Editorial

Ursprünglich war geplant, den Schwerpunkt dieser Ausgabe dem Thema Mobilität zu widmen. In zahlreichen Städten ist in den letzten Jahren das Bewusstsein dafür gestiegen, dass urbane Lebensqualität erfordert, die jahrzehntelange Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs zu beenden und den öffentlichen Verkehr und nicht-motorisierte Mobilitätsformen wie Zufußgehen oder Radfahren zu stärken. Doch die beharrenden Kräfte sind stark und einflussreich und stemmen sich mit all ihrer gesellschaftlichen Macht gegen diese Entwicklungen. Um jeden Parkplatz wird gekämpft, jeder neue Radweg ist Anlass für medial geführte Kampagnen.

Während der Redaktionsarbeit für diesen Schwerpunkt änderte sich mit Covid-19 und den damit verbundenen Maßnahmen scheinbar plötzlich alles und es war uns klar, dass Covid-19 bzw. Pandemien im Allgemeinen ein Thema für eine Stadtforschungszeitschrift sein müssen. Der Eindruck, es hätte sich alles geändert, erwies sich rasch als oberflächlich. Covid-19 hat einfach vieles, was latent ohnehin schon lange vorhanden war, für alle offensichtlich gemacht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse wurden nicht auf den Kopf gestellt, sondern zeigen sich uns durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wie unter einer Lupe. Das betrifft auch das Thema Mobilität.

Noch nie war es so sicht- und spürbar, wie viel Platz auf den Straßen vorhanden ist, wenn der Verkehr von einem Tag auf den anderen fast gänzlich verschwindet, wie das mit Verkündung der Ausgangsbeschränkungen der Fall war. Viel freier Platz wäre notwendig gewesen, um ausreichend räumlichen Abstand halten zu können. Eine verantwortungsvolle Politik hätte zu diesem Zeitpunkt Straßen für Fußgeher:innen geöffnet und Open Streets, Shared Spaces, Begegnungszonen etc. daraus gemacht. Doch davon war – von Ausnahmestädten abgesehen – nichts zu hören oder die Maßnahmen kamen erst sehr spät. Das Thema Flächengerechtigkeit, der zentrale Aspekt unseres geplanten Mobilitätsschwerpunkts, war mit Covid-19 also plötzlich noch zentraler als zuvor. Somit ist das Thema Mobilität nun auch Teil unseres Schwerpunkts zu Pandemien: Rainer Stummer, aktuell Aktivist der wichtigen und unbedingt unterstützenswerten Kampagne Platz für Wien, schreibt – ausgehend von einer Analyse des Volksentscheids Fahrrad in Berlin – über Raumverteilung und Protest und knüpft damit auch ein wenig an den letzten dérive-Schwerpunkt zu Protest an. Florian Lorenz hat für uns einen Text über das Konzept der Open Streets verfasst, das mit der seit 1976 (!) jeden Sonntag stattfindenden Ciclovía in Bogotá, Kolumbien, auf eine lange Geschichte zurückblicken kann.

Frank Eckardt verweist in seinem Beitrag die Vertiefung der Gräben auf die Zunahme gesellschaftlicher Ausschlüsse, sozialer und ökonomischer Diskriminierung und der Segregation zwischen Arm und Reich. Er tritt für eine Stadtplanung ein, »die sich nicht auf infrastrukturelle und städtebauliche Zielstellungen reduziert,« um die Voraussetzung für solidarische Strukturen eines urbanen Zusammenlebens zu schaffen.

Die Notwendigkeit einer sozialen urbanen Infrastruktur, die allen unabhängig von Herkunft und Klasse zur Verfügung steht und unabhängig von der neoliberalen Marktordnung geschaffen und aufrecht erhalten wird, betonen auch die Autor:innen des Beitrags Die Alltagsökonomie als Fundament zukunftsfähiger Stadtentwicklung. Der Ansatz der Alltagsökonomie (foundational economy) findet seit einigen Jahren verstärkte Aufmerksamkeit, und das, wie sich nun während Covid-19 wieder zeigt, völlig zurecht. Ein schlagendes Beispiel dafür, was passiert, wenn genau diese basale soziale Infrastruktur in Städten nicht vorhanden ist oder nicht allen zur Verfügung steht, bringt Ayona Datta mit ihrem Bericht über die Verhältnisse in indischen Städten. Millionen Arbeiter:innen mussten ihre Städte verlassen und zu Fuß oft über hunderte Kilometer in ihre Herkunfts-Dörfer zurückkehren, weil ein Überleben mit Verhängung der Ausgangssperren und somit ohne Einkommen für sie nicht mehr möglich war.

Einen Überblick über die Situation am Wohnungsmarkt, eine kritische Analyse der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen und Beispiele für selbstorganisierte solidarische Hilfsaktionen gibt das Redaktionskollektiv der Zeitschrift Radical Housing in ihrem Beitrag Covid-19 and housing struggles, den wir in einer gekürzten Version für diesen Schwerpunkt übersetzt haben.

Felix Stalder schließlich konstatiert eine Beschleunigung bestehender Digitalisierungsdynamiken, die sich durch die massive Stärkung digitaler Infrastrukturen ebenso zeigt wie durch den Ausbau der Marktmacht von Händler:innen wie Amazon, die sich anschicken, sich als kritischer Teil der Grundversorgung zu etablieren oder dem noch tieferen Eindringen von Sozialen Medien in unseren Alltag. Als überraschende und positive Entwicklung sieht Stalder die Entwicklung eines neuen Standards für Kontaktnachverfolgung (DP3T), »bei dem weder kommerzielle noch sicherheitspolitische, sondern zivilgesellschaftliche Akteur:innen federführend sind.«

Für unsere lose Serie an Beiträgen zur Wiener Stadtgeschichte stehen ein weiteres Mal die Donau und ihr räumliches Umfeld im Mittelpunkt. Die kleine Anarchie an der Donau ist der Titel von Matthias Marschiks Artikel über die Donauwiese. Das Kunstinsert der vorliegenden Ausgabe stammt von Selma Selman. Es zeigt »eine Auswahl von Arbeiten, die ihre Rolle als Frau in einer patriarchalen und von sozialer Ungleichheit geprägten Gesellschaft ebenso radikal wie direkt thematisieren«.

Mit dieser Ausgabe feiert dérive seinen 20. Geburtstag. Letzten Herbst hatten wir noch eine große Party in der Nordbahnhalle vor Augen, als wir an das Jubiläum dachten. Wäre die Nordbahnhalle letzten November nicht einer Brandstiftung zum Opfer gefallen, deren Aufklärung, wie es scheint, niemanden mehr interessiert, hätte uns wohl Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn es die Umstände erlauben, werden wir den 20er zumindest in kleinerem Rahmen beim diesjährigen urbanize!-Festival (nach-)feiern, das dieses Jahr Raum als Gemeingut unter dem Motto »Common Spaces, Hybrid Places« thematisiert und vom 14.–18. Oktober in Wien stattfindet. Save the date!

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt
04—05
Gegen eine Rückkehr zur Normalität
Zum Schwerpunkt Pandemie
Christoph Laimer

06—11
Die Alltagsökonomie als Fundament zukunftsfähiger Stadtentwicklung
Richard Bärnthaler, Sigrid Kroismayr, Andreas Novy, Leonhard Plank, Alexandra Strickner

12—17
Reframing the Streets: Raumverteilung und Protest
Rainer Stummer

18—20
Überlebensinfrastrukturen unter Covid-19 in Indien
Ayona Datta

21—25
Pandemie als Smart-City-Labor
Felix Stalder

Kunstinsert
32—36
Selma Selman
Tito’s bunker, Mercedes,
Washing Machine and Vampyr


37—45
Offene Straßen für alle!
Temporär autofreie Straßen als Bewegungs- und Interaktionsräume
Florian Lorenz

46—54
Covid-19 und die Wohnungskämpfe
Die (Wieder-)Auflage von Austeritätspolitik und
Katastrophen-Kapitalismus sowie die Nicht-Rückkehr zur Normalität
RHJ Editorial Collective

Magazin
55—60
Die kleine Anarchie an der Donau
Das Inundationsgebiet (1875–1987)
Matthias Marschik

Besprechungen
61—63
Die Entgrenzung der Architektur, S. 61
Mehr als Belanglosigkeiten, S. 62

68
Impressum

Gegen eine Rückkehr zur Normalität: Zum Schwerpunkt Pandemie

Es ist erst wenige Monate her, dass Regierungen weltweit drastische Maßnahmen als Reaktion auf die steigenden Corona-Ansteckungszahlen durchgesetzt haben. Seit einigen Wochen werden diese Maßnahmen zurückgenommen, in manchen Ländern, weil sich die Situation tatsächlich zum Besseren gewendet hat, in anderen wohl vorrangig deshalb, weil wirtschaftliche Interessen bedient werden wollen. In dieser Zeit sind Unmengen von Artikeln und Beiträgen zu Covid-19 veröffentlicht worden, trotzdem finden wir es als Redaktion einer Zeitschrift für Stadtforschung angebracht, einen eigenen Schwerpunkt zum Thema Pandemie zu veröffentlichen. Das hat einerseits damit zu tun, dass Gestalt und Ordnung von Städten viel mehr von Seuchen und Krankheiten beeinflusst und geprägt sind, als man gemeinhin annimmt und andererseits damit, dass es für uns als kritische Zeitschrift ein wichtiger Zeitpunkt ist, um auf das Versagen eines Systems hinzuweisen, das noch selten so offensichtlich war.

Das Leben in Städten war die längste Zeit ihrer Existenz von einer sehr hohen Sterblichkeit gekennzeichnet. Die Lebenserwartung von Stadtbewohner:innen lag über Jahrhunderte um einiges unter derjenigen der Landbevölkerung. Krankheiten und Seuchen rafften regelmäßig große Teile der Bevölkerung hinweg. Das war im antiken Rom und Athen nicht anders als in den europäischen Städten des 14. bis 18. Jahrhunderts, über die der Anthro­pologe Mark Nathan Cohen schreibt, dass sie möglicherweise die »am stärksten von Krankheiten befallenen und am kürzesten lebenden Bevölkerungen in der Geschichte der Menschheit« (zit. nach Bollyky 2019) waren. Pest-, Typhus- und Choleraepidemien wüteten und kosteten jeweils tausenden Menschen das Leben. Vor allem natürlich jenen, die aufgrund ihrer Armut ihr Dasein unter miserablen Wohnbedingungen und katastrophalen hygienischen Zuständen fristen mussten.

Doch obwohl Bourgeoisie und Arbeiterklasse natürlich nicht in denselben Vierteln wohnten, waren auch Bürger:innen nicht davor gefeit, an Seuchen zu erkranken und zu sterben. Gegenmaßnahmen waren also notwendig, nicht zuletzt auch, um den »Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern« (Marx & Engels 1972, S. 488), wie im Kommunistischen Manifest zu lesen ist, das während der Hochzeit der Typhus- und Choleraepidemien verfasst wurde. Friedrich Engels sah »die menschenfreundlichen Bourgeois in edlem Wetteifer für die Gesundheit ihrer Arbeiter« (Engels 1999, S. 233) entbrennen. Dass genau dieser Aspekt auch in Zeiten von Covid-19 nicht übersehen werden sollte, darauf weißen Vilenica et al. in ihrem Artikel Covid-19 und die Wohnungskämpfe (S. 46–54) hin.

In den letzten Cholera-Epidemien in Wien (1866 und 1873) starben fast nur mehr arme Stadtbewohner:innen.1 Die Unterprivilegierten waren den Seuchen aber nicht nur am stärksten ausgesetzt, sie wurden auch immer wieder für ihre Verbreitung verantwortlich gemacht und im Zuge solcher Kampagnen als gefährliche Klasse denunziert. Zuletzt beispielsweise Bewohner:innen des Iduna-Zentrums in Göttingen oder eines Asylwerber*innenheimes in Wien. In diesem Zusammenhang ist auch die Dichte-Debatte zu sehen, die den städtebaulichen Diskurs seither begleitet.

Aus dem Umstand, dass Arbeiter:innen in sehr dichten Wohnvierteln lebten und leben, wurde und wird immer wieder der Schluss gezogen, Dichte an sich wäre das Problem, das es zu beseitigen gilt. Die Fantasien und Gerüchte darüber, wie das Leben in den dichten Arbeiter*innenquartieren aussieht – Kriminalität, Promiskuität, Krankheiten – war nicht nur für hetzerische Kampagnen und Werke der Literaturgeschichte verantwortlich, sondern in Folge auch für städtebauliche Konzepte, die beispielsweise für die aufgelockerte Stadt eintraten. Nicht die physisch ruinösen Arbeitsbedingungen, die fehlende Möglichkeit zur Regeneration aufgrund extrem langer Arbeitszeiten, Unterernährung bzw. ungesunde Ernährung, fehlende Bildung und Gesundheitsversorgung oder völlig unzureichend ausgestattete, feuchte Wohnungen seien das Problem, sondern die Dichte. Die Dichte, die genau das ermöglichte, was das Überleben irgendwie möglich machte: alltägliche Solidarität und gegenseitige Hilfe im Viertel. Bis heute passiert es, dass soziale Strukturen sowie die lokale Möglichkeit für (informelle) Arbeit unter dem Vorwand, bessere Wohnverhältnisse für Slumbewohner:innen zu schaffen, zerstört werden, indem die verantwortlichen Politiker:innen die Bewohner:innen an den Stadtrand absiedeln. Zufälligerweise können die ehemaligen Grundstücke dann immer wieder teuer verkauft oder mit ertragreichen Immobilien bebaut werden.

Zwei der wichtigsten baulichen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung waren der Bau stadtweiter Kanalisationsnetze und die Versorgung aller Haushalte mit sauberem Trinkwasser. In Wien konnte die Cholera endgültig erst mit dem Bau der äußerst eindrucksvollen 95 km langen, 1873 eröffneten. Wiener Hochquellenleitung, die die lokalen Hausbrunnen ersetzte, und der Wienflussregulierung im Zuge des Baus der Stadtbahn, verdrängt werden.

Neben reinem Wasser galten und gelten natürlich auch saubere Luft und Licht als wichtige Voraussetzungen für ein gesundes Leben in der Stadt, wobei die Annahme der Bedeutung sauberer Luft bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch eine Folge der ebenso gebräuchlichen wie falschen Annahme, giftige Ausdünstungen des Bodens (Miasma) seien für die Ausbreitung von Seuchen verantwortlich, zurückzuführen ist.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Errichtung von Parks, Spielplätzen und sogar Schrebergärten als sozialhygienische Maßnahme im Sinne der Gesundheitsversorgung gesetzt wurde.3 Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl New Yorks Central Park, die »Lunge der Stadt« wie sie der Landschaftsarchitekt Frederick Olmsted, der gemeinsam mit dem Architekten Calvert Vaux den Wettbewerb für die Gestaltung des Central Parks gewonnen hat, bezeichnete.

Covid-19 und die Wirtschaftskrise

Wie zu den Zeiten der großen Epidemien des 19. Jahrhunderts geht es auch heute bei all den Hilfsmaßnahmen nicht darum, langfristig neue Strukturen aufzubauen, die gegenüber Krisen resilienter sind und nicht jedes Mal aufs Neue zig Millionen vor existenzielle Probleme stellen, sondern darum, den stockenden Motor des Kapitalismus wieder in Gang zu bringen: Koste es, was es wolle. Unser Wirtschaftssystem wäre aufgrund seiner hohen Produktivität ohne Probleme in der Lage, Güter in einem Ausmaß zu produzieren, die eine ausreichende Versorgung der Menschheit mit allem Lebensnotwendigen garantiert. Das Paradox an unserer aktuellen Situation ist nun, dass es zu einer Wirtschaftskrise gigantischen Ausmaßes kommt, weil eine Pandemie es notwendig macht(e), für ein paar Wochen den Arbeitsalltag neu zu organisieren und einige Bereiche vorübergehend einzustellen. Das Problem ist nun aber nicht, dass es zu wenige Lebensmittel, Kleidung oder Wohnungen gibt, sondern, dass viele Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit über weniger oder kein Einkommen mehr verfügen, um diese bezahlen zu können. Gleichzeitig fragen sich Investor:innen, ob es schon der richtige Zeitpunkt ist, um wieder Aktien zu kaufen oder sie besser warten sollten, bis die Krise noch größer wird, weil der zu erwartende zukünftige Profit dann noch höher sein wird.4 Normalerweise verkündet die Ideologie-PR in Situationen, in denen Menschen vor existenziellen Problemen stehen, sie seien zu wenig tüchtig, zu wenig gebildet, zu wenig hartnäckig, zu unflexibel, zu wenig leistungsbereit etc. und brauchen sich deswegen nicht wundern, wenn sie nicht ausreichend Geld zur Verfügung haben. Doch diesmal ist es einfach völlig offensichtlich, dass keiner dieser Gründe angeführt werden kann, weil niemand, der/die durch die Pandemie arbeitslos geworden ist oder nun weniger Einkommen hat als zuvor, selbst dafür verantwortlich gemacht werden kann.

Und siehe da, jetzt wo das System in Gefahr ist, weil die Kaufkraft bzw. die Möglichkeit Geld auszugeben nicht mehr im notwendigen Ausmaß vorhanden sind, können plötzlich hunderte Milliarden Euro und Dollar aufgebracht werden, die teils freihändig verteilt werden, um den Laden wieder in Schwung zu bringen. Wie schon bei der Finanzkrise 2008 zeichnet sich auch bei Covid-19 ab, dass keinerlei Überlegungen angestellt werden, wie die Grundversorgung der Menschheit in Zukunft auch in Zeiten von Krisen aufrecht erhalten werden könnte, ohne jedes Mal große Teile der Bevölkerung unnötig dem Ruin auszuliefern. Was, um es noch einmal zu betonen, angesichts der Tatsache, dass es die Güter gibt oder sie jederzeit hergestellt werden könnten, die dafür notwendig sind, besonders grotesk ist.

Die Milliarden, die jetzt verteilt werden, dienen ausschließlich dazu, die Mauern des Systems zu stützen und die Löcher zu stopfen, damit möglichst schnell die Rückkehr zu dem, was aktuell unter den Begriff Normalität läuft, gelingt. Doch genau diese Normalität gilt es in Frage zu stellen. Die Pandemie zeigt, wie wichtig eine soziale Infrastruktur und eine eigenständige Alltagsökonomie für ein gutes Leben für alle sind (siehe dazu die Beiträge von Bärnthaler et al., S. 06–11 sowie von Ayona Datta auf S. 18–20) und dass es der Gebrauchswert der Güter ist, auf den wir schlussendlich zählen können müssen und nicht der Tauschwert (Berardi 2020).

dérive, Mo., 2020.08.17

17. August 2020 Christoph Laimer

Kunstinsert Selma Selman: Tito’s bunker, Mercedes, Washing Machine and Vampyr

Für die in Bosnien geborene Selma Selman ist ihre Roma-Herkunft ein wesentlicher Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Arbeit. In ihren Performances thematisiert sie vielfach geschlechtsspezifische und rassistische Diskriminierungen, Verfolgungen, Traumata und Spannungen. Dabei benutzt sie oft ihren Körper als Lautsprecher, um Verzweiflung, Wut, Angst, Widerstand und dem Kampf ums Überleben Ausdruck zu verleihen. Sie kann als eine der jüngsten Vertreter:innen einer langen Tradition kritischer und politisch engagierter Performance aus dem ex-jugoslawischen Raum gesehen werden. Die Art und Weise, wie Selma Selman ihren Körper, ihren weiblichen Zustand sowie ihren südosteuropäischen Hintergrund als Romni für politische Inhalte einsetzt, zeigt eine Neuinterpretation des Performance-Diskurses und knüpft an Praktiken von Künstler:innen wie Katalin Ladik oder Tanja Ostojić an.

Im dérive-Insert zeigt Selma Selman eine Auswahl von Arbeiten, die ihre Rolle als Frau in einer patriarchalen und von sozialer Ungleichheit geprägten Gesellschaft ebenso radikal wie direkt thematisieren. In Mercedes Matrix zerstört Selma Selman mit ihrer Familie auf der Kampnagel-Piazza in Hamburg ein Statussymbol – den Mercedes Benz. Durch den Akt des Zerstörens dieses Fahrzeugs setzt sie die Mechanismen der Performance ein, um die körperliche Arbeit ihrer Familie in der Kunst zu positionieren. Dabei öffnet ihr biographischer Hintergrund noch eine weitere wesentliche Ebene: Selma Selmans Familie ist darauf angewiesen, Metall­abfälle in Ressourcen zu verwandeln, um das Wohlergehen der Familie zu unterstützen.

In Self-portrait I & II zerstörte die Künstlerin eine Waschmaschine und einhundert Staubsauger mit einer Axt. Die Künstlerin sagt dazu: »Diese früheren Arbeiten visualisieren die Zerstörung von Haushaltsgeräten, die mehr als ein Jahrhundert lang mit der Versklavung von Hausfrauen in Verbindung gebracht wurden, aber auch einen Moment der Katharsis, in dem ich die inneren Spannungen, die mich sowohl zerstören als auch konstruieren, abbauen konnte.« Auch hier transformiert Selma Selman wieder ihre biographischen Wurzeln einer patriarchalen (Roma-)Gesellschaft in einen performativen Befreiungsakt.

Was ist ein sicherer Ort? Bunker werden als sichere Orte wahrgenommen, weil sie
Menschen Schutz vor der physischen Bedrohung durch Luftangriffe bieten. In Mercedes 310/ Iron Curtain thematisierte die Künstlerin für die Biennial of Contemporary Art D-0 ARK Underground in Sarajewo (2015) den Mercedes 310 als sichersten Ort, weil ihre Familie dieses Auto zum Sammeln und Verkaufen von Eisen benutzte. Der Eiserne Vorhang war einst ein Symbol des ideologischen Konflikts zwischen zwei konkurrierenden Systemen. Als solches fungierte er nicht nur als physische, sondern auch als psychologische Barriere. »Ich habe den psychosozialen ›Eisernen Vorhang‹, der die Praktiken von marginalisierten Menschen stigmatisiert, abgebaut, um eine symbolische Öffnung zu erreichen und einen Boden zu schaffen, auf dem die Menschen zusammenkommen können« (Selma Selman).

Selma Selman lebt derzeit zwischen Bihać und New York, wo sie an der University of Syracuse tätig ist. Sie war unter anderem im Roma-Pavillon der Biennale in Venedig 2019 vertreten und erhielt bereits zahlreiche Preise, u. a. den Young European Artist Award von trieste contemporanea. In ihrer Heimatstadt Bihać gründete sie die Organisation Mars To School / Go The Heck To School, die insbesondere den Schulbesuch von Romnija-Mädchen unterstützt.
Weitere Informationen: www.selmanselma.com

dérive, Mo., 2020.08.17

17. August 2020 Barbara Holub, Paul Rajakovics

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