tanz. Solche Vergleiche mögen mitunter etwas floskelhaft anmuten – doch bewegt man sich durch das Haus mit seiner terrassierten Abfolge von Räumen und Sälen, so wird die Inspiration hier tatsächlich erlebbar. Das gilt auch für die dem Park zugewandte Südseite. Dank der Einkerbungen gliedert sich die Baumasse in fünf miteinander verbundene und doch differenziert wahrnehmbare Baukörper – die unteren vier mit den Tanzsälen, zuoberst der Wohnblock mit den Apartments der Studierenden. Eine Betontreppe führt parallel zum Gebäude durch den Park. Geplant war sie als Teil einer öffentlichen Wegverbindung von der Uhlandshöhe zum Zentrum. Doch die Schulleitung befürchtet, dass die Treppenstufen Voyeure anlocken, sodass der attraktive Weg zunächst nicht öffentlich ist.
Neuer Baustein der Kulturmeile
Burger Rudacs haben aber nicht nur einen extrem funktionalen, logischen, im besten Sinne dienenden und bei allem Purismus auch körperlich präsenten Baukörper errichtet, ihnen ist es überdies gelungen, das relativ große Volumen mit 6100 m² Nutzfläche stadtbildverträglich zu integrieren. Durch die Staffelung der Segmente wirkt die Kompaktheit nicht erdrückend und fügt sich in die Maßstäblichkeit der Umgebung wunderbar ein. Das ist umso wichtiger, als man den Neubau von verschiedenen Punkten der Stadt aus gut erkennen kann, etwa vom Turm des amputierten Hauptbahnhofs oder von der anderen Seite des Talkessels. Direkt oberhalb der Alten Staatsgalerie am Hang gelegen, ist die John Cranko Schule für die Kulturmeile der Landeshauptstadt ein wichtiger Zugewinn. Zu hoffen bleibt, dass die Öffentlichkeit möglichst bald Veranstaltungen besuchen und sich ein eigenes Bild machen kann; coronabedingt ging die offizielle Eröffnung im September weitgehend digital über die Bühne.db, Di., 2020.12.08
08. Dezember 2020 Ulrike Kunkel
Verbindungselement
(SUBTITLE) Erweiterung der August-Lämmle-Schule in Ludwigsburg-Oßweil
Um sowohl den gestiegenen Schülerzahlen als auch den Ansprüchen eines zeitgemäßen Schulbetriebs gerecht zu werden, ordnet der Erweiterungsbau den Grundschulcampus neu. Mit präzisen Setzungen und wohlüberlegten Fügungen gelingt die Einbindung zwischen das identitätsstiftende Jahrhundertwende-Schulhaus und einen funktionalen 50er-Jahre-Bau über eine Kolonnadenarchitektur mit hochwertiger Anmutung.
Der Vorort Oßweil ist als Schlafstadt längst mit der Kreisstadt Ludwigsburg zusammengewachsen und dehnte sich jüngst auf Konversionsflächen noch weiter aus. Der daraus entstehende Druck auf die örtlichen Schulen und weiterer Bedarf an Ganztagsbetreuung erzwangen die bauliche Neuordnung der Grundschule im Ortszentrum.
Mit dem Rotstift in der Hand hätte der Gemeinderat beinahe die beiden Altbauten von 1905 und 1954 aufgegeben und es den Architekten mit der Planung eines Komplettneubaus durchaus leicht gemacht. Ein gewisses Maß an Sentimentalität bewirkte jedoch den Erhalt der Bausubstanz und verlangte den Planern bei der Konzeption eines Erweiterungsbaus ein Balance-Spiel ab, das sowohl den Ausgleich unterschiedlicher Boden- und Stockwerksniveaus als auch den dreier Bauepochen bewerkstelligt.
Strukturell und gestalterisch aufräumen
An beide recht weit voneinander abgerückte Altbauten dockt nun ein langer Gebäuderiegel an, der zur Ortsmitte hin einen neuen Eingangsbereich definiert und alle Räume aufnimmt, für die sich der Bestand nicht gut eignet – darunter die Mensa mitsamt Küche und Nebenräumen, die auch den örtlichen Vereinen als Veranstaltungsraum für bis zu 300 Personen zur Verfügung steht. Dazu kommt im OG der Ganztagesbereich mit Spielflur, dessen einzelne Räume bereits so ausgestattet sind, dass sie sich bei Bedarf auch als Klassenzimmer nutzen lassen. Abgesehen von den fensterlosen Toiletten- und Lagerräumen profitiert der Neubau von der Helligkeit und der Weite, die er aus den raumbreiten und -hohen Verglasungen schöpft. Der Blick nach Westen geht über den schmalen Pausenhof und eine grüne Geländekante hinweg hinaus auf den baumumstandenen Fußballrasen. Die ganz in Weiß gehaltenen Räume erfahren schon jetzt durch ihre Bespielung eine enorme Lebendigkeit und bedürfen der Wärme kaum, die sie aus den kräftigen Holzprofilen der Glasfassade beziehen. In den Erschließungsbereichen dominieren robuste, zur Tragstruktur gehörende Oberflächen aus Sichtbeton, naturbelassene Massivholzoberflächen, Schwarzstahl und ein oberflächenfertiger Gussasphaltboden. Es spielt sich aber keines der Materialien in den Vordergrund, vielmehr ergibt der Zusammenklang einen angenehm neutralen Hintergrund für die Ausblicke nach drei Seiten und v. a. für die Aktivitäten der Schüler.
Um die optische und haptische Erlebbarkeit des Gebäudes vor Augen zu führen, erzählt Büropartner Steffen Mayer gerne vom Grundschüler, der staunend über die brettgeschalte Betonoberfläche strich und es kaum fassen konnte, dass man ein solches Relief explizit für die Schüler hergestellt habe.
Der Clou allerdings ist die durchgehende Loggia, die gegen einigen Sparwillen durchgesetzt und auch gegen das ökologische Gewissen aus sandgestrahlten Betonfertigteilen gefügt wurde. Sie bietet tiefe Flächen für freies Spiel und vielleicht sogar Unterricht, und dazu einen gewissen Regenschutz und Verschattung. Zudem ist sie mit zwei Außentreppen, die versteckt hinter den Fassaden der Gebäudeschmalseiten liegen, in das Fluchtwegesystem eingebunden. Notfalls kann die Feuerwehr aber auch direkt vorfahren und ggf. vom teils extensiv begrünten, teils mit Solarpaneelen bestückten Dach retten, das ebenfalls zum Fluchtweg ausgebaut wurde. Die beiden Altbauten blieben so vom Anbau unschöner Außentreppen verschont.
Nach außen hin geben die ausnehmend angenehm proportionierten Kolonnaden dem Neubau die nötige Diszipliniertheit, die das Ensemble gegenüber den Grünflächen gut verträgt und gegenüber der disparaten Nachbarbebauung mit flach gelagertem Vereinsheim und burghaftem Kleinadelsschloss auch dringend braucht. Die Glas-Aluminium-Fassaden mit ihren flirrenden Spiegelungen treten als gestaltendes Element und auch als Raumbegrenzung in den Hintergrund und lassen das Gebäude im EG durch die Mensa hindurch sogar transparent erscheinen. Da beide Altbauten gestalterisch allenfalls durch ihre historischen Geländer und andere Innenraum-Details ins Gewicht fallen, müssen sie sich der Kraft des Neubaus fügen und nach der Fassadensanierung in weiß gestrichenem Putz mitspielen. Ihrer jeweiligen Eigenheit wird das kaum abträglich sein, zumal sich die inneren Strukturen kaum verändern. Am Jahrhundertwendebau lässt sich dies bereits ablesen: Seine »Feuerzangenbowle«-Anmutung wurde erhalten, eine zusätzliche Außenwanddämmung unterblieb, das Dach hingegen wurde thermisch hochwertig gedämmt. Auffallend allein der frische Anstrich und die besonders schlanken Fensterprofile der Dreifachverglasung.
Die beiden halbgeschossig und im Grundriss gegeneinander versetzten Gebäudeflügel von 1954 dienen, dank effektiver Dämmschichten und Dreifachverglasung, auch weiterhin als hauptsächlicher Klassentrakt.
Die Kleinteiligkeit der alten »Penne« von 1905 eignet sich ebenfalls für einzelne Klassen, v. a. aber für die Verwaltung und Arbeitsplätze der Lehrer und Betreuer. Dass auch hier raumhohe Türelemente Einzug halten durften, ist ein großer Gewinn, der sich gegen den Mief des letzten Jahrhunderts stellt. Ebensolche bilden die nötigen Abschlüsse zu den Treppenhäusern und leiten wie selbstverständlich über in den nächsten Trakt. Mit ihren minimalen Schattenfugen wirken sie ein wenig wie eingestellte Möbel und gleichen in gewissem Rahmen die Bautoleranzen und unvermeidliche Unebenheiten aus.
Übernimmt der Neubau die Geschosshöhen von 1905, so braucht es am Übergang zum 50er-Jahre-Gebäude kurze Rampen, um die Bodenniveaus zu erreichen, schließlich wird barrierefreie Zugänglichkeit verlangt.
Die Energiestandards durften je Gebäudeteil einzeln abgewogen werden. Die Gebäudehülle des Neubaus mit ihren thermisch entkoppelten vorgesetzten Bauteilen wurde in Anlehnung an den Passivhausstandard ausgeführt Die Wärmeenergie stammt aus dem städtischen Gas-Blockheizkraftwerk und bei Spitzenlast aus einer eigenen Gasbrennwerttherme. Die 146 PV-Module auf dem Dach liefern 43 kWp für Licht, kontrollierte Lüftung etc.
Das in Ludwigsburg ansässige und über ein Verhandlungsverfahren ins Boot geholte Büro hat mit dem kompetenten Bauherrn auf konstruktive Art so manchen Strauß ausgefochten, musste das Rad aber nicht neu erfinden: Eine ganz ähnlich geartete Bauaufgabe war bereits 2014 nicht weit entfernt am anderen Ende der Siedlung gelöst worden, wo die Schlösslesfeldschule unter einer flexibel bespielbaren Tragstruktur eine Mensa und Räume für den Ganztagesbereich bereitgestellt bekam.
Dort wie hier ist die Architektur von überlegten Fügungen, Anschlüssen und Details geprägt, die, wo nur irgend möglich, der geometrischen Wunsch-Linienführung folgen. Es gibt aber auch viele einzelne Konzessionen an Budget und Umsetzbarkeit, die letztlich vielleicht nicht ganz ein architektonisches Idealbild ergeben, aber doch zu einem Charme führen, der gleichermaßen zur Nutzung wie auch zur Wertschätzung animiert. Eine bessere Grundlage kann ein Schulgebäude kaum bieten.db, Di., 2020.12.08
08. Dezember 2020 Achim Geissinger
Dem Ort verbunden
(SUBTITLE) Wohn- und Werkhaus in Schwaikheim
Durch die Zusammenarbeit von Bauherren und Planern, die sich jeweils ihrer vielschichtigen baulichen Verantwortung bewusst sind und auf Langlebigkeit statt hohe Rendite setzen, konnte in Schwaikheim ein Mut machendes Bauensemble entstehen, dem große Strahlkraft über den Ort hinaus zu wünschen ist.
Seit dem Anschluss von Schwaikheim an das Eisenbahnnetz Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Ort vom Bauerndorf zur Wohngemeinde. Statt von der Landwirtschaft wird das Ortsbild der heute knapp 10.0000 Einwohner zählenden Gemeinde mittlerweile von den Wohnsiedlungen der in den großen Unternehmen der Städte ringsum Beschäftigten geprägt. Der Ort wuchs über die Zeit v. a. nach Süden in Richtung des ursprünglich 1 km vom Ortskern entfernt liegenden Bahnhofs. Und so führt heute der Weg des dort Ankommenden zur historischen Ortsmitte durch ein überraschend großes Wohngebiet, das so auch am Rande einer ausgewachsenen Stadt liegen könnte. Angekommen .im nur teilweise historisch erhaltenen Dorfkern, stößt man auf die große Baustelle der »Neuen Ortsmitte«, eines Wohn- und Geschäftshauskomplexes, der leider in seiner ertragsoptimierten Bauweise nicht viel zur Reparatur des Ortsbilds beitragen wird. Nur 20 km vor den Toren der teuren Landeshauptstadt gelegen und mit direkter S-Bahnverbindung dorthin, ist die Nachfrage nach Wohnraum groß. Und so wurde erst vor Kurzem ein neues Wohngebiet am Ortsrand erschlossen.
In Schwaikheim, wie auch sonst vielerorts in ehemals von der Landwirtschaft geprägten Gemeinden, besteht jedoch insbesondere entlang der historisch gewachsenen Hauptverkehrsachsen das größte Potenzial und zugleich auch der größte Nachholbedarf, identitätsstiftend tätig zu werden: Der ursprünglich attraktive Standort an der Hauptstraße mit kurzen Wegen in repräsentativer Lage verkam mit dem stetig wachsenden Autoverkehr über die Jahrzehnte zur lauten B-Lage. Zudem lässt sich die hier immer noch häufig vertretene Bautypologie des bäuerlichen Anwesens nur sehr bedingt an den vorherrschenden Bedarf nach bezahlbarem und zeitgemäßem Wohnraum anpassen.
Zwischen Lärm und Wiesen
Nördlich des Ortskerns zeigt sich der Gürtel mit Wohngebieten nicht ganz so ausgeprägt. Und so liegt der Neubau eines Mehrfamilienhauses und einer Werk- und Abstellhalle, geplant von Markus Binder (CAPE Ingenieure, Esslingen) und schleicher.ragaller architekten (Stuttgart), ganz nah am historischen Kern und zugleich fast unmittelbar am Feldrand: vorne laute Durchgangsstraße und nach hinten die leicht hügelige Landschaft mit Feldern, Obstwiesen und Hängen, auf denen u. a. Wein kultiviert wird.
Bereits der erste Blick auf das mit dunkel lasiertem Holz bekleidete Bauensemble vermittelt eine Mischung aus Vertrautheit und Besonderheit, aus Funktionalität und hohem gestalterischen Anspruch. Zwischen 80er-Jahre-Architektur und einem in die Jahre gekommenen historischen Bauernhof gelegen, streckt sich das dreigeschossige Wohngebäude mit seiner Giebelseite recht nah an die Straße, während das rund ein Geschoss niedrigere Pendant der Werk- und Abstellhalle deutlich nach hinten gerückt ist. Jeweils völlig fensterlos und mit einem Satteldach ohne Überstand ausgestattet, sehen die beiden gleich breiten Giebelseiten frontal betrachtet wie die Abstraktion eines bäuerlichen Anwesens aus. Auch der Sichtbetonsockel des Wohnhauses, der sowohl die Garagentore an der Stirnseite als auch die großzügige Eingangsnische rahmt, unterstützt diesen Eindruck. Das Bild der vormaligen Bebauung des Grundstücks mit einer großen Scheune und einem kleinen Wohnhaus wurde neu interpretiert und dadurch in gewisser Weise sogar bewahrt.
An der Rückseite stehen die beiden Baukörper im abfallenden Gelände in derselben Flucht und nehmen im ebenfalls in Sichtbeton gefassten Hanggeschoss eine Wohnung mit Gartenzugang und drei gedeckte Stellplätze unterhalb der Werkhalle auf.
Die Größenverhältnisse des vormaligen Bestands von Wohnhaus und Funktionsgebäude haben sich mit der Neubebauung umgekehrt: Insgesamt sechs großzügige Zweizimmerwohnungen sowie drei Autostellplätze kommen im Wohnhaus unter, während das »Werkhaus« dem Bauherrn, Jens Wössner, seiner hobbymäßigen Tätigkeit im ursprünglich erlernten Beruf als Zimmermann dient. Jens Wössner und seine Schwester Sabrina Hiss, Erben des Familienanwesens, entschieden sich, anstatt das Objekt an einen Bauträger zu verkaufen, selbst eine Mietimmobilie zu realisieren und dadurch auch ein Stück Verantwortung für ihren Heimatort zu übernehmen.
Im besten Sinne Vernünftig
Befreundet mit den Bauherren, wurde Architekt Markus Binder, der auch als Professor am Fachgebiet Integrierte Gebäudetechnik an der Hochschule für Technik Stuttgart tätig ist, um Rat gefragt und schließlich auch beauftragt, das ambitionierte Familienprojekt in Kooperation mit den Planern von schleicher.ragaller architekten umzusetzen. Die unterschiedlichen Schwerpunkte ihrer jeweiligen Planungstätigkeit – auf der einen Seite Ressourcenschonung und Energieeffizienz und auf der anderen die klassische Entwurfs-, Planungs- und Bauleitungstätigkeit – führten zwar mitunter zu Reibungen, was sich letztlich aber immer als gewinnbringend für das Projekt erwiesen habe, so berichten Markus Binder und Michael Ragaller unisono.
Dass ein im besten Sinne vernünftiges Gebäude eines sei, das den Anspruch hat, eine gute Mischung aus Sparsamkeit und Langlebigkeit abzubilden, darin waren sich Planer und Bauherren einig. Und auch darüber, dass dies nur im Zusammenspiel einer zukunftsfähigen Baukonstruktion und Gebäudetechnik mit einer funktional wie ästhetisch langlebigen Gestaltung erreicht werden könne.
So wurde das Wohnhaus als ressourcenschonender Holzbau (teurer als der Standard, aber schneller zu errichten) mit Vollholzdecken und hochgedämmten Holzständerwänden auf einem robusten kerngedämmten Betonsockel (ebenfalls nicht die kostengünstigste Bauvariante, stattdessen jedoch langlebig und alterungsfähig) errichtet. Das Wohnhaus erreicht somit einen KfW55-Standard und kann mit der auf der optimal nach Süden ausgerichteten Dachfläche projektierten PV-Anlage in der Jahresbilanz sogar noch zum Nullenergiegebäude werden.
Die Überlegungen zum Ausgleich von Erstellungskosten und langfristiger Wirtschaftlichkeit des Gebäudes spiegeln sich auch in der Grundrissgestaltung der Wohnungen wider, die kleine Spannweiten der Decken erlaubt, aber zugleich Platz für Loggien statt der üblichen Balkone bietet. Auch im angenehm lichten Treppenhaus trifft diese abwägende Gestaltungshaltung in Form einer sehr großzügigen Verglasung und einer unbekleideten Betonfertigteiltreppe aufeinander. Selbst die Aufstellung der Luftwärmepumpe innerhalb des Gebäudes, und in Kauf zu nehmen, dadurch vermietbare Fläche zu »verschenken«, folgt dem Bestreben nach Architektur mit hoher Haltbarkeit.
Das sorgfältig detaillierte und umgesetzte Ergebnis all dieser Überlegungen überzeugte Bauherrn Jens Wössner schließlich so sehr, dass er, obwohl dies anfänglich gar nicht vorgesehen war, selbst in eine der Wohnungen einzog.
Der großzügige, zur Straße hin offene Vorplatz dient nicht nur als Werkhof für seine Zimmerei und als Mieterparkplatz, sondern auch als alljährlicher vorweihnachtlicher Treffpunkt des ganzen Orts bei seinem Weihnachtsbaumverkauf. Mit der Pflanzung eines schattenspendenden Baums würde hier, vor dem kleinen Bauensemble, das sich dem Ort so verbunden zeigt, sicherlich auch im Rest des Jahres noch das eine oder andere Dorfschwätzchen gehalten werden.db, Di., 2020.12.08
08. Dezember 2020 Martin Höchst
Frischer Schwung fürs Lernen
(SUBTITLE) Bundeswehrfachschule in Karlsruhe
Auf einem Kasernengelände in Karlsruhe ist die Bundesrepublik ihrer Vorbildfunktion als öffentlicher Bauherr gerecht geworden. Für ehemalige Zeitsoldaten hat sie eine Ausbildungsstätte errichtet, die neue Standards im Schulbau setzt.
In einer etwas abgelegenen Ecke von Karlsruhe versteckt sich eine militärhistorische Besonderheit: Ganz im Norden der Stadt, zwischen einer kleinen Teppichsiedlung und dem Waldrand, findet man den ersten Stützpunkt der deutschen Luftwaffe nach der Wiederbewaffnung. 1959 errichtete die Bundeswehr dort die Kirchfeldkaserne. Wer sie heute besucht, versteht, warum die Presse dem Areal damals »ein beinahe ziviles Gesicht« attestierte. Dreigeschossige Mannschaftsgebäude verteilen sich wie mit lockerer Hand hingestreut über weitläufige Grünflächen, wobei die fächerförmige Anordnung der Bauten dem annähernd dreieckigen Grundstück folgt – keine Spur jedenfalls von der strengen Orthogonalität früherer Kasernenhöfe.
An der Spitze des Fächers, wo lange das Offizierskasino stand, hat die Bundeswehr nun eine Schule gebaut, in der ehemalige Zeitsoldaten auf den Wiedereinstieg ins Berufsleben vorbereitet werden. Sie können hier Abschlüsse bis hin zur Fachhochschulreife nachholen oder ihr altes Schulwissen auffrischen, um besser für ein Studium gewappnet zu sein. Das Bauwerk, das v-architekten dafür entworfen haben, ist perfekt auf seinen Standort abgestimmt. Zunächst einmal setzt es ganz offensichtlich darauf, sich den zivilen Charakter des parkartigen Geländes zunutze zu machen. Die Unterrichtsräume liegen in den oberen Stockwerken und bieten durch vollverglaste Fassaden einen entspannenden Blick in die Baumkronen, während das EG Verwaltung, Lehrerzimmer, Bibliotheken und Vortragsräume aufnimmt. Auf den dreieckigen Grundstückszuschnitt wiederum reagiert das Gebäude mit drei Flügeln, die sich um ein zentrales Atrium gruppieren, gleichzeitig jedoch vor den alten Bäumen zurückweichen. Wer will, kann in der Grundrissfigur, die sich daraus ergibt, einen Propeller erkennen – und damit einen Verweis auf die Geschichte des Orts. Obwohl diese Assoziation vom Architektenteam gar nicht beabsichtigt war, wird sie von den stromlinienförmigen Rundungen der umlaufenden Wartungsbalkone ebenso unterstützt wie von der Leichtigkeit der Gebäudeflügel, an deren Enden die oberen Stockwerke weit auskragend über dem Gelände zu schweben scheinen.
InnenRäume Auf klugem Grundriss
Man betritt die Schule über den Nordflügel, der sich den anderen Gebäuden auf dem Kasernengelände zuwendet. Sogleich findet man sich in einem außergewöhnlich hellen Atrium wieder. Das Licht zieht den Blick nach oben, wo man ein zartes ETFE-Membrandach entdeckt. Statt einer aufwendigen Stahlkonstruktion und einer gerahmten Verglasung, die bei anderen Atrien meist einen unruhigen Schattenwurf erzeugen, überspannen hier nur drei gewölbte Rundträger den Raum und transluzente Foliennähte sorgen für einen gleichmäßigen Sonneneinfall. Ungestört kommt daher die präzise Ausführung der weiß verputzten Brüstungen zur Geltung, die auf den oberen Etagen in sanftem Schwung um die Ecken gleiten.
Weil ein großer Teil der Unterrichtsräume direkt über die Haupttreppe und die Galerien des Atriums zugänglich ist, reichen relativ kurze Stichflure aus, um die übrigen Räume zu erschließen. Die Gänge weiten sich von den Enden zur Mitte hin auf, sodass sie durch die perspektivische Verzerrung sogar noch kürzer wirken. Außerdem sind sie somit um genau jenes Maß verbreitert, das nötig ist, damit man in den Pausen gerne für einen Plausch stehen bleibt. V. a. aber bekommen sie als Teil einer einbündigen Erschließung seitliches Tageslicht, Aussicht ins Freie und damit eine Aufenthaltsqualität, die man bei den hochkompakten Schulgrundrissen unserer Tage nur selten antrifft.
Am Ende der Gänge liegen die Fluchttreppen. Sie eignen sich als »Shortcuts« zwischen den Etagen – weil sie direkt zu den Bibliotheken im EG führen, ergibt sich eine Schule der kurzen Wege. Auch bei der Nutzungsflexibilität wurde ein vernünftiges Maß gefunden. Während die Flurwände tragend ausgebildet sind, lassen sich die Leichtbau-Trennwände zwischen den Unterrichtsräumen einfach entfernen, ermöglichen eine Anpassung des Grundrisses und verlängern damit potenziell die Lebensdauer des Gebäudes.
Die Innenräume sind geprägt von Oberflächen, deren handwerkliche Verarbeitung einen angenehmen Kontrast zu der industriell anmutenden Alu-Glas-Fassade bildet: naturbelassenes Eichenholz auf den Brüstungen, hellbeiger Terrazzo am Boden des EGs, Beton mit dem Abdruck einer senkrechten Bretterschalung an den Wänden. Von gestalterischer Raffinesse zeugt eine leuchtende Fuge zwischen Wand und Decke, die den Beton in Streiflicht taucht und seine Struktur besonders hervorhebt. Alle verbauten Materialien unterliegen mindestens dem Umweltprüfzeichen »Blauer Engel«.
Wie sinnvoll ist eine Schule aus Glas?
Waren die großen transparenten Fassadenflächen zunächst rein konzeptionell bedingt, so erwiesen sie sich im Planungsverlauf auch als vorteilhaft für das Energiekonzept, berichtet das Architektenteam. Zunächst einmal verbessern sie natürlich die Tageslichtnutzung und minimieren den Strombedarf für künstliche Beleuchtung. Im Winter fallen die Wärmeverluste durch die Dreischeibenverglasung nicht sonderlich ins Gewicht. Zum einen reicht die abgestrahlte Körperwärme der Schüler bei dem ansonsten gut gedämmten Gebäude aus, um die Unterrichtsräume angenehm zu temperieren. Zum anderen sind für den Energieverbrauch von Ausbildungsstätten weniger die Verluste durch Transmission als durch Lüftung entscheidend: In Schulbauempfehlungen und der EN 13779 wird für die dicht besetzten Klassenzimmer ein dreifacher Luftwechsel pro Stunde vorgeschlagen, also sechsmal mehr als im Wohnungsbau. Alle Aufenthaltsräume der Karlsruher Schule werden daher mechanisch be- und entlüftet. Ein Plattenwärmetauscher gewinnt dabei 85 % der Abwärme zurück, ohne Zu- und Abluft zu vermischen. Zusätzlich lassen sich in den Unterrichts-, Büro- und Besprechungsräumen die Fenster bei Bedarf öffnen, was die Nutzerakzeptanz erhöht.
Im Sommer schützen Lamellenraffstores vor einer übermäßigen Sonneneinstrahlung, im Süden unterstützt von den Wartungsbalkonen. Eine Teilklimaanlage mit adiabatischer Verdunstungskühlung senkt die Temperaturen zusätzlich. Dank der großen Glasflächen kühlt das Gebäude nachts schneller aus als ein Haus mit hochgedämmten opaken Wänden. Die Erschließungsflächen werden, falls nötig, automatisch über Glaslamellenfenster in den Flurfassaden und Rauchabzugsöffnungen unter dem Atriumdach mit kühler Nachtluft durchspült. Bei der Besichtigung an einem hochsommerlichen Mittag im September scheint dieses Konzept zu funktionieren – selbst in den Fluren an der Südseite herrschen angenehme Temperaturen.
Konsequent bis ins Detail
Beim Verlassen des Bauwerks fällt der Blick noch einmal auf die Freibereiche unter den auskragenden Enden der drei Flügel. Für die erwachsenen Schüler unterbreitet jede dieser Zonen ein anderes Angebot. Boxsack, Reckstange und Ringe stehen zur sportlichen Aktivität bereit, hängende Sessel zum »Chillen« und Stahlbügel zum unkomplizierten, regengeschützten Anschließen von Fahrrädern. Die daneben stehende Sitzbank aus Faserbeton zeigt, obwohl sie aus dem Katalog stammt, die gleichen abgerundeten Ecken wie die Balkone und zeugt damit von der Konsequenz, mit der der hohe Gestaltungsanspruch bis ins Detail durchgehalten wurde.
Was hat nun dazu beigetragen, dass sich dieser Schulbau von vielen seiner Artgenossen abhebt? Die Architekten betonen die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit dem Bauherrn, dem Staatlichen Hochbauamt Karlsruhe, das sie in schwierigen Abstimmungsrunden mit vielen Beteiligten aus Bundeswehr und Verteidigungsministerium stets unterstützt habe. Auch dass die Oberfinanzdirektion für das Projekt von Anfang an kein allzu knappes Budget vorgesehen hatte, mag geholfen haben: Mit 2.390 Euro brutto/m² BGF lag es über dem BKI-Durchschnitt für Schulbauten (und wurde exakt eingehalten). Sofern wie hier kein Luxus entsteht, darf es einer Gesellschaft ruhig ein paar Euro wert sein, bei Bauten für ihre ehemaligen Soldaten nicht zu knausern, sondern ihnen für die Rückkehr ins zivile Leben anständige Ausbildungsräume zur Verfügung zu stellen. Umso besser, wenn dabei anspruchsvolle Architektur herauskommt, mit der die öffentliche Hand die Baukultur fördert.db, Di., 2020.12.08
08. Dezember 2020 Christian Schönwetter