Editorial
Beliebtere Gebäudeteile als Balkone und Loggien gibt es in Zeiten von Corona wohl nicht: Wer im Zug von Ausgangsbeschränkungen und heruntergefahrenem öffentlichen Leben einen privaten Freisitz sein Eigen nennen kann, ist klar im Vorteil. Diese Bereiche zwischen drinnen und draußen, zwischen privat und öffentlich ermöglichen einen Aufenthalt an der frischen Luft, genug abgegrenzt, um Abstandsgebote einzuhalten. Sie dienen als temporäre und psychologisch wichtige Erweiterungen des ansonsten auf die eigenen vier Wände beschränkten Aktionsradius, erlauben bis zu einem gewissen Grad sogar die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und fungieren als Bühne bzw. Zuschauerpodium.
Deutlicher als während der Pandemie kann der auch ansonsten hohe Nutzwert eines geschützten Freibereichs kaum zutage treten. Dass Gebäudeentwürfe, die sich konsequent dieses essenziellen Themas annehmen, überzeugend umgesetzt werden können, zeigen die ausgewählten Projekte. | Martin Höchst
Im Austausch
(SUBTITLE) Hochschulgebäude in London
Flechtwerke aus horizontalen und vertikalen Elementen, zueinander versetzt angeordnet, sind ein Markenzeichen der Architektur des Dubliner Büros Grafton Architects. Am neuen Lerngebäude der Universität Kingston-upon-Thames haben sie Balkone, Treppen und Bepflanzung in ein umlaufendes Betongerüst eingehängt, die zusammen mit den Bewegungen seiner Nutzer eine flirrende Collage im Dialog mit der Stadt bilden.
Als die Architektinnen des neuen Hochschulgebäudes der Kingston University in London, die diesjährigen Pritzker-Preis-Trägerinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell von Grafton Architects, 2018 die Architekturbiennale Venedig kuratierten, wählten sie das Motto FREESPACE. In ihrem Programm betonten sie die »Fähigkeit der Architektur, (ganz ohne Zusatzkosten) mehr zu sein als Raum und Funktion und selbst unausgesprochene Nutzerwünsche bereits vorab zu berücksichtigen (…) Wir möchten über das rein Visuelle hinausgehen und der Architektur in der Choreografie des Alltags eine herausgehobene Rolle zuweisen.«
In umfassender Ausprägung lässt sich die Haltung der Architektinnen erstmals an gleich drei ihrer im Jahr 2015 fertiggestellten Gebäude ablesen: das Institut Mines-Télécom in Paris-Saclay, die Toulouse School of Economics und das spektakuläre, einer Klippe ähnelnde neobrutalistische Universitätsgebäude der University of Engineering and Technology (UTEC) in der peruanischen Hauptstadt Lima (s. auch db 4/2020, S. 6). Deren äußerer Ausdruck wird jeweils vom kraftvoll ausformulierten Tragwerk sowie von Treppenläufen, Terrassen und Balkonen bestimmt.
Diese Elemente finden sich auch in der Gestaltung des 2019 fertiggestellten »Town House« in London wieder. Den Auftrag dafür erhielten Grafton Architects über einen Wettbewerb, bei dem sie sich gegen bekannte Namen wie O’Donnell + Tuomey und Feilden Clegg Bradley Studios durchsetzen konnten. McNamara und Farrell verstehen ihren Entwurf als »direkte Reaktion auf den Wunsch der Universität, Offenheit und Interaktion zu fördern und eine enge Verbindung sowohl zur Studentenschaft als auch zu den Bewohnern von Kingston aufzubauen. Die Aufgabe, eine ›offene Universität‹ im Wortsinn zu bauen – mit vielfältigen Angeboten von Performance über ›entdeckendes Lernen und Lehren‹ bis hin zu stiller (Bibliotheks-) Recherche –, führte uns zur Idee einer dreidimensionalen offenen Matrix aus interagierenden Volumen. Zur Straße hin haben wir das Gebäude mit einer belebten, offenen Seite in Form einer Kolonnade ausgestattet, außerdem gegeneinander versetzte Terrassen und Gärten in der Höhe gestaffelt angeordnet und den ebenfalls neu gestalteten öffentlichen Raum an der Penrhyn Road quer durch das Gebäude geführt.«
Das 9.100 m² Geschossfläche umfassende Town House ist in architektonischer Hinsicht weniger dramatisch als Graftons Universitätsbauten in Frankreich und Peru, doch dafür hat es eine unmittelbarere Beziehung zu seiner Umgebung: Die dem eigentlichen Gebäude vorgelagerte, sowohl klassisch als auch klassisch-modern anmutende Betonstruktur mit ihren Treppen und Balkonen offenbart die Bewegungen der Studenten an der nach Westen weisenden Hauptfront ebenso wie an den Fassaden im Süden und Norden.
Mitten im städtischen Leben
Das Town House liegt auf der östlichen Seite der Penrhyn Road, die aus dem Zentrum von Kingston-upon-Thames nach Süden führt. Eine breite und viel befahrene Straße, flankiert von Bürgersteigen und alten Bäumen. Letztere mildern zumindest visuell die Unruhe, die der Verkehr verursacht. An der nordwestlichen Gebäudeecke geht eine schmale Straße, Grove Crescent, von der Hauptstraße ab und verläuft in einem Bogen entlang der Rückseite des Town House, dann weiter durch einen Teil des Campus der Kingston University. An der Hauptstraße liegt dem Town House das Verwaltungszentrum der Grafschaft Surrey gegenüber, ein großes neobarockes Gebäude von 1893, und etwas weiter die Straße hinauf das ebenso massige Gerichtsgebäude von 1979. Damit steht der Hauptfassade des neuen Lerngebäudes eine sehr städtische Szenerie gegenüber, während die Rückseite auf niedrige Wohnbauten trifft.
Von Norden gesehen überragt das sechsgeschossige Gebäude die alten Bäume auf beiden Seiten der Penrhyn Road. Diese Bäume bilden im Zusammenhang mit dem Freiraumkonzept, das Grafton Architects für die Vorderseite des Town House entwickelten, eine sowohl perspektivisch wirksame als auch raumbildende Synergie zwischen der Straße und dem Gebäude. Wichtigster Bestandteil des Außenraumkonzepts ist die Reihe von zehn neu gepflanzten Bäumen, die sich entlang der Gebäudefront und über einen Teil des benachbarten universitären Muybridge Building erstreckt: Sie bildet eine zweite, eine grüne Kolonnade, die der 4,2 m tiefen steinernen Kolonnade des Town House vorgelagert ist. Der Raum, der dazwischen entsteht, ist erfreulich uneindeutig – ein »freier Raum«, der bereits außerhalb des Gebäudes Graftons Entwurfskonzept offenbart: nämlich ein »offenes räumliches System« zu schaffen, das soziale Interaktion sowohl im Gebäude selbst als auch um sich herum fördert. Die Kolonnade auf der Westseite ist zudem als moderner Portikus konzipiert – als »Eingangstür« über die gesamte Breite der Fassade, an der sich das akademische Leben mit dem städtischen Alltag verbindet.
Alles andere als ein banales Raster
Dass sich die Treppen und Balkone auf drei Seiten durch die außen liegenden Träger und Stützen emporfädeln, verstärkt diese Intention. Das Tragwerk besteht aus bewehrtem Ort-Stahlbeton, dazu kommen Ziegelmauerwerk, Fensterprofile aus Aluminium sowie Betonfertigteile für die Balkonplatten und Treppenläufe. Die Ortbetonkonstruktion hat eine leicht raue Oberfläche, die an Portland-Sandstein erinnert und damit auf die Fassade des historistischen Verwaltungsbaus verweist. Die Ausbildung der Kolonnade verhilft der Fassade zu einer in mehreren Ebenen gestaffelten Tiefe, die von den Studenten zum Ausruhen, als Wandelgang und als Arbeitsplatz im Freien genutzt wird. Die Außenräume geben zudem bereits einen Vorgeschmack auf die Räume und die Erschließung im Innern. Beim Betreten des Town House öffnet sich ein vier Geschosse hohes Atrium mit Emporen und sechs Treppenläufen, deren Gestaltung die ihrer Pendants im Außenbereich aufnimmt.
Im Bereich des Haupteingangs verschwimmt zudem die Grenze zwischen Drinnen und Draußen, Öffentlich und Universitär auf angenehme Weise.
Die Geschossflächen innerhalb des Gebäudes sind zur Hälfte offen konzipiert. Wie schon zuvor haben Grafton eine Collage aus ineinandergreifenden ein- und zweigeschossigen Volumina geschaffen, die weniger rein horizontale, sondern vielmehr »geknickte« Blickbeziehungen eröffnen. Die asymmetrische Anordnung der Treppen und Balkone greift zudem die Verschiebungen und Überschneidungen in den Grundrissen auf. Das wiederum zeigt sich auch in den Fassaden, besonders gelungen auf der West- und Südseite: Stützen und Träger sind in Höhe und Abstand bewusst unregelmäßig angeordnet, was einem zu massigen Ausdruck des Town House entgegenwirkt. Das Rahmenwerk der Hauptfassade etwa ist in drei Stützengruppen aufgeteilt, von denen jede eine andere Gesamthöhe hat. Die horizontalen Balken liegen ebenfalls auf unterschiedlichen Höhen, sodass die gesamte Konstruktion alles andere als ein banales Gitter geworden ist.
Wie handgefertigt
Einige der Details sind so wichtig wie wirkungsvoll, beispielsweise dass die Stützen des Betonrahmens vor der Hauptfassade in leicht nach vorn versetzten Abschnitten in die Höhe wachsen. Auch deren Abmessungen variieren: Jene Stützen, die die Kolonnade auf Straßenniveau bilden, sind 1,1 m tief, die darüber messen 80 cm, und die oberste Stützenreihe ist nur noch 60 cm tief. Dieses Variieren der Bauteile verleiht dem Rahmen gemeinsam mit den sichtbaren Fugen zwischen den Ortbeton-Stützen und -Trägern einen sorgfältig ausformulierten, fast schon handgefertigten Ausdruck. Auf der Südseite liegt im 5. OG ein offener, begehbarer Garten, außen liegende Treppen verbinden einige der Balkone. Drei Balkone umfassen außerdem die Ecken des Gebäudes auf unterschiedlichen Höhen. Höhenversprünge und Verbindungen übereck werden durch Begrünung in Form von horizontalen Pflanzkästen und aufgehenden Rankdrähten zusätzlich betont.
Interessanterweise ist die Wirkung all dieser Balkone, Treppen und Betonbauteile insgesamt eher ungreifbar. Auf den ersten Blick wirkt das vorgestellte Betongerüst monumental und fast schon überwältigend, während die Ziegelfassaden kaum ins Gewicht fallen. Doch wenn man um das Gebäude herumgeht, während im Hintergrund der Verkehr rollt, wird die Funktion der Kolonnaden für den öffentlichen Raum und die Stadt immer deutlicher: Als Ganzes betrachtet entwickelt sich ein architektonisches Bild, das für das Gemeinschaftliche statt für Abgrenzung steht. In letzter Konsequenz vermitteln die Balkone und Treppenanlagen eine ganz simple Idee: nämlich dass man sieht, dass das Town House »belebt« ist, drinnen wie draußen. So können die Studierenden und Lehrenden in die Bäume, auf den Verkehr und die Passanten der Penrhyn Road blicken. Im Gegenzug werden sie auch von Autofahrern und Fußgängern gesehen. Was also auch immer die Studenten denken oder sagen, sie tun es in der Öffentlichkeit – und das ist keineswegs nur eine Geste oder ein übergestülpter Teil der Entwurfsidee.
Blickt man die Westfassade empor, fällt einem ein Satz aus der Broschüre über den legendären »Fun Palace« von Cedric Price und Joan Littlewood aus dem Jahr 1964 ein, eine flexible Konstruktion, in die man immer neu programmierbare Räume hätte einsetzen sollen: »Keine Türen, keine Lobbys, Rezeptionen und kein Schlangestehen: Es liegt an dir, wie du den Raum nutzt (…) Willst du einen Aufstand beginnen oder lieber ein Gemälde – oder dich einfach hinlegen und in den Himmel schauen?« Nach Monaten des Covid-19-Lockdowns und immer neuer Vorschriften wirken die Treppen und Balkone des Town House weniger wie Architektur l’art pour l’art, sondern vielmehr wie ein idealer Rahmen für ein ganz normales Leben.db, Fr., 2020.09.04
04. September 2020 Jay Merrick
Im Dialog mit der Stadt
(SUBTITLE) Apartmenthaus in Porto (P)
Der Neubau in Portos Altstadt ist kein Manifest des Betonpurismus. Er schlägt vielmehr eine Brücke zwischen den Jahrhunderten und trägt zur Heilung städtebaulicher Wunden bei. Dreh- und Angelpunkt in diesem Zusammenhang sind die Loggien. Sie lassen eine fast 2 m tiefe Raumschicht entstehen, die als feinsinniger Filter zwischen innen und außen vermittelt.
Portos Altstadt genießt seit 1996 Weltkulturerbestatus, und innerhalb des hügeligen Stadtgebiets liegt auch der vor gut 100 Jahren eröffnete Bahnhof São Bento. In unmittelbarer Nähe des Gebäudes befindet sich eine große Brachfläche, die recht irritierend wirkt, wenn man bedenkt, dass die UNESCO explizit das »städtische Gefüge« unter Schutz stellte. Doch städtebauliche Brüche haben an diesem Standort Tradition: Dem Bau des Bahnhofs fiel ein Kloster aus dem 16. Jahrhundert zum Opfer, und um eine prächtige Achse zur berühmten Stahlbogenbrücke Ponte Luís I anzulegen, wurde in den 50er Jahren eigens ein ganzes Altstadtviertel abgerissen und eine breite Schneise in den Fels gesprengt. Dieses ambitionierte Projekt verlief freilich ebenso im Sand wie die inzwischen 20 Jahre alten Pläne Álvaro Sizas, das Areal an der Avenida Dom Afonso Henriques wieder zu verdichten. Bis vor Kurzem prägte den nordöstlichen Rand jener felsigen, kaum vernarbten Wunde im Stadtkörper, noch ein unbebautes Grundstück mit der ruinösen Straßenfassade eines Wohnhauses aus dem 18. Jahrhundert.
Durch eine Konstellation, deren Erläuterung hier zu weit führen würde, erhielt ein Investor die Möglichkeit einer Baurechtsprüfung für eben dieses Grundstück. Der von Alexandra Coutinho und Nuno Grande vom Architekturbüro Pedra Líquida hierfür erstellte Vorentwurf eines Wohnhauses wurde zwar nicht umgesetzt, bildete aber den Ausgangspunkt für das von den Architekten stattdessen realisierte Apartmenthotel São Bento Residences. Das Grundstück ist, wie bei Wohnbebauungen in der Altstadt Portos üblich, schmal und lang und war früher mit mehreren Hinterhäusern bebaut. Diese waren bei Planungsbeginn bereits ebenso verschwunden wie die Räume hinter der Fassade und auch die einst westlich direkt angrenzenden Nachbarhäuser, sodass sich die völlige Neuinterpretation des Orts geradezu aufdrängte. Entstanden ist ein Neubau aus zwei optisch eigenständigen, gestalterisch jedoch einheitlichen Bauvolumen, die an einem haushohen Spalt, in dem sich der Hoteleingang befindet, aufeinandertreffen.
Neu interpretiert
Die alte denkmalgeschützte Natursteinfassade musste penibel genau wiederhergestellt werden, und für die Aufstockung um ein leicht rückspringendes DG in Sichtbeton gab es verbindliche Auflagen. Zum einen war ein Dachgesims vorzusehen, das die Fassade analog zu den Nachbargebäuden optisch nach oben abschließt. Dem entsprachen die Architekten mit einer einfachen auskragenden Betonplatte. Zum andern mussten beide Volumen über ein geneigtes Ziegeldach verfügen – dieses Dach verbirgt sich hinter den über den Traufpunkt hochgezogenen Sichtbetonaußenwänden.
Prägnantester Teil des Neubaus ist das große Bauvolumen an der Avenida Dom Afonso Henriques. Was beim Blick auf dessen Sichtbetonfassade sofort auffällt, sind zwei Dinge: Erstens weisen die gleichförmigen Fassadenöffnungen über dem Restaurant im EG jene Vertikalität auf, von der auch alle alten Häuser Portos gekennzeichnet sind. Zweitens erscheint das Haus durch die tiefen Einschnitte sehr massiv und plastisch. Fenster im herkömmlichen Sinn sind nicht zu erkennen – sämtliche Öffnungen sind, außer im Restaurant im EG, als Loggien ausgebildet. Aus der Entfernung mag diese »Massivität« vielleicht ein wenig unnahbar anmuten. Beim Näherkommen wirkt der mit Stockhämmern großflächig aufgeraute Sichtbeton jedoch angenehm vertraut. Nicht zuletzt deshalb, weil durch die Oberflächenbearbeitung ein wichtiger Zuschlagstoff freigelegt wurde: eine lebhafte Mischung von Körnern verschiedener Granitsorten. Und Granit ist in Porto allgegenwärtig – in Kopfsteinpflastern und Hausfassaden ebenso wie im freigelegten Felsen neben dem Neubau.
Geheimnisvolle Nischen
Die mit versetzt offenen und geschlossenen Feldern präzise komponierte Fassade erscheint auf den ersten Blick als neutrale, zurückhaltend elegante Bauskulptur. Was sich in ihrem Innern verbirgt, wird vielen Passanten auch beim zweiten Blick ein Rätsel bleiben – allein anhand des am Eingang angebrachten Schriftzugs »S. Bento Residences« gibt sich das Haus jedenfalls nicht eindeutig als Hotel zu erkennen. Hotelgäste sehen darin wohl eher den Reiz des Geheimnisvollen als einen Nachteil.
Hat man eines der zwölf Apartments mit Loggia gebucht, begibt man sich nach Passieren der kleinen Lobby (weitere öffentliche Bereiche gibt es nicht) nach oben. Wie aber sehen die Räume hinter der massiven Außenwand aus, insbesondere der Übergang zu den Loggien? Wie fühlen sich die Loggien an? Wie viel Licht fällt durch sie in die Innenräume? Von dieser Neugier getrieben, zieht es einen zuallererst in Richtung Straßenfassade. Auf dem Weg dorthin fällt auf, wie wunderbar asketisch die Räume mit nur wenigen Materialien definiert wurden: Betonestrich, Sichtbetondecken und -außenwände, Fensterrahmen aus Kambala-Holz und Messinggeländer. Wirkt die Loggienfassade von außen monolithisch und ruhig, so erscheint sie von innen feingliedrig und bewegt. Die Abfolge aus unterschiedlich dimensionierten Nischen spiegelt im Innern nicht das gleiche Regelmaß wider, das noch von außen zu sehen war. Das liegt daran, dass die Seitenwände der Nischen jeweils entweder kurz oder lang, aber nie gleich lang sind, und die Verglasung – von außen kaum erkennbar – stets übereck geführt ist. Dadurch öffnen sich die Loggien zum Raum und es entstehen unerwartete Durchblicke und Spiegelungen.
Die Loggien sind recht klein und für herkömmliche Balkonmöblierungen nicht geeignet. Dennoch sind sie so groß, dass zwei Personen dort entspannt sitzen und den Ausblick genießen können. Zu manchen der für 2-4 Gäste geeigneten Apartments gehört eine Doppelloggia mit zwei Öffnungen. Je nach Größe verfügen die Apartments über zwei oder drei Öffnungen, die – nachdem das Haus zur Rückseite komplett geschlossen ist – zugleich die einzigen Tageslichtquellen bieten. Von räumlicher Enge kann dennoch keine Rede sein, eher von einer kontemplativen Konzentration auf den Innenraum, der durch die tiefen Öffnungen gerahmte Ausblicke in die Altstadt zeigt. Einen besonders geborgenen Rückzugsort bieten die meist als Sitzecken genutzten Nischen, deren Raumhöhe hinter einem breiten Betonunterzug jener des Apartments entspricht. Angeregt vom Raumerlebnis dieses unkonventionellen Raums kommt unwillkürlich die Frage auf, wie das Gebäudetragwerk funktioniert.
Ein Abschnitt des Gebäudeteils mit den Loggien liegt oberhalb der unterirdischen Metrostation São Bento, sodass Stützen nur links und rechts der breiten Glasfront des Restaurants zur Avenida Dom Afonso Henriques möglich waren. Über diesen Stützen spannt in Gebäudelängsrichtung in jedem Geschoss ein langer Unterzug, der die Vertikallasten sowohl aus den Apartments als auch aus den um fast 2 m auskragenden Loggien aufnimmt. Diese Rahmenbedingungen erforderten ein komplexes Tragsystem, bei dem die Scheibenwirkung der straßenseitigen Außenwand ebenso wichtig ist wie die Unterzüge, die betonierten Geschossdecken und das Gewicht der rückseitigen, geschlossenen Betonwand. Im Zusammenspiel entsteht ein dreidimensionales Tragsystem, das lediglich in puncto Wärmebrücken Defizite aufweist. So gibt es zwar kerngedämmte Außenwände und Nischen, doch die Übergänge von Balkon- zu Deckenplatten blieben ungedämmt, weil der Bauherr die Kosten für die thermische Trennung scheute. Bauphysikalisch ist dies weniger brisant als es scheint. Schließlich sinken die Temperaturen in Porto auch im Winter nicht einmal bis in die Nähe des Gefrierpunkts.
Bindeglied zur Altstadt
Es ist eine Binsenweisheit, dass die Außenwände eines Hauses die Innenwände der Stadt bilden. Sie erklärt aber, warum die Loggien nicht wesentlich breiter hätten sein dürfen. In diesem Fall hätten sie den Rahmen gesprengt und den Dialog des Neubaus mit den Häusern der Altstadt zerstört. Ein Gebäude mit vorgehängter Glasfassade hätte hier geradezu obszön gewirkt. Fenster in Fassadenebene kamen für die Architekten schon allein deshalb nicht infrage, weil Denkmalschutzvorgaben dann nach Fenstersprossen verlangt hätten. Zurückgesetzte Fenster, wie jene in den Loggien, sind von dieser Regelung hingegen nicht betroffen.
Wie selbstverständlich sich São Bento Residences in sein urbanes Umfeld einfügt, ist gut vom nur wenige Gehminuten entfernten, 75 m hohen Torre dos Clérigos zu erkennen. Dort zeigt sich auch, dass die leicht verspielt hin und her hüpfenden Loggien nicht wie Fremdkörper wirken. Im Gegenteil, sie machen bewusst, dass die Stadt nicht aus einer, sondern aus vielen verschiedenen steingewordenen Zeitschichten besteht – insofern tritt der dezidiert aus der heutigen Zeit stammende Neubau als Brücke zwischen den Jahrhunderten auf. Mit diesem Bild spielt schließlich auch die um die Ecke geführte Natursteinfassade des »Altbaus«, aus dem der Neubau herauszuwachsen scheint. Würde auch die restliche Brachfläche am Bahnhof São Bento mit der gleichen Sorgfalt neu bebaut werden, wäre diese Wunde in Portos Stadtkörper rasch verheilt.db, Fr., 2020.09.04
04. September 2020 Roland Pawlitschko