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02. Mai 2025Jay Merrick
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Umnutzung zweier Agrarnutzbauten auf der Isle of Wight (UK)

Zwei landwirtschaftliche Nutzgebäude auf der Isle of Wight wurden in ein Wohn- und Künstlerrefugium verwandelt. Die enge Zusammenarbeit von Mitbauherr Joseph Kohlmaier und Gianni Botsford Architects bei der Planung hat eine Architektur hervorgebracht, die im Grunde asketisch ist, und dennoch mit einer Vielzahl unterschiedlicher Stimmungen besticht.

Zwei landwirtschaftliche Nutzgebäude auf der Isle of Wight wurden in ein Wohn- und Künstlerrefugium verwandelt. Die enge Zusammenarbeit von Mitbauherr Joseph Kohlmaier und Gianni Botsford Architects bei der Planung hat eine Architektur hervorgebracht, die im Grunde asketisch ist, und dennoch mit einer Vielzahl unterschiedlicher Stimmungen besticht.

Das Old Byre, zwei ehemalige landwirtschaftliche Nutzgebäude, befindet sich auf der Isle of Wight. Die Umgebung ist ambivalent – weder wirklich ländlich noch vorstädtisch oder gar städtisch. Die stark befahrene Straße, die die Städte Cowes und Newport verbindet, sowie ein Lebensmitteldiscounter und einige Gewerbebetriebe, befinden sich nur 300 m westlich; ansonsten ist das Old Byre von landwirtschaftlich genutzten Wiesen umgeben.

Eine andere Art von Ambivalenz zeigt sich in der Umgestaltung der beiden Nutzbauten zu zwei Ateliers mit angegliederten Schlafräumen und einem großen gemeinschaftlichen Wohn- und Essbereich durch den Architekten Gianni Botsford und Miteigentümer Joseph Kohlmaier. Die Architektur ist vielgestaltig: Sie wirkt im ersten Moment völlig simpel und im nächsten dann unerwartet subtil.

Eines der beiden eingeschossigen Gebäude war eine Lagerhalle mit einer Stahlrahmenkonstruktion aus den 1960er Jahren, das andere entstand im 19. Jahrhundert mit tragenden Ziegelwänden und ist L-förmig organisiert. Letzteres beherbergt mittlerweile u. a. Kohlmaiers Bibliothek. Beim Besuch des Autors holt er einige zufällig ausgewählte Bücher hervor. Der Titel eines Buchs passt bestens zum Umbauprojekt: »Homes for Today and Tomorrow«, eine Veröffentlichung der britischen Regierung von 1961.

Kohlmaier, Designer, Architekturhistoriker und Chorleiter, lebte in einem anderen Haus auf der Isle of Wight, als er auf eine Online-Anzeige zum Verkauf von The Byre aufmerksam wurde: »Und als ich das sah, fuhr ich sofort von meinem Haus in Ventnor hierher.«

Das L-förmige Stallgebäude war ein Chaos aus Schlamm, kaputten Toren, Stallgattern und landwirtschaftlichem Abfall. Das zweite Gebäude, eine 3,5 m hohe Lagerhalle, öffnete sich zum kleinen Hof zwischen beiden Gebäuden. Dessen rauer, rissiger Betonbelag fiel gleich ins Auge. Die fensterlose Ziegelwand des bewohnten benachbarten Bauernhauses aus dem 18. Jahrhundert bildete die vierte Seite des Hofs. »Im Stallgebäude gab es eine Schiebetür, durch die das Vieh hereinkam«, erinnert sich Kohlmaier, »… ich schaute in den Hof und sah all diesen Mist. Und an einer Seite des anderen Baus waren Polycarbonatplatten angebracht. Aber ich habe mich zu Hause gefühlt. Es war wie ein Tempel. Ich schaute in den Himmel. Und ich dachte: Hier haben Tiere gelebt. Jetzt werden hier Menschen leben. Wie würde es sein, hier zu leben?«

Dies scheint der entscheidende Moment gewesen zu sein, der emotionale und konzeptionelle Ausgangspunkt des Projekts: Kohlmaier blickt auf ländliches Chaos, hat aber eine sofortige Wahrnehmung von »Zuhause« – einen Drang zum Wiederaufbau, zur Wiederbesiedlung, sogar zur Berufung auf Martin Heideggers (1889-1976) Ausspruch »Bauen ist bereits Wohnen.« Kohlmaiers Reaktion erinnert auch an einen Essay des rumänischen Archäologen Catalin Pavel, der einer Idee des deutschen Soziologen und Philosophen Georg Simmel (1858-1918) nachgeht, und zwar jene, wonach bewohnte Ruinen das Spannungsverhältnis zwischen »dem Noch-Nicht und dem Nicht-Mehr« verringern.

Witterung und rauer Beton

Kohlmaier und ein Freund, der Ökonom und Kunstsammler Simon Bishop, kauften die beiden Nutzbauten, und Kohlmaier wählte Gianni Botsford als Architekten, um sie wiederzubeleben. Eine wichtige frühe Entscheidung war, die Lagerhalle aus den 1960er Jahren nicht mit dem Stallgebäude zu verbinden. Kohlmaier wünschte sich ausdrücklich, dass sich die Gäste zwischen den beiden Gebäuden im Freien bewegen können, sodass sie – vielleicht wie die nicht mehr anwesenden Kühe – immer die Witterung und den rauen Beton des Hofs spüren. Diese Trennung ist auch an anderer Stelle zu finden: Sorgfältig ausgeführte Verblechungen und verdeckte Dachrinnen sorgen dafür, dass die Bauteile der beiden umgebauten Nutzbauten das benachbarte Bauernhaus nicht berühren.

Die Hoffassade der vormaligen Lagerhalle, wurde ebenso wie die des vormaligen Stallgebäudes mit einer Glas- und Polycarbonathaut versehen. Dies erforderte innen insbesondere im Bereich der 1,2 x 2,5 m großen Eingangstür zusätzliche vertikale und horizontale Verstrebungen an der Stahlkonstruktion des 1960er-Jahre-Baus. Dieser beherbergt mittlerweile einen langen Wohn-/Essbereich und am südwestlichen Ende einen Vorraum für den Seiteneingang sowie einen Hauswirtschaftsraum, der die Heiztechnik aufnimmt. Eine Wärmepumpe versorgt die Heizschlaufen in den Betonböden beider Gebäude, sodass sie bei Temperaturen von bis zu -14 °C warm bleiben. Die originalen, waagerecht wie Ziegelsteine verlegten Hohlblocksteine an der Rückwand der vormaligen Lagerhalle wurden beibehalten – ein rauer, haptischer Kontrapunkt zur ansonsten kahlen, innen freiliegenden Tragstruktur und den glatten, milchig-glasigen Polycarbonatoberflächen. Nachts leuchten diese Fassaden an beiden Gebäuden in ungleichmäßigem Licht und den weichen Farben der Bewegungen im Inneren, die wie Wesen in einem Schattenspiel wirken.

Die Zufahrt zu den Scheunen liegt über den ursprünglichen Mauersohlen im Südwesten und Nordwesten, sodass beide Gebäude Betonbodenplatten mit erhöhten Kanten aufweisen. Auf der Hofseite ist das Betonsockelniveau bei beiden Scheunen gleich, aber bei dem L-förmigen Gebäude gibt es vom Haupteingang aus eine beträchtliche Stufe hinunter zu einem niedrigeren Bodenniveau. Dies erinnert an einen japanischen Genkan-Eingang und schafft mehr Höhe unter den freiliegenden Dachsparren.

Besonders interessant ist das Konzept des L-förmigen Stallgebäudes, das auf präzisen 3D-Scans der ursprünglichen inneren Struktur und Oberflächen basiert. »Wir haben zunächst auch erwogen, die Räume im straßenseitigen Teil des Grundrisses anzuordnen«, sagt Botsford, »aber es war uns sehr wichtig, dass die Räume direkt mit dem Innenhof verbunden sind.«

Ganzglasfassaden zum Innenhof hin lehnte er ab: »Das warf Fragen zur Privatsphäre und zur Festlegung von Ausblicken auf. Wenn die Fassaden vollständig verglast wären, was würde das im Inneren bedeuten? Und nach außen hin wäre der Innenhof nicht mehr so klar definiert gewesen.« Kohlmaier war es ein besonderes Anliegen, »so viel weiches, jahreszeitliches Licht wie möglich in die Zimmer und Atelierräume zu bringen« – Letztere befinden sich an den Enden des L-Grundrisses.

»New Patterns of Living«

Die straßenseitigen Wände und die Dächer beider Gebäude wurden gedämmt und mit einer Hülle aus Wellfaserzementplatten versehen. Fensterlos, geben die vollflächig bekleideten Wände Passierenden keinen besonderen Hinweis auf die Nutzung oder den architektonischen Typus des Ensembles. Nur zwei Details scheinen hier ungewöhnlich: die breiten Aluminiumabdeckungen auf den Dachfirsten und die unregelmäßig verlaufenden Stufen, die vom Zufahrtsweg zwischen den beiden Bauteilen zum Innenhof hinabführen.

Das L-förmige Gebäude ist in Grundriss und Schnitt zwar einfach, aber die Raumatmosphäre und die ästhetische Wirkung der zum Innenhof gerichteten Fassaden sind unerwartet und einnehmend. Der Querschnitt weist eine ungewöhnliche Abfolge von reizvollen Situationen auf. Die zum Hof gerichtete Fassade hat keine Fenster im üblichen Sinne; die Aluminiumrahmen der verglasten Eingangs- und Fenstertüren der Schlafzimmer schließen fast bündig mit der Oberfläche der zartweißen Polycarbonatplatten ab. Wir können diese Fassade also (in Anbetracht dessen, dass z. B. die Cockpit-Hauben vieler Kampfjets aus Polycarbonat bestehen) als eine Hightech-Außenschicht betrachten; aber ihr Weiß und ihre Transluzenz lassen auch an japanisches Shoji-Papier denken; die Atmosphäre des Innenhofs wirkt beinahe klösterlich.

Der mittlere Bereich des Querschnitts, in dem die beiden Schlafzimmer wie eine riesige, durchgehende Kiste unter den freiliegenden Sparren und dem Dach stehen, besteht ganz aus Sperrholz. Das Fichtensperrholz wurde unbehandelt belassen – »wir zogen eine neblige, durchscheinende Beschichtung in Betracht, aber dann wäre es eher eine Textur als eine Oberfläche geworden«, erklärt Botsford. Die Gestaltung der Schlafzimmer- und Schranktüren aus Sperrholz, die mit sehr dicken, raumhohen Kanthölzern als Griffe versehen sind, ist angenehm taktil.

Die »Schlafzimmerboxen«, die durch ein Badezimmer im Winkel des Ls geteilt sind, liegen eng an den ursprünglichen Holzstützen und zusätzlichen Stützen an der Innenseite der Hoffassaden an. So entsteht eine schattige, interne »Gasse«, offen bis unters Dach, mit den Schlafzimmerboxen auf der einen Seite und den alten Ziegelwänden und einem breiten Betonsockel für Kunstwerke, der aus dem Boden wächst, auf der anderen Seite.

Diese Übergänge sind wie eine aufregende Kamerafahrt entlang verschiedener Formen, Materialien und Ideen – gleichzeitig superreal und zutiefst imaginär; vielleicht eine Art Innehalten zwischen »dem Noch-Nicht und dem Nicht-Länger« Georg Simmels. Einfacher ausgedrückt wäre dies mit dem Titel des ersten Kapitels von Homes for Today and Tomorrow: »New Patterns of Living« (Neue Wohnformen). Und das ist, was Joseph Kohlmaier und Gianni Botsford mit bewundernswerter Eigenständigkeit im Old Byre geschaffen haben.

db, Fr., 2025.05.02



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db 2025|05 Auf dem Land

14. Mai 2022Jay Merrick
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Sinnlich gebaut

Durch die gleiche robuste Materialisierung zeigen sich Schule und Wohnhochhaus als Bauensemble, stilistisch jedoch gehen sie unterschiedliche Wege: skandinavisch angehaucht die Schule und mitunter die Baugeschichte zitierend das Wohnhochhaus. Die vermeintlich konträren Ansätze bereichern einander nicht nur, sondern schlagen gemeinsam auch noch eine Brücke zwischen privatem und öffentlichem Raum.

Durch die gleiche robuste Materialisierung zeigen sich Schule und Wohnhochhaus als Bauensemble, stilistisch jedoch gehen sie unterschiedliche Wege: skandinavisch angehaucht die Schule und mitunter die Baugeschichte zitierend das Wohnhochhaus. Die vermeintlich konträren Ansätze bereichern einander nicht nur, sondern schlagen gemeinsam auch noch eine Brücke zwischen privatem und öffentlichem Raum.

Henley Halebrown

Simon Henley und sein Büro Henley Halebrown entwerfen Gebäude in London, deren monumentaler Charakter eine ungewöhnlich stark ausgeprägte plastische Außenwirkung aufweist. Chadwick Hall an der University of Roehampton in London, drei Studentenwohnheime mit einer tief eingeschnittenen Fassadengliederung, wurde 2018 für den Riba Stirling Prize und 2019 für den EU Mies Award nominiert. Die drei Gebäude vermitteln auf den ersten Blick den Eindruck von Massivität, Beständigkeit und einer sehr robusten Bauweise im Stil des 19. Jahrhunderts.

Das Projekt 333 Kingsland Road, das 2020 fertiggestellt wurde, ist noch ausdrucksstärker. Hier werden eine Grundschule und ein Wohnhochhaus in einem Ensemble zusammengefasst, das am stärksten durch die Art und Weise gekennzeichnet ist, wie die Fassaden des Wohnhochhauses in die Tiefe gestaffelt sind – dies betrifft sowohl die Grundrisse als auch die Ansichten. Es ist das bemerkenswerteste große Projekt von Henley Halebrown, sowohl baulich als auch konzeptionell.

Anschaulich

Auf einer Architekturkonferenz, die kürzlich an der Katholieke Universiteit Leuven in Belgien stattfand, bezeichnete Simon Henley die Entwurfsgedanken Buckminster Fullers zu einer geodätischen Kuppel in Manhattan aus dem Jahr 1968 als den Beginn einer von Technologie bestimmten Entwicklung der Art und Weise, wie Architekten über Fassaden denken: »Heute bestehen Wände aus einer komplexen Konstruktion, die sich aus abstrakten und nicht erkennbaren technischen Systemen zusammensetzt. Das Gefüge besteht nicht aus Materie an sich, sondern aus einer Vielzahl von technischen Funktionen.«

Simon Henley meint dazu, dass sich »die Überlegungen, die diesen abstrakten Elementen zugrunde liegen, weit von den sinnlichen und wahrnehmbaren Aspekten des Bauens entfernt haben und dadurch verwendete Materialien nicht angemessen eingesetzt werden können.« Er ist der Ansicht, dass große Gebäude, v. a. im Wohnungsbau, so gestaltet werden sollten, dass ihre Nutzung und ihre Einbindung in die Umgebung mit all ihren Aktivitäten möglichst offensichtlich sind.

Die Schule und das Wohnhochhaus liegen an der Ecke der Downham Road und der verkehrsreichen Kingsland Road in einem ehemals ärmeren Teil Londons, der eine zunehmende Gentrifizierung erfährt. Etwa 300 m nördlich des Ensembles befindet sich eine elegante geschwungene Reihenhauszeile aus dem 18. Jahrhundert, und gegenüber liegt das ehemalige Metropolitan Free Hospital von 1886 mit dekorativem Mauerwerk, Balkonen und hervortretenden steingerahmten Fenstern.

Bedauerlicherweise werden diese Bauten von der kürzlich direkt gegenüber der Kingsland Road 333 errichteten Ability Plaza, bei der sowohl Bauvolumina als auch unterschiedliche Architekturelemente recht verunglückt aufeinanderprallen, in den Hintergrund gedrängt. Hunderte solcher Gebäude – hässlich, kontextlos, vermeintlich trendy und sehr profitabel – entstanden in den letzten 20 Jahren in London.

Vielgestaltig

Das Bauensemble an der Kingsland Road umfasst ein 11-stöckiges Wohnhochhaus, dessen Grundfläche von den Architekten durchdacht minimiert wurde, und ein neues Schulgebäude für 350 Grundschüler, das dadurch dreistöckig kreuzgangartig um einen großen zentralen Pausenhof realiert werden konnte. Die Architektur des Schulbaus hat einen kühlen, ruhigen, eher nordeuropäischen Charakter. Offene Galerien umschließen den Innenhof und ermöglichen so eine platzsparende Organisation und optimale Belichtung der Geschosse – gänzlich ohne innen liegende Flure, mit einer direkten Verbindung zwischen innen und außen. Während sich in den Klassenräumen Sitzgelegenheiten in den tiefen Nischen der außenbündig eingebauten Fenster befinden, fanden draußen wiederum Bänke aus Betonfertigteilen im Brüstungsbereich der großen, innen wandbündigen Fenster ihren Platz. Das ist clever, ökologisch und sozial.

Die doppelgeschossige Schulaula im EG kann kann über verglaste Bereiche des Lehrerzimmers im 1. OG überblickt werden. Decke und Wände der Aula werden von einem sichtbaren Betonskelett gefasst. An der Außenseite ihrer Ostwand kragt ein überhoher Stahlbetonträger aus, um die Lasten der Überdachung der Außentreppe vom EG zum 1. OG aufzunehmen und dazu noch den Aufstieg optisch »einzurahmen«.

Die Dachfläche auf der Südseite der Schule dient als Außenraum und verfügt über eine außergewöhnlich über die Dachkante auskragende Toilette – eine Neuauflage einer ähnlich neckischen Toilette, die Henley während seiner Studienzeit entworfen hatte. Ein ebenso unerwartetes und gelungenes architektonisches Detail findet sich an der Nordostecke des 1. OGs: Die Wände des zweigeschossigen Musikübungsraums weisen – wie die meisten anderen Innenräume – Oberflächen aus weiß gestrichenen Gipskartonplatten und Sichtbeton auf. Weiter oben, unterhalb eines Oberlichts, ist der Beton jedoch im Rotton der Außenfassaden gestrichen; die Atmosphäre in diesem hohen, engen Raum ist fast klösterlich.

Das Metallschultor von Künstler Paul Morrison, mit Löwenzahn und Spinnennetzmotiven gestaltet, wirft abstrakte Muster auf den Boden des Eingangsbereichs, der sich unter der Bodenplatte des außen liegenden Spiel‧bereichs im 1. OG befindet. Zu ihm führt die hier antretende Treppe durch eine elegant kreissegmentförmige Deckenöffnung hinauf. Auch die schimmernden elfenbeinfarben glasierten Ziegel der Fassaden rund um den Pausenhof sind von hier bereits zu sehen. Die sie begleitenden, teilweise verglasten Vordächer sind eine Hommage an Erik Gunnar Asplunds Überdachungen auf dem Stockholmer Waldfriedhof (realisiert 1917–1940).

Überleitend

Die Schule und die Eingangstore sind nach Süden auf den Gehweg der Downham Road ausgerichtet. In die Backsteinfassade ist eine lange Betonbank integriert, die von Passanten genutzt werden kann. Dies verleiht der gesamten Straßenfront der Schule einen einladenden, bürgerschaftlichen Charakter.

Der gesellschaftliche Aspekt kommt in der Gestaltung des Wohnhochhauses noch deutlicher zum Ausdruck. Hier wurde die äußere Fassadenebene als ruinenartige Struktur konzipiert, die die funktionalen Innenfassaden umgibt. Im Großen und Ganzen könnte man diesen Ansatz mit der den eigentlichen Fassaden vorgelagerten Struktur des Town House von Grafton Architects an der Kingston University vergleichen (siehe db 09/2020, S. 48-54).

Die Ausbildung der beiden Fassadenschichten erzeugt Tiefe, Licht- und Schatteneffekte und verbindet das Leben der Menschen innerhalb und außerhalb des Gebäudes. Das erste Mal verfolgte Henley diesen Ansatz bereits 2013 in seinem Entwurf für einen 21-stöckigen Sozialwohnungsblock, dessen Wohnungen hinter einer aus drei Geschosse hohen Bögen bestehenden »Ruinenstruktur« liegen sollten.

In Teilen diente die tschechische kubistische Architektur als Inspiration für die Fassadengestaltung des Wohngebäudes. Sie besteht aus einer Ortbetonstruktur, deren Abschnitte in zweigeschossigen Segmenten bis zu einer Loggiaebene mit Dachterrasse emporwachsen. Ein Drittel des Freiraums dort oben steht den Bewohnern der 68 Sozialwohnungen zur Verfügung, die anderen beiden Drittel den Eigentümern der drei Maisonettewohnungen.

In der äußeren Fassadenebene erheben sich rings um die Wohnungen riesige Pfeiler vom Boden über die mit Deckenkassetten dekorierten Arkaden und das Gesims im EG bis hinauf zur krönenden Loggia. Wie die anderen Sichtbetonbauteile bestehen auch die Querträger aus Ortbeton mit einer Zuschlagsmischung aus rotem Sand und Sandstein (inklusive passendem Fugenmörtel), was den Fassaden eine recht körnige und geradezu unechte Oberflächenwirkung verleiht. Die markante Überlagerung der Fassaden lässt an Gebäude wie das Kaufhaus der Schwarzen Madonna in Prag (1912) von Josef Gočár denken.

Verdreht

An der Basis der Süd- und Ostseite des Gebäudes sind die Arkaden recht tief und zugänglich, nicht so an der Nordseite, wo die Säulen sehr dicht an den Glasfronten der im EG untergebrachten Ladeneinheiten stehen. Diese Enge ist z. T. auf einen weiteren ungewöhnlichen Aspekt des Entwurfs zurückzuführen: Im Grundriss sind die südwestlichen und nordöstlichen Ecken des Gebäudes gestaucht und verdreht, um Radien zu schaffen, die eine diagonale Anordnung der Wohnungen mit doppelter Größe ermöglichen.

Im Inneren fällt v. a. das achteckige zentrale Treppenhaus auf, das pro Umdrehung 12 Teilflächen aufweist. Das ist sehr stimmungsvoll und erinnert an die plastischen geometrischen Gesimse des Prager Wohnblocks Hodek von Josef Chochol aus dem Jahr 1914; schade, dass der Bauunternehmer, der ansonsten gut arbeitete, nicht in der Lage war, den Ortbeton sauber auszuführen; ein oder zwei der äußeren Gesimsfugen sind außerdem leicht schief.

Es ist bewundernswert, wie das Büro gesellschaftliche Intentionen des Projekts und die beiden unterschiedlichen architektonischen Stile miteinander in Einklang gebracht hat. Wie Simon Henley an der KU Leuven sagte: »Das Vermögen einer Fassade, uns naturgegebene Phänomene zu veranschaulichen – Bewusstsein erzeugt Gewissen –, steht im völligen Gegensatz zu der vorherrschenden technokratischen Haltung zu unserer Umwelt und dem amoralischen Konsum von Gebäuden und Raum.«

Welch eine Ironie, dass die Schule ausgerechnet Henley Halebrown gebeten hat, den Kindern beim Bau einer kleinen geodätischen Kuppel auf dem Oberdeck zu helfen. Das Bauwerk wird sicherlich von Buckminster Fullers Geist interessiert untersucht werden, über die »Ruinen« nebenan jedoch wird er sich wohl ziemlich wundern.

db, Sa., 2022.05.14



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db 2022|05 London

02. September 2021Jay Merrick
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Brunel’sches Exoskelett

Durch die kluge Abwägung zwischen den Mehrkosten für eine aufwendige Gestaltung und dem Mehrwert durch eine lukrative Vermietung konnte ein Bürogebäude entstehen, das mit seinem Exoskelett ein Ausrufezeichen im Quartier setzt. Sowohl seine Namensgebung als auch seine Gestaltung beziehen sich auf den Erbauer der benachbarten Paddington Station: den Ingenieur Isambard Kingdom Brunel.

Durch die kluge Abwägung zwischen den Mehrkosten für eine aufwendige Gestaltung und dem Mehrwert durch eine lukrative Vermietung konnte ein Bürogebäude entstehen, das mit seinem Exoskelett ein Ausrufezeichen im Quartier setzt. Sowohl seine Namensgebung als auch seine Gestaltung beziehen sich auf den Erbauer der benachbarten Paddington Station: den Ingenieur Isambard Kingdom Brunel.

Das Brunel Building liegt am Grand Union Canal, der an der Nordseite der Paddington Station in London vorbeifließt. Der Bahnhof wurde 1854 von dem legendären Ingenieur Isambard Kingdom Brunel (1806-59) entworfen. Der Geist seiner Bauten – Avantgarde in ihrer Zeit – hat das Design des neuen 22 600 m² großen Gebäudes von Fletcher Priest Architects stark beeinflusst.

Die subtilen x-förmigen Muster auf den metallenen Brüstungspaneelen der Fassaden – die Architekten untersuchten vorab 50 Versionen davon – beziehen sich auf die Verstrebungen an den Balustraden von Brunels berühmter Clifton-Hängebrücke. Und auch wenn man an dem 70 m hohen Exoskelett des Brunel Buildings hochblickt, kann man sich die überdimensionalen asymmetrischen Rauten leicht als seltsam gequetschte oder elastische Versionen von jenen aus dem 19. Jahrhundert vorstellen.

Keith Priest, einer der Gründungspartner des Büros – der derzeit ein Wohngebäude in der Hamburger HafenCity plant –, sagt, dass die Entscheidung, ‧eine rautenförmige Gitterstruktur für das Gebäude vorzusehen, von der örtlichen Planungsbehörde gefördert wurde: »Wir waren bestrebt, kein gewöhnliches Bürogebäude zu bauen«, erklärt er. »Die meisten Gebäude in der Gegend sind architektonisch ziemlich standardisiert. Wir wollten unmittelbar am Kanal ein kleines Stückchen Freude schaffen.«

In den Entwurfsstudien wurden zunächst mögliche Fassaden mit unterschiedlichen Markisen und anderen Beschattungsvorrichtungen untersucht. Aber die Planer strebten nach einer Architektur, die den Blick nach oben zieht: Das Exoskelett ist entschieden vertikal, selbst dort, wo sich die tragenden Rauten leicht neigen und im 8. OG die Richtung zu ändern scheinen, oder an der Südostecke, wo sich die Rasterwinkel besonders unterschiedlich zeigen. Priest räumt ein, dass es »eine zufällige Erkenntnis während des Entwurfsprozesses war, dass ein Exoskelett auf der Südseite etwa 20 % Verschattung bieten würde. Dies, kombiniert mit einer guten Tageslichtdurchdringung dank höheren als den üblichen Decken und darüber hinaus noch Betonuntersichten, die die Temperaturspitzen abfedern, ergab sowohl eine vorteilhafte Energiebilanz als auch qualitätvollere Innenräume.« Letztendlich wurden die zusätzlichen Baukosten des Entwurfs dadurch ausgeglichen, dass das Gebäude als visuell auffälliges architektonisches Objekt mit ungewöhnlich offenen und vielseitigen Grundrissen gut vermarktbar ist.

Engmaschige Zusammenarbeit

Das Brunel Building befindet sich in einer historisch betrachtet interessanten Gegend. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war das Gebiet südlich des Bahnhofs Paddington aus architektonischer Sicht elegant und äußerst vorzeigbar. Ab dem späten 20. Jahrhundert beherbergte das Stadtviertel dann Büros und Industriegebäude und mittlerweile ist durch die Gentrifizierung rund um den Bahnhof ein weiterer Londoner Hotspot für Kreativbranchen und hochkarätige Mieter entstanden: Zu den Nutzern des Brunel-Gebäudes gehört z. B. Sony Pictures und die englische Premier League hat hier ihre Zentrale. In diesem Sinne hat die architektonische Inszenierung des Brunel Buildings erheblich zur monetären Anziehungskraft der Gegend beigetragen.

Letztlich sind es jedoch die konstruktive Komplexität des Projekts und die Art und Weise, wie das Projekt mit Hilfe digital geplanter Details umgesetzt wurde, die nachhallen. Beim Entwurf der Gebäudestruktur ging es im Wesentlichen um die kreative und dabei logische Auflösung von Asymmetrien, ‧unterstützt durch die bemerkenswerte Qualität der Betonelemente und die ultrapräzise Einpassung der Gebäudetechnik im Innern. In jeder Phase des Projekts, von 2013 bis 2015 waren Teams von Fletcher Priest und den Ingenieuren von ARUP sowie Teams von Stahl-, Gebäudetechnik- und Fassadenspezialisten beteiligt.

Eine der Hauptforderungen des Bauherrn Derwent London, war es, das Grundstück so vollständig wie möglich zu überplanen und dabei die möglichst stützenfreie Fläche zu maximieren. Daher hat der Gebäudegrundriss sechs verschiedene Winkel und wird lediglich an der Südfassade zum Kanal hin von einer 6 m breiten Promenade flankiert. An der südwestlichen Ecke wurde die Fassade im EG zurückgesetzt, um den darunterliegenden flachen U-Bahn-Tunnel Bakerloo nicht zu belasten.

In seiner Gänze ruht das Gebäude auf einer Art Floß, geformt aus Pfählen und Kellerstützmauern. Sein asymmetrischer Grundriss führte zu einem asymmetrischen Exoskelett. Eine der größten Herausforderungen bestand also darin, die wichtigsten lasttragenden Knotenpunkte der Stahlstruktur zu lokalisieren und sicherzustellen, dass sie trotz der unregelmäßigen Winkel und Längen der »tragenden Rauten« symmetrisch ausbalanciert sind. Diese Knoten stützen mehr als 300 horizontale Stahlträger, die die äußere Struktur mit dem schmalen Band der Erschließungskerne in der Gebäudemitte verbinden und so die insgesamt 17 Geschossdecken tragen.

Abgesehen von den Erschließungskernen ist jedes Stockwerk ein offener Raum ohne Stützen oder sonstige Hindernisse. Die meisten der Betonbalkendecken überspannen 15 m, an der breitesten Stelle sogar 16 m. Von manchem Standpunkt aus lässt sich sogar die volle Geschossbreite von 34 m und die Gesamtlänge von 66 m erfassen. Durch die Kombination aus den geschlossenen Brüstungspaneelen der Fassade, dem Verschattungseffekt des Exoskeletts und der Sonnenschutzverglasung sind die Innenräume bestens natürlich belichtet, ohne dabei zu überhitzen.

Virtuelle und analoge Modelle

Das Gebäude wurde so detailliert wie möglich geplant. Der Projektarchitekt von Fletcher Priest, Chris Radley, und sein Planungsteam arbeiteten mit ARUP und dem Ingenieurbüro für Gebäudetechnik Cundall zusammen, um ein präzises digitales Gebäudemodell zu entwickeln. Dies bedeutete, dass alle Beteiligten den Entwurf in jeder Phase über Virtual-Reality-Headsets überprüfen konnten. BIM-Algorithmen und Parametrik wurden u. a. auch dafür verwendet, die Positionen des Exoskeletts und der Brüstung genau aufeinander abzustimmen.

Sobald auf der Baustelle der Kern und andere innen liegende Betonelemente fertiggestellt waren, wurden die genaue Positionen der offen geführten Kabeltrassen und anderen Leitungssträngen an den Wänden und Decken anhand projizierter Bilder aus den 3D-Gebäudedaten überprüft und markiert. Dies trug dazu bei, dass die Sichtbetonoberflächen geschont wurden, und unterstützte die Intention der Planer, der offenen Leitungsführung eine starke grafische Ästhetik zu verleihen.

Um ästhetische und technische Qualitäten zu testen, waren Prototypen ein weiterer wichtiger Faktor. Im Jahr 2015, vor Baubeginn, wurde ein komplettes Gebäudesegment, bestehend aus Fassade, Tragstruktur, offen geführten Versorgungsleitungen und Beleuchtung, in einem Londoner Lagerhaus zur Begutachtung errichtet. Selbst Prototypen der Toiletten und Abschnitte des Betonkerns wurden probehalber vorab erstellt.

Den Einbau der äußeren Stahlträger und -stützen übernahm das Unternehmen Severfield, das zuvor auch schon den Stahlbau für Renzo Pianos »Shard« in London verantwortet hatte. Dabei arbeitete man sich in jeweils dreigeschossigen Abschnitten, die in einem Quadranten gegen den Uhrzeigersinn um den Betonkern herum errichtet wurden, nach oben vor.

Während der Stahlbauarbeiten erzeugten die asymmetrischen Konstruktionsgeometrien ungleichmäßige Verbindungsspannungen zwischen den Bodenträgern und dem Exoskelett. Um dennoch die Stabilität aufrechtzuerhalten, wurde die Außenkonstruktion über die Bodenträger an die im Kern eingelassenen Stahlverbindungsplatten angebunden. Diese Platten wiederum positioniert man mit Hilfe eines auf den Kern projizierten 3D-Modells, das die Bohrpunkte anzeigte, äußerst präzise. Am Exoskelett kamen zwei unterschiedliche Arten von Anschlüssen zur Anwendung – einer für Punkte, an denen große Bodenlasten abgetragen werden, der andere für Punkte, an denen aussteifende Elemente anschließen.

Energieeffizienz und Industrieästhetik

Auf der einen Seite betritt die kühne Asymmetrie dieses Tragwerktyps architektonisches Neuland, auf der anderen Seite trägt die daraus resultierende Verschattung auch wesentlich zu einer geringeren Umweltbelastung durch das Gebäude bei. Durch den Verzicht auf abgehängte Decken konnten mehr als 500 t Kohlendioxid eingespart werden, weitere 18 t Kohlendioxid entfielen durch die Sichtbetonoberflächen, die keine weitere Beschichtung erforderten. Ein Aquifer-Thermalspeicher mit zwei 160 m tiefen Bohrlöchern unter dem Gebäude übernimmt 60 % der Heiz- und Kühlleistung des Gebäudes.

Berechnungen zufolge übertrifft das Gebäude den Mindeststandard der britischen Bauvorschriften um 25 % und im Vergleich zu »Standardbüroneubauten« hat es einen um 8 % geringeren Kohlendioxidausstoß. Das Projekt erhielt die Zertifikate BREEAM Excellent, LEED Gold und WiredScore Platinum. Mehr als 98 % der Bauabfälle wurden recycelt und granulierte Stahlschlacke ersetzte einen Großteil des ansonsten für den Beton des Gebäudes verwendeten Zements.

Aber dennoch ist das Brunel Building mehr als eine technisch ausgefeilte »Verwaltungsmaschine«. Es hat einen starken architektonischen Charakter: Im Gegensatz zu den meisten großen Bürogebäuden strahlt es sogar Sinn fürs Handwerkliche aus, dafür, dass es zunächst skizziert und gezeichnet wurde und dann mit großer technischer und ästhetischer Sorgfalt gebaut wurde.

Dies lässt sich nicht nur in der Inszenierung des Exoskeletts erfahren, sondern auch in Details wie den orangefarben gestrichenen Manschetten der Wärmedämmelemente an den Verbindungen der Außenkonstruktion mit den die Fassade durchstoßenden Bodenträgern. Orange (eine beim Betrieb des benachbarten Kanals verwendete Standard-Sicherheitswarnfarbe) kam an der Stahlstruktur auch im Bereich des 9 m hohen Eingangs und der Lobby an der Südwestecke zum Einsatz.

Riesige, vollverglaste Hangarschiebetüren öffnen die Lobby und das Restaurant im EG zur Kanalpromenade. Ein weiterer auffälliger gestalterischer Kunstgriff ist die Art und Weise, wie die oberen Winkel des Exoskeletts – einer gezackten Krone gleich – weit über die verglasten Balustraden um die Dachterrassen hinausragen. Alle diese akzentuierten Elemente haben eine passgenaue, geradezu schicke Industrieästhetik.

Die Bauausführung ist in jedem Detaillierungsgrad so herausragend, dass sie dem Äußeren des Gebäudes eine fast schon »hochauflösende« Qualität verleiht, und es ist letztlich eben auch die bemerkenswerte äußere Struktur, die diese Architektur zu einem so einzigartigen Beitrag zu Paddington und zur Londoner Skyline macht. Das Exoskelett des Brunel-Gebäudes ist zweifelsohne das beeindruckendste seit der massiven Corten-Struktur, die der Architekt Eric Parry um das Bürogebäude am Londononer Pancras Square von 2018 »gewickelt« hat.

db, Do., 2021.09.02



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db 2021|09 Ingenieurbaukunst

07. Juni 2021Jay Merrick
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Scheune oder Tempel?

Vieldeutig und rätselhaft präsentiert sich das neue Theatergebäude auf dem Campus des internationalen Schulinternats für Jungen von vier bis 13 Jahren. Das Innere des Holzbaus besticht durch seine gute Akustik und seine anregende Atmosphäre. Selbst wenn man sich an anderen derart privilegierten Bildungseinrichtungen umsehen würde – ein Schultheater auf so hohem Gestaltungsniveau ließe sich wohl nur schwerlich finden.

Vieldeutig und rätselhaft präsentiert sich das neue Theatergebäude auf dem Campus des internationalen Schulinternats für Jungen von vier bis 13 Jahren. Das Innere des Holzbaus besticht durch seine gute Akustik und seine anregende Atmosphäre. Selbst wenn man sich an anderen derart privilegierten Bildungseinrichtungen umsehen würde – ein Schultheater auf so hohem Gestaltungsniveau ließe sich wohl nur schwerlich finden.

Die Beschreibung der Architektur von Gebäuden kann i. d. R. unter mindestens zwei Gesichtspunkten erfolgen: anhand ihres architektonischen Stils und ihrer Funk­tion. Um ein anschauliches Beispiel zu nennen: Am Seagram ­Building von Mies van der Rohe in New York lassen sich Form und Zweck als ­einerseits modernistisch und andrerseits gewerblich ganz unmittelbar wahrnehmen.

Mitunter jedoch sind Funktion und Stilrichtung nur schwer zu fassen. Wie könnte man z. B. bei der Betrachtung des eher stummen, kompakten Äußeren von Adolf Loos’ Villa Müller in Prag auf das verblüffende Gestaltungskonzept des »Raumplan« im Innern schließen? Manch einem Gebäude jedoch verleiht eine solch typologische und stilistische Unbestimmtheit einen starken und ­eigenständigen Charakter. Dies trifft sicherlich auch auf das Theatergebäude der Horris Hill School in Berkshire zu.

Die Architekten von Jonathan Tuckey Design haben mit dem kleinen Bau ein fesselndes architektonisches Rätsel geschaffen. Gebäudeform und Fassaden sind zwar äußerst markant, künden auf dem rund 34 ha großen Schulgelände jedoch nicht auf den ersten Blick von der Nutzung als Theater. Eine hohe Holzkonstruktion vor der Eingangsfassade – wiederum in einem völlig anderen Baustil – verstärkt das Rätselhafte sogar noch.

Teilweise lässt sich die Architektur durch die Umgebung entschlüsseln. Das Theater steht am südlichen Rand des Schulensembles. Hierzu gehören der Backstein-Hauptbau aus dem 19. Jahrhundert und ein Unterrichtsgebäude, die sich beide u. a. durch Fassadenabschnitte mit vorgehängten Keramikschindeln auszeichnen, eine moderne, scheunenartige Turnhalle und ein derzeit ungenutztes Gebäude, das wohl ursprünglich als Stall diente.

Eine Schule wie ein Dorf

Die Horris Hill School ist eine private, internationale und kostenpflichtige ­Tages- sowie Internatsschule für Jungen im Alter von vier bis 13 Jahren. Der Schulleiter Giles Tollit ist Klassischer Philologe und betrachtet seine Schule als kleine Stadt oder als Dorf. Die Ansammlung von Schulbauten verschiedener Epochen lässt sich, durch eine gewisse Überhöhung ihrer klassizistischen ­Elemente, tatsächlich als eine Art Forum Romanum interpretieren. So betrachtet, ist das Theater die »Kultstätte« des vermeintlich antiken Städtchens. Dies zeigt sich v. a. an der Rückseite des Gebäudes, wo die Architekten ein kleines Amphitheater im Freien verwirklicht haben. »Das Theater steht aber nicht ausschließlich der Schule zur Verfügung«, erklärt Giles Tollit. »Es soll vielmehr einer größeren Gemeinschaft von Nutzen sein. Ich möchte, dass dies ein lebendiges, pulsierendes Theater mit bürgerschaftlichem Charakter auch außerhalb des Schulgeschehens ist.«

Jonathan Tuckey konnte sich aus zwei Gründen im Wettbewerb ­gegen ­Architekten, die mehr Erfahrung im Theaterbau besitzen, durchsetzen: Zum einen präsentierte sein Team nach der von der Schule vorgegebenen ­lediglich einwöchigen Frist einen äußerst detaillierten Entwurf, zum andern konzentrierte sich sein Konzept – nach vorausgegangenen Befragungen zahlreicher Mitarbeiter und Schüler – auf die Idee der Civitas.

»Seit vielen Jahren«, so Tuckey, »wird mein Tun davon bestimmt, mit ­Bestandsgebäuden zu arbeiten. In diesem Fall mussten wir zunächst ein halb verfallenes Bestandsgebäude abreißen, um das neue Theater zu errichten. ­Dabei ging es uns nicht um bestimmte stilistische Ansätze, wir waren vielmehr daran interessiert, die benachbarten Gebäude nicht zu verschrecken und den Neubau so einzupassen, dass die bisherige Anmutung des Schul­areals erhalten bleibt.«

Den Theaterbau prägen nur wenige Materialien: Ein Betonsockel steigt dem geneigten Gelände folgend zum nördlichen Ende des Gebäudes an und entwickelt sich dort zu einem Band einer »stranggepresst« anmutenden Sitzbank. Die tragende Konstruktion besteht aus Lärchen-Schichtbrettholz. Die Fassaden sind mit zementgebundenen Holzfaser-Paneelen bekleidet, dem gleichen Material, das im Innern als Bodenbelag Verwendung findet. Während der ­Bodenbelag schiefergrau ist, zeigt sich die Fassade in einem rötlichen Farbton und reiht sich so in den Reigen der mit rötlichen Keramikschindeln beklei­deten Schulgebäude ein.

Am Modell erprobt

Der kleine Theaterbau hat zwar ein flaches Satteldach, das an eine Scheune oder einen antiken Tempel erinnert, mehrere weitere Merkmale sprechen ­jedoch gegen diese möglichen konzeptionellen Vorbilder. Dies sind sowohl die zweigeschossige Holzrahmenkonstruktion auf dem kleinen öffentlichen Platz vor dem Gebäude, die Veranstaltungsbanner aufnehmen kann, als auch die der Nord- und Ostfassade eingeschossig vorgelagerten Volumina des ­Foyers und der überdachten Kolonnade.

Das Äußere und das Innere des Theaters zeigen sich sehr unterschiedlich, v. a. in der Art und Weise, wie Strukturen und Oberflächen gestaltet sind. So wirken die Außenansichten wie lavierte Federzeichnungen, gerade so, als ob die präzise gezeichneten Umrisse, Fugen und Details mit Aquarellfarbe in Terrakotta ungleichmäßig koloriert worden wären. Das Innere des Theaters mit seiner freigelegten Brettschichtholz-Konstruktion und einfachen Holz­lattungen hingegen wirkt »neo-mittelalterlich«. An der Ostseite weitet sich das mit Buche bekleidete Foyer und schiebt sich eingeschossig in die ­Zuschauerränge des Theatersaals hinein, um dort als Sockel einer mit Holz­balustraden versehenen Empore zu dienen. Die Brettschichtholz-Paneele der ­Wände im Theatersaal tragen ein sehr plastisches orthogonales Relief, das sich aus Kanthölzern und aus auf Abstand gelatteten Feldern zusammensetzt. Von der Decke oberhalb der übergroß wirkenden Fenster aus Holz – zur besseren Haltbarkeit acetyliert – sind gewölbte akustische Segel aus Sperrholz ab­gehängt. Der starke räumliche Charakter und die daraus resultierende ­Atmosphäre des Theatersaals sieht Jonathan Tuckey als Gegenentwurf zu den »simplen, trägen Gebäuden«, die üblicherweise aus Brettsperrholz errichtet werden. »Ich wollte, dass auch die kindlichen Nutzer sehen können, wie dieses Gebäude entstanden ist.«

Die hölzernen Sitzbänke sind den geschwungenen Füßen der Hörsaalbestuhlung von Charles Rennie Mackintosh an der Glasgow School of Art nachempfunden. Um sie für letztlich weniger als 5 000 Euro realisieren zu können, ­entwickelten die Architekten auf Grundlage von Modellreihen eigens ein Schneide- und Fertigungssystem. Auch der sonstige Entwurfsprozess des Theaters erfolgte mit Hilfe vielfältiger Modelle: Gelände- und Volumen­modelle (M 1:200), Modelle der Gebäudehülle und des Innenraums (M 1:25) und ganze Architekturfragmente (M 1:10). Diese äußerst detaillierte Arbeit an Modellen, bei der die architektonischen Qualitäten von Licht, Schatten, Maßstab und Oberflächentexturen erforscht werden, ist ein ganz wesentlicher Teil des Entwurfsprozesses von Tuckey.

Mehrdeutig und präzise zugleich

Um eine gute Luftzirkulation zu ermöglichen, sind einige Wandpaneele des Theatersaals vor Lüftungsklappen perforiert, andere wiederum sind zur Verbesserung der Akustik gepolstert. In vier Bankblöcken steigen die Sitzreihen an einem versetzt geführten Mittelgang an. Der Technikraum im hinteren Teil der ­Zuschauerränge ist nicht mittig angeordnet. Diese Asymmetrien erweisen sich als vorteilhaft, da die daraus resultierenden ­unterschiedlich großen Sitzblöcke je nach Art der Aufführung verschiedene Zuschauerkonstellationen erlauben. Diese Anordnung, die angenehme Raumatmosphäre und die klare Akustik konnten auch am Tag der Projektbesichtigung überzeugen, an dem ein Dutzend Schüler den Raum bei einer Theaterprobe belebten.

Funktional ist das Theater der Horris Hill School zweifellos gelungen. Noch beeindruckender ist jedoch sein architektonischer Ausdruck. Insbesondere die Außenhülle erzeugt Mehrdeutigkeiten, die weit über die bloße Funktionalität hinausgehen: Das »Erröten« der Fassadenpaneele, die plastischen Lüftungslamellen und die leicht ausgestellten »Hauben« oberhalb der Türen, das Schimmern der überdimensionalen Metallfallrohre und eleganten Dachrinnenhalterungen, die vortretenden Latten und Fensterrahmen, die großen, ­bewusst weit überstehenden Abdeckschrauben an den Paneelen – all das wirkt äußerst entschieden und präzise. Lassen diese Merkmale auf einen ­Gebäudetypus schließen? Nicht unbedingt auf ein Theater.

Tuckey spricht ganz bescheiden von einem »dekorierten Schuppen, einem ­Gebäude im Hintergrund«. Was den Bau jedoch außergewöhnlich und spannend macht, ist, dass er zugleich auch als Hauptakteur erlebt wird, und dabei sowohl brutalistisch als auch palladianisch wirkt, aber nicht auf eine befremdliche oder architektonisch unangenehme Weise. So lässt sich das Theater der ­Horris Hill School problemlos dem Kanon gelungener typologischer Mehrdeutigkeiten hinzufügen, zu dem auch Herzog & de Meurons Ricola-Lager­gebäude in Laufen sowie Frank Gehrys Merrifield Hall und Turm auf dem Campus der Loyola Law School in Los Angeles gehören.

[Aus dem Englischen von Martin Höchst]

db, Mo., 2021.06.07



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db 2021|06 Bauen für Kinder

04. September 2020Jay Merrick
db

Im Austausch

Flechtwerke aus horizontalen und vertikalen Elementen, zueinander versetzt angeordnet, sind ein Markenzeichen der Architektur des Dubliner Büros Grafton Architects. Am neuen Lerngebäude der Universität Kingston-upon-Thames haben sie Balkone, Treppen und Bepflanzung in ein umlaufendes Betongerüst eingehängt, die zusammen mit den Bewegungen seiner Nutzer eine flirrende Collage im Dialog mit der Stadt bilden.

Flechtwerke aus horizontalen und vertikalen Elementen, zueinander versetzt angeordnet, sind ein Markenzeichen der Architektur des Dubliner Büros Grafton Architects. Am neuen Lerngebäude der Universität Kingston-upon-Thames haben sie Balkone, Treppen und Bepflanzung in ein umlaufendes Betongerüst eingehängt, die zusammen mit den Bewegungen seiner Nutzer eine flirrende Collage im Dialog mit der Stadt bilden.

Als die Architektinnen des neuen Hochschulgebäudes der Kingston University in London, die diesjährigen Pritzker-Preis-Trägerinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell von Grafton Architects, 2018 die Architekturbiennale Venedig kuratierten, wählten sie das Motto FREESPACE. In ihrem Programm betonten sie die »Fähigkeit der Architektur, (ganz ohne Zusatzkosten) mehr zu sein als Raum und Funktion und selbst unausgesprochene Nutzerwünsche bereits vorab zu berücksichtigen (…) Wir möchten über das rein Visuelle hinausgehen und der Architektur in der Choreografie des Alltags eine herausgehobene Rolle zuweisen.«

In umfassender Ausprägung lässt sich die Haltung der Architektinnen erstmals an gleich drei ihrer im Jahr 2015 fertiggestellten Gebäude ablesen: das Institut Mines-Télécom in Paris-Saclay, die Toulouse School of Economics und das spektakuläre, einer Klippe ähnelnde neobrutalistische Universitätsgebäude der University of Engineering and Technology (UTEC) in der peruanischen Hauptstadt Lima (s. auch db 4/2020, S. 6). Deren äußerer Ausdruck wird jeweils vom kraftvoll ausformulierten Tragwerk sowie von Treppenläufen, Terrassen und Balkonen bestimmt.

Diese Elemente finden sich auch in der Gestaltung des 2019 fertiggestellten »Town House« in London wieder. Den Auftrag dafür erhielten Grafton Architects über einen Wettbewerb, bei dem sie sich gegen bekannte Namen wie O’Donnell + Tuomey und Feilden Clegg Bradley Studios durchsetzen konnten. McNamara und Farrell verstehen ihren Entwurf als »direkte Reaktion auf den Wunsch der Universität, Offenheit und Interaktion zu fördern und eine enge Verbindung sowohl zur Studentenschaft als auch zu den Bewohnern von Kingston aufzubauen. Die Aufgabe, eine ›offene Universität‹ im Wortsinn zu bauen – mit vielfältigen Angeboten von Performance über ›entdeckendes Lernen und Lehren‹ bis hin zu stiller (Bibliotheks-) Recherche –, führte uns zur Idee einer dreidimensionalen offenen Matrix aus interagierenden Volumen. Zur Straße hin haben wir das Gebäude mit einer belebten, offenen Seite in Form einer Kolonnade ausgestattet, außerdem gegeneinander versetzte Terrassen und Gärten in der Höhe gestaffelt angeordnet und den ebenfalls neu gestalteten öffentlichen Raum an der Penrhyn Road quer durch das Gebäude geführt.«

Das 9.100 m² Geschossfläche umfassende Town House ist in architektonischer Hinsicht weniger dramatisch als Graftons Universitätsbauten in Frankreich und Peru, doch dafür hat es eine unmittelbarere Beziehung zu seiner Umgebung: Die dem eigentlichen Gebäude vorgelagerte, sowohl klassisch als auch klassisch-modern anmutende Betonstruktur mit ihren Treppen und Balkonen offenbart die Bewegungen der Studenten an der nach Westen weisenden Hauptfront ebenso wie an den Fassaden im Süden und Norden.

Mitten im städtischen Leben

Das Town House liegt auf der östlichen Seite der Penrhyn Road, die aus dem Zentrum von Kingston-upon-Thames nach Süden führt. Eine breite und viel befahrene Straße, flankiert von Bürgersteigen und alten Bäumen. Letztere mildern zumindest visuell die Unruhe, die der Verkehr verursacht. An der nordwestlichen Gebäudeecke geht eine schmale Straße, Grove Crescent, von der Hauptstraße ab und verläuft in einem Bogen entlang der Rückseite des Town House, dann weiter durch einen Teil des Campus der Kingston University. An der Hauptstraße liegt dem Town House das Verwaltungszentrum der Grafschaft Surrey gegenüber, ein großes neobarockes Gebäude von 1893, und etwas weiter die Straße hinauf das ebenso massige Gerichtsgebäude von 1979. Damit steht der Hauptfassade des neuen Lerngebäudes eine sehr städtische Szenerie gegenüber, während die Rückseite auf niedrige Wohnbauten trifft.

Von Norden gesehen überragt das sechsgeschossige Gebäude die alten Bäume auf beiden Seiten der Penrhyn Road. Diese Bäume bilden im Zusammenhang mit dem Freiraumkonzept, das Grafton Architects für die Vorderseite des Town House entwickelten, eine sowohl perspektivisch wirksame als auch raumbildende Synergie zwischen der Straße und dem Gebäude. Wichtigster ­Bestandteil des Außenraumkonzepts ist die Reihe von zehn neu gepflanzten Bäumen, die sich entlang der Gebäudefront und über einen Teil des benach­barten universitären Muybridge Building erstreckt: Sie bildet eine zweite, eine grüne Kolonnade, die der 4,2 m tiefen steinernen Kolonnade des Town House vorgelagert ist. Der Raum, der dazwischen entsteht, ist erfreulich uneindeutig – ein »freier Raum«, der bereits außerhalb des Gebäudes Graftons Entwurfskonzept offenbart: nämlich ein »offenes räumliches System« zu schaffen, das soziale Interaktion sowohl im Gebäude selbst als auch um sich herum fördert. Die Kolonnade auf der Westseite ist zudem als moderner Portikus konzipiert – als »Eingangstür« über die gesamte Breite der Fassade, an der sich das akademische Leben mit dem städtischen Alltag verbindet.

Alles andere als ein banales Raster

Dass sich die Treppen und Balkone auf drei Seiten durch die außen liegenden Träger und Stützen emporfädeln, verstärkt diese Intention. Das Tragwerk besteht aus bewehrtem Ort-Stahlbeton, dazu kommen Ziegelmauerwerk, Fensterprofile aus Aluminium sowie Betonfertigteile für die Balkonplatten und Treppenläufe. Die Ortbetonkonstruktion hat eine leicht raue Oberfläche, die an Portland-Sandstein erinnert und damit auf die Fassade des historistischen Verwaltungsbaus verweist. Die Ausbildung der Kolonnade verhilft der Fassade zu einer in mehreren Ebenen gestaffelten Tiefe, die von den Studenten zum Ausruhen, als Wandelgang und als Arbeitsplatz im Freien genutzt wird. Die Außenräume geben zudem bereits einen Vorgeschmack auf die Räume und die Erschließung im Innern. Beim Betreten des Town House öffnet sich ein vier Geschosse hohes Atrium mit Emporen und sechs Treppenläufen, deren Gestaltung die ihrer Pendants im Außenbereich aufnimmt.

Im Bereich des Haupteingangs verschwimmt zudem die Grenze zwischen Drinnen und Draußen, Öffentlich und Universitär auf angenehme Weise.

Die Geschossflächen innerhalb des Gebäudes sind zur Hälfte offen konzipiert. Wie schon zuvor haben Grafton eine Collage aus ineinandergreifenden ein- und zweigeschossigen Volumina geschaffen, die weniger rein horizontale, sondern vielmehr »geknickte« Blickbeziehungen eröffnen. Die asymmetrische Anordnung der Treppen und Balkone greift zudem die Verschie­bungen und Überschneidungen in den Grundrissen auf. Das wiederum zeigt sich auch in den Fassaden, besonders gelungen auf der West- und Südseite: Stützen und Träger sind in Höhe und Abstand bewusst unregelmäßig angeordnet, was einem zu massigen Ausdruck des Town House entgegenwirkt. Das Rahmenwerk der Hauptfassade etwa ist in drei Stützengruppen aufgeteilt, von denen jede eine andere Gesamthöhe hat. Die horizontalen Balken liegen ebenfalls auf unterschiedlichen Höhen, sodass die gesamte Konstruktion alles andere als ein banales Gitter geworden ist.

Wie handgefertigt

Einige der Details sind so wichtig wie wirkungsvoll, beispielsweise dass die Stützen des Betonrahmens vor der Hauptfassade in leicht nach vorn versetzten Abschnitten in die Höhe wachsen. Auch deren Abmessungen variieren: Jene Stützen, die die Kolonnade auf Straßenniveau bilden, sind 1,1 m tief, die darüber messen 80 cm, und die oberste Stützenreihe ist nur noch 60 cm tief. Dieses Variieren der Bauteile verleiht dem Rahmen gemeinsam mit den sichtbaren Fugen zwischen den Ortbeton-Stützen und -Trägern einen sorgfältig ausformulierten, fast schon handgefertigten Ausdruck. Auf der Südseite liegt im 5. OG ein offener, begehbarer Garten, außen liegende Treppen verbinden einige der Balkone. Drei Balkone umfassen außerdem die Ecken des Gebäudes auf unterschiedlichen Höhen. Höhenversprünge und Verbindungen übereck werden durch Begrünung in Form von horizontalen Pflanzkästen und aufgehenden Rankdrähten zusätzlich betont.

Interessanterweise ist die Wirkung all dieser Balkone, Treppen und Betonbauteile insgesamt eher ungreifbar. Auf den ersten Blick wirkt das vorgestellte Betongerüst monumental und fast schon überwältigend, während die Ziegelfassaden kaum ins Gewicht fallen. Doch wenn man um das Gebäude herumgeht, während im Hintergrund der Verkehr rollt, wird die Funktion der ­Kolonnaden für den öffentlichen Raum und die Stadt immer deutlicher: Als Ganzes betrachtet entwickelt sich ein architektonisches Bild, das für das Gemeinschaftliche statt für Abgrenzung steht. In letzter Konsequenz vermitteln die Balkone und Treppenanlagen eine ganz simple Idee: nämlich dass man sieht, dass das Town House »belebt« ist, drinnen wie draußen. So können die Studierenden und Lehrenden in die Bäume, auf den Verkehr und die Passanten der Penrhyn Road blicken. Im Gegenzug werden sie auch von Autofahrern und Fußgängern gesehen. Was also auch immer die Studenten denken oder sagen, sie tun es in der Öffentlichkeit – und das ist ­keineswegs nur eine Geste oder ein übergestülpter Teil der Entwurfsidee.

Blickt man die Westfassade empor, fällt einem ein Satz aus der Broschüre über den legendären »Fun Palace« von Cedric Price und Joan Littlewood aus dem Jahr 1964 ein, eine flexible Konstruktion, in die man immer neu programmierbare Räume hätte einsetzen sollen: »Keine Türen, keine Lobbys, Rezeptionen und kein Schlangestehen: Es liegt an dir, wie du den Raum nutzt (…) Willst du einen Aufstand beginnen oder lieber ein Gemälde – oder dich einfach hinlegen und in den Himmel schauen?« Nach Monaten des Covid-19-Lockdowns und immer neuer Vorschriften wirken die Treppen und Balkone des Town House weniger wie Architektur l’art pour l’art, sondern vielmehr wie ein idealer Rahmen für ein ganz normales Leben.

db, Fr., 2020.09.04



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db 2020|09 Balkone und Loggien

08. Januar 2019Jay Merrick
db

Bühne zwischen den Bühnen

Der weltgrößte Komplex für Darstellende Kunst in der zweitgrößten Stadt Taiwans umfasst vier Auf­führungsstätten auf höchstem bühnentechnischen und akustischen Niveau. Das hervorstechendste Merkmal des Bauwerks ist allerdings der überdachte Außenraum zwischen Oper, Theater, Konzertsaal und Kammermusiksaal, die »Banyan Plaza«.

Der weltgrößte Komplex für Darstellende Kunst in der zweitgrößten Stadt Taiwans umfasst vier Auf­führungsstätten auf höchstem bühnentechnischen und akustischen Niveau. Das hervorstechendste Merkmal des Bauwerks ist allerdings der überdachte Außenraum zwischen Oper, Theater, Konzertsaal und Kammermusiksaal, die »Banyan Plaza«.

Das vor Ort als »Weiwuying« bekannte Center ist 225 m lang, 160 m breit und umfasst eine Fläche von 3,3 ha – mehr als die Fläche des größten je gebauten Supertankers, die 500 000 t fassende »Seawise Giant«. Oper, Theater, Konzertsaal und Kammermusiksaal ruhen zusammen mit der sie verbindenden gigantischen Stahlkonstruktion des Dachs auf einem bis zu fünf Geschosse in die Tiefe reichenden, hochwassersicheren Sockel. In ihm sind Parkebenen, Technikräume und ein riesiger Bereich für die Bühnentechnik der Oper untergebracht.

Der überdachte Freiraum zwischen den vier Aufführungsstätten, die sogenannte Banyan Plaza, zeigt sich als System ineinander übergehender Gewölbe, die eine 17446 m² große »Grotte« formen. Gestaltung und Konstruktion dieses außergewöhnlichen Elements machten den Einsatz sowohl einer parametrischen Modellierung als auch die Übertragung von Fachwissen aus dem Schiffsbau erforderlich.

Die Gebäude für Darstellende Kunst, die die Architekten von Mecanoo aus Delft bisher entworfen haben – wie etwa »Llotja«, eine Kombination aus Theater und Konferenzzentrum im spanischen Lleida – hatten jeweils übliche Größen. Der mehrere Hektar große Fußabdruck des »Weiwuying« jedoch machte es den Architekten diesmal unmöglich, den Entwurf anhand physischer Modelle auszuarbeiten. Nur zwei Elemente wurden als Modelle in großem Maßstab gefertigt: eins der gebogenen Stahlpaneele, die auf den Boden der Banyan Plaza treffen in Originalgröße und der Zuhörerraum im Konzertsaal im Maßstab 1:100.

Nach außen lässt sich die Typologie des Gebäudes nicht eindeutig zuordnen: Es gibt nichts, was zweifelsfrei darauf hinweisen würde, dass es sich um einen Kulturbau handelt. So könnte die glatte, in der Draufsicht rechteckige Großform auch für die Konzernzentrale eines internationalen Unternehmens stehen.

Unter Bäumen

Etwa die Hälfte der Grundfläche des Kulturkomplexes wird von der Banyan Plaza beansprucht. Ihr Bodenniveau variiert über mehr als ein Geschoss, was es erlaubt, sie übergangslos an den benachbarten 65 ha großen Weiwuying Metropolitan Park anzuschließen. Von Beginn an war es ein wichtiger Aspekt des Entwurfs, die Umgebung bestmöglich mit einzubeziehen. Mit der Fertigstellung des Gebäudes wurden auch die Arbeiten am Park, in dem zuvor einige Militärbaracken und Lagerhäuser standen, abgeschlossen. Zuvor lag das Areal über viele Jahre brach, bis Bürgerinitiativen die Stadtverwaltung zu ­seiner Umgestaltung drängten. 2010 erklärte sich die Verwaltung schließlich bereit, dort einen naturnahen Park anzulegen – also erst drei Jahre nachdem Mecanoo den Wettbewerb für den Kulturkomplex gewonnen hatten.

Das Gebäude ist das deutlichste Symbol für die Entschlossenheit der Stadt, das Image von Kaohsiung zu verändern: von Taiwans wichtigstem Schwerindustrie-Standort mit hoher Luftverschmutzung hin zu einer Stadt, die zunehmend von Hightech geprägt ist, und darüber hinaus auch in den Bereichen Umwelt und Kultur etwas zu bieten hat. Seit den frühen 90er Jahren sind in der Stadt 22 km S-Bahn-Gleise und 755 km Fahrradwege entstanden. In der Metropolregion mit 2,7 Mio. Einwohnern und – diese erstaunliche Zahl nennt die Regierung – 2,2 Mio. motorisierten Zweirädern sollen die Treibhausgase bis 2020 »substanziell« reduziert werden.

Wovon die Gestaltung des Weiwuying inspiriert ist, erklärt Francine Houben, Gründungspartnerin und Creative Director von Mecanoo: »Als ich das erste Mal hierher kam, sah ich auf dem Areal bellende Hunde, leere Militärbaracken – und Banyan-Feigen. Unter diesen Bäumen fängt sich der Wind vom Meer. Unser Traum war es, dass die Banyan Plaza die Stimmung des Parks auf informelle Weise fortführt. Das Ungeordnete sollte sich mit dem Formalen verbinden. Denn sobald es dunkel wird, findet hier das Leben auf der Straße statt, mit vielen beiläufigen Darbietungen.«

Francine Houben beschreibt die Plaza als Kaohsiungs »futuristische Lounge«, eine sich durch das Gebäudes schlängelnde Promenade, die – wie die verzweigt wachsenden Banyan-Bäume – die Besucher vor dem tropischen Regen schützt und doch jede noch so kleine Brise Wind einfängt. Mit ausgeklügelten Licht- und Soundsystemen ausgestattet, kann die Plaza auch nach Einbruch der Dunkelheit auf vielfältige Weise genutzt werden.

Was die eigentlichen Funktionen des Weiwuying betrifft, so umfasst es eine Oper mit 2 260 Sitzen, einen Konzertsaal mit 2 000 Plätzen, ein Schauspielhaus für bis zu 1 245 Personen, ein Kammermusiksaal und ein offenes Amphitheater, das in die Südseite des Gebäudes eingelassen ist, wo sich das Dach bis auf das Geländeniveau des Parks absenkt.

Die vier Zuschauersäle – entworfen in Zusammenarbeit mit dem bedeutenden, in Paris ansässigen chinesischen Akustiker Albert Yaying Xu – erheben sich als »Bubbles« aus dem Sockelgeschoss, steigen entlang der Plaza weiter empor und wirken wie aufgereihte, asymmetrischer Schiffsrümpfe, sowohl vom Aussehen als auch von der Haptik her. Das bewegte aluminiumbekleidete Dach, das wegen des laut trommelnden Monsunregens dick gedämmt ist, resultiert aus der Höhe der drei größeren Auditorien. Sie sind, was Grund- und Aufrisse betreffen recht unspektakulär. In Hinsicht auf Größe und Technik allerdings haben Oper und Schauspielhaus Weltklasse. Der Konzertsaal als wohlbekannter »Weinberg« in post-Scharoun’scher Manier glänzt immerhin mit einer wunderschönen, eng gerippten Struktur an der Akustikdecke. Die Gestaltung des Kammermusiksaals ist so naheliegend wie gewitzt: Die Empore der oberen Ränge, deren Brüstung den Umriss eines Flügeldeckels nachzeichnet, fällt auf der rechten Seite steil ab, sodass ein Maximum an Zuhörern die Musiker, die stets auf der linken Seite der Bühne sitzen, auch sehen kann.

Aus dem Schiffsbau

Als Francine Houben vom Wettbewerbsgewinn ihres Büros erfuhr, dachte sie spontan: »Okay! Doch wie sollen wir das machen? Wir hatten keine Ahnung, wie wir die Banyan Plaza Wirklichkeit werden lassen sollten.« Das Büro setzte sich mit der Groninger Werft Centraalstaal in Verbindung. Deren Analyse des Entwurfskonzepts bestätigte, dass sich das angedachte Tragwerk auch realisieren ließ. Der technische Leiter von Mecanoo, Friso van der Steen, war sich zwar sicher, dass für die Umsetzung des Projekts eine Herangehensweise wie im Schiffsbau erforderlich sei, doch »es war ein hartes Stück Arbeit, andere am Bau Beteiligte davon zu überzeugen«.

Die Fachleute der Werft Ching Fu in Kaohsiung, die eng mit Groningen zusammenarbeiteten, lieferten das Wissen darüber, dass sich die übergangslos fließende Wand- und Deckenbekleidung der Plaza mit 8 mm dicken Stahlplatten, alle mit unterschiedlichen Formaten und Krümmungen, bauen ließ. Die Platten sind über Stahlstäbe mit der ebenfalls stählernen Tragstruktur verbunden, sodass sie sich während der in Taiwan so häufigen Erderschütterungen verformen können. Die Platten wurden eher »lässig« miteinander verschweißt, um die übliche Ungenauigkeit der Fugen an Schiffsrümpfen nachzuahmen.

Das gesamte Gebäude stellt zwar eine beeindruckende bauliche Leistung dar, der einzige besonders hervorzuhebende Teil seiner Architektur ist jedoch die Banyan Plaza. Die Plaza zeichnet sich durch einmalige visuelle und atmosphärische – ein wenig mysteriöse – Qualitäten aus; sie zeigt sich als demokratischer, mit der Umwelt verbundener Bereich, der keine Raumhierarchien und Bewegungsrichtungen vermittelt. Eine Bemerkung von Louis Kahn könnte kaum besser als mit der Banyan Plaza illustriert werden: »Ein großartiges Gebäude muss mit Unermesslichkeit beginnen, durch messbare Mittel gestaltet werden und darf letztlich nie gemäßigt sein.«

Dasselbe gilt für viele der inneren Erschließungs- und Foyerräume des Komplexes. Allerdings ist die Holzbekleidung in diesen ansonsten weiß gehaltenen Bereichen schwarz gestrichen, wodurch ein starker Kontrast entsteht, der den Eindruck des fließenden Raums abschwächt. Das Schwarz, das die Architekten ursprünglich vorgesehen hatten, sollte zwar noch einer anderen Farbgebung weichen, doch der Bauherr bestand auf dieser ersten Version. Doch dieser Umstand beeinträchtigt den Gesamteindruck der fantasievollen Architektur nicht übermäßig. Und so lässt sich abschließend feststellen, dass mit dem National Kaohsiung Center for the Arts eine Spielstätte mit Weltrang entstanden ist – sowohl funktional als auch architektonisch.

db, Di., 2019.01.08



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db 2019|01-02 Bühne

05. November 2018Jay Merrick
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Gang zur Ewigkeit

Der jüdische Begräbnisritus verlangt nach einer prozessionshaften Abfolge räumlicher Situationen. Im Grüngürtel der britischen Hauptstadt ließ sich ein raumgreifendes Programm mit überdachten Wandelgängen und einzelnen Gebäuden für Zusammenkunft, Gebet und Technik realisieren. Die archaisch anmutenden Formen aus zementgebundenem Stampflehm sind im Gegensatz zu den Gräbern durchaus nicht für die Ewigkeit gedacht; die Zeitlichkeit alles Seins ist im Entwurfsgedanken enthalten, der Rückbau bereits einkalkuliert.

Der jüdische Begräbnisritus verlangt nach einer prozessionshaften Abfolge räumlicher Situationen. Im Grüngürtel der britischen Hauptstadt ließ sich ein raumgreifendes Programm mit überdachten Wandelgängen und einzelnen Gebäuden für Zusammenkunft, Gebet und Technik realisieren. Die archaisch anmutenden Formen aus zementgebundenem Stampflehm sind im Gegensatz zu den Gräbern durchaus nicht für die Ewigkeit gedacht; die Zeitlichkeit alles Seins ist im Entwurfsgedanken enthalten, der Rückbau bereits einkalkuliert.

Der stärkste Eindruck, der sich bei der Annäherungen an die neuen Gebäude auf dem New Jewish Cemetery in der kleinen Schlafstadt nordwestlich von London ergibt, ist jener extremer Einfachheit in Form und Material, gestützt durch das Fehlen aufdringlicher Details. Doch ist es genau diese gestalterische Zurückhaltung, insbesondere die schmucklose körperliche Präsenz, die das Projekt so bemerkenswert macht.

Auch die Verhandlungen zwischen den Architekten und dem Bauherrn »United Synagogue«, einer Vereinigung orthodoxer Synagogen in Großbritannien, verliefen ungewöhnlich. Die Architekten hatten es nicht mit einem einzelnen Repräsentanten des Bauherrn zu tun, nicht einmal nur mit einem Ausschuss: Bei Gestaltungsfragen waren stets mehrere Gruppen beteiligt; jedes Entwurfsdetail wurde mehrfachen, voneinander unabhängigen Begutachtungen unterzogen.

Dass es sich bei diesem bescheiden auftretenden Arrangement aus Gebäuden und Landschaftsgestaltung um Friedhofsbauten handelt, ist nicht offensichtlich. Sie entsprechen keiner Typologie, und sie sind außerdem nur auf Zeit gebaut: Wenn die 17.000 neuen Grabstellen südöstlich des angestammten Friedhofsgeländes belegt sind, wird es hier keine Bestattungen mehr geben, denn die Gräber bleiben bestehen. Stattdessen werden die Gebets- und die Aufbahrungshalle obsolet. Dies ist einer der Gründe, weshalb Andrew Waugh, Mitbegründer des Büros Waugh Thistleton Architects, entschied, die Gebetshallen aus verstärktem Stampflehm (mit Ton- und Zementanteilen) zu errichten. Alle Gebäude, auch die Stützen aus Lärchen-Leimholz, die die begleitenden Kolonnaden entlang einer Nord-Süd-Achse bilden, sind – in der Theorie – biologisch abbaubar; ein möglicher Zustand als Ruine ist mit hinein gedacht, die Formel »Erde zu Erde« liegt nicht fern. Tatsächlich sind die zementverstärkten Wände aber sehr dauerhaft, und so wird man am Ende der Nutzungsdauer zunächst die Dächer aus Brettschichtholzträgern samt PIR-Dämmung und Zinkeindeckung separat rückbauen müssen.

Jenseits gewohnter Pfade

»Wir hatten nie zuvor ein Gebäude außerhalb einer Stadt gebaut«, erklärt Andrew Waugh. »Immer hatte sich alles darum gedreht, das Baufenster einzuhalten und dabei alle Räume mit ausreichend Licht zu versorgen. Von daher war es eine neue Erfahrung, an einem regnerischen Tag hier inmitten von Kohlfeldern zu stehen.« Eine der ersten Entscheidungen war, die Gebäude an der tiefst liegenden Ecke des Geländes zu platzieren, um ihre Präsenz zu minimieren. Die Grabfelder werden durch einen Weg erschlossen, der die zentrale Achse des alten Friedhofs fortsetzt.

Auch der Einsatz von Stampflehm war neu für Waugh Thistleton. Doch das Büro zeichnet sich u. a. durch seinen starken Hang zur Vorreiterschaft aus. Beispielsweise war es das erste in Großbritannien, das große Projekte in furniertem Brettschichtholz ausführte (Gelegenheit zu einem Werkvortrag von Andrew Waugh gibt es auf der Fachtagung Holzbau am 7. November in Stuttgart). Der Versuch, den österreichischen Stampflehm-Spezialisten Martin Rauch (s. u. a. Hort Allenmoos in Zürich db 12/2013) zu kontaktieren, scheiterte zwar, doch machten die Tragwerksplaner Elliot Wood ein australisches Fachunternehmen mit einem auf der Insel ansässigen Partner, Bill Swaney, ausfindig, der eine Musterwand aus 500 mm dicken Stampflehmblöcken errichtete, die aus Sand, Kalkstein, Kies und 5 % Zement sowie Ton bestehen. Dieser stammt aus eigens angelegten Gruben und Tümpeln an den beiden tiefstgelegenen und feuchtesten Stellen des Baugrundstücks. Swaney und sein kleines Team hausten dort in Wohnwagen, die neben dem Schiffscontainer mit stählernen Schaltafeln standen, und stellten in zehn Wochen die Stampflehm-Konstruktion fertig.

Form und Grundriss der Friedhofsgebäude nehmen klaren Bezug auf die Kapellen und das Krematorium von Erik Gunnar Asplund und Sigurd Lewerentz auf dem Waldfriedhof in Farsta bei Stockholm. Anders als dort sind die Bauten in Bushey jedoch keine Etüde in architektonischer Raffinesse. Die Lehmwände der Kapelle strahlen eine poetisch uneindeutige Monumentalität aus, und ihre Erscheinung ist so unspektakulär wie die koscheren Särge aus Hartfaserplatten mit Tragegriffen aus Hanf, die bei jüdischen Begräbnissen meistens zum Einsatz kommen (in Israel werden die Toten vor der Bestattung lediglich in Tallitot, Gebetsmäntel, gehüllt).

Die Art und Weise, wie eine Beerdigung abläuft, definierte die Grundrisse, und die Anordnung der Gebäude – nämlich linear. Abgesehen vom Empfangsgebäude, das aus Rücksicht auf eine sehr alte Eiche aus der Achse heraus­gedreht wurde, ist der Ausrichtung der Hallen und der Wandelgänge bereits etwas Prozessionshaftes eigen, von der Ankunft bis zur Beisetzung. Es entstehen erinnerliche, aber nicht überdramatische Stimmungen für die Trauerriten in den Gebetshallen und in den offenen Versammlungsbereichen.

Trauergesellschaft trifft im Südosten auf dem Parkplatz ein und sammelt sich unter der Kolonnade vor dem hölzernen Empfangsgebäude, um der Stützenreihe dann entlang der Fassaden der Gebetshallen zu folgen.

Der Säulengang darf die Trauerhallen nicht berühren, genauso wenig wie die kleinen Räume neben den Hallen für die Kohanim, die Priester, denn der jüdische ­Begräbnisritus verbietet den Kontakt zwischen weltlichen und spirituellen Bereichen. So darf sich auch der Kohen nicht im selben Raum wie ein Sarg mit Leichnam aufhalten und leitet daher die Feier von außen, von einem Platz aus, der sich etwa 1 m vor den östlichen Türen der Trauerhalle unter einer separaten Dachkonstruktion aus Corten befindet.

Durch massige Corten-Tore betreten die Gäste die Halle von Westen her, um hier zu beten und zu trauern, und verlassen sie anschließend durch ebenso großformatige Tore auf der Ostseite. Der trapezförmige Grundriss der beiden Gebäude enthält jeweils eine von der Geraden abweichende Fassade; diese liegen sich gegenüber und bilden einen offenen Platz, auf dem die Nachrufe gehalten werden, bevor die Gruppe dem Sarg zum Grab hin folgt.

Das Corten stellt einen reichhaltigen visuellen und haptischen Kontrast zu den Stampflehmblöcken her, deren Oberflächen sehr uneben sind und unregelmäßige Färbungen zeigen. Die unbehandelten Oberflächen sind von den Spannlöchern und groben Schalungsfugen strukturiert; die Farben und Texturen ändern sich je nach Lichteinfall. Die handgefertigte Anmutung ist angemessen – deutet sie doch auf jene Erdklumpen voraus, die nach jüdischer Tradition von den Begräbnisteilnehmern auf die Särge geworfen werden.

Transitionsraum

Die Zurückhaltung der Architektur wirkt v. a. in der Atmosphäre und Materialität der Gebetsräume. Insbesondere die Art und Weise, wie Licht und Schatten auf die Lehmwände fallen, schafft eine beruhigende Stimmung genau dort, wo die Trauernden ihren Gefühlen expressiv Ausdruck verleihen.

Eine Zweiteilung symbolisiert auch hier den Aspekt des Voranschreitens und das transitive Moment des Ritus: Von einem liegenden Fenster über dem Eingang aus streift Licht entlang der geneigten Dachfläche weiter in den mit ­Eichenlatten ausgeschlagenen vorderen Raumteil, der für das Hier und Jetzt steht. Gleichsam von hinten, aus zunächst unsichtbarer Quelle, erhellt ein weiteres Fenster von Westen her den überhöhten hinteren Teil der Halle, der die Stampflehmstruktur zeigt und damit auf die letzte Ruhe in der Erde ­vorausweist. Je nach Witterung und Lichteinfall ergeben sich leuchtende Streifen auf Wänden und Boden. Das Licht, und auch der Schatten, erzeugen ­wunderbar feine Abstufungen in der Textur der Oberflächen.

Der Boden fällt ganz leicht von Westen nach Osten, zum gegenüberliegenden Ausgang hin ab – eine Referenz sowohl an Le Corbusiers sakrale Bauten in Ronchamp und Firminy als auch an so manche Renaissancekirche. In Bushey ist die Neigung jedoch nicht einfach eine smarte architektonische Idee, sondern soll buchstäblich den Beginn der Rückkehr des Körpers zur Erde spürbar machen.

Die Hallen werden über Niedrigtemperatur-Konvektionsheizungen im Boden geheizt. Das genügt, denn Anwesende tragen stets einen Mantel und halten sich hier nie länger als 20 Minuten auf.

Die ganze Anlage atmet einen Geist von Rechtschaffenheit und Anstand, der sich aus den ungewöhnlich detaillierten Diskussionen mit den Bauherrenvertretern speist, aus der Sorgfalt, mit der man die Baukörper so positionierte, dass sie der Gefahr der Dominanz über das Gelände entgehen, und aus der bedeutungsvollen, sinnstiftenden Qualität der Materialien.

[Aus dem Englischen von Dagmar Ruhnau]

db, Mo., 2018.11.05



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db 2018|11 Architektur der Stille

01. Mai 2016Jay Merrick
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Ein Taj Mahal für Julie

Das »House for Essex« ist einer fiktiven Frau gewidmet, die ein ganz durchschnittliches Leben führte. Seine Architektur hingegen zeigt sich ganz und gar ­ungewöhnlich und ist das Ergebnis einer wie selten ­geglückten, kohärenten und befruchtenden Zusammen­arbeit zwischen dem Künstler Grayson Perry und dem ­Architekten Charles Holland von FAT Architecture.

Das »House for Essex« ist einer fiktiven Frau gewidmet, die ein ganz durchschnittliches Leben führte. Seine Architektur hingegen zeigt sich ganz und gar ­ungewöhnlich und ist das Ergebnis einer wie selten ­geglückten, kohärenten und befruchtenden Zusammen­arbeit zwischen dem Künstler Grayson Perry und dem ­Architekten Charles Holland von FAT Architecture.

Architekten sprechen oft von der »Geschichte« eines Entwurfs. Wie aber verhält es sich, wenn der Entwurf selbst eine Geschichte abbilden soll? Eben das ist beim »House for Essex« der Fall und so lässt es sich auch nicht in der gängigen Art beschreiben. Bautypus, Form, Funktion und Kontext sind selbstverständlich auch hier relevant, aber nicht in dem Maß wie sonst üblich.

In der Grafschaft Essex, deren Bewohner vom Rest des Landes oft unfairer­weise als »ein wenig zu laut« charakterisiert werden, liegt das kleine, unspektakuläre Dorf Wrabness. Etwas unterhalb des Orts steht das Haus am Ende der unbefestigten Black Boy Lane, von der die Felder zu beiden Seiten sanft abfallen und der Blick auf das Mündungsgebiet des Flusses Stour fällt. Durch seine exakten Formen, die ungewöhnlichen Details und die kräftige Farb­gebung hat das kleine Gebäude eine derart spezielle Ausstrahlung, dass man annehmen könnte, es sei mit Photoshop in die idyllische Landschaft hineinmontiert worden.

Der international bekannte Künstler Grayson Perry erdachte das Haus mit der eigenartig intensiven Wirkung als »zärtlich-surreales« Denkmal für eine fiktive Frau aus Essex namens Julie Cope. Gemeinsam mit dem Architekten Charles Holland vom Büro FAT Architecture – das sich 2013 auflöste und der seither Mitinhaber des Büros Ordinary Architecture ist – hat er es für den ambitionierten Ferienhausanbieter »Living Architecture« entworfen. Unter künstlerischer Leitung des Architekturphilosophen Alain de Botton lässt ­Living Architecture seit einigen Jahren Ferienhäuser von bedeutenden ­Planern, u. a. von MVRDV und NORD, bauen. Peter Zumthor soll demnächst die Reihe der architektonisch anspruchsvollen Rückzugsorte ergänzen.

Schrill und tragisch

Die Lebensgeschichte von Julie Cope ist in einem langen Gedicht, das als schmales grünes Büchlein auch im Dorfladen von Wrabness erhältlich ist, niedergeschrieben. Julie wurde 1953 auf Canvey Island am nördlichen Ufer der Themse auf einem Lurexvorhang, der von einer Gardinenstange gerissen worden war, geboren. Dank ihrer Intelligenz stieg sie aus der Arbeiterklasse auf und führte ein Leben in der Mittelschicht. Sie starb 2014, umgerissen von einem Mopedfahrer, der ihr gerade ein Currygericht nach Hause in die Black Boy Lane liefern sollte. Ihrem zweiten Mann Rob hatte sie einmal erzählt, dass sie am glücklichsten mit ihm in der indischen Stadt Agra gewesen sei, und so gelobt er, ein »Taj Mahal am Stour« zu bauen.

Das House for Essex ist ein Mini-Taj Mahal von maximaler Opulenz. Hervorzuheben sind dabei die wunderschönen aufwendig handgefertigten Keramikfliesen der Fassade, deren geprägte Motive sich auf verschiedene Aspekte von Julies Leben und der Grafschaft Essex beziehen: nackte Julies, Herzen, Audiokassetten, der Buchstabe J, Sicherheitsnadeln für Windeln, Räder und das Wappen von Essex. Das Dach ist mit übergroßen Skulpturen geschmückt – ein karmisches Rad, eine schwangere Julie aus Metall, eine Leuchtturmlampe und ein gebauchter keramischer Schornsteinaufsatz. Diese Gestaltung könnte man ohne Weiteres als lustig, aber auch als unbeholfen oder infantil bezeichnen. Doch sie ist nicht trivial; auch nicht dekadent oder betont künstlerisch aufgemacht. Vielmehr ist sie durchdrungen von einem ironischen und zugleich zugewandten Blick auf das vermeintlich Banale eines jeden Lebens.

Artefakte statt Abstraktionen

Kürzlich fragte Holland in einem Artikel: »Können Gebäude sowohl in der Welt anspruchsvoller Architektur als auch im alltäglichen, gängigen Sinn bestehen?« Er bejaht die Frage und ist überzeugt davon, dass Dinge Bedeutungen besitzen können, »die der Tendenz in der Architektur, dem Abstrakten an sich einen hohen Wert beizumessen, widerstehen«.

Das House for Essex hat nichts Abstraktes – auch wenn es schwerfällt, seine Form und Materialität einem genauen Architekturtypus oder -stil zuzuordnen. Auf einen einfachen Nenner gebracht, kann das Gebäude mit all seinen Artefakten als Ort der Erinnerung bezeichnet werden. Aber auch andere ­Interpretationen liegen nahe: ein Mausoleum, eine »folie«, eine neo-mittel­alterliche Stabkirche; Holland selbst findet, es sei einer russischen Datscha nicht unähnlich.

Eine »folie« der Erinnerung ist wohl die zutreffendste Typologisierung, und aufgrund seiner Detailfülle und seiner starken objekthaften Wirkung könnte das Haus mit Gebäuden wie der Triangular Lodge in Rushton verglichen werden, die 1597 von Sir Thomas Tresham als Hommage an die Heilige Dreifaltigkeit realisiert wurde. Auch hier sollten Bauform und Details eine bestimmte Botschaft vermitteln – in diesem Fall über die ­numinosen Qualitäten der Zahl Drei: Die Lodge hat drei Geschosse und einen dreieckigen Kamin, die drei Fassaden sind 33 Fuß breit, und jede Fassade hat drei Giebel, drei dreieckige Fenster und drei Wasserspeier.

Das House for Essex wiederum zeichnet sich durch eine teleskopartige Abwicklung entlang seiner Längsachse aus: Man kann sich gut vorstellen, wie seine reich verzierten Bestandteile sauber in- oder auseinander gleiten. Von Süden gesehen, zeigt es sich als gestaffeltes Ensemble vierer giebelseitig verbundener Gebäudeabschnitte, die jeweils von einem steilen, kupfergedeckten Satteldach mit doppelter Tonnengaube abgeschlossen werden. Abgesehen von ihrer unterschiedlichen Größe sind die Bauteile praktisch identisch – einer Matroschka-Puppe nicht unähnlich.

Die rote Tür des Haupteingangs geht vom kleinsten Baukörper aus nach ­Süden; auf beiden Seiten des dritten Baukörpers befinden sich Flügeltüren, und Stufen führen zu einem an eine Kirchenpforte erinnernden Eingangsvorbau auf der Nordseite.

Halb Kapelle, halb Sakristei

Das kleinste Volumen im Süden nimmt einen Windfang mit einem Bad da­rüber auf, im zweiten befindet sich eine Diele mit Treppenaufgang und WC, im dritten dann eine Wohnküche mit zwei Schlafzimmern darüber, und im größten Volumen ein zwei Geschoss hohes Wohnzimmer. Leuchtend bunte Wandteppiche und Tapeten mit Szenen aus Julies Leben bestimmen diesen Raum, in dem die in ihren Unfall verwickelte Honda C90 als eine Art Kronleuchter hängt.

Für Holland ist das Wohnzimmer eine Kapelle und die übrigen, dienenden Räume des Hauses entsprechen der Sakristei. Die Übergänge zwischen »Kapelle« und »Sakristei« sind äußerst theatralisch gestaltet: Neben dem ­Kamin im EG befindet sich eine Geheimtür, aus den Schlafzimmern führen Schränke ohne Rückwand zu Balkonen mit Blick auf den Kapellenraum. ­Hollands Inspirationen für diese architektonischen Spiele reichen von Sir John Soanes Haus in London (einer Mischung aus Wohnhaus und Museum im Stil des Eklektizismus) über Edwin Lutyens räumliche Widersprüche bis hin zu den stark handwerklich geprägten Innenräumen eines Adolf Loos.

An den Wochenenden, so steht es in Perrys Gedicht, »suchten [Julie und Rob] einen Schrein, ein Heim / Für ihre Liebe, und sie schlenderten darin herum, / Ein zusammengestückeltes Haus an einer Nase / die über den Stour nach ­Norden nach Suffolk blinzelte / mit rauem Putz, banal, aber ganz besonders für sie …« Grayson Perry und Charles ­Holland haben dafür gesorgt, dass Julie Cope nicht gelangweilt umhergeistern muss. Sie ­haben eine ungewöhnliche und eindringlich menschliche Erinnerungsstätte geschaffen, mit der sie einzigartiges und zugleich ganz gewöhnliches Leben würdigen. Das Haus ist ein opulentes memento mori, in seiner Verortung im 21. Jahrhundert so eindrücklich wie etwa Ligier Richiers Skulptur von Wilhelm von Oraniens ­Skelett, umgeben von den Symbolen seines privilegierten Lebens im 16. Jahrhundert.

Selten ergänzen sich Künstler und Architekten so, dass sich ihre Arbeit ­tatsächlich als gemeinsames Werk vermittelt. Julie Copes Schmuckschatulle von einem Heim, zugleich architektonische Realität und Fantasterei, beweist, dass es möglich ist.
[Übersetzung: Dagmar Ruhnau]

db, So., 2016.05.01



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db 2016|05 Opulent

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Presseschau 12

02. Mai 2025Jay Merrick
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Umnutzung zweier Agrarnutzbauten auf der Isle of Wight (UK)

Zwei landwirtschaftliche Nutzgebäude auf der Isle of Wight wurden in ein Wohn- und Künstlerrefugium verwandelt. Die enge Zusammenarbeit von Mitbauherr Joseph Kohlmaier und Gianni Botsford Architects bei der Planung hat eine Architektur hervorgebracht, die im Grunde asketisch ist, und dennoch mit einer Vielzahl unterschiedlicher Stimmungen besticht.

Zwei landwirtschaftliche Nutzgebäude auf der Isle of Wight wurden in ein Wohn- und Künstlerrefugium verwandelt. Die enge Zusammenarbeit von Mitbauherr Joseph Kohlmaier und Gianni Botsford Architects bei der Planung hat eine Architektur hervorgebracht, die im Grunde asketisch ist, und dennoch mit einer Vielzahl unterschiedlicher Stimmungen besticht.

Das Old Byre, zwei ehemalige landwirtschaftliche Nutzgebäude, befindet sich auf der Isle of Wight. Die Umgebung ist ambivalent – weder wirklich ländlich noch vorstädtisch oder gar städtisch. Die stark befahrene Straße, die die Städte Cowes und Newport verbindet, sowie ein Lebensmitteldiscounter und einige Gewerbebetriebe, befinden sich nur 300 m westlich; ansonsten ist das Old Byre von landwirtschaftlich genutzten Wiesen umgeben.

Eine andere Art von Ambivalenz zeigt sich in der Umgestaltung der beiden Nutzbauten zu zwei Ateliers mit angegliederten Schlafräumen und einem großen gemeinschaftlichen Wohn- und Essbereich durch den Architekten Gianni Botsford und Miteigentümer Joseph Kohlmaier. Die Architektur ist vielgestaltig: Sie wirkt im ersten Moment völlig simpel und im nächsten dann unerwartet subtil.

Eines der beiden eingeschossigen Gebäude war eine Lagerhalle mit einer Stahlrahmenkonstruktion aus den 1960er Jahren, das andere entstand im 19. Jahrhundert mit tragenden Ziegelwänden und ist L-förmig organisiert. Letzteres beherbergt mittlerweile u. a. Kohlmaiers Bibliothek. Beim Besuch des Autors holt er einige zufällig ausgewählte Bücher hervor. Der Titel eines Buchs passt bestens zum Umbauprojekt: »Homes for Today and Tomorrow«, eine Veröffentlichung der britischen Regierung von 1961.

Kohlmaier, Designer, Architekturhistoriker und Chorleiter, lebte in einem anderen Haus auf der Isle of Wight, als er auf eine Online-Anzeige zum Verkauf von The Byre aufmerksam wurde: »Und als ich das sah, fuhr ich sofort von meinem Haus in Ventnor hierher.«

Das L-förmige Stallgebäude war ein Chaos aus Schlamm, kaputten Toren, Stallgattern und landwirtschaftlichem Abfall. Das zweite Gebäude, eine 3,5 m hohe Lagerhalle, öffnete sich zum kleinen Hof zwischen beiden Gebäuden. Dessen rauer, rissiger Betonbelag fiel gleich ins Auge. Die fensterlose Ziegelwand des bewohnten benachbarten Bauernhauses aus dem 18. Jahrhundert bildete die vierte Seite des Hofs. »Im Stallgebäude gab es eine Schiebetür, durch die das Vieh hereinkam«, erinnert sich Kohlmaier, »… ich schaute in den Hof und sah all diesen Mist. Und an einer Seite des anderen Baus waren Polycarbonatplatten angebracht. Aber ich habe mich zu Hause gefühlt. Es war wie ein Tempel. Ich schaute in den Himmel. Und ich dachte: Hier haben Tiere gelebt. Jetzt werden hier Menschen leben. Wie würde es sein, hier zu leben?«

Dies scheint der entscheidende Moment gewesen zu sein, der emotionale und konzeptionelle Ausgangspunkt des Projekts: Kohlmaier blickt auf ländliches Chaos, hat aber eine sofortige Wahrnehmung von »Zuhause« – einen Drang zum Wiederaufbau, zur Wiederbesiedlung, sogar zur Berufung auf Martin Heideggers (1889-1976) Ausspruch »Bauen ist bereits Wohnen.« Kohlmaiers Reaktion erinnert auch an einen Essay des rumänischen Archäologen Catalin Pavel, der einer Idee des deutschen Soziologen und Philosophen Georg Simmel (1858-1918) nachgeht, und zwar jene, wonach bewohnte Ruinen das Spannungsverhältnis zwischen »dem Noch-Nicht und dem Nicht-Mehr« verringern.

Witterung und rauer Beton

Kohlmaier und ein Freund, der Ökonom und Kunstsammler Simon Bishop, kauften die beiden Nutzbauten, und Kohlmaier wählte Gianni Botsford als Architekten, um sie wiederzubeleben. Eine wichtige frühe Entscheidung war, die Lagerhalle aus den 1960er Jahren nicht mit dem Stallgebäude zu verbinden. Kohlmaier wünschte sich ausdrücklich, dass sich die Gäste zwischen den beiden Gebäuden im Freien bewegen können, sodass sie – vielleicht wie die nicht mehr anwesenden Kühe – immer die Witterung und den rauen Beton des Hofs spüren. Diese Trennung ist auch an anderer Stelle zu finden: Sorgfältig ausgeführte Verblechungen und verdeckte Dachrinnen sorgen dafür, dass die Bauteile der beiden umgebauten Nutzbauten das benachbarte Bauernhaus nicht berühren.

Die Hoffassade der vormaligen Lagerhalle, wurde ebenso wie die des vormaligen Stallgebäudes mit einer Glas- und Polycarbonathaut versehen. Dies erforderte innen insbesondere im Bereich der 1,2 x 2,5 m großen Eingangstür zusätzliche vertikale und horizontale Verstrebungen an der Stahlkonstruktion des 1960er-Jahre-Baus. Dieser beherbergt mittlerweile einen langen Wohn-/Essbereich und am südwestlichen Ende einen Vorraum für den Seiteneingang sowie einen Hauswirtschaftsraum, der die Heiztechnik aufnimmt. Eine Wärmepumpe versorgt die Heizschlaufen in den Betonböden beider Gebäude, sodass sie bei Temperaturen von bis zu -14 °C warm bleiben. Die originalen, waagerecht wie Ziegelsteine verlegten Hohlblocksteine an der Rückwand der vormaligen Lagerhalle wurden beibehalten – ein rauer, haptischer Kontrapunkt zur ansonsten kahlen, innen freiliegenden Tragstruktur und den glatten, milchig-glasigen Polycarbonatoberflächen. Nachts leuchten diese Fassaden an beiden Gebäuden in ungleichmäßigem Licht und den weichen Farben der Bewegungen im Inneren, die wie Wesen in einem Schattenspiel wirken.

Die Zufahrt zu den Scheunen liegt über den ursprünglichen Mauersohlen im Südwesten und Nordwesten, sodass beide Gebäude Betonbodenplatten mit erhöhten Kanten aufweisen. Auf der Hofseite ist das Betonsockelniveau bei beiden Scheunen gleich, aber bei dem L-förmigen Gebäude gibt es vom Haupteingang aus eine beträchtliche Stufe hinunter zu einem niedrigeren Bodenniveau. Dies erinnert an einen japanischen Genkan-Eingang und schafft mehr Höhe unter den freiliegenden Dachsparren.

Besonders interessant ist das Konzept des L-förmigen Stallgebäudes, das auf präzisen 3D-Scans der ursprünglichen inneren Struktur und Oberflächen basiert. »Wir haben zunächst auch erwogen, die Räume im straßenseitigen Teil des Grundrisses anzuordnen«, sagt Botsford, »aber es war uns sehr wichtig, dass die Räume direkt mit dem Innenhof verbunden sind.«

Ganzglasfassaden zum Innenhof hin lehnte er ab: »Das warf Fragen zur Privatsphäre und zur Festlegung von Ausblicken auf. Wenn die Fassaden vollständig verglast wären, was würde das im Inneren bedeuten? Und nach außen hin wäre der Innenhof nicht mehr so klar definiert gewesen.« Kohlmaier war es ein besonderes Anliegen, »so viel weiches, jahreszeitliches Licht wie möglich in die Zimmer und Atelierräume zu bringen« – Letztere befinden sich an den Enden des L-Grundrisses.

»New Patterns of Living«

Die straßenseitigen Wände und die Dächer beider Gebäude wurden gedämmt und mit einer Hülle aus Wellfaserzementplatten versehen. Fensterlos, geben die vollflächig bekleideten Wände Passierenden keinen besonderen Hinweis auf die Nutzung oder den architektonischen Typus des Ensembles. Nur zwei Details scheinen hier ungewöhnlich: die breiten Aluminiumabdeckungen auf den Dachfirsten und die unregelmäßig verlaufenden Stufen, die vom Zufahrtsweg zwischen den beiden Bauteilen zum Innenhof hinabführen.

Das L-förmige Gebäude ist in Grundriss und Schnitt zwar einfach, aber die Raumatmosphäre und die ästhetische Wirkung der zum Innenhof gerichteten Fassaden sind unerwartet und einnehmend. Der Querschnitt weist eine ungewöhnliche Abfolge von reizvollen Situationen auf. Die zum Hof gerichtete Fassade hat keine Fenster im üblichen Sinne; die Aluminiumrahmen der verglasten Eingangs- und Fenstertüren der Schlafzimmer schließen fast bündig mit der Oberfläche der zartweißen Polycarbonatplatten ab. Wir können diese Fassade also (in Anbetracht dessen, dass z. B. die Cockpit-Hauben vieler Kampfjets aus Polycarbonat bestehen) als eine Hightech-Außenschicht betrachten; aber ihr Weiß und ihre Transluzenz lassen auch an japanisches Shoji-Papier denken; die Atmosphäre des Innenhofs wirkt beinahe klösterlich.

Der mittlere Bereich des Querschnitts, in dem die beiden Schlafzimmer wie eine riesige, durchgehende Kiste unter den freiliegenden Sparren und dem Dach stehen, besteht ganz aus Sperrholz. Das Fichtensperrholz wurde unbehandelt belassen – »wir zogen eine neblige, durchscheinende Beschichtung in Betracht, aber dann wäre es eher eine Textur als eine Oberfläche geworden«, erklärt Botsford. Die Gestaltung der Schlafzimmer- und Schranktüren aus Sperrholz, die mit sehr dicken, raumhohen Kanthölzern als Griffe versehen sind, ist angenehm taktil.

Die »Schlafzimmerboxen«, die durch ein Badezimmer im Winkel des Ls geteilt sind, liegen eng an den ursprünglichen Holzstützen und zusätzlichen Stützen an der Innenseite der Hoffassaden an. So entsteht eine schattige, interne »Gasse«, offen bis unters Dach, mit den Schlafzimmerboxen auf der einen Seite und den alten Ziegelwänden und einem breiten Betonsockel für Kunstwerke, der aus dem Boden wächst, auf der anderen Seite.

Diese Übergänge sind wie eine aufregende Kamerafahrt entlang verschiedener Formen, Materialien und Ideen – gleichzeitig superreal und zutiefst imaginär; vielleicht eine Art Innehalten zwischen »dem Noch-Nicht und dem Nicht-Länger« Georg Simmels. Einfacher ausgedrückt wäre dies mit dem Titel des ersten Kapitels von Homes for Today and Tomorrow: »New Patterns of Living« (Neue Wohnformen). Und das ist, was Joseph Kohlmaier und Gianni Botsford mit bewundernswerter Eigenständigkeit im Old Byre geschaffen haben.

db, Fr., 2025.05.02



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db 2025|05 Auf dem Land

14. Mai 2022Jay Merrick
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Sinnlich gebaut

Durch die gleiche robuste Materialisierung zeigen sich Schule und Wohnhochhaus als Bauensemble, stilistisch jedoch gehen sie unterschiedliche Wege: skandinavisch angehaucht die Schule und mitunter die Baugeschichte zitierend das Wohnhochhaus. Die vermeintlich konträren Ansätze bereichern einander nicht nur, sondern schlagen gemeinsam auch noch eine Brücke zwischen privatem und öffentlichem Raum.

Durch die gleiche robuste Materialisierung zeigen sich Schule und Wohnhochhaus als Bauensemble, stilistisch jedoch gehen sie unterschiedliche Wege: skandinavisch angehaucht die Schule und mitunter die Baugeschichte zitierend das Wohnhochhaus. Die vermeintlich konträren Ansätze bereichern einander nicht nur, sondern schlagen gemeinsam auch noch eine Brücke zwischen privatem und öffentlichem Raum.

Henley Halebrown

Simon Henley und sein Büro Henley Halebrown entwerfen Gebäude in London, deren monumentaler Charakter eine ungewöhnlich stark ausgeprägte plastische Außenwirkung aufweist. Chadwick Hall an der University of Roehampton in London, drei Studentenwohnheime mit einer tief eingeschnittenen Fassadengliederung, wurde 2018 für den Riba Stirling Prize und 2019 für den EU Mies Award nominiert. Die drei Gebäude vermitteln auf den ersten Blick den Eindruck von Massivität, Beständigkeit und einer sehr robusten Bauweise im Stil des 19. Jahrhunderts.

Das Projekt 333 Kingsland Road, das 2020 fertiggestellt wurde, ist noch ausdrucksstärker. Hier werden eine Grundschule und ein Wohnhochhaus in einem Ensemble zusammengefasst, das am stärksten durch die Art und Weise gekennzeichnet ist, wie die Fassaden des Wohnhochhauses in die Tiefe gestaffelt sind – dies betrifft sowohl die Grundrisse als auch die Ansichten. Es ist das bemerkenswerteste große Projekt von Henley Halebrown, sowohl baulich als auch konzeptionell.

Anschaulich

Auf einer Architekturkonferenz, die kürzlich an der Katholieke Universiteit Leuven in Belgien stattfand, bezeichnete Simon Henley die Entwurfsgedanken Buckminster Fullers zu einer geodätischen Kuppel in Manhattan aus dem Jahr 1968 als den Beginn einer von Technologie bestimmten Entwicklung der Art und Weise, wie Architekten über Fassaden denken: »Heute bestehen Wände aus einer komplexen Konstruktion, die sich aus abstrakten und nicht erkennbaren technischen Systemen zusammensetzt. Das Gefüge besteht nicht aus Materie an sich, sondern aus einer Vielzahl von technischen Funktionen.«

Simon Henley meint dazu, dass sich »die Überlegungen, die diesen abstrakten Elementen zugrunde liegen, weit von den sinnlichen und wahrnehmbaren Aspekten des Bauens entfernt haben und dadurch verwendete Materialien nicht angemessen eingesetzt werden können.« Er ist der Ansicht, dass große Gebäude, v. a. im Wohnungsbau, so gestaltet werden sollten, dass ihre Nutzung und ihre Einbindung in die Umgebung mit all ihren Aktivitäten möglichst offensichtlich sind.

Die Schule und das Wohnhochhaus liegen an der Ecke der Downham Road und der verkehrsreichen Kingsland Road in einem ehemals ärmeren Teil Londons, der eine zunehmende Gentrifizierung erfährt. Etwa 300 m nördlich des Ensembles befindet sich eine elegante geschwungene Reihenhauszeile aus dem 18. Jahrhundert, und gegenüber liegt das ehemalige Metropolitan Free Hospital von 1886 mit dekorativem Mauerwerk, Balkonen und hervortretenden steingerahmten Fenstern.

Bedauerlicherweise werden diese Bauten von der kürzlich direkt gegenüber der Kingsland Road 333 errichteten Ability Plaza, bei der sowohl Bauvolumina als auch unterschiedliche Architekturelemente recht verunglückt aufeinanderprallen, in den Hintergrund gedrängt. Hunderte solcher Gebäude – hässlich, kontextlos, vermeintlich trendy und sehr profitabel – entstanden in den letzten 20 Jahren in London.

Vielgestaltig

Das Bauensemble an der Kingsland Road umfasst ein 11-stöckiges Wohnhochhaus, dessen Grundfläche von den Architekten durchdacht minimiert wurde, und ein neues Schulgebäude für 350 Grundschüler, das dadurch dreistöckig kreuzgangartig um einen großen zentralen Pausenhof realiert werden konnte. Die Architektur des Schulbaus hat einen kühlen, ruhigen, eher nordeuropäischen Charakter. Offene Galerien umschließen den Innenhof und ermöglichen so eine platzsparende Organisation und optimale Belichtung der Geschosse – gänzlich ohne innen liegende Flure, mit einer direkten Verbindung zwischen innen und außen. Während sich in den Klassenräumen Sitzgelegenheiten in den tiefen Nischen der außenbündig eingebauten Fenster befinden, fanden draußen wiederum Bänke aus Betonfertigteilen im Brüstungsbereich der großen, innen wandbündigen Fenster ihren Platz. Das ist clever, ökologisch und sozial.

Die doppelgeschossige Schulaula im EG kann kann über verglaste Bereiche des Lehrerzimmers im 1. OG überblickt werden. Decke und Wände der Aula werden von einem sichtbaren Betonskelett gefasst. An der Außenseite ihrer Ostwand kragt ein überhoher Stahlbetonträger aus, um die Lasten der Überdachung der Außentreppe vom EG zum 1. OG aufzunehmen und dazu noch den Aufstieg optisch »einzurahmen«.

Die Dachfläche auf der Südseite der Schule dient als Außenraum und verfügt über eine außergewöhnlich über die Dachkante auskragende Toilette – eine Neuauflage einer ähnlich neckischen Toilette, die Henley während seiner Studienzeit entworfen hatte. Ein ebenso unerwartetes und gelungenes architektonisches Detail findet sich an der Nordostecke des 1. OGs: Die Wände des zweigeschossigen Musikübungsraums weisen – wie die meisten anderen Innenräume – Oberflächen aus weiß gestrichenen Gipskartonplatten und Sichtbeton auf. Weiter oben, unterhalb eines Oberlichts, ist der Beton jedoch im Rotton der Außenfassaden gestrichen; die Atmosphäre in diesem hohen, engen Raum ist fast klösterlich.

Das Metallschultor von Künstler Paul Morrison, mit Löwenzahn und Spinnennetzmotiven gestaltet, wirft abstrakte Muster auf den Boden des Eingangsbereichs, der sich unter der Bodenplatte des außen liegenden Spiel‧bereichs im 1. OG befindet. Zu ihm führt die hier antretende Treppe durch eine elegant kreissegmentförmige Deckenöffnung hinauf. Auch die schimmernden elfenbeinfarben glasierten Ziegel der Fassaden rund um den Pausenhof sind von hier bereits zu sehen. Die sie begleitenden, teilweise verglasten Vordächer sind eine Hommage an Erik Gunnar Asplunds Überdachungen auf dem Stockholmer Waldfriedhof (realisiert 1917–1940).

Überleitend

Die Schule und die Eingangstore sind nach Süden auf den Gehweg der Downham Road ausgerichtet. In die Backsteinfassade ist eine lange Betonbank integriert, die von Passanten genutzt werden kann. Dies verleiht der gesamten Straßenfront der Schule einen einladenden, bürgerschaftlichen Charakter.

Der gesellschaftliche Aspekt kommt in der Gestaltung des Wohnhochhauses noch deutlicher zum Ausdruck. Hier wurde die äußere Fassadenebene als ruinenartige Struktur konzipiert, die die funktionalen Innenfassaden umgibt. Im Großen und Ganzen könnte man diesen Ansatz mit der den eigentlichen Fassaden vorgelagerten Struktur des Town House von Grafton Architects an der Kingston University vergleichen (siehe db 09/2020, S. 48-54).

Die Ausbildung der beiden Fassadenschichten erzeugt Tiefe, Licht- und Schatteneffekte und verbindet das Leben der Menschen innerhalb und außerhalb des Gebäudes. Das erste Mal verfolgte Henley diesen Ansatz bereits 2013 in seinem Entwurf für einen 21-stöckigen Sozialwohnungsblock, dessen Wohnungen hinter einer aus drei Geschosse hohen Bögen bestehenden »Ruinenstruktur« liegen sollten.

In Teilen diente die tschechische kubistische Architektur als Inspiration für die Fassadengestaltung des Wohngebäudes. Sie besteht aus einer Ortbetonstruktur, deren Abschnitte in zweigeschossigen Segmenten bis zu einer Loggiaebene mit Dachterrasse emporwachsen. Ein Drittel des Freiraums dort oben steht den Bewohnern der 68 Sozialwohnungen zur Verfügung, die anderen beiden Drittel den Eigentümern der drei Maisonettewohnungen.

In der äußeren Fassadenebene erheben sich rings um die Wohnungen riesige Pfeiler vom Boden über die mit Deckenkassetten dekorierten Arkaden und das Gesims im EG bis hinauf zur krönenden Loggia. Wie die anderen Sichtbetonbauteile bestehen auch die Querträger aus Ortbeton mit einer Zuschlagsmischung aus rotem Sand und Sandstein (inklusive passendem Fugenmörtel), was den Fassaden eine recht körnige und geradezu unechte Oberflächenwirkung verleiht. Die markante Überlagerung der Fassaden lässt an Gebäude wie das Kaufhaus der Schwarzen Madonna in Prag (1912) von Josef Gočár denken.

Verdreht

An der Basis der Süd- und Ostseite des Gebäudes sind die Arkaden recht tief und zugänglich, nicht so an der Nordseite, wo die Säulen sehr dicht an den Glasfronten der im EG untergebrachten Ladeneinheiten stehen. Diese Enge ist z. T. auf einen weiteren ungewöhnlichen Aspekt des Entwurfs zurückzuführen: Im Grundriss sind die südwestlichen und nordöstlichen Ecken des Gebäudes gestaucht und verdreht, um Radien zu schaffen, die eine diagonale Anordnung der Wohnungen mit doppelter Größe ermöglichen.

Im Inneren fällt v. a. das achteckige zentrale Treppenhaus auf, das pro Umdrehung 12 Teilflächen aufweist. Das ist sehr stimmungsvoll und erinnert an die plastischen geometrischen Gesimse des Prager Wohnblocks Hodek von Josef Chochol aus dem Jahr 1914; schade, dass der Bauunternehmer, der ansonsten gut arbeitete, nicht in der Lage war, den Ortbeton sauber auszuführen; ein oder zwei der äußeren Gesimsfugen sind außerdem leicht schief.

Es ist bewundernswert, wie das Büro gesellschaftliche Intentionen des Projekts und die beiden unterschiedlichen architektonischen Stile miteinander in Einklang gebracht hat. Wie Simon Henley an der KU Leuven sagte: »Das Vermögen einer Fassade, uns naturgegebene Phänomene zu veranschaulichen – Bewusstsein erzeugt Gewissen –, steht im völligen Gegensatz zu der vorherrschenden technokratischen Haltung zu unserer Umwelt und dem amoralischen Konsum von Gebäuden und Raum.«

Welch eine Ironie, dass die Schule ausgerechnet Henley Halebrown gebeten hat, den Kindern beim Bau einer kleinen geodätischen Kuppel auf dem Oberdeck zu helfen. Das Bauwerk wird sicherlich von Buckminster Fullers Geist interessiert untersucht werden, über die »Ruinen« nebenan jedoch wird er sich wohl ziemlich wundern.

db, Sa., 2022.05.14



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db 2022|05 London

02. September 2021Jay Merrick
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Brunel’sches Exoskelett

Durch die kluge Abwägung zwischen den Mehrkosten für eine aufwendige Gestaltung und dem Mehrwert durch eine lukrative Vermietung konnte ein Bürogebäude entstehen, das mit seinem Exoskelett ein Ausrufezeichen im Quartier setzt. Sowohl seine Namensgebung als auch seine Gestaltung beziehen sich auf den Erbauer der benachbarten Paddington Station: den Ingenieur Isambard Kingdom Brunel.

Durch die kluge Abwägung zwischen den Mehrkosten für eine aufwendige Gestaltung und dem Mehrwert durch eine lukrative Vermietung konnte ein Bürogebäude entstehen, das mit seinem Exoskelett ein Ausrufezeichen im Quartier setzt. Sowohl seine Namensgebung als auch seine Gestaltung beziehen sich auf den Erbauer der benachbarten Paddington Station: den Ingenieur Isambard Kingdom Brunel.

Das Brunel Building liegt am Grand Union Canal, der an der Nordseite der Paddington Station in London vorbeifließt. Der Bahnhof wurde 1854 von dem legendären Ingenieur Isambard Kingdom Brunel (1806-59) entworfen. Der Geist seiner Bauten – Avantgarde in ihrer Zeit – hat das Design des neuen 22 600 m² großen Gebäudes von Fletcher Priest Architects stark beeinflusst.

Die subtilen x-förmigen Muster auf den metallenen Brüstungspaneelen der Fassaden – die Architekten untersuchten vorab 50 Versionen davon – beziehen sich auf die Verstrebungen an den Balustraden von Brunels berühmter Clifton-Hängebrücke. Und auch wenn man an dem 70 m hohen Exoskelett des Brunel Buildings hochblickt, kann man sich die überdimensionalen asymmetrischen Rauten leicht als seltsam gequetschte oder elastische Versionen von jenen aus dem 19. Jahrhundert vorstellen.

Keith Priest, einer der Gründungspartner des Büros – der derzeit ein Wohngebäude in der Hamburger HafenCity plant –, sagt, dass die Entscheidung, ‧eine rautenförmige Gitterstruktur für das Gebäude vorzusehen, von der örtlichen Planungsbehörde gefördert wurde: »Wir waren bestrebt, kein gewöhnliches Bürogebäude zu bauen«, erklärt er. »Die meisten Gebäude in der Gegend sind architektonisch ziemlich standardisiert. Wir wollten unmittelbar am Kanal ein kleines Stückchen Freude schaffen.«

In den Entwurfsstudien wurden zunächst mögliche Fassaden mit unterschiedlichen Markisen und anderen Beschattungsvorrichtungen untersucht. Aber die Planer strebten nach einer Architektur, die den Blick nach oben zieht: Das Exoskelett ist entschieden vertikal, selbst dort, wo sich die tragenden Rauten leicht neigen und im 8. OG die Richtung zu ändern scheinen, oder an der Südostecke, wo sich die Rasterwinkel besonders unterschiedlich zeigen. Priest räumt ein, dass es »eine zufällige Erkenntnis während des Entwurfsprozesses war, dass ein Exoskelett auf der Südseite etwa 20 % Verschattung bieten würde. Dies, kombiniert mit einer guten Tageslichtdurchdringung dank höheren als den üblichen Decken und darüber hinaus noch Betonuntersichten, die die Temperaturspitzen abfedern, ergab sowohl eine vorteilhafte Energiebilanz als auch qualitätvollere Innenräume.« Letztendlich wurden die zusätzlichen Baukosten des Entwurfs dadurch ausgeglichen, dass das Gebäude als visuell auffälliges architektonisches Objekt mit ungewöhnlich offenen und vielseitigen Grundrissen gut vermarktbar ist.

Engmaschige Zusammenarbeit

Das Brunel Building befindet sich in einer historisch betrachtet interessanten Gegend. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war das Gebiet südlich des Bahnhofs Paddington aus architektonischer Sicht elegant und äußerst vorzeigbar. Ab dem späten 20. Jahrhundert beherbergte das Stadtviertel dann Büros und Industriegebäude und mittlerweile ist durch die Gentrifizierung rund um den Bahnhof ein weiterer Londoner Hotspot für Kreativbranchen und hochkarätige Mieter entstanden: Zu den Nutzern des Brunel-Gebäudes gehört z. B. Sony Pictures und die englische Premier League hat hier ihre Zentrale. In diesem Sinne hat die architektonische Inszenierung des Brunel Buildings erheblich zur monetären Anziehungskraft der Gegend beigetragen.

Letztlich sind es jedoch die konstruktive Komplexität des Projekts und die Art und Weise, wie das Projekt mit Hilfe digital geplanter Details umgesetzt wurde, die nachhallen. Beim Entwurf der Gebäudestruktur ging es im Wesentlichen um die kreative und dabei logische Auflösung von Asymmetrien, ‧unterstützt durch die bemerkenswerte Qualität der Betonelemente und die ultrapräzise Einpassung der Gebäudetechnik im Innern. In jeder Phase des Projekts, von 2013 bis 2015 waren Teams von Fletcher Priest und den Ingenieuren von ARUP sowie Teams von Stahl-, Gebäudetechnik- und Fassadenspezialisten beteiligt.

Eine der Hauptforderungen des Bauherrn Derwent London, war es, das Grundstück so vollständig wie möglich zu überplanen und dabei die möglichst stützenfreie Fläche zu maximieren. Daher hat der Gebäudegrundriss sechs verschiedene Winkel und wird lediglich an der Südfassade zum Kanal hin von einer 6 m breiten Promenade flankiert. An der südwestlichen Ecke wurde die Fassade im EG zurückgesetzt, um den darunterliegenden flachen U-Bahn-Tunnel Bakerloo nicht zu belasten.

In seiner Gänze ruht das Gebäude auf einer Art Floß, geformt aus Pfählen und Kellerstützmauern. Sein asymmetrischer Grundriss führte zu einem asymmetrischen Exoskelett. Eine der größten Herausforderungen bestand also darin, die wichtigsten lasttragenden Knotenpunkte der Stahlstruktur zu lokalisieren und sicherzustellen, dass sie trotz der unregelmäßigen Winkel und Längen der »tragenden Rauten« symmetrisch ausbalanciert sind. Diese Knoten stützen mehr als 300 horizontale Stahlträger, die die äußere Struktur mit dem schmalen Band der Erschließungskerne in der Gebäudemitte verbinden und so die insgesamt 17 Geschossdecken tragen.

Abgesehen von den Erschließungskernen ist jedes Stockwerk ein offener Raum ohne Stützen oder sonstige Hindernisse. Die meisten der Betonbalkendecken überspannen 15 m, an der breitesten Stelle sogar 16 m. Von manchem Standpunkt aus lässt sich sogar die volle Geschossbreite von 34 m und die Gesamtlänge von 66 m erfassen. Durch die Kombination aus den geschlossenen Brüstungspaneelen der Fassade, dem Verschattungseffekt des Exoskeletts und der Sonnenschutzverglasung sind die Innenräume bestens natürlich belichtet, ohne dabei zu überhitzen.

Virtuelle und analoge Modelle

Das Gebäude wurde so detailliert wie möglich geplant. Der Projektarchitekt von Fletcher Priest, Chris Radley, und sein Planungsteam arbeiteten mit ARUP und dem Ingenieurbüro für Gebäudetechnik Cundall zusammen, um ein präzises digitales Gebäudemodell zu entwickeln. Dies bedeutete, dass alle Beteiligten den Entwurf in jeder Phase über Virtual-Reality-Headsets überprüfen konnten. BIM-Algorithmen und Parametrik wurden u. a. auch dafür verwendet, die Positionen des Exoskeletts und der Brüstung genau aufeinander abzustimmen.

Sobald auf der Baustelle der Kern und andere innen liegende Betonelemente fertiggestellt waren, wurden die genaue Positionen der offen geführten Kabeltrassen und anderen Leitungssträngen an den Wänden und Decken anhand projizierter Bilder aus den 3D-Gebäudedaten überprüft und markiert. Dies trug dazu bei, dass die Sichtbetonoberflächen geschont wurden, und unterstützte die Intention der Planer, der offenen Leitungsführung eine starke grafische Ästhetik zu verleihen.

Um ästhetische und technische Qualitäten zu testen, waren Prototypen ein weiterer wichtiger Faktor. Im Jahr 2015, vor Baubeginn, wurde ein komplettes Gebäudesegment, bestehend aus Fassade, Tragstruktur, offen geführten Versorgungsleitungen und Beleuchtung, in einem Londoner Lagerhaus zur Begutachtung errichtet. Selbst Prototypen der Toiletten und Abschnitte des Betonkerns wurden probehalber vorab erstellt.

Den Einbau der äußeren Stahlträger und -stützen übernahm das Unternehmen Severfield, das zuvor auch schon den Stahlbau für Renzo Pianos »Shard« in London verantwortet hatte. Dabei arbeitete man sich in jeweils dreigeschossigen Abschnitten, die in einem Quadranten gegen den Uhrzeigersinn um den Betonkern herum errichtet wurden, nach oben vor.

Während der Stahlbauarbeiten erzeugten die asymmetrischen Konstruktionsgeometrien ungleichmäßige Verbindungsspannungen zwischen den Bodenträgern und dem Exoskelett. Um dennoch die Stabilität aufrechtzuerhalten, wurde die Außenkonstruktion über die Bodenträger an die im Kern eingelassenen Stahlverbindungsplatten angebunden. Diese Platten wiederum positioniert man mit Hilfe eines auf den Kern projizierten 3D-Modells, das die Bohrpunkte anzeigte, äußerst präzise. Am Exoskelett kamen zwei unterschiedliche Arten von Anschlüssen zur Anwendung – einer für Punkte, an denen große Bodenlasten abgetragen werden, der andere für Punkte, an denen aussteifende Elemente anschließen.

Energieeffizienz und Industrieästhetik

Auf der einen Seite betritt die kühne Asymmetrie dieses Tragwerktyps architektonisches Neuland, auf der anderen Seite trägt die daraus resultierende Verschattung auch wesentlich zu einer geringeren Umweltbelastung durch das Gebäude bei. Durch den Verzicht auf abgehängte Decken konnten mehr als 500 t Kohlendioxid eingespart werden, weitere 18 t Kohlendioxid entfielen durch die Sichtbetonoberflächen, die keine weitere Beschichtung erforderten. Ein Aquifer-Thermalspeicher mit zwei 160 m tiefen Bohrlöchern unter dem Gebäude übernimmt 60 % der Heiz- und Kühlleistung des Gebäudes.

Berechnungen zufolge übertrifft das Gebäude den Mindeststandard der britischen Bauvorschriften um 25 % und im Vergleich zu »Standardbüroneubauten« hat es einen um 8 % geringeren Kohlendioxidausstoß. Das Projekt erhielt die Zertifikate BREEAM Excellent, LEED Gold und WiredScore Platinum. Mehr als 98 % der Bauabfälle wurden recycelt und granulierte Stahlschlacke ersetzte einen Großteil des ansonsten für den Beton des Gebäudes verwendeten Zements.

Aber dennoch ist das Brunel Building mehr als eine technisch ausgefeilte »Verwaltungsmaschine«. Es hat einen starken architektonischen Charakter: Im Gegensatz zu den meisten großen Bürogebäuden strahlt es sogar Sinn fürs Handwerkliche aus, dafür, dass es zunächst skizziert und gezeichnet wurde und dann mit großer technischer und ästhetischer Sorgfalt gebaut wurde.

Dies lässt sich nicht nur in der Inszenierung des Exoskeletts erfahren, sondern auch in Details wie den orangefarben gestrichenen Manschetten der Wärmedämmelemente an den Verbindungen der Außenkonstruktion mit den die Fassade durchstoßenden Bodenträgern. Orange (eine beim Betrieb des benachbarten Kanals verwendete Standard-Sicherheitswarnfarbe) kam an der Stahlstruktur auch im Bereich des 9 m hohen Eingangs und der Lobby an der Südwestecke zum Einsatz.

Riesige, vollverglaste Hangarschiebetüren öffnen die Lobby und das Restaurant im EG zur Kanalpromenade. Ein weiterer auffälliger gestalterischer Kunstgriff ist die Art und Weise, wie die oberen Winkel des Exoskeletts – einer gezackten Krone gleich – weit über die verglasten Balustraden um die Dachterrassen hinausragen. Alle diese akzentuierten Elemente haben eine passgenaue, geradezu schicke Industrieästhetik.

Die Bauausführung ist in jedem Detaillierungsgrad so herausragend, dass sie dem Äußeren des Gebäudes eine fast schon »hochauflösende« Qualität verleiht, und es ist letztlich eben auch die bemerkenswerte äußere Struktur, die diese Architektur zu einem so einzigartigen Beitrag zu Paddington und zur Londoner Skyline macht. Das Exoskelett des Brunel-Gebäudes ist zweifelsohne das beeindruckendste seit der massiven Corten-Struktur, die der Architekt Eric Parry um das Bürogebäude am Londononer Pancras Square von 2018 »gewickelt« hat.

db, Do., 2021.09.02



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db 2021|09 Ingenieurbaukunst

07. Juni 2021Jay Merrick
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Scheune oder Tempel?

Vieldeutig und rätselhaft präsentiert sich das neue Theatergebäude auf dem Campus des internationalen Schulinternats für Jungen von vier bis 13 Jahren. Das Innere des Holzbaus besticht durch seine gute Akustik und seine anregende Atmosphäre. Selbst wenn man sich an anderen derart privilegierten Bildungseinrichtungen umsehen würde – ein Schultheater auf so hohem Gestaltungsniveau ließe sich wohl nur schwerlich finden.

Vieldeutig und rätselhaft präsentiert sich das neue Theatergebäude auf dem Campus des internationalen Schulinternats für Jungen von vier bis 13 Jahren. Das Innere des Holzbaus besticht durch seine gute Akustik und seine anregende Atmosphäre. Selbst wenn man sich an anderen derart privilegierten Bildungseinrichtungen umsehen würde – ein Schultheater auf so hohem Gestaltungsniveau ließe sich wohl nur schwerlich finden.

Die Beschreibung der Architektur von Gebäuden kann i. d. R. unter mindestens zwei Gesichtspunkten erfolgen: anhand ihres architektonischen Stils und ihrer Funk­tion. Um ein anschauliches Beispiel zu nennen: Am Seagram ­Building von Mies van der Rohe in New York lassen sich Form und Zweck als ­einerseits modernistisch und andrerseits gewerblich ganz unmittelbar wahrnehmen.

Mitunter jedoch sind Funktion und Stilrichtung nur schwer zu fassen. Wie könnte man z. B. bei der Betrachtung des eher stummen, kompakten Äußeren von Adolf Loos’ Villa Müller in Prag auf das verblüffende Gestaltungskonzept des »Raumplan« im Innern schließen? Manch einem Gebäude jedoch verleiht eine solch typologische und stilistische Unbestimmtheit einen starken und ­eigenständigen Charakter. Dies trifft sicherlich auch auf das Theatergebäude der Horris Hill School in Berkshire zu.

Die Architekten von Jonathan Tuckey Design haben mit dem kleinen Bau ein fesselndes architektonisches Rätsel geschaffen. Gebäudeform und Fassaden sind zwar äußerst markant, künden auf dem rund 34 ha großen Schulgelände jedoch nicht auf den ersten Blick von der Nutzung als Theater. Eine hohe Holzkonstruktion vor der Eingangsfassade – wiederum in einem völlig anderen Baustil – verstärkt das Rätselhafte sogar noch.

Teilweise lässt sich die Architektur durch die Umgebung entschlüsseln. Das Theater steht am südlichen Rand des Schulensembles. Hierzu gehören der Backstein-Hauptbau aus dem 19. Jahrhundert und ein Unterrichtsgebäude, die sich beide u. a. durch Fassadenabschnitte mit vorgehängten Keramikschindeln auszeichnen, eine moderne, scheunenartige Turnhalle und ein derzeit ungenutztes Gebäude, das wohl ursprünglich als Stall diente.

Eine Schule wie ein Dorf

Die Horris Hill School ist eine private, internationale und kostenpflichtige ­Tages- sowie Internatsschule für Jungen im Alter von vier bis 13 Jahren. Der Schulleiter Giles Tollit ist Klassischer Philologe und betrachtet seine Schule als kleine Stadt oder als Dorf. Die Ansammlung von Schulbauten verschiedener Epochen lässt sich, durch eine gewisse Überhöhung ihrer klassizistischen ­Elemente, tatsächlich als eine Art Forum Romanum interpretieren. So betrachtet, ist das Theater die »Kultstätte« des vermeintlich antiken Städtchens. Dies zeigt sich v. a. an der Rückseite des Gebäudes, wo die Architekten ein kleines Amphitheater im Freien verwirklicht haben. »Das Theater steht aber nicht ausschließlich der Schule zur Verfügung«, erklärt Giles Tollit. »Es soll vielmehr einer größeren Gemeinschaft von Nutzen sein. Ich möchte, dass dies ein lebendiges, pulsierendes Theater mit bürgerschaftlichem Charakter auch außerhalb des Schulgeschehens ist.«

Jonathan Tuckey konnte sich aus zwei Gründen im Wettbewerb ­gegen ­Architekten, die mehr Erfahrung im Theaterbau besitzen, durchsetzen: Zum einen präsentierte sein Team nach der von der Schule vorgegebenen ­lediglich einwöchigen Frist einen äußerst detaillierten Entwurf, zum andern konzentrierte sich sein Konzept – nach vorausgegangenen Befragungen zahlreicher Mitarbeiter und Schüler – auf die Idee der Civitas.

»Seit vielen Jahren«, so Tuckey, »wird mein Tun davon bestimmt, mit ­Bestandsgebäuden zu arbeiten. In diesem Fall mussten wir zunächst ein halb verfallenes Bestandsgebäude abreißen, um das neue Theater zu errichten. ­Dabei ging es uns nicht um bestimmte stilistische Ansätze, wir waren vielmehr daran interessiert, die benachbarten Gebäude nicht zu verschrecken und den Neubau so einzupassen, dass die bisherige Anmutung des Schul­areals erhalten bleibt.«

Den Theaterbau prägen nur wenige Materialien: Ein Betonsockel steigt dem geneigten Gelände folgend zum nördlichen Ende des Gebäudes an und entwickelt sich dort zu einem Band einer »stranggepresst« anmutenden Sitzbank. Die tragende Konstruktion besteht aus Lärchen-Schichtbrettholz. Die Fassaden sind mit zementgebundenen Holzfaser-Paneelen bekleidet, dem gleichen Material, das im Innern als Bodenbelag Verwendung findet. Während der ­Bodenbelag schiefergrau ist, zeigt sich die Fassade in einem rötlichen Farbton und reiht sich so in den Reigen der mit rötlichen Keramikschindeln beklei­deten Schulgebäude ein.

Am Modell erprobt

Der kleine Theaterbau hat zwar ein flaches Satteldach, das an eine Scheune oder einen antiken Tempel erinnert, mehrere weitere Merkmale sprechen ­jedoch gegen diese möglichen konzeptionellen Vorbilder. Dies sind sowohl die zweigeschossige Holzrahmenkonstruktion auf dem kleinen öffentlichen Platz vor dem Gebäude, die Veranstaltungsbanner aufnehmen kann, als auch die der Nord- und Ostfassade eingeschossig vorgelagerten Volumina des ­Foyers und der überdachten Kolonnade.

Das Äußere und das Innere des Theaters zeigen sich sehr unterschiedlich, v. a. in der Art und Weise, wie Strukturen und Oberflächen gestaltet sind. So wirken die Außenansichten wie lavierte Federzeichnungen, gerade so, als ob die präzise gezeichneten Umrisse, Fugen und Details mit Aquarellfarbe in Terrakotta ungleichmäßig koloriert worden wären. Das Innere des Theaters mit seiner freigelegten Brettschichtholz-Konstruktion und einfachen Holz­lattungen hingegen wirkt »neo-mittelalterlich«. An der Ostseite weitet sich das mit Buche bekleidete Foyer und schiebt sich eingeschossig in die ­Zuschauerränge des Theatersaals hinein, um dort als Sockel einer mit Holz­balustraden versehenen Empore zu dienen. Die Brettschichtholz-Paneele der ­Wände im Theatersaal tragen ein sehr plastisches orthogonales Relief, das sich aus Kanthölzern und aus auf Abstand gelatteten Feldern zusammensetzt. Von der Decke oberhalb der übergroß wirkenden Fenster aus Holz – zur besseren Haltbarkeit acetyliert – sind gewölbte akustische Segel aus Sperrholz ab­gehängt. Der starke räumliche Charakter und die daraus resultierende ­Atmosphäre des Theatersaals sieht Jonathan Tuckey als Gegenentwurf zu den »simplen, trägen Gebäuden«, die üblicherweise aus Brettsperrholz errichtet werden. »Ich wollte, dass auch die kindlichen Nutzer sehen können, wie dieses Gebäude entstanden ist.«

Die hölzernen Sitzbänke sind den geschwungenen Füßen der Hörsaalbestuhlung von Charles Rennie Mackintosh an der Glasgow School of Art nachempfunden. Um sie für letztlich weniger als 5 000 Euro realisieren zu können, ­entwickelten die Architekten auf Grundlage von Modellreihen eigens ein Schneide- und Fertigungssystem. Auch der sonstige Entwurfsprozess des Theaters erfolgte mit Hilfe vielfältiger Modelle: Gelände- und Volumen­modelle (M 1:200), Modelle der Gebäudehülle und des Innenraums (M 1:25) und ganze Architekturfragmente (M 1:10). Diese äußerst detaillierte Arbeit an Modellen, bei der die architektonischen Qualitäten von Licht, Schatten, Maßstab und Oberflächentexturen erforscht werden, ist ein ganz wesentlicher Teil des Entwurfsprozesses von Tuckey.

Mehrdeutig und präzise zugleich

Um eine gute Luftzirkulation zu ermöglichen, sind einige Wandpaneele des Theatersaals vor Lüftungsklappen perforiert, andere wiederum sind zur Verbesserung der Akustik gepolstert. In vier Bankblöcken steigen die Sitzreihen an einem versetzt geführten Mittelgang an. Der Technikraum im hinteren Teil der ­Zuschauerränge ist nicht mittig angeordnet. Diese Asymmetrien erweisen sich als vorteilhaft, da die daraus resultierenden ­unterschiedlich großen Sitzblöcke je nach Art der Aufführung verschiedene Zuschauerkonstellationen erlauben. Diese Anordnung, die angenehme Raumatmosphäre und die klare Akustik konnten auch am Tag der Projektbesichtigung überzeugen, an dem ein Dutzend Schüler den Raum bei einer Theaterprobe belebten.

Funktional ist das Theater der Horris Hill School zweifellos gelungen. Noch beeindruckender ist jedoch sein architektonischer Ausdruck. Insbesondere die Außenhülle erzeugt Mehrdeutigkeiten, die weit über die bloße Funktionalität hinausgehen: Das »Erröten« der Fassadenpaneele, die plastischen Lüftungslamellen und die leicht ausgestellten »Hauben« oberhalb der Türen, das Schimmern der überdimensionalen Metallfallrohre und eleganten Dachrinnenhalterungen, die vortretenden Latten und Fensterrahmen, die großen, ­bewusst weit überstehenden Abdeckschrauben an den Paneelen – all das wirkt äußerst entschieden und präzise. Lassen diese Merkmale auf einen ­Gebäudetypus schließen? Nicht unbedingt auf ein Theater.

Tuckey spricht ganz bescheiden von einem »dekorierten Schuppen, einem ­Gebäude im Hintergrund«. Was den Bau jedoch außergewöhnlich und spannend macht, ist, dass er zugleich auch als Hauptakteur erlebt wird, und dabei sowohl brutalistisch als auch palladianisch wirkt, aber nicht auf eine befremdliche oder architektonisch unangenehme Weise. So lässt sich das Theater der ­Horris Hill School problemlos dem Kanon gelungener typologischer Mehrdeutigkeiten hinzufügen, zu dem auch Herzog & de Meurons Ricola-Lager­gebäude in Laufen sowie Frank Gehrys Merrifield Hall und Turm auf dem Campus der Loyola Law School in Los Angeles gehören.

[Aus dem Englischen von Martin Höchst]

db, Mo., 2021.06.07



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db 2021|06 Bauen für Kinder

04. September 2020Jay Merrick
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Im Austausch

Flechtwerke aus horizontalen und vertikalen Elementen, zueinander versetzt angeordnet, sind ein Markenzeichen der Architektur des Dubliner Büros Grafton Architects. Am neuen Lerngebäude der Universität Kingston-upon-Thames haben sie Balkone, Treppen und Bepflanzung in ein umlaufendes Betongerüst eingehängt, die zusammen mit den Bewegungen seiner Nutzer eine flirrende Collage im Dialog mit der Stadt bilden.

Flechtwerke aus horizontalen und vertikalen Elementen, zueinander versetzt angeordnet, sind ein Markenzeichen der Architektur des Dubliner Büros Grafton Architects. Am neuen Lerngebäude der Universität Kingston-upon-Thames haben sie Balkone, Treppen und Bepflanzung in ein umlaufendes Betongerüst eingehängt, die zusammen mit den Bewegungen seiner Nutzer eine flirrende Collage im Dialog mit der Stadt bilden.

Als die Architektinnen des neuen Hochschulgebäudes der Kingston University in London, die diesjährigen Pritzker-Preis-Trägerinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell von Grafton Architects, 2018 die Architekturbiennale Venedig kuratierten, wählten sie das Motto FREESPACE. In ihrem Programm betonten sie die »Fähigkeit der Architektur, (ganz ohne Zusatzkosten) mehr zu sein als Raum und Funktion und selbst unausgesprochene Nutzerwünsche bereits vorab zu berücksichtigen (…) Wir möchten über das rein Visuelle hinausgehen und der Architektur in der Choreografie des Alltags eine herausgehobene Rolle zuweisen.«

In umfassender Ausprägung lässt sich die Haltung der Architektinnen erstmals an gleich drei ihrer im Jahr 2015 fertiggestellten Gebäude ablesen: das Institut Mines-Télécom in Paris-Saclay, die Toulouse School of Economics und das spektakuläre, einer Klippe ähnelnde neobrutalistische Universitätsgebäude der University of Engineering and Technology (UTEC) in der peruanischen Hauptstadt Lima (s. auch db 4/2020, S. 6). Deren äußerer Ausdruck wird jeweils vom kraftvoll ausformulierten Tragwerk sowie von Treppenläufen, Terrassen und Balkonen bestimmt.

Diese Elemente finden sich auch in der Gestaltung des 2019 fertiggestellten »Town House« in London wieder. Den Auftrag dafür erhielten Grafton Architects über einen Wettbewerb, bei dem sie sich gegen bekannte Namen wie O’Donnell + Tuomey und Feilden Clegg Bradley Studios durchsetzen konnten. McNamara und Farrell verstehen ihren Entwurf als »direkte Reaktion auf den Wunsch der Universität, Offenheit und Interaktion zu fördern und eine enge Verbindung sowohl zur Studentenschaft als auch zu den Bewohnern von Kingston aufzubauen. Die Aufgabe, eine ›offene Universität‹ im Wortsinn zu bauen – mit vielfältigen Angeboten von Performance über ›entdeckendes Lernen und Lehren‹ bis hin zu stiller (Bibliotheks-) Recherche –, führte uns zur Idee einer dreidimensionalen offenen Matrix aus interagierenden Volumen. Zur Straße hin haben wir das Gebäude mit einer belebten, offenen Seite in Form einer Kolonnade ausgestattet, außerdem gegeneinander versetzte Terrassen und Gärten in der Höhe gestaffelt angeordnet und den ebenfalls neu gestalteten öffentlichen Raum an der Penrhyn Road quer durch das Gebäude geführt.«

Das 9.100 m² Geschossfläche umfassende Town House ist in architektonischer Hinsicht weniger dramatisch als Graftons Universitätsbauten in Frankreich und Peru, doch dafür hat es eine unmittelbarere Beziehung zu seiner Umgebung: Die dem eigentlichen Gebäude vorgelagerte, sowohl klassisch als auch klassisch-modern anmutende Betonstruktur mit ihren Treppen und Balkonen offenbart die Bewegungen der Studenten an der nach Westen weisenden Hauptfront ebenso wie an den Fassaden im Süden und Norden.

Mitten im städtischen Leben

Das Town House liegt auf der östlichen Seite der Penrhyn Road, die aus dem Zentrum von Kingston-upon-Thames nach Süden führt. Eine breite und viel befahrene Straße, flankiert von Bürgersteigen und alten Bäumen. Letztere mildern zumindest visuell die Unruhe, die der Verkehr verursacht. An der nordwestlichen Gebäudeecke geht eine schmale Straße, Grove Crescent, von der Hauptstraße ab und verläuft in einem Bogen entlang der Rückseite des Town House, dann weiter durch einen Teil des Campus der Kingston University. An der Hauptstraße liegt dem Town House das Verwaltungszentrum der Grafschaft Surrey gegenüber, ein großes neobarockes Gebäude von 1893, und etwas weiter die Straße hinauf das ebenso massige Gerichtsgebäude von 1979. Damit steht der Hauptfassade des neuen Lerngebäudes eine sehr städtische Szenerie gegenüber, während die Rückseite auf niedrige Wohnbauten trifft.

Von Norden gesehen überragt das sechsgeschossige Gebäude die alten Bäume auf beiden Seiten der Penrhyn Road. Diese Bäume bilden im Zusammenhang mit dem Freiraumkonzept, das Grafton Architects für die Vorderseite des Town House entwickelten, eine sowohl perspektivisch wirksame als auch raumbildende Synergie zwischen der Straße und dem Gebäude. Wichtigster ­Bestandteil des Außenraumkonzepts ist die Reihe von zehn neu gepflanzten Bäumen, die sich entlang der Gebäudefront und über einen Teil des benach­barten universitären Muybridge Building erstreckt: Sie bildet eine zweite, eine grüne Kolonnade, die der 4,2 m tiefen steinernen Kolonnade des Town House vorgelagert ist. Der Raum, der dazwischen entsteht, ist erfreulich uneindeutig – ein »freier Raum«, der bereits außerhalb des Gebäudes Graftons Entwurfskonzept offenbart: nämlich ein »offenes räumliches System« zu schaffen, das soziale Interaktion sowohl im Gebäude selbst als auch um sich herum fördert. Die Kolonnade auf der Westseite ist zudem als moderner Portikus konzipiert – als »Eingangstür« über die gesamte Breite der Fassade, an der sich das akademische Leben mit dem städtischen Alltag verbindet.

Alles andere als ein banales Raster

Dass sich die Treppen und Balkone auf drei Seiten durch die außen liegenden Träger und Stützen emporfädeln, verstärkt diese Intention. Das Tragwerk besteht aus bewehrtem Ort-Stahlbeton, dazu kommen Ziegelmauerwerk, Fensterprofile aus Aluminium sowie Betonfertigteile für die Balkonplatten und Treppenläufe. Die Ortbetonkonstruktion hat eine leicht raue Oberfläche, die an Portland-Sandstein erinnert und damit auf die Fassade des historistischen Verwaltungsbaus verweist. Die Ausbildung der Kolonnade verhilft der Fassade zu einer in mehreren Ebenen gestaffelten Tiefe, die von den Studenten zum Ausruhen, als Wandelgang und als Arbeitsplatz im Freien genutzt wird. Die Außenräume geben zudem bereits einen Vorgeschmack auf die Räume und die Erschließung im Innern. Beim Betreten des Town House öffnet sich ein vier Geschosse hohes Atrium mit Emporen und sechs Treppenläufen, deren Gestaltung die ihrer Pendants im Außenbereich aufnimmt.

Im Bereich des Haupteingangs verschwimmt zudem die Grenze zwischen Drinnen und Draußen, Öffentlich und Universitär auf angenehme Weise.

Die Geschossflächen innerhalb des Gebäudes sind zur Hälfte offen konzipiert. Wie schon zuvor haben Grafton eine Collage aus ineinandergreifenden ein- und zweigeschossigen Volumina geschaffen, die weniger rein horizontale, sondern vielmehr »geknickte« Blickbeziehungen eröffnen. Die asymmetrische Anordnung der Treppen und Balkone greift zudem die Verschie­bungen und Überschneidungen in den Grundrissen auf. Das wiederum zeigt sich auch in den Fassaden, besonders gelungen auf der West- und Südseite: Stützen und Träger sind in Höhe und Abstand bewusst unregelmäßig angeordnet, was einem zu massigen Ausdruck des Town House entgegenwirkt. Das Rahmenwerk der Hauptfassade etwa ist in drei Stützengruppen aufgeteilt, von denen jede eine andere Gesamthöhe hat. Die horizontalen Balken liegen ebenfalls auf unterschiedlichen Höhen, sodass die gesamte Konstruktion alles andere als ein banales Gitter geworden ist.

Wie handgefertigt

Einige der Details sind so wichtig wie wirkungsvoll, beispielsweise dass die Stützen des Betonrahmens vor der Hauptfassade in leicht nach vorn versetzten Abschnitten in die Höhe wachsen. Auch deren Abmessungen variieren: Jene Stützen, die die Kolonnade auf Straßenniveau bilden, sind 1,1 m tief, die darüber messen 80 cm, und die oberste Stützenreihe ist nur noch 60 cm tief. Dieses Variieren der Bauteile verleiht dem Rahmen gemeinsam mit den sichtbaren Fugen zwischen den Ortbeton-Stützen und -Trägern einen sorgfältig ausformulierten, fast schon handgefertigten Ausdruck. Auf der Südseite liegt im 5. OG ein offener, begehbarer Garten, außen liegende Treppen verbinden einige der Balkone. Drei Balkone umfassen außerdem die Ecken des Gebäudes auf unterschiedlichen Höhen. Höhenversprünge und Verbindungen übereck werden durch Begrünung in Form von horizontalen Pflanzkästen und aufgehenden Rankdrähten zusätzlich betont.

Interessanterweise ist die Wirkung all dieser Balkone, Treppen und Betonbauteile insgesamt eher ungreifbar. Auf den ersten Blick wirkt das vorgestellte Betongerüst monumental und fast schon überwältigend, während die Ziegelfassaden kaum ins Gewicht fallen. Doch wenn man um das Gebäude herumgeht, während im Hintergrund der Verkehr rollt, wird die Funktion der ­Kolonnaden für den öffentlichen Raum und die Stadt immer deutlicher: Als Ganzes betrachtet entwickelt sich ein architektonisches Bild, das für das Gemeinschaftliche statt für Abgrenzung steht. In letzter Konsequenz vermitteln die Balkone und Treppenanlagen eine ganz simple Idee: nämlich dass man sieht, dass das Town House »belebt« ist, drinnen wie draußen. So können die Studierenden und Lehrenden in die Bäume, auf den Verkehr und die Passanten der Penrhyn Road blicken. Im Gegenzug werden sie auch von Autofahrern und Fußgängern gesehen. Was also auch immer die Studenten denken oder sagen, sie tun es in der Öffentlichkeit – und das ist ­keineswegs nur eine Geste oder ein übergestülpter Teil der Entwurfsidee.

Blickt man die Westfassade empor, fällt einem ein Satz aus der Broschüre über den legendären »Fun Palace« von Cedric Price und Joan Littlewood aus dem Jahr 1964 ein, eine flexible Konstruktion, in die man immer neu programmierbare Räume hätte einsetzen sollen: »Keine Türen, keine Lobbys, Rezeptionen und kein Schlangestehen: Es liegt an dir, wie du den Raum nutzt (…) Willst du einen Aufstand beginnen oder lieber ein Gemälde – oder dich einfach hinlegen und in den Himmel schauen?« Nach Monaten des Covid-19-Lockdowns und immer neuer Vorschriften wirken die Treppen und Balkone des Town House weniger wie Architektur l’art pour l’art, sondern vielmehr wie ein idealer Rahmen für ein ganz normales Leben.

db, Fr., 2020.09.04



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db 2020|09 Balkone und Loggien

08. Januar 2019Jay Merrick
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Bühne zwischen den Bühnen

Der weltgrößte Komplex für Darstellende Kunst in der zweitgrößten Stadt Taiwans umfasst vier Auf­führungsstätten auf höchstem bühnentechnischen und akustischen Niveau. Das hervorstechendste Merkmal des Bauwerks ist allerdings der überdachte Außenraum zwischen Oper, Theater, Konzertsaal und Kammermusiksaal, die »Banyan Plaza«.

Der weltgrößte Komplex für Darstellende Kunst in der zweitgrößten Stadt Taiwans umfasst vier Auf­führungsstätten auf höchstem bühnentechnischen und akustischen Niveau. Das hervorstechendste Merkmal des Bauwerks ist allerdings der überdachte Außenraum zwischen Oper, Theater, Konzertsaal und Kammermusiksaal, die »Banyan Plaza«.

Das vor Ort als »Weiwuying« bekannte Center ist 225 m lang, 160 m breit und umfasst eine Fläche von 3,3 ha – mehr als die Fläche des größten je gebauten Supertankers, die 500 000 t fassende »Seawise Giant«. Oper, Theater, Konzertsaal und Kammermusiksaal ruhen zusammen mit der sie verbindenden gigantischen Stahlkonstruktion des Dachs auf einem bis zu fünf Geschosse in die Tiefe reichenden, hochwassersicheren Sockel. In ihm sind Parkebenen, Technikräume und ein riesiger Bereich für die Bühnentechnik der Oper untergebracht.

Der überdachte Freiraum zwischen den vier Aufführungsstätten, die sogenannte Banyan Plaza, zeigt sich als System ineinander übergehender Gewölbe, die eine 17446 m² große »Grotte« formen. Gestaltung und Konstruktion dieses außergewöhnlichen Elements machten den Einsatz sowohl einer parametrischen Modellierung als auch die Übertragung von Fachwissen aus dem Schiffsbau erforderlich.

Die Gebäude für Darstellende Kunst, die die Architekten von Mecanoo aus Delft bisher entworfen haben – wie etwa »Llotja«, eine Kombination aus Theater und Konferenzzentrum im spanischen Lleida – hatten jeweils übliche Größen. Der mehrere Hektar große Fußabdruck des »Weiwuying« jedoch machte es den Architekten diesmal unmöglich, den Entwurf anhand physischer Modelle auszuarbeiten. Nur zwei Elemente wurden als Modelle in großem Maßstab gefertigt: eins der gebogenen Stahlpaneele, die auf den Boden der Banyan Plaza treffen in Originalgröße und der Zuhörerraum im Konzertsaal im Maßstab 1:100.

Nach außen lässt sich die Typologie des Gebäudes nicht eindeutig zuordnen: Es gibt nichts, was zweifelsfrei darauf hinweisen würde, dass es sich um einen Kulturbau handelt. So könnte die glatte, in der Draufsicht rechteckige Großform auch für die Konzernzentrale eines internationalen Unternehmens stehen.

Unter Bäumen

Etwa die Hälfte der Grundfläche des Kulturkomplexes wird von der Banyan Plaza beansprucht. Ihr Bodenniveau variiert über mehr als ein Geschoss, was es erlaubt, sie übergangslos an den benachbarten 65 ha großen Weiwuying Metropolitan Park anzuschließen. Von Beginn an war es ein wichtiger Aspekt des Entwurfs, die Umgebung bestmöglich mit einzubeziehen. Mit der Fertigstellung des Gebäudes wurden auch die Arbeiten am Park, in dem zuvor einige Militärbaracken und Lagerhäuser standen, abgeschlossen. Zuvor lag das Areal über viele Jahre brach, bis Bürgerinitiativen die Stadtverwaltung zu ­seiner Umgestaltung drängten. 2010 erklärte sich die Verwaltung schließlich bereit, dort einen naturnahen Park anzulegen – also erst drei Jahre nachdem Mecanoo den Wettbewerb für den Kulturkomplex gewonnen hatten.

Das Gebäude ist das deutlichste Symbol für die Entschlossenheit der Stadt, das Image von Kaohsiung zu verändern: von Taiwans wichtigstem Schwerindustrie-Standort mit hoher Luftverschmutzung hin zu einer Stadt, die zunehmend von Hightech geprägt ist, und darüber hinaus auch in den Bereichen Umwelt und Kultur etwas zu bieten hat. Seit den frühen 90er Jahren sind in der Stadt 22 km S-Bahn-Gleise und 755 km Fahrradwege entstanden. In der Metropolregion mit 2,7 Mio. Einwohnern und – diese erstaunliche Zahl nennt die Regierung – 2,2 Mio. motorisierten Zweirädern sollen die Treibhausgase bis 2020 »substanziell« reduziert werden.

Wovon die Gestaltung des Weiwuying inspiriert ist, erklärt Francine Houben, Gründungspartnerin und Creative Director von Mecanoo: »Als ich das erste Mal hierher kam, sah ich auf dem Areal bellende Hunde, leere Militärbaracken – und Banyan-Feigen. Unter diesen Bäumen fängt sich der Wind vom Meer. Unser Traum war es, dass die Banyan Plaza die Stimmung des Parks auf informelle Weise fortführt. Das Ungeordnete sollte sich mit dem Formalen verbinden. Denn sobald es dunkel wird, findet hier das Leben auf der Straße statt, mit vielen beiläufigen Darbietungen.«

Francine Houben beschreibt die Plaza als Kaohsiungs »futuristische Lounge«, eine sich durch das Gebäudes schlängelnde Promenade, die – wie die verzweigt wachsenden Banyan-Bäume – die Besucher vor dem tropischen Regen schützt und doch jede noch so kleine Brise Wind einfängt. Mit ausgeklügelten Licht- und Soundsystemen ausgestattet, kann die Plaza auch nach Einbruch der Dunkelheit auf vielfältige Weise genutzt werden.

Was die eigentlichen Funktionen des Weiwuying betrifft, so umfasst es eine Oper mit 2 260 Sitzen, einen Konzertsaal mit 2 000 Plätzen, ein Schauspielhaus für bis zu 1 245 Personen, ein Kammermusiksaal und ein offenes Amphitheater, das in die Südseite des Gebäudes eingelassen ist, wo sich das Dach bis auf das Geländeniveau des Parks absenkt.

Die vier Zuschauersäle – entworfen in Zusammenarbeit mit dem bedeutenden, in Paris ansässigen chinesischen Akustiker Albert Yaying Xu – erheben sich als »Bubbles« aus dem Sockelgeschoss, steigen entlang der Plaza weiter empor und wirken wie aufgereihte, asymmetrischer Schiffsrümpfe, sowohl vom Aussehen als auch von der Haptik her. Das bewegte aluminiumbekleidete Dach, das wegen des laut trommelnden Monsunregens dick gedämmt ist, resultiert aus der Höhe der drei größeren Auditorien. Sie sind, was Grund- und Aufrisse betreffen recht unspektakulär. In Hinsicht auf Größe und Technik allerdings haben Oper und Schauspielhaus Weltklasse. Der Konzertsaal als wohlbekannter »Weinberg« in post-Scharoun’scher Manier glänzt immerhin mit einer wunderschönen, eng gerippten Struktur an der Akustikdecke. Die Gestaltung des Kammermusiksaals ist so naheliegend wie gewitzt: Die Empore der oberen Ränge, deren Brüstung den Umriss eines Flügeldeckels nachzeichnet, fällt auf der rechten Seite steil ab, sodass ein Maximum an Zuhörern die Musiker, die stets auf der linken Seite der Bühne sitzen, auch sehen kann.

Aus dem Schiffsbau

Als Francine Houben vom Wettbewerbsgewinn ihres Büros erfuhr, dachte sie spontan: »Okay! Doch wie sollen wir das machen? Wir hatten keine Ahnung, wie wir die Banyan Plaza Wirklichkeit werden lassen sollten.« Das Büro setzte sich mit der Groninger Werft Centraalstaal in Verbindung. Deren Analyse des Entwurfskonzepts bestätigte, dass sich das angedachte Tragwerk auch realisieren ließ. Der technische Leiter von Mecanoo, Friso van der Steen, war sich zwar sicher, dass für die Umsetzung des Projekts eine Herangehensweise wie im Schiffsbau erforderlich sei, doch »es war ein hartes Stück Arbeit, andere am Bau Beteiligte davon zu überzeugen«.

Die Fachleute der Werft Ching Fu in Kaohsiung, die eng mit Groningen zusammenarbeiteten, lieferten das Wissen darüber, dass sich die übergangslos fließende Wand- und Deckenbekleidung der Plaza mit 8 mm dicken Stahlplatten, alle mit unterschiedlichen Formaten und Krümmungen, bauen ließ. Die Platten sind über Stahlstäbe mit der ebenfalls stählernen Tragstruktur verbunden, sodass sie sich während der in Taiwan so häufigen Erderschütterungen verformen können. Die Platten wurden eher »lässig« miteinander verschweißt, um die übliche Ungenauigkeit der Fugen an Schiffsrümpfen nachzuahmen.

Das gesamte Gebäude stellt zwar eine beeindruckende bauliche Leistung dar, der einzige besonders hervorzuhebende Teil seiner Architektur ist jedoch die Banyan Plaza. Die Plaza zeichnet sich durch einmalige visuelle und atmosphärische – ein wenig mysteriöse – Qualitäten aus; sie zeigt sich als demokratischer, mit der Umwelt verbundener Bereich, der keine Raumhierarchien und Bewegungsrichtungen vermittelt. Eine Bemerkung von Louis Kahn könnte kaum besser als mit der Banyan Plaza illustriert werden: »Ein großartiges Gebäude muss mit Unermesslichkeit beginnen, durch messbare Mittel gestaltet werden und darf letztlich nie gemäßigt sein.«

Dasselbe gilt für viele der inneren Erschließungs- und Foyerräume des Komplexes. Allerdings ist die Holzbekleidung in diesen ansonsten weiß gehaltenen Bereichen schwarz gestrichen, wodurch ein starker Kontrast entsteht, der den Eindruck des fließenden Raums abschwächt. Das Schwarz, das die Architekten ursprünglich vorgesehen hatten, sollte zwar noch einer anderen Farbgebung weichen, doch der Bauherr bestand auf dieser ersten Version. Doch dieser Umstand beeinträchtigt den Gesamteindruck der fantasievollen Architektur nicht übermäßig. Und so lässt sich abschließend feststellen, dass mit dem National Kaohsiung Center for the Arts eine Spielstätte mit Weltrang entstanden ist – sowohl funktional als auch architektonisch.

db, Di., 2019.01.08



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05. November 2018Jay Merrick
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Gang zur Ewigkeit

Der jüdische Begräbnisritus verlangt nach einer prozessionshaften Abfolge räumlicher Situationen. Im Grüngürtel der britischen Hauptstadt ließ sich ein raumgreifendes Programm mit überdachten Wandelgängen und einzelnen Gebäuden für Zusammenkunft, Gebet und Technik realisieren. Die archaisch anmutenden Formen aus zementgebundenem Stampflehm sind im Gegensatz zu den Gräbern durchaus nicht für die Ewigkeit gedacht; die Zeitlichkeit alles Seins ist im Entwurfsgedanken enthalten, der Rückbau bereits einkalkuliert.

Der jüdische Begräbnisritus verlangt nach einer prozessionshaften Abfolge räumlicher Situationen. Im Grüngürtel der britischen Hauptstadt ließ sich ein raumgreifendes Programm mit überdachten Wandelgängen und einzelnen Gebäuden für Zusammenkunft, Gebet und Technik realisieren. Die archaisch anmutenden Formen aus zementgebundenem Stampflehm sind im Gegensatz zu den Gräbern durchaus nicht für die Ewigkeit gedacht; die Zeitlichkeit alles Seins ist im Entwurfsgedanken enthalten, der Rückbau bereits einkalkuliert.

Der stärkste Eindruck, der sich bei der Annäherungen an die neuen Gebäude auf dem New Jewish Cemetery in der kleinen Schlafstadt nordwestlich von London ergibt, ist jener extremer Einfachheit in Form und Material, gestützt durch das Fehlen aufdringlicher Details. Doch ist es genau diese gestalterische Zurückhaltung, insbesondere die schmucklose körperliche Präsenz, die das Projekt so bemerkenswert macht.

Auch die Verhandlungen zwischen den Architekten und dem Bauherrn »United Synagogue«, einer Vereinigung orthodoxer Synagogen in Großbritannien, verliefen ungewöhnlich. Die Architekten hatten es nicht mit einem einzelnen Repräsentanten des Bauherrn zu tun, nicht einmal nur mit einem Ausschuss: Bei Gestaltungsfragen waren stets mehrere Gruppen beteiligt; jedes Entwurfsdetail wurde mehrfachen, voneinander unabhängigen Begutachtungen unterzogen.

Dass es sich bei diesem bescheiden auftretenden Arrangement aus Gebäuden und Landschaftsgestaltung um Friedhofsbauten handelt, ist nicht offensichtlich. Sie entsprechen keiner Typologie, und sie sind außerdem nur auf Zeit gebaut: Wenn die 17.000 neuen Grabstellen südöstlich des angestammten Friedhofsgeländes belegt sind, wird es hier keine Bestattungen mehr geben, denn die Gräber bleiben bestehen. Stattdessen werden die Gebets- und die Aufbahrungshalle obsolet. Dies ist einer der Gründe, weshalb Andrew Waugh, Mitbegründer des Büros Waugh Thistleton Architects, entschied, die Gebetshallen aus verstärktem Stampflehm (mit Ton- und Zementanteilen) zu errichten. Alle Gebäude, auch die Stützen aus Lärchen-Leimholz, die die begleitenden Kolonnaden entlang einer Nord-Süd-Achse bilden, sind – in der Theorie – biologisch abbaubar; ein möglicher Zustand als Ruine ist mit hinein gedacht, die Formel »Erde zu Erde« liegt nicht fern. Tatsächlich sind die zementverstärkten Wände aber sehr dauerhaft, und so wird man am Ende der Nutzungsdauer zunächst die Dächer aus Brettschichtholzträgern samt PIR-Dämmung und Zinkeindeckung separat rückbauen müssen.

Jenseits gewohnter Pfade

»Wir hatten nie zuvor ein Gebäude außerhalb einer Stadt gebaut«, erklärt Andrew Waugh. »Immer hatte sich alles darum gedreht, das Baufenster einzuhalten und dabei alle Räume mit ausreichend Licht zu versorgen. Von daher war es eine neue Erfahrung, an einem regnerischen Tag hier inmitten von Kohlfeldern zu stehen.« Eine der ersten Entscheidungen war, die Gebäude an der tiefst liegenden Ecke des Geländes zu platzieren, um ihre Präsenz zu minimieren. Die Grabfelder werden durch einen Weg erschlossen, der die zentrale Achse des alten Friedhofs fortsetzt.

Auch der Einsatz von Stampflehm war neu für Waugh Thistleton. Doch das Büro zeichnet sich u. a. durch seinen starken Hang zur Vorreiterschaft aus. Beispielsweise war es das erste in Großbritannien, das große Projekte in furniertem Brettschichtholz ausführte (Gelegenheit zu einem Werkvortrag von Andrew Waugh gibt es auf der Fachtagung Holzbau am 7. November in Stuttgart). Der Versuch, den österreichischen Stampflehm-Spezialisten Martin Rauch (s. u. a. Hort Allenmoos in Zürich db 12/2013) zu kontaktieren, scheiterte zwar, doch machten die Tragwerksplaner Elliot Wood ein australisches Fachunternehmen mit einem auf der Insel ansässigen Partner, Bill Swaney, ausfindig, der eine Musterwand aus 500 mm dicken Stampflehmblöcken errichtete, die aus Sand, Kalkstein, Kies und 5 % Zement sowie Ton bestehen. Dieser stammt aus eigens angelegten Gruben und Tümpeln an den beiden tiefstgelegenen und feuchtesten Stellen des Baugrundstücks. Swaney und sein kleines Team hausten dort in Wohnwagen, die neben dem Schiffscontainer mit stählernen Schaltafeln standen, und stellten in zehn Wochen die Stampflehm-Konstruktion fertig.

Form und Grundriss der Friedhofsgebäude nehmen klaren Bezug auf die Kapellen und das Krematorium von Erik Gunnar Asplund und Sigurd Lewerentz auf dem Waldfriedhof in Farsta bei Stockholm. Anders als dort sind die Bauten in Bushey jedoch keine Etüde in architektonischer Raffinesse. Die Lehmwände der Kapelle strahlen eine poetisch uneindeutige Monumentalität aus, und ihre Erscheinung ist so unspektakulär wie die koscheren Särge aus Hartfaserplatten mit Tragegriffen aus Hanf, die bei jüdischen Begräbnissen meistens zum Einsatz kommen (in Israel werden die Toten vor der Bestattung lediglich in Tallitot, Gebetsmäntel, gehüllt).

Die Art und Weise, wie eine Beerdigung abläuft, definierte die Grundrisse, und die Anordnung der Gebäude – nämlich linear. Abgesehen vom Empfangsgebäude, das aus Rücksicht auf eine sehr alte Eiche aus der Achse heraus­gedreht wurde, ist der Ausrichtung der Hallen und der Wandelgänge bereits etwas Prozessionshaftes eigen, von der Ankunft bis zur Beisetzung. Es entstehen erinnerliche, aber nicht überdramatische Stimmungen für die Trauerriten in den Gebetshallen und in den offenen Versammlungsbereichen.

Trauergesellschaft trifft im Südosten auf dem Parkplatz ein und sammelt sich unter der Kolonnade vor dem hölzernen Empfangsgebäude, um der Stützenreihe dann entlang der Fassaden der Gebetshallen zu folgen.

Der Säulengang darf die Trauerhallen nicht berühren, genauso wenig wie die kleinen Räume neben den Hallen für die Kohanim, die Priester, denn der jüdische ­Begräbnisritus verbietet den Kontakt zwischen weltlichen und spirituellen Bereichen. So darf sich auch der Kohen nicht im selben Raum wie ein Sarg mit Leichnam aufhalten und leitet daher die Feier von außen, von einem Platz aus, der sich etwa 1 m vor den östlichen Türen der Trauerhalle unter einer separaten Dachkonstruktion aus Corten befindet.

Durch massige Corten-Tore betreten die Gäste die Halle von Westen her, um hier zu beten und zu trauern, und verlassen sie anschließend durch ebenso großformatige Tore auf der Ostseite. Der trapezförmige Grundriss der beiden Gebäude enthält jeweils eine von der Geraden abweichende Fassade; diese liegen sich gegenüber und bilden einen offenen Platz, auf dem die Nachrufe gehalten werden, bevor die Gruppe dem Sarg zum Grab hin folgt.

Das Corten stellt einen reichhaltigen visuellen und haptischen Kontrast zu den Stampflehmblöcken her, deren Oberflächen sehr uneben sind und unregelmäßige Färbungen zeigen. Die unbehandelten Oberflächen sind von den Spannlöchern und groben Schalungsfugen strukturiert; die Farben und Texturen ändern sich je nach Lichteinfall. Die handgefertigte Anmutung ist angemessen – deutet sie doch auf jene Erdklumpen voraus, die nach jüdischer Tradition von den Begräbnisteilnehmern auf die Särge geworfen werden.

Transitionsraum

Die Zurückhaltung der Architektur wirkt v. a. in der Atmosphäre und Materialität der Gebetsräume. Insbesondere die Art und Weise, wie Licht und Schatten auf die Lehmwände fallen, schafft eine beruhigende Stimmung genau dort, wo die Trauernden ihren Gefühlen expressiv Ausdruck verleihen.

Eine Zweiteilung symbolisiert auch hier den Aspekt des Voranschreitens und das transitive Moment des Ritus: Von einem liegenden Fenster über dem Eingang aus streift Licht entlang der geneigten Dachfläche weiter in den mit ­Eichenlatten ausgeschlagenen vorderen Raumteil, der für das Hier und Jetzt steht. Gleichsam von hinten, aus zunächst unsichtbarer Quelle, erhellt ein weiteres Fenster von Westen her den überhöhten hinteren Teil der Halle, der die Stampflehmstruktur zeigt und damit auf die letzte Ruhe in der Erde ­vorausweist. Je nach Witterung und Lichteinfall ergeben sich leuchtende Streifen auf Wänden und Boden. Das Licht, und auch der Schatten, erzeugen ­wunderbar feine Abstufungen in der Textur der Oberflächen.

Der Boden fällt ganz leicht von Westen nach Osten, zum gegenüberliegenden Ausgang hin ab – eine Referenz sowohl an Le Corbusiers sakrale Bauten in Ronchamp und Firminy als auch an so manche Renaissancekirche. In Bushey ist die Neigung jedoch nicht einfach eine smarte architektonische Idee, sondern soll buchstäblich den Beginn der Rückkehr des Körpers zur Erde spürbar machen.

Die Hallen werden über Niedrigtemperatur-Konvektionsheizungen im Boden geheizt. Das genügt, denn Anwesende tragen stets einen Mantel und halten sich hier nie länger als 20 Minuten auf.

Die ganze Anlage atmet einen Geist von Rechtschaffenheit und Anstand, der sich aus den ungewöhnlich detaillierten Diskussionen mit den Bauherrenvertretern speist, aus der Sorgfalt, mit der man die Baukörper so positionierte, dass sie der Gefahr der Dominanz über das Gelände entgehen, und aus der bedeutungsvollen, sinnstiftenden Qualität der Materialien.

[Aus dem Englischen von Dagmar Ruhnau]

db, Mo., 2018.11.05



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db 2018|11 Architektur der Stille

01. Mai 2016Jay Merrick
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Ein Taj Mahal für Julie

Das »House for Essex« ist einer fiktiven Frau gewidmet, die ein ganz durchschnittliches Leben führte. Seine Architektur hingegen zeigt sich ganz und gar ­ungewöhnlich und ist das Ergebnis einer wie selten ­geglückten, kohärenten und befruchtenden Zusammen­arbeit zwischen dem Künstler Grayson Perry und dem ­Architekten Charles Holland von FAT Architecture.

Das »House for Essex« ist einer fiktiven Frau gewidmet, die ein ganz durchschnittliches Leben führte. Seine Architektur hingegen zeigt sich ganz und gar ­ungewöhnlich und ist das Ergebnis einer wie selten ­geglückten, kohärenten und befruchtenden Zusammen­arbeit zwischen dem Künstler Grayson Perry und dem ­Architekten Charles Holland von FAT Architecture.

Architekten sprechen oft von der »Geschichte« eines Entwurfs. Wie aber verhält es sich, wenn der Entwurf selbst eine Geschichte abbilden soll? Eben das ist beim »House for Essex« der Fall und so lässt es sich auch nicht in der gängigen Art beschreiben. Bautypus, Form, Funktion und Kontext sind selbstverständlich auch hier relevant, aber nicht in dem Maß wie sonst üblich.

In der Grafschaft Essex, deren Bewohner vom Rest des Landes oft unfairer­weise als »ein wenig zu laut« charakterisiert werden, liegt das kleine, unspektakuläre Dorf Wrabness. Etwas unterhalb des Orts steht das Haus am Ende der unbefestigten Black Boy Lane, von der die Felder zu beiden Seiten sanft abfallen und der Blick auf das Mündungsgebiet des Flusses Stour fällt. Durch seine exakten Formen, die ungewöhnlichen Details und die kräftige Farb­gebung hat das kleine Gebäude eine derart spezielle Ausstrahlung, dass man annehmen könnte, es sei mit Photoshop in die idyllische Landschaft hineinmontiert worden.

Der international bekannte Künstler Grayson Perry erdachte das Haus mit der eigenartig intensiven Wirkung als »zärtlich-surreales« Denkmal für eine fiktive Frau aus Essex namens Julie Cope. Gemeinsam mit dem Architekten Charles Holland vom Büro FAT Architecture – das sich 2013 auflöste und der seither Mitinhaber des Büros Ordinary Architecture ist – hat er es für den ambitionierten Ferienhausanbieter »Living Architecture« entworfen. Unter künstlerischer Leitung des Architekturphilosophen Alain de Botton lässt ­Living Architecture seit einigen Jahren Ferienhäuser von bedeutenden ­Planern, u. a. von MVRDV und NORD, bauen. Peter Zumthor soll demnächst die Reihe der architektonisch anspruchsvollen Rückzugsorte ergänzen.

Schrill und tragisch

Die Lebensgeschichte von Julie Cope ist in einem langen Gedicht, das als schmales grünes Büchlein auch im Dorfladen von Wrabness erhältlich ist, niedergeschrieben. Julie wurde 1953 auf Canvey Island am nördlichen Ufer der Themse auf einem Lurexvorhang, der von einer Gardinenstange gerissen worden war, geboren. Dank ihrer Intelligenz stieg sie aus der Arbeiterklasse auf und führte ein Leben in der Mittelschicht. Sie starb 2014, umgerissen von einem Mopedfahrer, der ihr gerade ein Currygericht nach Hause in die Black Boy Lane liefern sollte. Ihrem zweiten Mann Rob hatte sie einmal erzählt, dass sie am glücklichsten mit ihm in der indischen Stadt Agra gewesen sei, und so gelobt er, ein »Taj Mahal am Stour« zu bauen.

Das House for Essex ist ein Mini-Taj Mahal von maximaler Opulenz. Hervorzuheben sind dabei die wunderschönen aufwendig handgefertigten Keramikfliesen der Fassade, deren geprägte Motive sich auf verschiedene Aspekte von Julies Leben und der Grafschaft Essex beziehen: nackte Julies, Herzen, Audiokassetten, der Buchstabe J, Sicherheitsnadeln für Windeln, Räder und das Wappen von Essex. Das Dach ist mit übergroßen Skulpturen geschmückt – ein karmisches Rad, eine schwangere Julie aus Metall, eine Leuchtturmlampe und ein gebauchter keramischer Schornsteinaufsatz. Diese Gestaltung könnte man ohne Weiteres als lustig, aber auch als unbeholfen oder infantil bezeichnen. Doch sie ist nicht trivial; auch nicht dekadent oder betont künstlerisch aufgemacht. Vielmehr ist sie durchdrungen von einem ironischen und zugleich zugewandten Blick auf das vermeintlich Banale eines jeden Lebens.

Artefakte statt Abstraktionen

Kürzlich fragte Holland in einem Artikel: »Können Gebäude sowohl in der Welt anspruchsvoller Architektur als auch im alltäglichen, gängigen Sinn bestehen?« Er bejaht die Frage und ist überzeugt davon, dass Dinge Bedeutungen besitzen können, »die der Tendenz in der Architektur, dem Abstrakten an sich einen hohen Wert beizumessen, widerstehen«.

Das House for Essex hat nichts Abstraktes – auch wenn es schwerfällt, seine Form und Materialität einem genauen Architekturtypus oder -stil zuzuordnen. Auf einen einfachen Nenner gebracht, kann das Gebäude mit all seinen Artefakten als Ort der Erinnerung bezeichnet werden. Aber auch andere ­Interpretationen liegen nahe: ein Mausoleum, eine »folie«, eine neo-mittel­alterliche Stabkirche; Holland selbst findet, es sei einer russischen Datscha nicht unähnlich.

Eine »folie« der Erinnerung ist wohl die zutreffendste Typologisierung, und aufgrund seiner Detailfülle und seiner starken objekthaften Wirkung könnte das Haus mit Gebäuden wie der Triangular Lodge in Rushton verglichen werden, die 1597 von Sir Thomas Tresham als Hommage an die Heilige Dreifaltigkeit realisiert wurde. Auch hier sollten Bauform und Details eine bestimmte Botschaft vermitteln – in diesem Fall über die ­numinosen Qualitäten der Zahl Drei: Die Lodge hat drei Geschosse und einen dreieckigen Kamin, die drei Fassaden sind 33 Fuß breit, und jede Fassade hat drei Giebel, drei dreieckige Fenster und drei Wasserspeier.

Das House for Essex wiederum zeichnet sich durch eine teleskopartige Abwicklung entlang seiner Längsachse aus: Man kann sich gut vorstellen, wie seine reich verzierten Bestandteile sauber in- oder auseinander gleiten. Von Süden gesehen, zeigt es sich als gestaffeltes Ensemble vierer giebelseitig verbundener Gebäudeabschnitte, die jeweils von einem steilen, kupfergedeckten Satteldach mit doppelter Tonnengaube abgeschlossen werden. Abgesehen von ihrer unterschiedlichen Größe sind die Bauteile praktisch identisch – einer Matroschka-Puppe nicht unähnlich.

Die rote Tür des Haupteingangs geht vom kleinsten Baukörper aus nach ­Süden; auf beiden Seiten des dritten Baukörpers befinden sich Flügeltüren, und Stufen führen zu einem an eine Kirchenpforte erinnernden Eingangsvorbau auf der Nordseite.

Halb Kapelle, halb Sakristei

Das kleinste Volumen im Süden nimmt einen Windfang mit einem Bad da­rüber auf, im zweiten befindet sich eine Diele mit Treppenaufgang und WC, im dritten dann eine Wohnküche mit zwei Schlafzimmern darüber, und im größten Volumen ein zwei Geschoss hohes Wohnzimmer. Leuchtend bunte Wandteppiche und Tapeten mit Szenen aus Julies Leben bestimmen diesen Raum, in dem die in ihren Unfall verwickelte Honda C90 als eine Art Kronleuchter hängt.

Für Holland ist das Wohnzimmer eine Kapelle und die übrigen, dienenden Räume des Hauses entsprechen der Sakristei. Die Übergänge zwischen »Kapelle« und »Sakristei« sind äußerst theatralisch gestaltet: Neben dem ­Kamin im EG befindet sich eine Geheimtür, aus den Schlafzimmern führen Schränke ohne Rückwand zu Balkonen mit Blick auf den Kapellenraum. ­Hollands Inspirationen für diese architektonischen Spiele reichen von Sir John Soanes Haus in London (einer Mischung aus Wohnhaus und Museum im Stil des Eklektizismus) über Edwin Lutyens räumliche Widersprüche bis hin zu den stark handwerklich geprägten Innenräumen eines Adolf Loos.

An den Wochenenden, so steht es in Perrys Gedicht, »suchten [Julie und Rob] einen Schrein, ein Heim / Für ihre Liebe, und sie schlenderten darin herum, / Ein zusammengestückeltes Haus an einer Nase / die über den Stour nach ­Norden nach Suffolk blinzelte / mit rauem Putz, banal, aber ganz besonders für sie …« Grayson Perry und Charles ­Holland haben dafür gesorgt, dass Julie Cope nicht gelangweilt umhergeistern muss. Sie ­haben eine ungewöhnliche und eindringlich menschliche Erinnerungsstätte geschaffen, mit der sie einzigartiges und zugleich ganz gewöhnliches Leben würdigen. Das Haus ist ein opulentes memento mori, in seiner Verortung im 21. Jahrhundert so eindrücklich wie etwa Ligier Richiers Skulptur von Wilhelm von Oraniens ­Skelett, umgeben von den Symbolen seines privilegierten Lebens im 16. Jahrhundert.

Selten ergänzen sich Künstler und Architekten so, dass sich ihre Arbeit ­tatsächlich als gemeinsames Werk vermittelt. Julie Copes Schmuckschatulle von einem Heim, zugleich architektonische Realität und Fantasterei, beweist, dass es möglich ist.
[Übersetzung: Dagmar Ruhnau]

db, So., 2016.05.01



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db 2016|05 Opulent

01. August 2012Jay Merrick
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Olympischer Wellenschlag

Das Schwimmstadion bildet mit seiner expressiven Formensprache eine Landmarke an einem der Hauptzugänge zum Olympiapark. Durch den immensen Stahlverbrauch für die aluminiumgedeckte Dachkonstruktion und enorme Kostensteigerungen geriet der Bau in die Kritik. Nach den Spielen werden die unschönen Zuschauertribünen entfernt. An ihre Stelle treten Glasfassaden; die feinen Betonschwünge des Innenraums werden dann auch von außen sichtbar, die Eleganz des Bauwerks kann sich voll entfalten.

Das Schwimmstadion bildet mit seiner expressiven Formensprache eine Landmarke an einem der Hauptzugänge zum Olympiapark. Durch den immensen Stahlverbrauch für die aluminiumgedeckte Dachkonstruktion und enorme Kostensteigerungen geriet der Bau in die Kritik. Nach den Spielen werden die unschönen Zuschauertribünen entfernt. An ihre Stelle treten Glasfassaden; die feinen Betonschwünge des Innenraums werden dann auch von außen sichtbar, die Eleganz des Bauwerks kann sich voll entfalten.

Das Aquatics Centre ist zweierlei zugleich: exquisite Architektur, aber auch grobes Flickwerk. An die einem Mantarochen ähnliche Form des ursprünglichen Entwurfs, der für 3 000 Zuschauer geplant war, wurden buchstäblich riesige, ausladende Körbe mit steilen Sitzplatzreihen angehängt, in die man nun 17 500 Personen zwängen kann. Die meisten davon werden nur einen entfernten, schwindelerregenden Blick auf die Schwimmer und Springer bekommen.

Diese temporären Tribünen werden im nacholympischen »Legacy Mode« wieder entfernt. Und erst dann wird sich die Geometrie des Aquatics Centre voll entfalten und ein architektonisches Werk von beeindruckender Dramatik offenbaren. »Unser Ziel war immer ein umwerfendes Dach – eine Welle, Wasser, irgendeine Art Meeresgetier«, sagt Zaha Hadid. Aus ihren Worten spricht die Auffassung, dass Architektur grundsätzlich vom Gestischen, vom Ausdruck leben sollte. Doch es ist nicht nur die große Geste, die dieses Gebäude so besonders macht. Was es wirklich auszeichnet, ist die Schönheit und Qualität seiner Materialien und seiner Ausführung.

Zaha Hadids »Meerestier« ist 160 m lang und bis zu 90 m breit. Es gibt keine sichtbaren Stützen, die die 3 200 t Stahl und 70 000 Bolzen halten. Das Dach liegt an nicht mehr als drei Stellen auf: auf zwei schlanken Betonkernen nahe des nördlichen Gebäudeendes und auf einer Betonwand an seinem südlichen Ende. Diese konstruktiven Anker sind kaum wahrnehmbar, sie gehen quasi im Wellengang des Gebäudes unter.

Dieses bravouröse Stück Architektur schlug in einem Wettbewerb unter Vorsitz von Richard Rogers die Entwürfe von 40 anderen Büros, darunter z. B. auch Behnisch Architekten. Zaha Hadids ursprünglicher Entwurf umfasste ein fast doppelt so großes Gebäude wie das jetzige Projekt, mit einem 300 m langen Dach, das die Wettkampf- und Sprungbecken sowie ein Wasserpolo- und ein Trainingsbecken überdecken sollte. Letzteres befindet sich nun unter der Brückenpiazza, über die die Zuschauer vom Bahnhof Stratford her auf das Olympiagelände gelangen. Der Originalentwurf umfasste bereits temporäre Tribünen, nahtlos in die organische Architektur eingefügt, doch Budgetkürzungen zwangen die Architekten dazu, vereinfachte Tribünenkonstruktionen zu entwickeln, die mit einem weißem Vinyl-Kompositmaterial bekleidet sind.

Erfreuliches Innenleben

Die meisten Zuschauer werden das Aquatics Centre über die Umgänge in den temporären Tribünen betreten. Deren Zugänge liegen im Osten des Gebäudes auf Geländeniveau, auf der gegenüberliegenden Seite auf der Brückenebene.

Der verglaste Haupteingang unter dem vorkragenden Dach im Westen, der präsenteste und architektonisch dramatischste Teil seines Äußeren, ist zunächst einmal den besonderen Gästen vorbehalten. Er ist das Erste, was die Besucher zu Gesicht bekommen, und zwar ganz nah, nachdem sie den Olympiapark durch die chaotischen Markenlandschaften der gigantischen Shoppingmall Westfield erreicht haben – das wahre Tor zu den Olympischen Spielen.

Die Architektur des Aquatics Centre wirkt wie eine Art Gegengift für diesen kommerziellen Zynismus und weist expressive Qualitäten auf, die man nicht immer an Zaha Hadids Bauten entdeckt. Betrachtet man das Zentralgebäude für das BMW-Werk in Leipzig oder das Feuerwehrhaus in Weil am Rhein, so besteht kein Zweifel daran, dass diese eine Polemik ausdrücken sollen: Architektur als gezielte Politisierung von Raum, Form und kreativen Beweggründen.

Nicht so im Aquatics Centre. Hier hat man nicht das Gefühl, das Design müsse die architektonischen Theorien von Zaha Hadid und ihrem wichtigsten Mitarbeiter, Patrik Schumacher, belegen. Stattdessen trifft man auf eine genussvolle Fusion von Form und Material, und auf ein Bewusstsein für die Anforderungen des Schwimmsports, das sich in vollkommener Anmut ausdrückt. Angesichts der wunderschön geformten Sprungbretter beispielsweise wird das vertraute Hadid-Schumacher-Mantra von »Kraftlinien« oder »Feldstrukturen« irrelevant. Es sind die handwerklichen Qualitäten des Aquatics Centre und die langen, wellenförmigen Kontraktionen des Dachs, die die Wahrnehmung dominieren. Das wogende Dach definiert Räume rund um das Sprungbecken und das Wettkampfbecken mit seinen zehn Bahnen. Die Geometrie des Dachs und der betonierten Taillen der Arena ist komplex, doch die Oberflächen sind perfekt ausgeführt. Finnforest lieferte die 35 000 exakt beschnittenen Holzlamellen, die die Untersicht des Dachs bilden – in ihren Kraftlinien findet sich nicht der kleinste Fehler. Der Beton fühlt sich seidig an und würde mit Sicherheit Oscar Niemeyer begeistern, der zu Zaha Hadids Helden zählt.

Die konstruktive Gymnastik des Aquatics Centre ist genauso spannend wie die architektonische Form. Wenn große Bauten so anspruchsvolle Formen haben wie dieser, ist die wesentliche Frage recht schlicht: Wie haben sie das gemacht? Beim Blick auf eine Schnittzeichnung fällt als Erstes die enorme Stahlmenge in der Doppelkurve des parabolischen Dachs ins Auge. Hier gibt es eine Verbindung mit der Dachkonstruktion des Phaeno in Wolfsburg: Die deutsche Architektin Sara Klomps gehörte bei beiden Projekten zum Kern des Entwurfsteams.

Die Stahl-Fachwerkträger des Dachs, die zum Teil 40 m lang und 70 t schwer sind, wurden auf riesigen Montagegerüsten gebaut. Nachdem die halbe Dachkonstruktion fertiggestellt war, wurde ein Teil der Gerüste entfernt, um die Grube für das Sprungbecken auszuheben. Das Dach wurde über den verbleibenden Gerüsten so lange abgesprießt, bis der Beckenaushub abgeschlossen war. Anschließend wurde es ein zweites Mal angehoben, bevor es in seine endgültige Lage gebracht und abgesenkt wurde.

Das Aquatics Centre ist ohne Zweifel ein architektonisches und konstruktives Wunderwerk. Doch da es für zwei unterschiedliche Zwecke – die Olympischen Spiele und die Zeit danach – entworfen wurde, ist es noch zu früh, ein vernünftiges Urteil über die architektonische Qualität des eigentlichen Gebäudes zu fällen. Schließlich lässt sich nur sein Innenraum in seiner Gänze erleben. Zaha Hadid und ihr Projektleiter Jim Heverin haben der Landschaftsgestaltung in der unmittelbaren Umgebung der Arena viel Aufmerksamkeit gewidmet, doch ist der vollständige »Architekturpanorama«-Effekt ebenfalls noch nicht wahrnehmbar.

»Architektur muss etwas an sich haben, das das menschliche Herz anspricht«, sagte der große japanische Architekt und Stadionbauer Kenzo Tange. Diese direkte Wirkung auf die Herzen wird von den Tribünen des Aquatics Centre verhindert, und bis die Olympischen Spiele vorbei sind, kann dieses Gebäude nur als Jekyll-und-Hyde-Architektur bezeichnet werden – von außen verwirrend und ausdruckslos wie eine Mall, doch innen aufregend genug, die Herzen der olympischen Schwimmer ein bisschen schneller schlagen zu lassen, wenn sie auf ihren Startblöcken zum Sprung ansetzen.

db, Mi., 2012.08.01



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